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Vom Regen in die Traufe und wieder zurück

von Yule Forrest (Autor:in)
251 Seiten

Zusammenfassung

Sind es Zufälle oder unsere Pläne, die das Leben bestimmen? Das fragt sich nicht nur die Karrierefrau und Anwältin Gerlinde Ackermann, sondern auch Pia Metzger, die ihr Leben bisher nur für ihren chronisch kranken Vater gelebt hat und nun den Schritt in die Unabhängigkeit wagt. Beide Frauen stellen fest, dass das Leben nicht so will, wie sie es sich vorgestellt haben. Als Gerli eines Abends auf offener Straße angegriffen wird, muss sie einsehen, dass sie nicht so stark und taff ist, wie sie immer glaubte. Auch Pia kann der Verantwortung ihrem Vater gegenüber nicht einfach entfliehen. Vor allem, da dieser online eine neue Freundin kennengelernt hat, die Pia gar nicht ausstehen kann. Zudem entpuppt sich ihr neuer Job als Desaster. Können die beiden Freundinnen gegen die Widrigkeiten des Lebens bestehen und am Ende ihre Träume verwirklichen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

 

Was als Gemeinschaftsprojekt begann, endete aufgrund mehrerer Faktoren in einem Buch, das alleine aus meiner Feder stammt.

Dennoch gäbe es diesen Roman nicht ohne meine Autorenkollegin Vanessa Zeiner, welche ich daher bereits hier im Vorwort erwähnen möchte.

Obwohl sich die Idee während des Schreibprozesses verändert hat und kaum mehr an den Plot erinnert, welchen wir an einem amüsanten Abend zusammengesponnen haben, blieb doch die Grundstruktur. Die Kapitelüberschriften weisen daher darauf hin, aus wessen Sicht die Geschichte weitererzählt wird.

 

Der Romaninhalt ist keine reine Fantasie, sondern eine Mischung aus tatsächlichen Geschehnissen, welche mir zugetragen wurden. So skurril manche Gegebenheiten daher wirken mögen, es stecken wahre Geschichten dahinter, die zeigen, dass das Leben immer noch die unglaublichsten Geschichten zu schreiben scheint.

 

Gerlinde Ackermann – Kapitel 1

 

Ich eilte, meine Ledertasche unter dem Arm geklemmt, die Straße entlang. Der anfangs noch akzeptable Nieselregen hatte sich zu einem Sturzbach entwickelt und flutete in rasender Geschwindigkeit meine dunklen Businessschuhe. Der Schirm lag, wie nicht anders zu erwarten war, noch in der Kanzlei. Aufgrund mehrerer Auswärtstermine war ich übereilt aufgebrochen und hatte ihn auf meinem Schreibtisch liegen gelassen.

Einige Haare hatten sich aus dem Dutt gelöst und komplettierten mein miserables, nasses Äußeres.

 

Ich war auf dem Weg zu meiner zehnten Wohnungsbesichtigung und zugegeben machte ich mir keine großen Hoffnungen. Als Anwältin hatte ich das nötige Budget, um mir hier in der bayerischen Landeshauptstadt eine Wohnung leisten zu können. Das Glück war allerdings nicht auf meiner Seite.

 

Schon von weitem sah ich eine Horde Menschen vor meinem Wunschobjekt stehen. Ich zählte dreißig Interessenten.
Mir blieb nicht verborgen, dass ich die einzige triefende, schirmlose Person war. Dies erhöhte meine Chancen keinesfalls. Ich blickte hinab auf meine weiße Bluse. Na, wenigstens hatte ich den pinken Spitzen-BH angezogen.

 

Ein älterer Herr mit kurzen, grauen Haaren, der sich als Mitarbeiter einer Immobilienfirma herausstellte, eilte uns entgegen. Es schien beinahe, als ruhte sein Blick etwas länger auf mir als auf den anderen Wartenden. Ich schob es selbstverständlich auf den pinken Spitzen-BH. Wütend über meine Unterwäschewahl presste ich die Lippen zusammen.

 

»Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich kann Sie so nicht in die Wohnung lassen«, erklärte mir der Herr mit einem missbilligenden Unterton, während er der restlichen Gruppe die Eingangstür aufhielt. Ich nickte nur ergeben.

Der nachmittägliche Ausflug hatte sich somit erfolglos und ziemlich schnell erledigt.

 

Ich blickte auf meine Armbanduhr und beschloss, nach Hause zu gehen. Nach dem dritten Signalton nahm meine Sekretärin das Telefon ab.

»Frau Stein, bitte teilen Sie möglichen Anrufern mit, dass ich mich außer Haus befinde. Ich werde Morgen wieder in der Kanzlei sein.«

»Alles klar, Frau Ackermann. Ich weiß Bescheid.«

Ich schob mein Smartphone zurück in die Tasche, welche immerhin den Wassermassen standgehalten hatte und innen trocken geblieben war.

 

Ich wohnte nur einige Straßen weiter und zu der frühen Stunde war von meinen Mitbewohnerinnen glücklicherweise niemand zu sehen.

Ich bahnte mir einen Weg durch das übliche Sammelsurium an Mülltüten, müffelnden Sportschuhen und gestapelten Pappkartons.

Mit Ordnung war es bei den beiden weiteren Mieterinnen nicht weit her und ich hatte es irgendwann aufgegeben, diese Tatsache zu ändern. Sie hatten all meine Versuche, Pläne und Regeln aufzustellen, konsequent ignoriert.

Die Küche sah ausnahmsweise passabel aus. Mit einer heißen Tasse Tee in der Hand verschwand ich in meinem Zimmer.

Ich schlüpfte aus meiner noch immer pitschnassen Kleidung und machte es mir in Jogginghose und Shirt auf dem Bett bequem.

Widerwillig griff ich nach meinem Notebook und begann, zum wiederholten Male all die Immobilienseiten zu durchforsten. Weitere fünf halbherzige aber dank meines Berufs gut gelungene Bewerbungen später stellte ich es beiseite und zog stattdessen das neu erschienene Bundesgesetzblatt hervor. Während aus meinen großen Kopfhörern Mahlers fünfte Symphonie schallte, führte ich mir die neuen Gesetze zu Gemüte, wobei ich merkte, dass ich mit der Zeit immer schläfriger wurde.

Ich war bereits weggedöst, als jemand laut gegen meine Zimmertür hämmerte. Zähneknirschend bat ich die Person herein und setzte mich auf. Es war meine Mitbewohnerin Aditi.

»Hey, hast du ein Problem damit, wenn's heute Abend etwas lauter wird?«, fragte sie.

Ich verneinte, wissend, dass sie sowieso nur der Höflichkeit zuliebe fragte.

 

Als ich damals nach meinem Studium eine billige Wohnung gesucht hatte, war diese Wohngemeinschaft als Zweck-WG betitelt gewesen. Nach einigen Wochen entdeckten allerdings die beiden weiteren Mitbewohnerinnen ihr Faible für lange und laute Nächte. Ich arrangierte mich damit, da ich mir zu der Zeit keine andere Wohnung hätte leisten können. Erst vor einigen Wochen hatte ich eine Anstellung bei einer namhaften Kanzlei gefunden. Seither war ich auf Wohnungssuche.

 

Einige Minuten nachdem Aditi mein Zimmer wieder verlassen hatte, stand ich auf und verschwand im Bad. Ich wollte zumindest noch in Ruhe duschen, bevor das Chaos in der kleinen Wohnung losbrach.

 

Den Rest des Tages verbrachte ich mit den neuesten Änderungen meiner Gesetzbücher. Um meine Ohren vor der Hip-Hop-Playlist der Party zu bewahren, hatte ich meine Musik besonders laut aufgedreht, daher bemerkte ich auch die neue E-Mail erst kurz vor dem Zubettgehen.

Im Absender stand ein Herr Huber, ein Allerweltsname. Er schrieb, dass ich am Morgen des kommenden Tages eine Wohnung besichtigen könne. Ich solle um sieben Uhr vor Ort sein.

Die Wohnung lag außerhalb Münchens und ich verfluchte meine Kopfhörer, aufgrund derer ich den Nachrichtenton nicht gehört hatte. Ich tippte eine kurze Antwort und stellte den Wecker. Mir blieben noch fünf Stunden Schlaf. Meine Augenringe konnten es am Morgen sicherlich mit den Ringen des Saturns aufnehmen.

 

Tatsächlich fühlte ich mich eben jene fünf Stunden später wie eine lebende Tote. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, mir Kaffee zu kochen, obwohl ich diesen eigentlich gar nicht mochte, verwarf die Idee allerdings wieder.

Als ich versuchte, im Stehen die Socken über meine Füße zu ziehen, verlor ich das Gleichgewicht und konnte mich gerade noch mit der Hand am Schreibtisch abfangen. Genau dort hatte allerdings meine Brille gelegen. Gedanklich fluchend, hob ich das Gestell hoch und besah es mir, nur um festzustellen, dass ich vor der Arbeit auch noch zum Optiker musste. Zumindest hatte ich nur einen der Bügel verbogen. Das hätte schlimmer kommen können.

 

Nach einer Stunde – die Bahn hatte natürlich wieder Verspätung – stand ich vor meinem möglichen neuen Zuhause. Von anderen Interessenten war nichts zu sehen, was mich etwas verwunderte. Mit einem Einzeltermin hatte ich nicht gerechnet.

 

Das Sechs-Parteien-Haus befand sich in einer ruhigen Wohngegend. Gleich daneben lag der örtlich Park und einige Meter weiter pries ein Aufsteller frisch gebackene Kuchen an. Obwohl ich die Wohnung selbst noch nicht gesehen hatte, fühlte ich mich bereits wohl.

 

Um Punkt sieben hielt ein kleiner Käfer am Gehwegrand und ein Herr Mitte fünfzig stieg aus.

»Grüß Gott!«, rief er, während er einen Ordner aus dem Kofferraum hob.

»Ich mache lieber Einzeltermine. Diese Massenbesichtigungen kann ich nicht leiden.«

Ich hatte gar nicht gefragt, aber das erklärte das Fehlen anderer Interessenten.

»Hier entlang.« Herr Huber schloss die schwere Eingangstür auf und führte mich zwei Treppen hinauf. Das Treppenhaus roch nach Weichspüler, was mich an meine Kindheit erinnerte und das Haus noch sympathischer erscheinen ließ.

 

Die Wohnung war ungewohnt groß. Neben einem Bad und der Wohnküche bestand sie aus fünf weiteren Zimmern.

Ich fragte mich, ob ich mich bei der Bewerbung geirrt hatte. Fünf Zimmer in dieser Lage konnte ich mir trotz guten Gehalts dann doch nicht leisten.

Nach einem Rundgang, in dem ich nichts zu bemängeln fand – außer vielleicht die uringelben Badfließen – streckte mir Herr Huber wortlos zwei Exemplare des Mietvertrags inklusive Stift entgegen.

»Lesen Sie ihn in Ruhe durch. Wir haben Zeit.« Er verschränkte die Arme und beobachtete mich abwartend. Die Anwältin in mir meldete sich und bestand darauf, den Vertrag erst einmal mit nach Hause zu nehmen, um ihn dort gewissenhaft prüfen zu können.

Da ich allerdings nicht nochmal eine Absage riskieren wollte, entschied ich mich dagegen. Ich überflog den Text, stutzte bei der tatsächlich sehr geringen Miete und verscheuchte dann meine Anwaltsgedanken, indem ich unterschrieb.

Herr Huber lächelte mir freundlich zu und zog mir ein Exemplar des Vertrags aus den Händen, welches er sofort gegen einen Schlüsselbund tauschte.

»Haustürschlüssel, Wohnungsschlüssel, Briefkastenschlüssel und der Kleine ist fürs Müllhäuschen. Zwecks Miete rufen Sie mich einfach an, dann gebe ich Ihnen die Bankverbindung durch. Ich muss jetzt los zu einem Termin.«

Ich nickte höflich und ließ die Schlüssel in meine Jackentasche gleiten.

Mein neuer Vermieter winkte noch einmal und verschwand ohne ein weiteres Wort im Treppenhaus.

Perplex blieb ich alleine vor meiner neuen Wohnung zurück. Ich hatte noch gar nicht erfasst, dass ich tatsächlich ein neues Zuhause gefunden hatte.


Pia Metzger – Kapitel 2

 

Ich ließ mich hinter das Steuer meines kleinen schwarzen Wagens fallen und stellte die überdimensional große Handtasche in den Fußraum des Beifahrersitzes.

Die Straßenlampen spiegelten sich in den Regenpfützen, die sich nach dem heutigen Unwetter auf dem alten Asphalt angesammelt hatten.

Bevor ich den Motor anließ, suchte ich in der Playlist nach meinem Lieblingslied: Memories von Within Temptation.

Laut singend machte ich mich auf den Heimweg. Immer wieder unterbrach ich mich, um laut über die Unfähigkeit der anderen Autofahrer zu schimpfen.

»Manche Menschen haben ihren Führerschein wirklich in der Baumschule gemacht!«, fluchte ich, als ein Kleintransporter so nah an mir vorüber fuhr, dass ich meinem Seitenspiegel bereits im Geiste Lebwohl wünschte.

Ich bog, zum Glück noch mit zwei Seitenspiegeln, in unsere Einfahrt ein und die Dunkelheit schluckte mein schwarzes Auto und mich.

Ich hatte meinem Vater schon einige Male vorgeschlagen, Lampen anzubringen, damit die Einfahrt nicht ganz so abweisend wirkte, aber er war strikt dagegen.

Er hatte mir erklärt, dass diejenigen, die das Haus bewohnten – also nur mein Vater und ich – den Weg zur Haustür auch ohne Licht fänden und ansonsten niemand etwas auf dem Grundstück zu suchen habe.

 

Als ich die Haustür hinter mir ins Schloss drückte, sah ich bereits das flackernde Licht des Fernsehers, welches mir verriet, dass mein Vater sich im Wohnzimmer befand.

Unsicher blieb ich im Flur stehen. Bei all meiner Freude verspürte ich einen schuldbewussten Stich in der Brust.

Ich atmete einmal tief ein und betrat den Raum. Am besten brachte ich das Gespräch schnellstmöglich hinter mich.

 

»Hallo Pia, langen Tag gehabt?«, fragte mein Vater und rutschte ein Stück zur Seite, damit ich mich neben ihn auf das alte Sofa setzen konnte. Die Federn ächzten.

»Ging schon, aber war noch in München«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Was hast du denn in München getrieben?«

»Eine Wohnung angeschaut.« Ich musste ungewollt grinsen und senkte mein Gesicht, damit er es hoffentlich nicht sah.

»Und?«

Als Antwort zog ich meinen Mietvertrag aus der Handtasche und streckte ihn meinem Vater entgegen.

Dieser blätterte kurz durch die Seiten und stutzte, als er meine Unterschrift sah.

Mein Magen zog sich zusammen und ich hoffte, dass ich ihn mit meiner Entscheidung nicht zu sehr überrumpelte.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte mit Stolz in der Stimme: »Na, das wurde aber auch Zeit, dass du hier rauskommst!«

Überrascht und gleichzeitig erleichtert fragte ich: »Du bist nicht sauer?« Ich musste einfach sichergehen. Ich hatte mich spontan zu diesem Schritt entschieden, da ich das Gefühl hatte, etwas an meinem Leben ändern zu müssen.

»Sauer? Ach Quatsch. Bin stolz auf dich. Du wohnst schon viel zu lange bei deinem alten Vater. Raus in die Welt mit dir.«

»Aber ich kann dir dann nicht mehr helfen.« Schuldbewusst blickte ich auf den Vertrag in meiner Hand.

»Du bist jung und musst auf eigenen Beinen stehen und sollst dich nicht um mich kümmern. So krank bin ich nicht und vielleicht habe ich ja wieder jemanden kennengelernt, der dann in dein Zimmer ziehen kann.«

»Was? Paps! Wie? Kennengelernt?«, stotterte ich bei der unerwarteten Info.

»Online-Dating!«, erklärte er mit einem Zwinkern.

Ich hob die Hand. Mehr wollte ich gar nicht wissen. Unweigerlich produzierte mein Unterbewusstsein ein Bild meines Vaters in einem schnieken Anzug, wie er mit einer roten Rose in der Hand vor einem Restaurant auf eine unbekannte Frau wartete.

Das war mir zu viel Kopfkino. Er war immerhin mein Vater und da stellte man sich keine Datingszenen vor.

 

Ich kuschelte mich in die Sofakissen und blieb noch einen Moment liegen, ehe ich ins Bad verschwand. Nach diesem langen Tag wollte ich bloß noch ins Bett.

 

Ich lag bereits unter der Decke, als es nochmals klopfte.

Mein Vater streckte den Kopf herein.

»Wann hast du denn vor, deine Sachen in die neue Wohnung zu bringen?«, fragte er.

»Übermorgen«, antwortete ich. »Habe danach einige Vorstellungsgespräche und da mag ich nicht immer so lange fahren müssen.«

»Ich helf dir, ja«, sagte er liebevoll.

»Danke Paps«, murmelte ich und vergrub meinen Kopf tiefer im Kissen.

Bevor er die Tür hinter sich schließen konnte, huschte mein Kater ins Zimmer und rollte sich am Fußende des Bettes zusammen.

»Werd dich vermissen, Moritz, aber München ist kein Ort für einen kleinen Kater. Einer von uns beiden muss doch auf Paps aufpassen.«

Eine Träne stahl sich meine Wange hinab.


Gerlinde Ackermann – Kapitel 3

 

Während ich die Stufen des Gerichts herabeilte, wehte meine Robe hinter mir im Wind. Der Richter hatte mal wieder überzogen und so war ich nun viel zu spät für meine Verabredung.

Sven, ein guter Freund und ehemaliger Studienkollege, hatte sich bereiterklärt, mir beim Umzug zu helfen. Seine Eltern hatten uns ihren Sprinter geliehen, der groß genug war, um meine gesamte Habe von A nach B zu transportieren.

Der Wagen stand mit laufendem Motor an der Straßenecke. Ich schlüpfte aus der Robe, riss die Beifahrertür auf und sprang hinein.

»Hi Bat-Woman«, grüßte mich Sven mit einem Handschlag und zusammen brausten wir in Richtung meiner bereits gekündigten Wohnung davon.

»Tut mir leid, ging nicht schneller«, entschuldigte ich mich.

»Mach‘ dir keine Gedanken. Ich war auch zu spät dran. Wir hatten noch ein kurzfristiges Meeting.«

Fragend sah ich ihn an. »Meeting? Irgendwas Spannendes passiert?«

»Geht nur um eine Patentverletzung. Gar kein Frauenthema.«

Sven arbeitete in der Rechtsabteilung einer Firma, die Autobauteile fertigte. Kraftfahrzeuge aller Art interessierten mich tatsächlich nicht, daher ignorierte ich seinen vorurteilsbehafteten Kommentar. Zumindest in meinem Fall hatte er ja recht. Ich besaß nicht einmal ein Auto.

 

Das Einladen gestaltete sich unerwartet einfach. Die meiste Arbeit machten die Bananenkisten, in welchen ich all meine Gesetzestexte und Kommentare feinsäuberlich gestapelt hatte.

Nachdem mich Sven keinen einzigen schweren Karton tragen lies, konnte ich ihm die meiste Zeit nur beim Schleppen zusehen.

 

Zum letzten Mal zog ich die alte Wohnungstür hinter mir zu. Den Schlüssel warf ich, wie abgesprochen, in den Briefkasten des Hausmeisters.

Meinen nun ehemaligen Mitbewohnern hatte ich einen kurzen Abschiedsgruß auf einen Zettel gekritzelt. Wir würden uns gegenseitig nicht vermissen, daher ersparte ich mir eine rührende und doch gespielte Abschiedsszene.

 

Sven parkte direkt vor der Eingangstür und schaltete die Warnblinkanlage ein.

»Geh schon mal vor und halt mir die Tür auf. Dann komme ich gleich mit den ersten Kisten nach«, forderte er mich fröhlich auf.

Ich mochte Sven wirklich gerne. Wir hatten uns während der Studienzeit regelmäßig die Nächte um die Ohren geschlagen, um zusammen zu büffeln. Solange man seine altmodische Meinung Frauen gegenüber tolerierte, war er einer der hilfsbereitesten und liebsten Menschen, die ich kannte.

Mit verschränkten Armen stand ich also im Hauseingang und sah zu, wie Sven Kiste um Kiste an mir vorbeitrug.

»Soll ich nicht doch helfen?«, fragte ich irgendwann. Ich fühlte mich schlecht, dass Sven meine gesamte Habe alleine schleppte.

»Kommt gar nicht in Frage. Eine Dame …«

»Okay, okay!«, lenkte ich lachend ein und ließ ihn weiter alleine schuften.

 

Nicht einmal eine Stunde später war der Sprinter leer. Vor dem Haus bedankte ich mich bei Sven und umarmte ihn zum Abschied.

»Die neue Wohnung feiern wir aber noch!«, verkündete er.

Ich gab nur einen unbestimmten Laut von mir, da ich eigentlich gar keine Lust auf irgendeine Art von Feier hatte.

»Ich meins ernst«, fügte er hinzu. »Wir können ja zusammen einfach schick Essen gehen oder so.«

»Äh ja, können uns ja mal wegen eines Termins absprechen«, versuchte ich die Situation so diplomatisch wie möglich zu umgehen.

»Super, dann meld ich mich bei dir«, rief er und stieg aufs Gas.

 

Die Wohnungstür fiel hinter mir ins Schloss und ich sog den Geruch meiner neuen vier Wände tief in die Lungen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken »Alles meins« singend durch die Wohnung zu springen, verwarf diese kindische Idee allerdings wieder.

 

Sven hatte meine Kisten vor der Wohnungstür gestapelt, damit ich sie in Ruhe verräumen konnte.

Genau das wollte ich nun in Angriff nehmen. Die Kisten sollten nicht unnötig lange dort draußen stehen, schon alleine damit ich die Nachbarn nicht verärgerte. Entschlossen trat ich auf die nächstgelegene Tür zu und drückte die Klinke herunter.

Während die Tür aufschwang, spürte ich plötzlich einen Luftzug im Nacken. Verwirrt wandte ich mich um und sprang vor Schreck gefühlt ein paar Meter in die Höhe.

Die Badtür in meinem Rücken hatte sich geöffnet und vor mir stand ganz unerwartet eine splitterfasernackte Frau.

Diese starrte nicht weniger erschrocken zurück und hielt sich hektisch ein Handtuch vor die Brust. Mit einem Quieken rannte die fremde Frau rückwärts und schlug mir die Badtür vor der Nase zu.

Verwirrt und immer noch schockiert blieb ich regungslos stehen. Schon wenige Sekunden später öffnete sich die Tür erneut. Diesmal war das Handtuch eng um den Körper der Frau geschlungen. Auch der Gesichtsausdruck der Fremden hatte sich verändert.

»Bei allen Göttern, was machen Sie in meiner Wohnung?«, fragte sie mich wütend.

»Ihrer Wohnung? Ich weiß nicht, wie Sie auf diese Anmaßung kommen, denn ich habe für diese Wohnung einen geltenden Mietvertrag unterzeichnet.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte die Fremde zornig an, nur um zum zweiten Mal vor Schreck einen Luftsprung zu machen. Eine dritte Stimme mischte sich plötzlich ein.

»Um genau zu sein, meine Damen, gehört die Wohnung Ihnen beiden.«

Die mir fremde Frau riss die Augen auf. Anstatt wieder im Bad zu verschwinden, versteckte sie sich nun allerdings hinter meinem Rücken.

Als wäre er aus dem Erdboden gewachsen, stand mein – unser – Vermieter in der Tür. Herr Huber hatte die Arme über einem Ordner verschränkt, den er sich an die Brust gedrückt hielt.

»Sie beide haben wohl den Mietvertrag nicht genau gelesen. Es handelt sich hierbei um eine Wohnung, deren Zimmer ich gesondert vermiete.« Tadelnd sah uns Herr Huber an. »Ihre weiteren Mitbewohner werden Sie in Kürze kennenlernen. Die Hausordnung finden Sie in diesem Ordner. Ich bin eigentlich nur gekommen, um ihn vorbeizubringen.« Nach einer Pause fügte er an die Frau hinter mir gewandt hinzu: »Äh, möchten Sie sich nicht vielleicht etwas anziehen? Dann könnten wir den Ordner kurz durchgehen.«

Ich versuchte, die peinliche Situation zu retten, indem ich Herrn Huber den Ordner abnahm und ihn mit leichter Gewalt zurück zur Tür schob. »Wir melden uns bei Ihnen, sollten wir Fragen zur Hausordnung haben«, setzte ich meine kompetenteste Anwaltsstimme auf und schlug dem verdatterten Mann die Tür vor der Nase zu.

»Nun, also. Hallo«, sagte ich etwas lahm zu der noch immer im Handtuch vor mir stehenden Frau. »Ackermann, Gerlinde Ackermann mein Name.« Ich streckte ihr meine Hand entgegen, die sie nahm und schüttelte.

»Ich bin Pia, hi. Ich ziehe mir erstmal was an, ja?« Mit diesen Worten verschwand sie, vermutlich in ihrem Zimmer, und erschien einige Minuten später bekleidet mit einem Shirt und Blue Jeans.

Ich kam mir in meinem Blazer und der weißen Bluse darunter overdressed vor.

Pia bot an, mir erst einmal beim Einräumen meines Zimmers zu helfen. Ich bezog den größeren Raum gleich neben ihrem.

Nachdem der Hausflur wieder leer war, machten wir es uns in der bereits möblierten Küche bequem. Wir beide hatten definitiv Redebedarf.

»Stand da wirklich was von Wohngemeinschaft im Mietvertrag?«, fragte Pia.

Ich zuckte mit den Achseln. »Ehrlich gesagt, habe ich den Vertrag nur überflogen«, gestand ich zähneknirschend. Eine Anwältin, die einen Vertrag nicht genau liest. Ich hatte gar keine Worte dafür, wie peinlich mir die Situation war.

»Ich habe eigentlich nichts gegen eine WG. Könnte doch recht witzig werden. Spieleabende und so.«

Sie hatte wohl meinen schockierten Blick gesehen, denn Pia lenkte ein: »Ok, ok, keine Spieleabende. Aber wenigstens gemeinsam kochen.«

»Das schon eher, solangs kein Fleisch ist.«

Pia verdrehte die Augen. »Also besser auch nicht zusammen kochen. Ist notiert.«

Als wir uns ansahen, brachen wir in schallendes Gelächter aus. Das fing ja bereits gut an.

»Also was machst du so?«, fragte Pia. Sie war definitiv die Gesprächigere von uns beiden.

»Ich bin Anwältin und du?«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Pias Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Du meinst so richtig mit Mördern und Verbrechern?«

Ich lachte. »Nein, ich bin auf Arbeits- und Sozialrecht spezialisiert.«

»Ich bin Zahnmedizinische Fachangestellte. Bin gerade erst mit der Ausbildung fertig geworden und suche jetzt in München eine Stelle.«

Anerkennend nickte ich. »Hut ab. Mir reicht es, wenn ich meinen Zahnarzt nur einmal im Jahr sehen muss.«

»Weiß noch nicht, ob es mir gefällt, aber das ist jetzt meine dritte Ausbildung, weil ich es nie wirklich lange mit einem Beruf ausgehalten habe. Mal sehen.«

»Wenns dir nicht gefällt, spricht nichts gegen eine vierte Ausbildung, würde ich sagen.«

Die Türklingel unterbrach unser Gespräch.

 

Ich öffnete und nahm die bestellten Möbel samt Handwerker in Empfang. Nachdem ich den Männern alles Nötige erklärt hatte und sie gleich noch bat, sich auch Pias noch unaufgebauter Möbel anzunehmen, kehrte ich zurück in die Küche.

»Also der Kleine sieht irgendwie heiß aus«, stellte Pia fest.

»Du meinst den mit den dunklen Haaren?«, fragte ich. »Echt? Ich weiß ja nicht. Ich finde alle drei nicht besonders ansprechend.«

»Pff, also ich find schon, dass der was hat.« Pia schob ihren Stuhl unauffällig in Richtung Küchentür, um einen besseren Blick in mein Zimmer zu haben. Dort streckte sich uns ein trainiertes Hinterteil entgegen.

»Du bist also auf Partnersuche?«, erkundigte ich mich.

»Ich hatte nie so wirklich Glück mit Typen. Also ja«, antwortete Pia und gab die Frage an mich zurück.

»Meine Karriere ist mir derzeit wichtiger«, erklärte ich achselzuckend.

 

»Wir wären dann fertig«, verkündete einer der Handwerker und reichte mir einen Beleg zur Unterschrift.

Ich bedankte mich und verabschiedete die Männer.

 

»Der hätte mich auch mal nach meiner Nummer fragen können«, schmollte Pia und starrte auf die Eingangstür.

»Noch sind sie da. Lauf hinterher und frag selbst.«

»Neee!«, Pia schaute mich entsetzt an. »Es ist die Aufgabe der Männer, uns Frauen anzusprechen. Immerhin waren die Männer schon in der Steinzeit die Jäger.«


Pia Metzger – Kapitel 4

 

Nur um die vergangenen Geschehnisse zusammenzufassen. Ich, Pia Metzger, 29, war gerade von Zuhause ausgezogen und hatte meinen chronisch kranken Vater mit einem halben Zoo an Haustieren zurückgelassen. Mein Wunsch war es, auf eigenen Beinen zu stehen, und zwar in meiner Wahlheimat München. Nach drei Ausbildungen und der Feststellung, dass weder Einzelhandelskauffrau, noch Tourismuskauffrau mein Ding waren, versuchte ich mich nun als Zahnmedizinische Fachangestellte.

Ich hatte unglaubliches Glück und schon nach der ersten Wohnungsbesichtigung hielt ich einen Mietvertrag in den Händen. Diesen hätte ich allerdings genauer lesen sollen, denn ich lebte nun unerwartet in einer Wohngemeinschaft. Bisher teilte ich mir die fünf Zimmer nur mit Gerli.

Gerlinde Ackermann war Anwältin und 28 Jahre alt. Zugegeben, hatte ich wirklich Respekt vor ihr. Nach ihrem Abitur studierte sie Jura und arbeitete jetzt in irgendeiner Großkanzlei.

Dagegen fühlte ich mich wie eine Versagerin. Trotz ihres Jobs hat Gerli den Vertrag übrigens auch nicht richtig gelesen. Zu ihrer und auch meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, dass das Thema »Wohngemeinschaft« und »Einzelvermietung der Zimmer« hinten im Vertrag versteckt war und dieser einige Seiten zählte. Nachdem wir beide von unserem Glück erfahren hatten, hat Gerli nochmals einen Blick auf den Mietvertrag geworfen und die Passage gefunden. Wir bezahlten nur für einen Anteil der Gesamtquadratmeter. Davon hatte ich bisher auch noch nie gehört.

Ich selbst war über die unerwartete WG eigentlich ganz froh. Auf Dauer wäre eine eigene Wohnung vielleicht doch etwas einsam geworden. Gerli ist allerdings nicht sehr begeistert. Sie ist extra ausgezogen, da sie in ihrer früheren WG die Mitbewohner nicht mochte. Davon abgesehen war eine Wohngemeinschaft nicht die standesgemäße Wohnung für eine Anwältin, aber damit musste sie sich jetzt erst einmal arrangieren. Gerli und ich kamen, den Göttern sei Dank, bisher super miteinander aus. Laut unseres Vermieters würden bald weitere Mitbewohner einziehen. Ich hoffte bloß, dass diese anständig waren.

 

Im Moment kreisten meine Gedanken aber weniger um zukünftige Mitmieter als um das bevorstehende Vorstellungsgespräch.

Ich brauchte sobald wie möglich einen Job, denn meine Ersparnisse würden nicht ewig reichen. Dank Kaution und erster Miete sah mein Kontostand bereits ziemlich erbärmlich aus.

 

Genau deshalb stand ich seit zwanzig Minuten vor der Tür der Zahnarztpraxis. Man hatte mir mitgeteilt, dass ich eine halbe Stunde vor Beginn der Sprechzeit hier sein sollte. Ich war pünktlich, der Zahnarzt scheinbar nicht. Mehrmals hatte ich bereits versucht zu klingeln, aber nichts regte sich. Hatte man mich vergessen?

Ich lehnte mich gegen die Hauswand und wartete. Spätestens zu Beginn der Sprechzeit musste der Zahnarzt ja auftauchen.

Und tatsächlich: Pünktlich hörte ich, wie jemand von innen aufschloss. Es war doch jemand da gewesen?!

Ich drückte die Tür auf und stand einer verdutzten jungen Frau gegenüber. Ich schätzte sie so zehn Jahre jünger, vielleicht auf Anfang zwanzig. Ihre wasserstoffblonden Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie Make-up aufgelegt hatte, oder von Natur aus engelsgleiche Haut besaß.

Ich selbst hatte mein Gesicht etwas gepudert. Ich schminkte mich nie und besaß daher auch nur ein kleines Puderdöschen.

Meine Haut ähnelte eher einem Streuselkuchen. Da half sicher auch kein Make-up.

»Guten Morgen«, begrüßte mich die junge Frau fröhlich. Sie huschte hinter den Empfangstresen und startete den PC. »Ich habe den Computer noch gar nicht hochgefahren«, entschuldigte sie sich. »Haben Sie einen Termin?«

Ich lächelte höflich: »Ja, den habe ich.«

Bevor ich fortfahren und sie nach meinem bisher noch ausstehenden Vorstellungsgespräch fragen konnte, unterbrach sie mich: »Dann können Sie mir schon einmal Ihre Versicherungskarte geben.«

»Nein! Moment! Das ist ein Missverständnis. Ich wurde zum Bewerbungsgespräch eingeladen.«

»Oh, tut mir leid, aber davon weiß ich nichts. Ich gehe mal den Chef fragen.« Blondie, wie ich sie im Geiste bereits getauft hatte, lief leichtfüßig davon.

Als sie einige Minuten später zurückkehrte, entschuldigte sie sich bei mir: »Der Chef meinte, er hätte den Termin ganz übersehen. Sie sollen einfach gleich zu ihm rein.« Aus irgendeinem Grund errötete Blondie, während sie mit der Hand auf eine unbeschriftete Tür neben dem Behandlungszimmer wies.

Ich schritt auf die Tür zu und klopfte. Auf das »Bitte« hin öffnete ich die Tür und blickte überrascht auf den Mann, der mir, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, entgegenblickte.

Der Zahnarzt war klein, hatte einen Bierbauch und ein aufgedunsenes Gesicht. In einer Lederhose wäre er als der Klischee-Bayer schlechthin durchgegangen.

Einen Zahnarzt stellte ich mir allerdings anders vor – irgendwie gesünder aussehend. Von so einem würde ich mich ja nicht behandeln lassen, aber ich wollte ja einen Job und keine Parodontosebehandlung.

Schnell verdrängte ich diesen Gedanken und hoffte, dass man ihn mir nicht ansah.

Seine Schweinsäuglein scannten jeden Zentimeter meines Körpers, bevor er mich näher treten ließ. Mit einer Geste bedeutete er mir, mich zu setzen. Die Begrüßung sparte er sich. »Also Frau Metzger: Ich habe Ihre Bewerbung mit Interesse gelesen. Ihre Noten sind gut. Die Zeugnisse klingen sehr positiv. Kurz: Die Bewerbung gefällt mir.« Bei dem letzten Satz lächelte er und zwinkerte. »Wann haben Sie Zeit zum Probearbeiten?«

Ich war perplex. Ich hatte Fragen erwartet, wenigstens ein kurzes Gespräch.

»Ähm, also ...«, stotterte ich. »Ich kann kommen, wann immer es Ihnen passt.«

Er begann laut und schallend zu lachen.

Ich verstand nicht, was an meinem Satz so lustig gewesen sein sollte. Sicherheitshalber verbarg ich meine Irritation hinter einem höflichen Lächeln.

»Dann sehe ich Sie pünktlich Morgen um dieselbe Zeit wie heute.« Mit diesen Worten stand er auf und rauschte an mir vorbei aus dem Zimmer.

Höflichkeitsfloskeln schienen wohl nicht Bestandteil seines Vokabulars zu sein.

Dieser Zahnarzt war seltsam, aber immerhin bekam ich eine Chance.


Gerlinde Ackermann – Kapitel 5

 

Der Flur zu meinem Büro lag verlassen da. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, das Licht anzuschalten, daher tastete ich mich mehr zu meiner Bürotür, als dass ich sie sah.

Ich war wahrlich kein Frühaufsteher, aber in Ruhe und ohne Störungen meine Arbeit erledigen zu können, war Motivation genug, frühmorgens bereits in der Kanzlei zu sein.
 

Ich betrat mein kleines, gemütliches Büro und warf den Schlüssel in die oberste Schublade des Schreibtisches. Im spärlichen Licht der Straßenlampen unter meinem Fenster kramte ich in meiner Handtasche nach einem Feuerzeug.

Ich war Nichtraucher, hatte aber immer eines griffbereit, falls es eine Kerze anzuzünden gab.

Genau das tat ich.

Drei kleine lila Teelichter später schaltete ich die Schreibtischlampe ein und griff nach der ersten Akte, welche ich mir bereits am Vortag von der Sekretärin hatte bereitlegen lassen.

»Sie haben es aber sehr romantisch«, vernahm ich plötzlich eine Stimme.

Vor Schreck stieß ich mir mein Knie am Schreibtisch und sog scharf die Luft ein. Ich blickte auf und erkannte meinen Chef und Kollegen Dr. Erwin Mitter.

Vor einer Woche hatte er, aus mir unbekannten Gründen, mit meiner ehemaligen Zimmernachbarin das Büro getauscht.

Wir waren uns bisher kaum begegnet, nur einige Male kurz auf dem Flur.

Rechtsanwalt Dr. Mitter war Mitbegründer der Kanzlei und spielte daher nicht in meiner Liga.

»Guten Morgen«, grüßte ich ihn höflich, aber kühl.

Am liebsten hätte ich ihm mitgeteilt, dass Klopfen angebracht gewesen wäre, aber als unbedeutender Neuling hütete ich mich natürlich, ihn zurechtzuweisen.

»Ihnen auch. Wie geht es Ihnen?« Dr. Mitter trat noch einen Schritt näher und ging vor meinem Schreibtisch in die Hocke, um mir beim Sprechen in die Augen schauen zu können.

»Gut«, antwortete ich einsilbig. Auf die Gegenfrage verzichtete ich. Ich war es nicht gewohnt, mich morgens bereits unterhalten zu müssen, und musste mich erneut daran erinnern, wer da gerade vor mir stand.

»Freut mich sehr zu hören. Sie sind ja noch nicht so lange in unserer Kanzlei, habe ich gehört. Wie kommen Sie mit Ihrer Arbeit zurecht?«

»Ganz wunderbar. Danke der Nachfrage.« Ich unterdrückte ein Gähnen und blinzelte, um die Müdigkeit zu vertreiben. Wieso musste der Mann seine kommunikative Ader gerade jetzt am frühen Morgen ausleben?

»Sehr gut. Wir brauchen motivierte und gut ausgebildete Mitarbeiter in der Kanzlei. Aber ich muss langsam auch wieder ran. Wir müssen uns unbedingt später noch weiter unterhalten.« Dr. Erwin Mitter stand auf und machte sich auf den Weg zurück zur Tür.

Ich wünschte ihm einen schönen Tag und wartete, bis ich wieder alleine mit meinem Büro war.

Einige Minuten später machte sich schlechtes Gewissen in mir breit. Hätte ich höflicher oder wenigstens gesprächiger reagieren sollen?

Viele der älteren Anwälte sprachen nur das Nötigste mit mir. Sie hatten einige hochkarätige Mandanten und gingen bei der Münchner Prominenz ein und aus. Damit konnte ich nicht mithalten.

Dennoch war es wichtig, sich mit den erfahrenen Anwälten gutzustellen. Ich würde hin und wieder jemanden brauchen, mit dem ich mich beraten und den ich um Hilfe bitten konnte. Davon abgesehen war er mein Vorgesetzter. Ich durfte es mir mit ihm auf keinem Fall verscherzen.

Ich nahm mir vor, bei nächstmöglicher Gelegenheit meine morgendliche Einsilbigkeit wiedergutzumachen.

 

Um kurz nach elf Uhr informierte mich die Sekretärin, dass ein Mandant gekommen sei. Ich hatte ihn hergebeten, damit ich mit ihm das Urteil durchsprechen konnte, welches in dem Rechtsstreit verkündet worden war, für den er mich beauftragt hatte.

Es klopfte und der Herr trat ein. Er trug eine fleckige Jeans und darüber ein gelbes Shirt, von dem ich mir nicht ganz sicher war, ob es früher einmal weiß gewesen war. Neben einer Plastiktüte hielt er noch eine große Pappkiste in den Händen.

Bevor er meinen Gruß erwiderte, stellte er den Karton neben der Tür hinter einer meiner Topfpflanzen ab. Dann ließ er sich mir gegenüber auf einem Stuhl nieder.

Ich seufzte, als er den Inhalt seiner Tüte auf meinen Schreibtisch leerte. Alle Briefe, die er jemals von unserer Kanzlei erhalten hatte, lagen nun ungeordnet und teilweise zerknittert auf der hellen Tischplatte.

Da meine Termine knapp bemessen waren, entschied ich mich, das Urteil nochmals auszudrucken und meinem Mandanten zu überlassen. Ich wollte mir nicht die Mühe machen, aus diesem Papierberg die bereits übersandte Abschrift herauszusuchen.

»Sie sehen es ja selbst im Tenor.« Ich deutete auf die aufgelistete Entscheidung auf der zweiten Seite. »Die Vorsitzende hat Ihre Klage abgewiesen.«

»Das kann nicht sein. Das Geld steht mir zu.« Wütend funkelte mich der Mann an.

»Das Problem ist, und das habe ich Ihnen ja bereits erklärt, dass die Entscheidung alleine auf der Auslegung des Gerichts beruht.«

Nach weiteren Erklärungen und missmutigen Blicken meines Gegenübers, akzeptierte dieser das Urteil. Er entschied, dass er nicht dagegen vorgehen wolle.

Ich vermutete, dass der Herr einer jener Kläger werden würde, die gezielt nach Gesetzesverstößen suchten und diese dann vor Gericht brachten. Davon gab es einige. Vermutlich wollte er meinen Rechtsbeistand eher als Lehrgang für sich, als um den Rechtsstreit zu gewinnen.

Mir war es allerdings einerlei. Mandant war Mandant.

Zum Abschied schüttelte ich seine Hand und entließ ihn mit einem höflichen Lächeln.

Ich rollte mit meinem Bürostuhl einige Zentimeter zurück, damit der Mann verstand, dass ich ihm nicht beim Einräumen seiner Tüte helfen würde.

Die Schriftstücke rochen, als habe sich in der Vergangenheit jemand über die Papiere übergeben.

Die Tür schloss sich hinter meinem jetzt ehemaligen Mandanten und ich riss sofort mein Fenster auf, um den Mief loszuwerden.

Erst als ich anfing zu frieren, schloss ich es wieder.

Der Straßenlärm verstummte, doch gleichzeitig vernahm ich ein anderes Geräusch. Es raschelte. Hatte ich Mäuse im Büro? Ich sah mich verwirrt um.

Da erst bemerkte ich, dass der Pappkarton noch immer hinter der Pflanze stand.

Das Rascheln stammte eindeutig aus jenem Karton. Der Typ würde doch keine Ratten mitgebracht haben?

Ich trat auf den Karton zu und blickte argwöhnisch auf ihn hernieder. Langsam legte ich meinen kleinen Finger an die Öffnung und zog vorsichtig an der eingeklappten Pappe.

Als das Licht in den Karton fiel, starrten mir weder Mäuse noch Ratten entgegen. In einem Nest aus Stroh saßen zwei kleine Zwergkaninchen. Bei den putzigen Fellnasen konnte ich einen kleinen verzückten Ausruf nicht unterdrücken.

Ich schloss den Karton wieder, da ich nicht wusste, wie hoch solche Kaninchen springen konnten, und ging zurück zum Schreibtisch.

In der Akte fand ich schnell, wonach ich suchte und wählte die Handynummer meines Mandanten. Zum Glück hob er sofort ab.

»Ackermann hier. Sie haben bei uns Ihre Kaninchen vergessen.«

»Oh, das tut mir leid. Wollte sie eh nur ins Tierheim bringen. Sind die Kaninchen meiner Tochter und sie mag die nicht mehr haben, weil sie gebissen wurde.«

»Wann wollen Sie die Tiere denn abholen?«, fragte ich und verdrehte bei dieser Verantwortungslosigkeit den Tieren gegenüber die Augen.

»Wissen Sie was: Behalten Sie sie einfach. Ich mag jetzt nicht nochmal umdrehen. Schönen Tag noch.«

Er legte auf.

Wütend starrte ich auf den Hörer. Das war dreist.

Ich wählte die Nummer erneut. »Ackermann hier nochmal, wir sind wirklich nicht dafür da, uns um Ihre Tiere zu kümmern. Sie kommen bitte und holen diese ab.«

Wieder legte mein Gesprächspartner auf, ohne überhaupt ein Wort gesagt zu haben.

Ich betrachtete die Pappschachtel. Ganz klasse! Jetzt hatte ich hier zwei Kaninchen, um die ich mich kümmern durfte. Ich hatte wirklich anderes zu tun.

Mein erster Gedanke war, eine meiner Sekretärinnen zu bitten, die Tiere ins Tierheim zu bringen, aber eigentlich konnte ich das auch selbst erledigen. Es war sowieso Zeit für die Mittagspause.

Ich klemmte mir den Pappkarton unter den Arm und verließ die Kanzlei.

 

Mit der Bahn waren es nur einige Minuten bis zum Tierheim. Als Studentin war ich bereits einmal dort gewesen, da ich überlegt hatte, einen Hund zu adoptieren. Am Ende blieb es aus mehreren Gründen bei der bloßen Idee. Ich kannte aber immerhin jetzt den Weg.

 

Ungeduldig verlagerte ich das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, während ich wartete, dass man mir die Tür öffnete.

»Grüße Sie, Ackermann mein Name. Ich habe hier zwei Findelkinder, die ich gerne abgeben würde«, erklärte ich, sobald mich eine junge Frau einließ. Ich klappte die Pappe auf und zeigte ihr die zwei kleinen Kaninchen.

»Wo haben Sie die zwei denn gefunden?«, fragte die Frau.

»Ein Mandant hat den Karton in unseren Büroräumen stehengelassen und sich geweigert, diesen wieder abzuholen.«

»Gut. Wir kümmern uns um die zwei. Vielen Dank fürs Vorbeibringen.« Die junge Frau schüttelte mir die Hand, griff nach dem Karton und hielt mir noch die Tür auf.

Ich machte mich auf den Rückweg zur Kanzlei.

 

Während ich auf die Bahn wartete und gedankenverloren auf die Anzeigetafel starrte, kamen in mir Zweifel auf.

Die Kulleraugen der beiden Kaninchen gingen mir einfach nicht aus dem Kopf.

Die Bahn fuhr ein. Dennoch stieg ich nicht ein und fasste stattdessen einen Entschluss. Kurzerhand drehte ich mich um und lief zurück zum Tierheim.

»Ich möchte die beiden Kaninchen doch wieder mitnehmen«, erklärte ich außer Atem und etwas verlegen.

Die junge Frau sah mich verwirrt an, fragte dann aber zögerlich: »Kennen Sie sich denn mit Kaninchen aus?«

Ich verneinte und erhielt daraufhin eine umfassende Zusammenfassung, wie Kaninchen zu halten sind.

»Haben Sie noch Fragen?«

Ich schüttelte den Kopf und nahm den Pappkarton wieder entgegen.

»Sehr gut, dann viel Spaß mit den Zweien. Wir sind momentan so voll, dass ich wirklich froh bin, dass Sie sie wieder mitnehmen.«

 

Kurze Zeit später standen die verängstigten Kaninchen wieder hinter meiner Palme.

Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass mein nächster Mandant erst in einer halben Stunde auftauchen würde, somit hatte ich genug Zeit, alles zu lesen, was mir Google bei dem Begriff »Kaninchen« ausspuckte.

Ich funktionierte eine Tupperbox, die wohl irgendwer in unserer Teeküche vergessen hatte, zu einem Wassernapf um. Bis Feierabend mussten die Langohren damit auskommen.

 

Kurz nach 17:00 Uhr verließ ich mit den beiden Fellnasen die Kanzlei und betrat den Bäcker, um mir noch Brot fürs Abendessen zu besorgen.

Jemand tippte mir auf die Schulter.

»Sie auch hier?« Es war Herr Dr. Mitter.

Ich erinnerte mich an meinen Vorsatz, freundlicher zu sein, und so antwortete ich mit einem Lächeln: »Ja, ich muss noch fürs Abendessen einkaufen.«

»Habe Sie heute Mittag gar nicht gesehen. Sie haben aber schon etwas gegessen?«

Verwirrt über die Frage blickte ich ihn an. »Ich esse mittags immer nur eine Kleinigkeit, sonst werde ich am Nachmittag so müde und unkonzentriert.«

»Ach wirklich? Ich gehe eigentlich schon gerne Essen, wenn es die Zeit erlaubt.«

»Sie dürfen gerne vor mich, wenn Sie möchten«, bot ich an. Dies schien mir eine gute Gelegenheit, den Eindruck, welchen ich am Morgen wohl hinterlassen hatte, wieder gutzumachen.

Er nahm an. »Sehr freundlich, Frau Kollegin. Ich habe es tatsächlich recht eilig. Darf ich mich dann mal in den kommenden Tagen mit einem Mittagessen revanchieren? Rein kollegial versteht sich. Vielleicht kann ich Sie ja noch von den Vorzügen eines guten Mittagessens überzeugen.«

Alleine bei dem Gedanken, mit einem der Kanzleiinhaber Essen zu gehen, schoss mir das Blut ins Gesicht. Ich schaffte es aber glücklicherweise, eine neutrale Miene zu bewahren, und nahm dankend an. Das war eine Chance, die ich nicht sausen lassen durfte!

 

Nachdem ich noch das Zoogeschäft geplündert hatte, machte ich mich endlich auf den Heimweg.

 

Ich hatte mich dafür entschieden, die beiden Kaninchen frei in der Wohnung zu halten. Damit sich die beiden allerdings an ihr neues Zuhause gewöhnen konnten, baute ich ihnen in der Ecke unserer Küche ein provisorisches Gehege aus einem Steckregal, welches eigentlich für meine Schuhe gedacht gewesen war. Das musste für den Anfang genügen. Am kommenden Tag wollte ich mit den beiden sowieso noch zum Tierarzt, da konnte ich mich dann noch nach einer besseren Lösung umsehen.

Ich hob die beiden Kaninchen in das Gehege, wo diese sofort in den kleinen Holzhäusern verschwanden, die ich im Zoogeschäft mitgenommen hatte.

»Was machst denn du da?«

Erschrocken zuckte ich zusammen, musste aber im selben Moment zu grinsen.

»Grüß dich, auch schon daheim?«, fragte ich und schaute zu Pia hinauf. »Darf ich dir ….« Erst jetzt fiel mir auf, dass die Kaninchen noch keine Namen hatten. Ich erzählte Pia daher erst einmal, wie die zwei ihren Weg zu mir gefunden hatten.

»Mein Vater hat auch Kaninchen, aber mit freier Wohnungshaltung kenne ich mich wirklich nicht aus«, sagte Pia, nachdem ich mit der Geschichte geendet hatte. Sie beugte sich hinunter und versuchte eines der beiden anzulocken. »Ich kann gerne helfen, wenn ich soll.«

»Das ist wirklich nicht nötig«, lehnte ich sofort ab, da ich immerhin selbst für die Arbeit verantwortlich war, die ich mir mit den Kaninchen in die Wohnung geholt hatte.

»Aber ich würde gerne helfen.«

Ich überlegte. »Na, wenn das so ist, habe ich nichts dagegen. Aber wirklich nur, wenn du Zeit und Lust hast. Nur um das nochmals klarzustellen.«

»Wenn es zwei Männer sind, haben wir jetzt zumindest Typen in unserem Singleleben.« Ich lachte, antwortete aber nicht, da ich nicht wusste, was ich darauf hätte sagen sollen.

»Wie heißen die beiden Knutschkugeln jetzt eigentlich?«, fragte Pia

»Habe den Zweien noch keinen Namen gegeben. Du darfst dir gerne etwas ausdenken.«

»Äh na dann ... Wuschel und Flauschi?«

»Kreativ ist das nicht besonders.« Stirnrunzelnd betrachtete ich die Holzhäuser, unter denen die zwei Fellnasen noch immer hockten.

Sie lachte. »Hast du eine bessere Idee?«

»Eigentlich nicht«, gab ich zu. »Dann nennen wir das weiß-braune Wuschel und das braune Flauschi.“


Pia Metzger – Kapitel 6

 

Als ich am folgenden Morgen wieder auf den Klingelknopf drückte, öffnete sich die Tür der Zahnarztpraxis sofort.

Es war nicht Blondie, die mich hereinbat, sondern ein anderes junges Mädel: lange braune Haare und gertenschlank. Sie stellte sich als Andrea vor.

Wie ich erfuhr, arbeiteten bei Dr. von Scherheim drei Frauen. Eine davon ging aufgrund von Schwangerschaft in den Mutterschutz. Ich sollte sie ersetzen. Mein Vertrag war laut Jobanzeige unbefristet, also kam sie wohl nach der Babypause nicht zurück.

Alle drei Frauen sahen aus wie frisch vom New Yorker Laufsteg. Das wusste ich von den Fotos, die mit Büroklammern am Dienstplan befestigt waren.

Ich überlegte ernsthaft, nun jeden Abend ins Fitnessstudio zu gehen und meine Ernährung umzustellen. Umgeben von so viel Schönheit bekam ich Minderwertigkeitskomplexe. Ich war zwar nicht dick, aber immerhin ein Moppel, und zwar einer mit braunen, immer zerzausten Haaren.

 

Dr. von Scherheim sah ich nur kurz und er würdigte mich keines Blickes.

Die Aufgaben bekam ich von Andrea zugeteilt.

Die Türklingel schrillte und ich betätigte den Türöffner. Ein Mann Mitte 40 betrat die Praxis. Nachdem Andrea die Krankenkarte entgegengenommen und den Herrn ins Wartezimmer geschickt hatte, sagte sie: »Übernimmst du gleich die Zahnreinigung für den Herrn?« Es war keine Frage, sondern eine Aufforderung und als solche verstand ich sie auch. Ich sprang sofort auf und bat den Mann, mir zu folgen, und ging voraus zu einem der beiden Behandlungsräume. Andrea folgte. Sie beobachtete jede meiner Bewegungen aufs Genaueste. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war sie aber mit mir zufrieden.

Die restlichen Stunden bis zum Feierabend verbrachte ich hinter der Empfangstheke.

Andrea war die meiste Zeit im Behandlungszimmer, dennoch hatte ich das Gefühl, dass wir uns gut verstanden.

Sobald der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, rief mich Dr. von Scherheim zu sich in sein Büro.

Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich ihm gegenüber.

»Sie haben sich für Ihren ersten Tag sehr gut geschlagen«, eröffnete mir der Zahnarzt.

Andrea hatte wohl bereits Bericht erstattet, schlussfolgerte ich.

Ich bedankte mich und wartete, bis mein Gegenüber erneut das Wort ergriff.

Dr. von Scherheim schob mir einen Stapel Blätter hin. »Ihr Arbeitsvertrag«, erklärte er.

Ich nahm ihn und begann zu lesen. Der Arzt ließ mich dabei nicht aus den Augen.

Eines hatte ich durch das WG-Chaos gelernt: Verträge sollte man lesen, auch wenn man sich von einem Vertragspartner beobachtet fühlte. Der Vertrag las sich allerdings ganz gewöhnlich. Ich konnte nichts Schlechtes entdecken. Ich griff nach einem Stift und setzte meine Unterschrift gleich neben die des Arztes.

»Na dann: Auf eine gute Zusammenarbeit.« Mit diesen Worten zog er mir den Vertrag unter der Nase weg.

Etwas piepsig meldet ich mich jetzt doch zu Wort: »Bekomme ich auch eine Kopie?«

»Ohhh, natürlich!«, antwortete der Arzt und reichte mir mein Exemplar.

Während ich es einmal faltete und in meine Handtasche stopfte, öffnete Dr. von Scherheim die oberste Schublade seines Schreibtisches. Darin befand sich eine beachtliche Sammlung Schnellhefter. Nur drei davon waren blau.

»Rosa für die Frauen und Blau für die Männer. Ich stelle lieber Frauen ein«, erklärte der Zahnarzt, der meinen Blick bemerkt hatte. »Die sind fleißiger und kosten weniger.«

Es verschlug mir tatsächlich kurz die Sprache. Meinte er das ernst, oder war das einfach sein Humor? Dass der Typ seltsam war, hatte ich ja bereits festgestellt. Aber mir war es am Ende auch egal. Damit würde ich schon klarkommen. Selbst wenn der Zahnarzt das ernst meinte, verdiente ich immer noch gutes Geld und hatte jetzt einen festen Job.

»Soll ich schon Morgen anfangen?«, fragte ich.

»Ich erwarte Sie nächste Woche Montag. Da können Sie dann mit den anderen Ihren Dienstplan absprechen.«

Ich nickte. »Gut, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend.« Mit Höflichkeit kam man im Leben am weitesten. Das hatte zumindest mal meine Mutter gesagt.

»Ihnen auch, Pia«, antwortete mein Chef. Er konnte also auch freundlich. Wow!

Ich stand auf, griff nach meiner Handtasche und trat zur Tür. Als ich sie beinahe erreicht hatte, sprach mich der Zahnarzt nochmals an: »Eins noch, Pia. Ich stelle normalerweise nur Frauen unter 22 oder über 40 ein, da diese entweder mit dem Kinderkriegen schon fertig, oder noch zu jung dafür sind. Denken Sie also bloß nicht daran, für irgendeinen Mann die Beine breit zu machen und sich schwängern zu lassen!«

Mir klappte die Kinnlade herunter. Das hatte er gerade wirklich gesagt? Ich war wie vor den Kopf gestoßen und stand geschockt im Türrahmen. Ein Teil von mir wollte wieder in den Raum stürmen, meinen Vertrag aus meiner rosa Akte zerren und ihn in kleine Fetzen zerreißen. Ein anderer Teil wollte das Gesagte einfach ignorieren und froh darüber sein, dass ich erst einmal einen Job hatte. Am Ende entschied ich mich für die letzte Variante, klappte den Mund zu und warf als kleinen Triumph die Bürotür hinter mir zu.

»Gewöhn‘ dich dran. Der ist immer so«, hörte ich Andrea in meinem Rücken.

»Ernsthaft?«, fragte ich mit erschreckend zittriger Stimme, die so gar nicht zu meiner mir gerade eingeredeten inneren Selbstsicherheit passte.

»Ja. Er ist etwas anders, aber wenn du dich an seine Regeln hältst, ists ein guter Job.«

Wenn ich mich an seine Regeln hielt? Welche sollten das sein? Nicht schwanger werden war vermutlich eine davon. Gestaltete sich als Single immerhin nicht sonderlich schwer.

Ich bedankte mich bei Andrea und machte mich auf den Heimweg.

 

Zurück in meinem Zimmer vergrub ich mich erst einmal unter meiner Lieblingsdecke.

Das Verhalten meines Chefs hatte mich doch ziemlich getroffen. Es war ja nicht mein erster Job. Sowas war mir aber wirklich noch nie untergekommen. Vielleicht hatte Andrea recht und man kam am Ende gut mit ihm aus. Glauben konnte ich es nicht. Was mir an der Situation am meisten zu schaffen machte, war, dass eben genau diese seltsame Situation auf meine Unsicherheit traf, die ich mit in diese Wohnung und in diesen neuen Lebensabschnitt gebracht hatte.

Wenigstens hatte ich im Laufe der Woche noch weitere Vorstellungsgespräche. Sollte sich da etwas ergeben, sah mich dieser seltsame Mann nie wieder.

 

Es klopfte.

»Pia, wir haben Besuch.« Gerlis Stimme drang gedämpft durch die Tür. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie nach Hause gekommen war.

Ich stand auf und trat zu ihr auf den Flur.

Neben Gerli stand unser Vermieter Herr Huber. Diesmal ohne seinen obligatorischen Ordner.

Ich begrüßte ihn argwöhnisch.

»Ich wollte nur kurz bei Ihnen vorbeischauen und persönlich Bescheid geben, dass ich mich aus privaten Gründen die nächsten Tage im Ausland aufhalten werde. Ein Freund wird sich um die Vermietung der leeren Räume kümmern. Nur damit Sie sich nicht wundern, wenn sich fremde Personen in der Wohnung aufhalten«, erklärte unser Vermieter.

»Also, das heißt, Ihr Freund wählt die weiteren Mieter aus?«, fragte Gerli.

»Vollkommen richtig erfasst, Frau Ackermann.«

»Wie sieht es mit einem Mitspracherecht aus?«, fragte sie.

»Ein Mitspracherecht ist nicht notwendig. Immerhin haben Sie den Vorteil eines eigenen Mietvertrags für Ihren Wohnbereich.«

Übersetzt hieß dies also, dass jeder Depp ohne unser Wissen einziehen konnte.

»Ich sehe, dass Sie überrascht sind. Nur keine Sorge. Sie müssen selbst überhaupt nichts tun. Mein Freund und ich werden uns um alles kümmern.«

Er verstand wohl nicht, dass genau dies unser Problem war. Ich überlegte gerade, wie ich die Bedenken höflich formuliert vorbringen konnte, doch da ergriff Gerli erneut das Wort. »Ich hätte da einen Vorschlag.«

»Nur raus damit, junge Frau. Ich bin ganz Ohr.«

»Ich möchte Ihnen gerne das Angebot machen, dass wir uns um die weiteren Mieter kümmern.«

Herr Huber hob eine Augenbraue. »Sehr freundlich, aber das ist wirklich nicht Ihre Aufgabe. Ich habe bereits alles Nötige in die Wege geleitet.«

»Nein, wirklich«, sprang ich Gerli zur Seite. »Wir machen das total gerne und das ist viel leichter, als wenn Sie einen Freund damit beauftragen müssen.«

»Als Anwältin kann ich Ihnen versichern, dass wir nur Mieter mit tadellosen Lebensläufen für die Wohnung auswählen werden.«

Herr Huber sah von Gerli zu mir und wieder zurück. Nach kurzem Zögern willigte er ein. »Nun gut, wenn Sie meinen, dann suchen Sie neue Mitbewohner. Alles Vertragliche erledige dann ich. Ich brauche die Namen allerdings noch in den nächsten beiden Wochen.«

»Wir kümmern uns umgehend darum«, versprach Gerli.

Ich nickte bekräftigend.

»Gut, dann verlasse ich mich auf Sie. Einen schönen Tag noch die Damen.«

»Ihnen ebenso«, sprachen Gerli und ich im Chor.

 

Sobald wir die Wohnung wieder für uns hatten, wandte ich mich an Gerli.

»Und wie genau wollen wir so schnell neue Mieter finden? Also Leute, die Wohnungen suchen, gibt es in München ja wie Sand am Meer, aber die sollen ja auch zu uns passen.«

Gerlis Augen funkelten schelmisch. »Wir veranstalten ein WG-Casting!«

»Wie soll denn das ablaufen und mal davon abgesehen: Wolltest du nicht wieder ausziehen?«, fragte ich skeptisch.

»Ich werde mich nach passenden Wohnungen umsehen. Jetzt wohne ich aber fürs Erste hier, bis ich etwas Neues finde. Ich werde online und in der Zeitung Anzeigen schalten. Bewerber dürfen dann am Samstag vorbeikommen. Dann können wir uns ein eigenes Bild machen.«

»Eigentlich simpel«, gab ich zu und lachte.

»Wie war eigentlich dein Probearbeiten?«, wechselte Gerli das Thema.

»Frag nicht.«

»So schlimm?«

Ich zuckte mit den Achseln und berichtete Gerli alle Einzelheiten meines ersten Arbeitstages.

Gerli runzelte missbilligend die Stirn. »Er hat kein Recht, so mit dir umzugehen. Ich hoffe, du findest was anderes. Sollte sowas nochmals vorkommen, sag Bescheid. Das musst du dir von keinem Chef gefallen lassen.«

Ich nickte dankbar, hoffte allerdings, ihre Hilfe nicht in Anspruch nehmen zu müssen.


Gerlinde Ackermann – Kapitel 7

 

Ich merkte sofort, dass etwas anders war.

Mein Büro hatte seinen ganz eigenen Duft. Eine Mischung aus Kerzenwachs, nasser Pflanzenerde und bedrucktem Papier. Heute lag da noch etwas anderes in der Luft, auch wenn ich nicht ganz benennen konnte, was es war.
 

Ich sah mich um und bemerkte ein kleines Post-It, das auf meiner Schreibtischauflage klebte. Ich trat näher heran und las:

 

Heute Mittag, 12:00 Uhr beim Italiener? Ich hole Sie ab! (Mail als Antwort genügt.) Gruß M.

 

Jetzt wusste ich auch, woher dieser unbekannte Duft stammte. Es war wohl irgendein Männerparfum, oder Aftershave. Ich kannte mich damit nicht sonderlich gut aus.

Rechtsanwalt Dr. Erwin Mitter hatte seine Einladung also tatsächlich ernst gemeint und sie auch nicht vergessen.

Nervös lief ich auf und ab. Ich durfte mich heute keinesfalls blamieren oder irgendwie anderweitig negativ auffallen. Dies war meine Chance.

Nachdem mein PC hochgefahren war, schrieb ich eine kurze, aber höfliche Mail und freute mich tatsächlich schon auf das gemeinsame Essen.

 

Meine Vorfreude hinderte mich allerdings nicht daran, über der Arbeit die Zeit zu vergessen.

Als es an der Tür klopfte, zuckte ich zusammen. Herr Dr. Mitter trat ein und sah mich amüsiert an.

»Haben Sie es sich anders überlegt?«, fragte er.

Mir stieg die Röte ins Gesicht und ich wandte mich kurz ab, damit er es nicht sah.

»Ich hatte ganz die Zeit vergessen. Tut mir wirklich leid«, entschuldigte ich mich sofort.

»Machen Sie sich keine Gedanken. Passiert mir auch andauernd. Ich habe mir angewöhnt, einen Wecker zu stellen.«

Ich stellte mir einen dieser altmodischen, roten Wecker auf seinem Schreibtisch vor. Vielleicht sollte ich mal einen Blick ins Nebenzimmer werfen. Bei dem Gedanken musste ich grinsen und diesmal scheiterte ich bei dem Versuch, die Gefühlsregung vor ihm zu verbergen.

»Ich meine das vollkommen ernst!«, sagte der Rechtsanwalt empört.

Kurz hatte ich das Gefühl, ihn verärgert zu haben, doch dann sah ich das Funkeln in seinen Augen und war erleichtert.

Nachdem ich mich dick in Mantel und Schal eingepackt hatte, liefen wir zu den Aufzügen, wo sich nun um die Mittagszeit einige Kollegen versammelt hatten, die auch auf einen Fahrstuhl nach unten warteten.

Zusammen mit einem anderen jungen Anwalt betraten wir eine Kabine. Ich kannte ihn nicht, erinnerte mich aber schwach an sein Foto, das letzten Monat auf unserer Internetseite aufgetaucht war. Soweit ich mich entsann, war er erst seit kurzem bei uns in der Kanzlei.

Die Türen öffneten sich und wir traten in das graue Licht des trüben Herbsttages. Der kalte Wind zerrte an meinen Haaren und ich war froh, dass ich trotz des kurzen Weges nicht auf die warme Kleidung verzichtet hatte.

»Waren Sie schon einmal bei Bella Venezia?« Herr Dr. Mitter zeigte auf die Fassade des Restaurants, das schräg gegenüber dem Kanzleigebäude lag.

Ich schüttelte den Kopf. »Bisher hat sich für mich nie eine Möglichkeit ergeben, nein.«

 

Der Kellner wies uns einen kleinen Tisch in einer ruhigen Ecke zu.

Ich fühlte mich nun doch etwas befangen. Diesen kleinen Tisch zwischen uns zu haben, fühlte sich irgendwie um einiges privater an als mein großer Schreibtisch.

Dr. Mitter reichte mir eine Speisekarte und ich warf einen Blick hinein, froh, etwas gefunden zu haben, mit dem ich meine Hände beschäftigen konnte.

Ich wollte mir nichts zu teures aussuchen. Leider schienen aber nur die Vorspeisen unter diese Kategorie zu fallen. Alle anderen Gerichte wiesen selbst für die Münchner Innenstadt stolze Preise auf. Ob ich eine Suppe bestellen konnte? Oder sollte ich lieber einen Salat nehmen? Letzteres passte zumindest zum Klischee einer figurbewussten Frau. Was ich in Wahrheit gar nicht war, aber das musste er ja nicht wissen.

»Mögen Sie Nudeln?«, unterbrach Dr. Erwin Mitter meine Gedanken.

»Ja, durchaus.«

»Dann müssen Sie unbedingt diese hier probieren.« Herr Dr. Mitter drehte seine Karte zu mir herum und zeigte auf ein Gericht ganz am Ende der Liste.

Das würde ich mir nie und nimmer bestellen! Soweit ich das erkennen konnte, handelte es sich um das teuerste Gericht auf der gesamten Karte, was auch die dort genannte Trüffelsoße belegte.

»Haben Sie schon gewählt?« Der Kellner war an unseren Tisch getreten und sah mich fragend an.

»Zweimal die Tagliolini con Tartufo, bitte. Wenn Sie nichts dagegen haben?« Der letzte Satz galt mir.

Anstatt zu antworten, wurde ich rot. Am liebsten hätte ich mich hinter der Speisekarte versteckt. Die Option fiel allerdings flach, da der Kellner diese gerade davontrug.

Ich hatte nichts gegen das Gericht. Nachdem ich nicht bestellt hatte, war mir auch der Preis des Gerichts nicht so unangenehm.

»Ich dachte, ich nehme Ihnen die Entscheidung ab. Sie nehmen mir das doch nicht übel, oder?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete ich schnell.

»Machen Sie sich bloß keine Gedanken«, fuhr Herr Dr. Mitter fort, der meine Unsicherheit wohl bemerkt hatte. »Wissen Sie, wir könnten nach dem Essen über die Straße gehen und überfahren werden. Daher sollten wir den Moment genießen und nicht an Geld denken. Ich hoffe nur, dass Sie Trüffel auch tatsächlich mögen?«

»Also, um ehrlich zu sein«, antwortete ich, »habe ich noch nie welchen gegessen.«

»Ach, dann bin ich gespannt, was Sie später sagen. Und seien Sie ja ehrlich. Wenn ich Sie das nächste Mal einlade, muss ich immerhin wissen, was ich Ihnen nicht bestellen darf.«

Ich mochte die Heiterkeit und Leichtigkeit, die dieser Mann ausstrahlte. Sein Lachen war ansteckend. In seinen maßgeschneiderten Anzügen wirkte er sonst immer eher distanziert und ernst. Hier zeigte er sich freundlich, offen und zuvorkommend, anders als viele der Staranwälte, die ich bisher kennenlernen durfte.

Je länger wir uns unterhielten, desto entspannter wurde ich. Anfangs fürchtete ich, dass das Gespräch ins Stocken geraten könnte, aber mein Kollege wusste so viele Anekdoten zu erzählen, dass ich eher überrascht war, wie schnell die Zeit doch verging.

Ich hatte meinen Teller beinahe leer gegessen, als sich Schritte unserem Tisch näherten.

Ich blickte mich um, da ich den Kellner erwartete, doch stattdessen war es der junge Mann, dem wir im Fahrstuhl begegnet waren.

»Ich hatte Sie von draußen gesehen und dachte, ich komme mal dazu«, sagte er, während er ohne zu fragen einen Stuhl heranzog und sich zu uns setzte.

An Herrn Dr. Mitters Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er über die Störung gar nicht begeistert war.

Ich versuchte, das Beste aus der Situation zu machen, und stellte mich dem Neuankömmling vor. So erfuhr ich, dass er Kevin Koch hieß, 25 Jahre alt war und seit September als Praktikant in der Kanzlei arbeitete.

»Hätte ich Sie beide früher gesehen, hätte ich mir etwas mitbestellt«, erklärte der Praktikant und warf einen bedauernden Blick auf meine restlichen Nudeln.

Ich musste mich zwingen, ihn zu Siezen. Mit seinen blonden Haaren sah er aus, als sei er noch nicht einmal volljährig. Seine Dreistigkeit tat sein Übriges.

»Sie haben also bereits gegessen?«, fragte ich um des Small Talks willen.

»Ja, ich habe mir beim Bäcker eine Kleinigkeit geholt.«

»Sehr schön«, sagte nun auch Herr Dr. Mitter. Er hatte noch immer diesen verkniffenen Zug um die Mundwinkel. »Ich lasse Sie beide kurz alleine.« Herr Dr. Mitter stand auf, um direkt beim Tresen zu bezahlen, wie ich aus den Augenwinkeln erkennen konnte.

»Wie gefällt Ihnen das Praktikum bisher?«, begann ich eine Unterhaltung, die sehr einseitig ausfiel, da ich viel fragte und Kevin Koch nur knapp und ohne Gegenfragen antwortete.

Als mein Kollege wieder am Tisch auftauchte, atmete ich erleichtert auf und schüttelte Kevin Kochs Hand zum Abschied.

 

»Wussten Sie, dass ich wegen ihm das Büro getauscht habe?«, fragte Herr Dr. Mitter, als wir uns vom Restaurant entfernten. Trotz des Windes hatten wir beschlossen, noch etwas spazieren zu gehen.

»Tatsächlich?« Ich traute mich nicht, explizit nach dem Grund zu fragen, und hoffte, dass er ihn mir von sich aus verraten würde.

»Ja, er ist manchmal etwas anstrengend. Sabine ist resoluter. Sie kommt mit ihm besser zurecht. Davon abgesehen, ist es sinnvoller, da die beiden mehr auf Augenhöhe kommunizieren können.«

Kurz überlegte ich, wer denn Sabine war, bis mir klar wurde, dass Frau Messmeyer, meine ehemalige Zimmernachbarin, natürlich auch einen Vornamen hatte. »Seltsam schien er tatsächlich, aber vielleicht ist er nur unsicher. So lange ist er ja noch nicht bei uns in der Kanzlei.« Ich wusste eigentlich gar nicht, weshalb ich ihn in Schutz nahm, aber scheinbar genoss er aufgrund seines Aussehens sowas wie Welpenschutz.

»Naja, Sie sind auch nicht sehr viel länger bei uns.« Dr. Mitter lächelte mich an. Ich zuckte verlegen mit den Schultern. Er hatte natürlich recht, allerdings erinnerte ich mich noch gut an meine Praktika und auch da war ich eher schüchtern gewesen, wenn auch sicherlich weniger dreist.

Wir beendeten den kurzen Spaziergang schweigend und kehrten in die Kanzlei zurück.

Vor seiner Bürotür blieben wir stehen.

»Wenn Sie mal etwas brauchen, dann rufen Sie einfach, ja? Ich bin nur eine Tür weiter.« Dr. Erwin Mitter winkte und verschwand in seinem Büro.

Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus. Er schien wirklich mehr als in Ordnung zu sein. Das Mittagessen war sehr gut gelaufen und ich hatte das erreicht, was ich mir vorgenommen hatte. Zu wissen, dass ich mich bei Fragen an ihn wenden konnte, gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Ich zog es zwar vor, Probleme erst einmal selbst zu lösen, aber Jura war ein kompliziertes Gebiet, vor allem Arbeitsrecht. Vielleicht würde ich seine Hilfe ja nie in Anspruch nehmen müssen, aber wer konnte das schon genau wissen.

 

Auch ich betrat mein Büro. Da ich mich von den Gesprächen etwas erschlagen fühlte, ließ ich die Akten dort liegen, wo sie waren, und griff stattdessen nach meinem Smartphone. Es zeigte mir eine neue SMS an.

»Heute Abend im Chill's? Drück dich, Sven.«

Ach Mensch! Ich hätte mich doch für die Akten entscheiden sollen. Zweimal Essen gehen an einem Tag war mir dann doch etwas zu viel. Jetzt musste ich es ihm nur irgendwie so beibringen, dass ich ihn nicht in seiner altmodischen Männerehre verletzte.

Bevor mir eine passende Ausrede einfallen konnte, meldete sich Pia. Ich wechselte die App und las.

»Das Vorstellungsgespräch ist richtig schlecht gelaufen. Der wollte irgendwelche Medikamentennamen wissen. Als ob Apotheke auf meiner Stirn steht.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752128765
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
WG Krise Neuanfang erwachsen Schicksal Liebe München Frauen Recht Anwalt

Autor

  • Yule Forrest (Autor:in)

Yule Forrest, geboren 1995, wuchs in einem kleinen Dorf im Chiemgau auf. Sie besuchte ein Münchner Internat und absolvierte das Abitur an einem Privatgymnasium. Durch ihre Leidenschaft zur Literatur, wurde sie leitendes Mitglied einer Autoreninitiative, welche Bücher für gemeinnützige Projekte erstellte. Sie war unter anderem als Journalistin und Übersetzerin tätig. Derzeit lebt die junge Frau in München und arbeitet an kreativen Projekten inner- und außerhalb der Buchbranche.
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Titel: Vom Regen in die Traufe und wieder zurück