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Das Gespenst vom Würmsee

von Ben Lehman (Autor:in)
124 Seiten

Zusammenfassung

Simon Wacker hat es nicht so mit der Schule. Er ist ein Einzelkind, die Mutter alleinerziehend, sie schenkt ihm Rambo, einen kleinen Kater. Doch was ist mit dem kleinen Stubentiger plötzlich los? Auf dem Hocker sitzt ein seltsames Irgendwas, das grün leuchtet und so eine Art eckige Füße und auch einen eckigen Kopf hat. Es spricht mit einer seltsamen Stimme, sein Name sei Prix. Simon will das seinen Freunden erzählen, Fehlanzeige, auch Leon, sein bester Freund, will nichts von Gespenstern wissen. Und da passiert es! Eine Meute kläffender schwarzer Hunde rennt auf sie zu. In letzter Sekunde wechseln die gemeinen Hunde die Richtung. Was waren das für scheußliche Bestien? Simon hat einen Verdacht! Es wird immer gruseliger. Keiner kann sich erklären, was da passiert, auch die Polizei ist ratlos. Ist Prix wirklich ein Freund? Wer ist Verursacher all der mysteriösen Fälle? Können die Freunde einem Gespenst trauen? Und was ist überhaupt der Unterschied zwischen einem Gespenst und einem Geist?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Aber hallo!

Die 6. Klasse Gymnasium ist verdammt schwer. Besonders wenn Lernen nicht zu den bevorzugten Interessen eines Schülers gehört. Auf Simon Wacker traf diese Aussage absolut zu. Wenn er nur an Mathe dachte, wurde ihm bereits schlecht. Geometrie noch schlimmer. Von Latein ganz zu schweigen, wozu brauchte er das überhaupt? Da blieb nur eines übrig: mit ein wenig Bewegung seinen Frust ausgleichen. Denn Sport, besonders Wassersport, war Simons große Leidenschaft. Sobald er sich dem wunderschönen See auch nur näherte, fing er bereits in der Unterführung an zu grinsen. „Scheiß Mathe“, dachte er, das musste er ja nicht laut sagen. Seine Freunde und Schulkameraden wussten sowieso, wie mühsam sich Simon von einem Zeugnis zum nächsten weiterkämpfte, doch er war bei allen echt beliebt. Er war immer fröhlich und nett und hatte nicht selten ein paar lustige Sprüche auf Lager, über die oft höllisch gegackert wurde. Herrschte mal wieder trübselige Stimmung wegen eines Vormittags zum Abhaken, schaffte es Simon immer wieder, alle zum Lachen zu bringen, obwohl er mehr litt als die anderen Schüler. Sobald sich die Mienen gelichtet hatten, begann er manchmal seine oft merkwürdigen Erlebnisse zu erzählen. Wieso passierte nur ihm so etwas? Aber wer hört nicht gerne lustigen Blödsinn.

Simon war mittelgroß, von kräftiger Statur und hatte mittelblonde, kurz geschnittene Haare, höchstens zwei Finger breit. Seine Frisur erinnerte an eine Kleiderbürste. Er wohnte in der Von-der-Tann-Straße in einem netten Mietshaus mit schönem Garten, und zwar zur Straßenseite hin im Erdgeschoss.

Sein Weg zur Schule war nicht weit. Da er meist ziemlich flott ging, holte er morgens oft seine Mitschülerinnen Lena und Kimberly ein, bevor diese die Hahnfelder Straße überquerten. Sie wohnten ebenfalls in der Von-der-Tann-Straße, jedoch weiter hinten. Kimberly war stolz auf ihre aufregende Vergangenheit und erzählte gerne darüber. Sie war in Südafrika geboren, doch schon als kleines Kind zugezogen. Ihre Großeltern waren vor langer Zeit von den Niederlanden nach Südafrika ausgewandert und hatten dort eine Obstplantage aufgebaut. Die Eltern betreuten diese, bis der Umsturz im Lande sie zur Aufgabe und zum Verlassen des Landes zwang.

Die beiden Mädchen waren auch an diesem Morgen wieder früher als Simon vergnügt quatschend auf dem Weg zur Schule.

„Mann, seid ihr heute gut drauf“, begrüßte er die Mädchen, nachdem er sie eingeholt hatte.

Kimberly drehte sich grinsend um: „He, wen meinst du?“

„Wen wohl?“, feixte Simon.

„Du könntest mir endlich mal meine Tasche tragen“, schäkerte Kimberly, „weil du doch so stark bist und uns dauernd hinterherrennst. Wegen der Schule hast du es sicher nicht so eilig.“

„Doch, nur wegen der Schule“, nickte Simon eifrig, „je schneller ich dort bin, desto schneller bin ich wieder draußen.“

„Ist ja toll“, meinte Lena, „dann hoffe ich für dich, dass es heute kein Mathe-Ex gibt.“

„Ist mir egal“, antwortete Simon, „heute kann ich alles.“

„Aber hallo“, wunderte sich Kimberly, „wieso denn das?“

„Ich habe gestern wie verrückt gelernt, weil ich so aufgeregt war. Eigentlich musste ich.“

„Musstest du? Na ja, wer‘s glaubt“, lächelte Lena, „ich nicht. Erzähl uns lieber einen Schwank aus deiner Jugend.“

„Mach ich“, grinste Simon, „weil ich gestern nämlich was ganz Ungewöhnliches erlebt habe.“

„Ach ja?“, Kimberly hob die Augenbrauen, „was denn?“

„Los, erzähl, ich bin auch ganz Ohr!“, forderte auch Lena.

„Ich habe gestern ein Gespenst kennengelernt“, dabei verzog er keine Miene, „ein echt nettes Gespenst.“

„Ach, hör auf mit diesem Quatsch, Simon! Du brauchst nicht am frühen Morgen schon wieder so zu übertreiben“, reagierte Lena ärgerlich. „Komm Kimby, wir hören da nicht hin und reden weiter über unser Treffen heute Nachmittag.“

Kimberly dreht sich noch einmal kurz um und rief ungewöhnlich erregt: „Ich hasse Gespenster, damit du es weißt, Simon!“

Daraufhin packte Lena ihre Freundin am Arm und überquerte mit ihr die Hahnfelder Straße, weil die Ampel gerade auf Grün umgeschaltet hatte.

Simon war ein Einzelkind, das ist sowieso verdammt langweilig. Seine Mutter war alleinerziehend. Um den Lebensunterhalt decken zu können, arbeitete sie jeden Tag von morgens acht Uhr bis drei Uhr nachmittags im Supermarkt gegenüber dem Bahnhof an der Kasse. Die paar Stunden nach Schulschluss, bis die Mutter von ihrer Arbeit nach Hause kam, konnte Simon allein bleiben, immerhin war er bereits zwölf Jahre und wirklich alt genug. Wie sollte es auch anders gehen? Simons Vater hatte sich leider bereits vor Jahren aus dem Staub gemacht und war nie wiederaufgetaucht. Mutter und Sohn hatten es deshalb alles andere als leicht. Es gab eine Großtante Julie, die mit ihrem Mann, Onkel Max, in der Josef-Fischhaber-Straße in einem wunderschönen Haus wohnte. Manchmal, wenn die Mutter für ein paar Tage dringend irgendwohin musste, konnte Simon dort unterkommen. Sehr gerne ging er da nicht hin, aber seiner Mutter zuliebe widersetzte er sich nicht.

Damit Simon am Nachmittag, bis die Mutter nach Hause kam, nicht zu einsam herumhocken musste, hatte sie ihm ein schwarzes Katerchen, gerade mal ein paar Monate alt, geschenkt. Simon nannte den kleinen Tiger Rambo. Seiner Mutter gefiel dieser Name überhaupt nicht. Wenn Simon die Wohnungstür aufschloss, hob der kleine schwarze Kerl meistens verschlafen den Kopf und gähnte ausgiebig. Nachdem ihm Simon das Essen gegeben hatte, erwartete er, dass Simon mit ihm spielte. Simon ließ sich nie lange drängen, er liebte seinen Rambo.

Gestern war im Grunde genommen ein Tag wie jeder andere: Wohnungstür aufschließen, Schuhe ausziehen, Schultasche in die Ecke pfeffern, Dose mit Rambos Mittagessen öffnen, dann ein wenig spielen, bis Rambo übermütig wurde und vor lauter Begeisterung kratzte. Schließlich das Mathebuch mit Nachdruck auf den Tisch legen und dann erst einmal tief durchatmen. Er stützte den Kopf in den linken Handballen und überlegte, ob er sofort loslegen oder sich vorher noch mit einem Sprung in den See abkühlen sollte. Doch die Wolkendecke ließ nichts Gutes erahnen, wahrscheinlich war ein Regenschauer im Anmarsch. Deshalb brummte er vor sich hin: „Dann muss ich wohl!“

In diesem Augenblick ließ ihn ein Geräusch, das nicht in seine Wohnung gehörte, zusammenzucken. Rambo hob blitzartig den Kopf, legte die Ohren an und fauchte. Simon schoss herum. Er wollte es nicht glauben. Da saß irgendetwas auf dem Küchenhocker. Er schüttelte den Kopf, als wollte er eine Schliere aus dem Auge entfernen. Doch das nützte gar nichts. Auf dem Hocker saß ein Wesen, mit dem Simon überhaupt nichts anfangen konnte. Ein Mensch war es nicht, ein Tier auch nicht. Es hatte Hände, also eine Art Hände, sowie Füße, die in kleinen quadratischen Kübeln steckten und oben …? Tja, oben ist immer der Kopf, dann sollte es wohl der Kopf sein. Nun, rund war er nicht, eher eckig, jedoch ganz anders. Es gab ein paar Öffnungen, vielleicht zum Sehen und Hören, oder zu irgendeinem anderen Zweck. Der ganze kleine Körper steckte in einer Art metallenem Gehäuse. Doch das Besondere war die Farbe. Das ganze Wesen, wenn es denn eines war, strahlte in leuchtend grüner Farbe.

Sportlich wie er war, schoss Simon mit einem Satz hoch. Nur eine Zehntelsekunde und er hatte seinen Stuhl gepackt, die Stuhlbeine zur Abwehr gegen dieses Irgendetwas gerichtet. So stand er da, zum Äußersten bereit, und überlegte krampfhaft, was er tun sollte. Rambo hatte sich mit einem gewaltigen Satz unter die Kommode gerettet und starrte nun mit riesigen Augen hervor. Gewiss war ihm die Sache ebenfalls nicht geheuer.

„Brrrms. Was willst du denn mit dem Stuhl?“

„Ich glaub, ich spinn“, schoss es Simon durch den Kopf, „es kann richtig sprechen!“ Aber was für eine seltsame Stimme. Er spürte, wie Entsetzen seinen Rücken hochkroch. Was sollte er tun? Vielleicht sprang ihn dieses Etwas gleich an und verschlang ihn oder verzauberte ihn sogar. Nein, überlegte er! Dazu ist es zu klein. Aber wer weiß das schon?

Simon beschloss, dass es wahrscheinlich klüger war, diesem Wesen zu antworten, um Zeit zu gewinnen. Mutig, so kam es ihm wenigstens vor, rief er mit fester Stimme: „Wie kommst du hierher? Und was bist du überhaupt für einer?“ Da dieses Etwas sich jedoch nicht regte, forderte er: „Hau ab, du, sonst …!“

„Brrrms! Was sonst? Ich tu dir doch nichts.“ Wieder diese schreckliche Stimme!

„Ich will wissen, wie du hier reingekommen bist, sonst …, ich sag dir!“ Dabei bewegte Simon drohend die Stuhlbeine auf das Wesen zu, das aber völlig unbeeindruckt auf dem Hocker sitzen blieb.

Nun schüttelte es sogar den merkwürdigen Kopf, allerdings ziemlich langsam: „Reg dich bloß nicht auf, Simon.“

„Woher weißt du, wie ich heiß?“

„Weißt du doch auch, klack, klack, hi, hi.“ Ein widerliches Kichern kam aus einer der Öffnungen im Kopf.

„Schluss jetzt!“ Simon musste etwas unternehmen. „Sag, wie du hierhergekommen bist oder hau auf der Stelle ab!“

„Brrrms. Ich denk überhaupt nicht daran. Du willst wissen, wie ich hierhergekommen bin? Ganz einfach, ich komme überall hin, wenn ich das möchte, klack, klack.“

Einen Augenblick lang wusste Simon nicht weiter, wieso klackte das Ding fast nach jedem Satz? Daraufhin sagte er mit noch festerer Stimme: „Wenn du mich ausrauben willst, hier gibt es gar nichts zu holen. Verstanden! Wir sind nicht reich.“

„Brrrms! Ausrauben? Reich? Blödsinn! Ich brauche überhaupt nichts. Ich habe doch alles.“

„Dann sag endlich, was du von mir willst.“

„Ich will nichts. Vielleicht will ich dich kennenlernen. Aber wenn du so ekelhaft zu mir bist, ist es vielleicht besser, wenn ich wieder verschwinde, klack, klack.“

Nach diesen Worten stand Simon starr da, noch immer drohend den Stuhl in der Hand. Was sollte er jetzt tun? Das war doch bestimmt ein ganz gemeiner Trick. Vielleicht war das irgend so ein ferngesteuerter Roboter. Wer könnte ihm den geschickt haben? Ah! Vielleicht sein Freund Leon? Natürlich, Leon, wer sonst. Der kam oft, ebenso wie er selbst, auf ganz verrückte Ideen. Sein Vater war nämlich Entwickler in einem Unternehmen für computergesteuerte Roboter, die Autos bauen. Diese Dinger können alles Mögliche und sind richtige, fast selbstständig funktionierende Maschinen. Simon nickte zu sich selbst. Genau, Leon steckte dahinter. Wahrscheinlich stand er mit seinem Steuergerät draußen im Garten und lachte sich schon lange halb kaputt. Aber nicht mit ihm. Nicht mit Simon. So schlau war er schon lange. Mit einem Lächeln, das allerdings ein wenig verkrampft ausfiel, rief er deshalb zum offenen Fenster: „Okay, Leon. Eine super Vorstellung. Fast hätte ich es geglaubt. Komm rein und hol dir deine Figur wieder ab. Wir könnten damit die Mädchen super erschrecken.“

Das Ding ließ daraufhin ein seltsames Knarren hören: „Krrrrr. Leon? Wieso sagst du Leon zu mir?“

„Ja, ja“, lachte Simon. „Jetzt habe ich verstanden. Aber ich fall auf diesen Trick nicht rein, okay? Aber ich bin begeistert. Komm jetzt, Leon!“

„Leon heiße ich ganz bestimmt nicht, Simon, klack, klack.“ Die Stimme war nun merkwürdig verändert, eher ärgerlich. „Brrrms. Eigentlich habe ich gar keinen richtigen Vornamen. Aber du kannst mich, äääh …, meinetwegen Prix nennen. Ist mir gerade eingefallen. Dann musst du nicht immer he du zu mir sagen und schon lange nicht Leon, klack, klack.“

Simon drohte: „Du bleibst jetzt hier sitzen, verstanden, Prix oder Leon oder Brrrms und rührst dich nicht von der Stelle. Ich gehe zum Fenster und rufe meinen Freund.“

„Brrrms. Von mir aus. Vielleicht hörst du dann mit diesem Leon-Gestammel auf.“

Vorsichtshalber stellte Simon den Stuhl direkt vor jenen Hocker mit diesem merkwürdigen Grünen und flitzte zum Fenster. Er riss blitzschnell beide Flügel auf und beugte sich kurz über die Brüstung. Dann sofort wieder zurück, einen Blick zu dem seltsamen Wesen und wieder über die Brüstung gebeugt rief er: „Leon, komm endlich rein.“

Doch da war kein Leon. Nur Frau Wagner stand mit einem Korb voll Wäsche und verteilte diese gerade auf der Leine: „Wen suchst du denn, Simon? Leon ist nicht hier.“

Simon schoss zurück, packte sofort wieder den Stuhl und nahm dieselbe drohende Haltung ein: „Und was jetzt?“

Das Wesen knarrte: „Brrrms. Ganz in Ordnung bist du heute nicht, Simon.“

Simon wollte es nicht fassen: „Du kennst mich doch gar nicht.“

„Und ob ich dich kenne“, war die Antwort, „deshalb bin ich doch hier. Du bist so ein lustiges Haus, klack, klack.“

„Lustiges Haus?“

„Genauso ist es. Ich möchte dein Freund werden, klack, klack.“

„Duuuuu?“

„Klar, ich – oder siehst du hier noch jemanden?“

„Nur, weil ich ein lustiges Haus bin?“

„Auch, brrrms. Ich war mal genauso wie du, ganz genauso. Wir könnten Brüder sein, wenn nicht …“

„Wenn nicht was?“

„Erklär ich dir mal, wenn wir uns besser kennengelernt haben, klack, klack.“

Simon überlegte: „Wieso siehst du überhaupt so komisch aus?“

„Brrrms. Komisch ist gemein“, brummte der seltsame Prix. „Ich habe mich bemüht, ähnlich wie du auszusehen, damit du nicht gleich in Ohnmacht fällst, wenn ich zum ersten Mal auftauche.“

„Aussehen wie ich? Du bist wohl verrückt. Ich sehe ganz normal aus. Aber wie du aussiehst, das kann ja kein Mensch beschreiben!“

„Eben.“ Das Wesen versuchte eine Nickbewegung zustande zu bringen. „Ich bin ja auch kein Mensch, klack, klack. Aber ich habe mir riesig Mühe gegeben. Vielleicht ist es mir nicht so gut gelungen. Ich kann‘s eben nicht besser. Brrrms, entschuldige tausendmal.“

Simon hatte inzwischen den Stuhl abgesetzt. Sprachlos stand er da und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Das tat er immer, wenn er ratlos war. Einen Überfall plante dieses Wesen offensichtlich nicht, aber was sonst? Kein Mensch? Mann oh Mann!

Schließlich meinte er nachdenklich: „Du behauptest, kein Mensch zu sein. Das sehe ich. Was bist du denn dann für einer? Sogar Rambo ist abgehauen und der hat selten Angst.“

„Ja, was werde ich denn sein? Siehst du doch. Bin ein Gespenst, klack, klack.“

Simon war fast erledigt. Er sackte auf seinen Stuhl und blies die Wangen auf: „Du bist waaas?“

„Rede ich so undeutlich?“

„Bitte, sag das noch einmal. Bei mir ist ‚Gespenst‘ angekommen.“

„Brrrms. Na also, muss ich es nicht wiederholen. Oder bist du so schwer von Begriff?“

Simon kratzte sich wieder am Kopf. „Also, äääh, das kann ich wirklich nicht glauben. Ich dachte immer …, nein …“ Sein Körper schüttelte sich fast vor Entsetzen: „Es gibt überhaupt keine Gespenster.“

„Waaas? Brrrms! Soll keine Gespenster geben? Du hast wirklich null Ahnung. Gibt Gespenster ohne Ende, wisst ihr nur nicht. Wir haben nämlich mit euch komischen Menschen nichts mehr am Hut, gar nichts.“

„Ach so. Deshalb bist du hierhergekommen? Lustig!“

„Brrrms. Na ja, du bist vielleicht eine Ausnahme, klack, klack. Im Augenblick ist es bei uns schrecklich langweilig. Meine Freunde sind gerade … keine Ahnung, wo die alle sind. Mein bester Freund ist das Gespenst von Andechs, auch das ist irgendwo. Ist wie verhext.“

Simon stutzte: „Gespenst von Andechs? Wieso hat der so einen seltsamen Namen?“

„Brrrms! Na, ihr habt doch auch seltsame Namen. Gespenst von Andechs ist doch nicht seltsam, kennst du Andechs nicht?“

„Und ob. Das Kloster kennt hier jeder.“

„Brrrms. Mein Name ist übrigens Gespenst vom Würmsee.“

Nach einer Überraschungssekunde antwortete Simon: „Dann kommst du bestimmt aus der Steinzeit. Den Würmsee gab‘s mal, ganz früher, so heißt der See schon ewig nicht mehr.“

Nun änderte sich die Farbe des grünen Prix, er wurde rosa, offensichtlich ein Zeichen von Verärgerung.“

„Brrrms, brrrms! Beleidigen lasse ich mich nicht, damit du es gleich weißt. Wie heißt denn der Bach an der Autobahnbrücke, der aus eurem See rausfliest, na, klack, klack?“

„Ja, ja, das ist die Würm, so heißt die schon immer.“

„Eben“, nickte das Gespenst noch immer aufgeregt. „Deswegen heiße ich Gespenst vom Würmsee und das ist nicht Steinzeit! Verstanden? Basta. Klack, klack.“

Simon stöhnte: „Von mir aus. Dann heißt du eben Gespenst vom Würmsee. Ist doch mir egal.“

„Brrrms.“ Prix wurde wieder leuchtend grün. „Dann haben wir das auch geklärt.“

„… und was machen wir jetzt?“, rätselte Simon.

„Ganz einfach. Ich hau wieder ab. Hab noch was zu erledigen. Du doch auch – oder nicht?“

„Meinst du Mathe?“

„Brrrms. Keine Ahnung! Überleg es dir, ob du mein Freund werden möchtest. Ich komm wieder vorbei.“

Damit rutschte das Wesen vom Hocker und wackelte zur Tür. Die öffnete sich wie von selbst, das grüne Wesen verschwand und die Tür knallte hinter ihm zu.

Simon hielt noch immer die Luft an. Unfassbar, was gerade geschehen war. Er saß noch einige Zeit reglos auf seinem Stuhl. Schließlich schüttelte er sich und drehte sich um. Rambo sprang auf den kleinen Schreibtisch und schnurrte.

„Rambo, was sagst du dazu?“

Er sagte natürlich nichts und stupste Simon an. Schließlich öffnete Simon mit einem Seufzer sein Mathebuch und versuchte seine Aufgaben zu lösen. „Ich muss jetzt, Rambo, leider.“

Zuerst verstand er nicht einmal die Aufgaben. Darüber ärgerte er sich gewaltig. „Mit Gespenstern rummachen und keine Ahnung von Mathe“, brummte er. Dann dachte er wieder nach: „Vielleicht werde ich gerade in diesem Augenblick verrückt? Dann muss ich mich nicht mehr mit Mathe herumärgern. Ein Gespenst!“

Sein Entschluss stand nach kurzem Nachdenken fest. Heute wird Mathe gepaukt, bis die Aufgaben gelöst sind. Als Mutter von ihrer Arbeit nach Hause kam, knobelte er noch immer herum. Doch er gab nicht auf, bis plötzlich die zündende Idee kam. Von da an löste er auch die restlichen Aufgaben. Dabei grinste er und nickte zufriedener denn je.

2. Eine wilde Meute

Während des restlichen Wegs zur Schule redete Simon an jenem Tag mit Kimberly und Lena nur noch nebensächliches Zeug. Schließlich wollte er die beiden Mädchen nicht verärgern. Sie waren seit ihrer Kindheit befreundet. Fast täglich begegneten sie sich und unternahmen auch in ihrer Freizeit viel gemeinsam. So ein verstörtes Gesicht, wie nach jener Mitteilung, hatte Simon bei der schönen Kimberly noch nie erlebt. Angeblich hasste sie Gespenster. Simon war sich jedoch sicher, dass sie noch nie eins gesehen hatte – im Gegensatz zu ihm, vielleicht. „Na gut, dann eben nicht“, dachte er und behielt sein Erlebnis für sich.

Fröhlich gackernd betraten die drei später ihr Klassenzimmer und wurden von verschiedenen Mitschülerinnen und Mitschülern begrüßt. Die blonde, langhaarige Kimberly und die brünette Lena umarmten ihre besten Freundinnen Anna und Monika, während Simon nach Leon Ausschau hielt. Ein anderer Freund, Tim Obermeier, klopfte ihm auf die Schulter: „Hallo Simon“, grinste er, „alles okay?“

„Logo“, nickte Simon, in diesem Augenblick kreuzte Leon auf.

„Du hast mir gestern aber einen riesigen Schreck eingejagt“, begrüßte Simon seinen Freund.

„Was? Ich? Du spinnst wohl? Wir haben uns doch gestern gar nicht getroffen“, reagierte Leon leicht erbost und irritiert.

„Ja, eben“, antwortete Simon. „Erzähl ich dir später …“ Er unterbrach seinen Erklärungsversuch, weil in diesem Augenblick Kimberly neben ihm stand. „Kimby möchte nämlich davon gar nichts hören“, meinte er mit einer Kopfbewegung zu ihr. „Sie war ganz schön sauer.“

Sofort bekam Kimberly wieder ihre rote Birne: „Ich habe dir gesagt, dass ich Gespenster hasse. Und damit basta.“

„He, he“, stoppte Simon Kimberly aufgebracht.

„Ich habe doch gar nichts gesagt.“

„Aber du wolltest gerade. Gib es zu!“

Leon blickte mit offenem Mund von einem zu anderen: „Wieso Gespenster?“, murmelte er.

„Da bitte!“ Kimberly war noch immer auf 180, doch Lena zog sie am Arm zu sich: „Ist schon in Ordnung, Kimby. Komm jetzt!“

Als die beiden Mädchen ein paar Meter entfernt waren, schüttelte Leon den Kopf: „Ich verstehe nur Bahnhof. Vielleicht erklärst du mir mal freundlicherweise, wieso ich dir angeblich einen riesigen Schrecken eingejagt habe, obwohl wir uns nicht einmal gesehen hatten. Auch Tim und Florian hatten den seltsamen Wortwechsel mitbekommen.

„Mädchen!“, Tim zog die Augenbrauen hoch, „mehr sag ich nicht.“

„Später!“, entschied Simon und ließ seine drei verblüfften Freunde stehen.

Während des Unterrichts überlegte Simon angestrengt, ob und was er Leon sagen sollte. Trotz seiner kurzfristigen geistigen Abwesenheit gab er im Matheunterricht sogar einmal eine richtige Antwort, als Frau Winkler ihm überraschend eine schwere Frage zu einer Dreisatzaufgabe stellte. Er war von seiner Antwort selbst überrascht. Daraufhin beobachtete er bewunderndes Kopfnicken von Kimberly, vielleicht war ihr Ärger über das Gespenst wieder verraucht.

In der Pause war er schnell von verschiedenen Freunden umringt, natürlich auch von Leon sowie Tim, Florian und der kleinen, netten Antonia, die in der Kaiser-Wilhelm-Straße wohnte. Simon stutzte, als Kimberly mit Lena und Anna vorbeischlenderte und ihm einen kritischen Blick zuwarf. Sofort hatte er eine Idee, wie er das Gespensterthema erst einmal zurückstellen konnten: „Wer hat Lust zu einer Fahrradtour?“

„Ist heute schlecht“, meinte Tim, „Freitagnachmittag habe ich Tennistraining.“

„Und morgen?“

„Schon besser“, nickte Tim, Leon schloss sich an.

„Wo soll‘s denn hingehen?“, wollte Antonia wissen.

„Weiß ich noch nicht“, überlegte Simon.

„Wieder mal typisch“, meckerte Emma, die Klassenzicke, die zugehört hatte. „Einladen und keine Ahnung haben.“

„Hab dich überhaupt nicht eingeladen“, brummte Simon.

„Wirst auf mich auch leider verzichten müssen!“

Simon murmelte: „Das kriegen wir hin.“

Zu Antonia sagte er: „Vielleicht fahren wir ins Mahntal oder in die Maisinger Schlucht?“

„Maisinger Schlucht wäre ich dabei“, lächelte Antonia.

Auch Leon, Florian und Johanna, die Antonias Zusage gehört hatten, sagten zu.

„Dann treffen wir uns morgen um drei Uhr vorne am Neubau in der Ottostraße“, schlug Simon vor.

Alle waren einverstanden.

Als die anderen Freunde sich über die Wettervorhersage unterhielten, meinte Leon leise: „Jetzt sag endlich was mit dir los ist. Seit wann traust du dich nicht zu reden, wenn dich Kimberly wütend anglotzt?“

„Weil ich Kimby nicht verärgern möchte, sie ist heute so schlecht drauf. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, was ich gestern erlebt habe.“

„Sag schon!“

„Ich habe ein Gespenst kennengelernt.“

„Ein Gespenst kennengelernt? Einfach so?“

„Einfach so. Plötzlich saß es in meinem Zimmer.“

„Glaub ich nicht. Ich lass mich heute von dir nicht verscheißern.“

Simon schnaubte: „Leon! Ich schwör‘s dir. Es ist die Wahrheit. Es saß auf unserem Küchenhocker und sagte, dass es mein Freund werden möchte.“

„Hör auf damit. Der Unterricht geht gleich weiter. Diesen Unsinn kannst du anderen erzählen, von mir aus Emma. Jetzt ist mir klar, warum Kimberly sauer war.“

„Weil mir keiner glaubt. Dann eben nicht.“ Simon drehte sich beleidigt zur Seite.

In seiner Wohnung angekommen, wurde Simon von Rambo sehnlichst erwartet. „Wenigstens du glaubst mir, mein kleiner, schwarzer Strolch. Du hast es genauso gesehen wie ich.“

Er beschloss, erst einmal ein wenig mit seinem Kätzchen zu spielen. Rambo, total ausgeschlafen, war natürlich davon begeistert und machte erst einmal ein paar lustige Bocksprünge. Dann wurde gekämpft und zwar genau so lange, bis Rambo vor lauter Spieltrieb die Hand seines Herrchens mit den spitzen Krallen der Vorderfüße umschlang und dann auch noch kräftig zubiss.

„Au! Du verdammtes Miststück!“, schimpfte Simon und riss seine Hand weg, drei Kratzspuren zogen sich über den Handrücken, die sich langsam mit Blut füllten. Rambo drehte sich blitzschnell um, sprang hoch und flitzte mit einem gewagten Satz unter die Kommode. Dort schoss er herum und fauchte.

„Mich brutal kratzen und dann auch noch anfauchen. Du spinnst wohl!“ Ärgerlich pustete Simon auf seine schmerzende Hand und leckte dann das Blut ab.

„Brrrms! Ich glaube, dein Stubentiger kann mich nicht leiden. Wieso faucht er mich schon wieder an?“

Simon fuhr herum. Es stand direkt hinter ihm und wackelte hin und her. Wieder dieses seltsame Gespenst.

„Du schon wieder?“, entfuhr es Simon.

„Soll ich wieder verschwinden, klack, klack?“

„Ist mir egal! Aber ich kann es noch immer nicht glauben. Meine Freunde auch nicht. Die haben mich ausgelacht und Kimberly ist stocksauer.“

„Mädchen sind so. Das kannst du nicht ändern, klack, klack.“

Simon wurde mutiger: „Ich möchte jetzt wissen, wieso du ein Gespenst sein willst. Verstanden!“

„Brrrms. Was heißt hier willst! Bin es ganz einfach. Kann nichts dafür, dass du über Gespenster null Ahnung hast. Verdammt doof, klack, klack.“

„Äääh …“, zögerte Simon, „wie wird man überhaupt ein Gespenst? Einfach so?“

„I wo. Wirklich nicht. Aber ich weiß nicht, ob ich dir das erklären soll.“

„Wieso nicht?“

„Ist mir peinlich“, das angebliche Gespenst veränderte wieder die Farbe und war plötzlich grau.

„Peinlich?“ Simon starrte ihn an. „Wieso denn peinlich. Erklär‘s mir einfach.“

„Weil ich auch mal ein Mensch war.“ Seine graue Farbe veränderte sich nun in leuchtendes Rot.

„Kann ich mir nicht vorstellen. Ein Mensch kann sich vielleicht mal als Gespenst verkleiden und Mädchen erschrecken. Dann bist du aber noch lange kein richtiges Gespenst.“

„Eben. Aber wenn du als Mensch was angestellt hast. Ich meine, was ganz, ganz Schlimmes, so wie ich, dann kann es dir passieren, dass sie aus dir ein Gespenst machen. Ich war wie du, doch dann war alles vorbei. Strafe ohne Ende.“ Er stöhnte. „Sterben geht dann nie mehr. Vielleicht irgendwann einmal, wenn ich gebüßt habe, doch das entscheiden andere.“

Simon überlegte: „Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Was hast du denn angeblich angestellt?“

„Das sage ich nicht. Und jetzt hör auf zu fragen, sonst siehst du mich nie wieder.“

Das wollte Simon erst einmal nicht. Ein Wesen besuchte ihn bereits zum zweiten Mal und behauptete, früher ein Mensch gewesen und nun ein Gespenst zu sein. Und es redete ganz normal mit ihm. Das wollte er im Augenblick wirklich nicht aufs Spiel setzen. Endlich hatte er mal wieder ein tolles Geheimnis, mit dem keiner seiner Freunde mithalten konnte. In diesem Moment entschied er, mit diesem komischen Zwerg in Verbindung zu bleiben.

„Okay, entschuldige. Wenn du darüber nicht reden möchtest, frage ich nicht mehr. Aber, wenn wir Freunde würden, was hätte ich denn davon …, äääh, ich meine, was machen wir dann?“

Das Gespenst Prix hatte inzwischen wieder seine ursprüngliche grüne Farbe angenommen: „Alles Mögliche“, antwortete er. „Wir können reden. Wir können irgendwas unternehmen. Ich erzähl dir was über Gespenster oder über unsere Gehilfen und so weiter, klack, klack.“

„Gehilfen?“, wunderte sich Simon. „Du hast Gehilfen? Was helfen die dir denn?“

„Nicht nur mir. Uns allen. Wir entscheiden, wobei sie uns helfen sollen. Wir haben viele Gehilfen, zum Beispiel sind Geister unsere Helfer. Die müssen tun, was wir sagen.“

„Und wer ist wir?“

„Wir? Sagte ich doch gerade. Hast du geschlafen? Wir, das sind alle Gespenster. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie viele Gespenster es gibt. Wir kümmern uns nur nicht um euch Menschen, ihr seid uns piep egal. Das haben wir längst hinter uns.“

Simon schüttelte den Kopf: „Habt ihr hinter euch! Ich glaube, da muss ich dich noch viel fragen. Können wir zusammen auch was Lustiges machen?“

„Was Lustiges? Du meinst, du lachst und ich arbeite? Vielleicht. Ja, vielleicht stellen wir mal gemeinsam was an, klack, klack.“

Simons Gesicht wurde breit: „Oh ja, super. Was denn zum Beispiel? Gleich heute?“

„Brrrms. Muss jetzt wieder gehen. Wir sehen uns. Ich beobachte dich sowieso, klack, klack.“

„Halt, du! Darf ich dich mal anfassen?“

„Darfst du nicht und kannst du nicht. Vergessen? Ich bin ein Gespenst.“

Er verschwand wieder durch die Tür und Simon sackte erledigt auf seinen Stuhl.

„Jetzt kannst du wieder rauskommen, Rambo“, murmelte er und fuhr sich nachdenklich mit der Hand über seinen Bürstenhaarschnitt.

Simon war am nächsten Tag als Erster in der Ottostraße am vereinbarten Treffpunkt. Nach und nach trudelten die Freunde ein, zuerst Leon, dann Antonia mit Johanna und zuletzt Tim und Florian. Das Wetter war schön mit ein paar Schleierwolken am Horizont und zum Glück trocken.

„Das hält garantiert nicht aus“, meinte Florian, der ewige Pessimist, nach einem kritischen Blick zum Himmel.

Antonia wollte vorsorgen und zog sofort ihre Regenjacke an: „Wenn du meinst, bitteschön. Dann wissen wir ja Bescheid. Ich möchte nicht überrascht werden.“

Simon saß bereits auf dem Fahrradsattel und drückte sich von der Bordsteinkante ab: „Also dann!“, rief er. Die kleine Gruppe setzte sich hinter ihm in Bewegung. Es ging die steile Ottostraße hinauf und schließlich in den Wald. Nach wenigen hundert Metern folgte ein steiler Berg hinunter zum Maisinger Bach. Mit einem Juhuuuh donnerten sie hinunter, die Mädchen kreischten vor Vergnügen. Sie näherten sich einer Kurve. Simon, Leon und Antonia führten die Gruppe an, Johanna, Florian und Tim folgten mit ein wenig Abstand.

Auf einmal wurde es stockdunkel, innerhalb von Sekunden. Ein Lichtblitz, gefolgt von einem fürchterlichen Donnerschlag, ließ die sechs Freunde zusammenzucken, das Echo hallte nahezu gleichzeitig von allen Seiten zurück. Sie befanden sich urplötzlich mitten in einem schrecklichen Gewitter. Gleichzeitig öffnete der Himmel seine Schleusen, das Wasser fiel geradezu vom Himmel, sie schafften es kaum, ihre Regenjacken anzuziehen. Nur Antonia hatte vorgesorgt und grinste mit dicken Regentropfen auf der Nasenspitze.

Dann ein fürchterliches Getöse. Von rechts oben schoss eine wilde Jagd herunter – eine riesige Meute großer, schwarzer Hunde. So große Hunde hatten sie noch nie gesehen. Die kläfften geradezu schrecklich und stürmten auf die Freunde zu. Die Mädchen und Jungen waren wie erstarrt – in letzter Sekunde änderte die Hundemeute ihre Richtung und hetzte vorbei, über den Waldweg. Nach wenigen Sekunden war sie im Wald verschwunden. Auch das angsteinflößende Kläffen wurde leiser und verlor sich in der Ferne. Im gleichen Augenblick hörte der Regen auf, nur von den Bäumen tropfte es noch. Wieder wenige Sekunden später drangen Sonnenstrahlen durch das Blätterdach.

Die von Kopf bis Fuß triefenden Mädchen und Jungen blickten sich mit aufgerissenen Augen an. Es dauerte lange, bis Johanna als Erste ihre Sprache wiederfand: „Was war denn das?“, rief sie, noch immer entsetzt.

Florian brummte: „Ich hab‘s ja gleich gesagt, dass es regnen wird.“

„Ja, ja“, stöhnte Antonia, „du Wetterprophet.“

Leon stupste Simon an: „Bist du nicht überrascht?“

Simon glotzte ihn ziemlich doof an und schüttelte den Kopf. Er hatte das ungute Gefühl, dass da etwas nicht so mit rechten Dingen zugegangen war. Doch er hütete sich, seinen schlimmen Verdacht auszusprechen. Dann schüttelte er sich, dass die Tropfen davonstoben und schlug vor: „Wir sollten vielleicht wieder nach Hause fahren.“

„Ja was denn sonst?“, rief Antonia. „Glaubst du vielleicht, dass ich das Wasser aus meinen Schuhen kippe und dann weiterfahre, als wäre nichts geschehen? Ich drehe auf der Stelle um!“

„Hoffentlich bekomme ich keine Erkältung“, jammerte Tim etwas weinerlich.

„Dann mach dir zu Hause schnell ein heißes Fußbad“, grinste Leon.

„Und einen Kamillentee“, scherzte Anna.

Wortlos stiegen sie danach auf ihre Fahrräder und machten sich auf den Weg nach Hause. Als sie das Waldstück verließen, empfing sie wieder strahlender Sonnenschein. Ziemlich wortkarg verabschiedeten sie sich am Ende der Ottostraße, jeder fuhr nachdenklich nach Hause.

Simon schloss seine Wohnungstür auf. Er konnte es nicht verhindern, dass eine Wasserspur seinen Weg zeichnete. Noch bevor er die Tür zum Bad öffnete, stand die Mutter hinter ihm: „Um Gottes Willen, Simon! Was ist denn mit dir passiert? Junge! Bist du in den See gestürzt?“

„Nein“, brummte Simon. „Wir hatten eine Radtour in die Maisinger Schlucht gemacht.“

„Und wieso bist du klitschnass?“

„Wegen des Wetters natürlich. Wir wurden plötzlich von einem fürchterlichen Platzregen überrascht.“

Die seltsame Hundemeute verschwieg er, immerhin wollte er die Angelegenheit noch nicht glauben.

„Aber es hat doch überhaupt nicht geregnet, Simon. Rede keinen Unsinn. Blauer Himmel, soweit das Auge reicht. Bitte schwindle mich nicht an!“

„Bei uns hat es aber geregnet, sogar fürchterlich geschüttet! Frag Leon und die anderen.“ Simon schlug die Badtür hinter sich ins Schloss und hockte sich nachdenklich auf den Badewannenrand. Was war da gerade passiert?

3. Eine verrückte Geschichte

Gedankenverloren streichelte Simon seinen Rambo. Der schnurrte zufrieden. Wie sollte er sich das erklären? Er war überzeugt, fast jeden Hundebesitzer der näheren Umgebung zu kennen. So eine Meute schwarzer Hunde war ihm noch nie begegnet. Da war irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. Endgültig überzeugt, hieb er zur Bestätigung mit der Faust auf seinen kleinen Schreibtisch, sodass der bedenklich zitterte. Rambo machte erschrocken einen Satz auf den Fußboden, drehte sich blitzschnell um und fauchte wieder drohend.

„Was soll das, Rambo“, schimpfte Simon, „lass das doofe Fauchen! Fang dir lieber eine Maus!“

„Brrrms! Er kann mich noch immer nicht leiden!“

Simon spürte, wie ein kalter Schauer über seinen Rücken lief. Noch bevor er sich umdrehte, war ihm klar, dass ER hinter ihm stand. Nur jetzt keine Angst zeigen! Bewusst gelangweilt stand er auf, drehte sich um und schimpfte: „Kannst du nicht anklopfen?“ Eine verdammt dumme Bemerkung, aber es war ihm gerade nichts Klügeres eingefallen.

„Brrrms. Kann ich nicht“, war die Antwort. „Habe keine Knochen, klack, klack.“

„Aha!“

Simon schoss einen Versuchsballon ab: „Aber Hunde kannst du auf mich hetzen. Oder willst du mir weismachen, dass du davon keine Ahnung hast?“

Inzwischen war das Gespenst Prix auf den Hocker gehüpft: „Brrrms. Habe ich nicht gehetzt, sondern deinen Wunsch erfüllt. Du wollest was Lustiges. War das nicht lustig? Hat es dir nicht gefallen?“

„Gefallen?“ Simon schnaubte vor Wut. „Wir waren alle klitschnass. Und so was Idiotisches hatten wir nicht ausgemacht. Meine Mutter hat mir kein Wort geglaubt, weil überall strahlender Sonnenschein war.“

„Brrrms. Beruhige dich! Hat mir prima gefallen. Ihr habt alle doof geglotzt als Regen herunterprasselte. Und dann, als liebe Tierchen auftauchten, klack, klack.“

„Liebe Tierchen?“, fauchte Simon. „Wo kommen überhaupt diese hässlichen Hunde her. Aus unserer Gegend jedenfalls nicht.“

„Brrrms, brrrrms. Hässliche Hunde! Blödes Wort. Hab dir erklärt, dass alle Geister tun müssen, was Gespenster befehlen.“

Simon war aufgesprungen: „Was sagst du da? Geister? Wieso denn Geister? Waren diese Hunde vielleicht Geister? Ich glaube, du verarschst mich.“

Der grüne Prix wechselte am ganzen Körper seine Farbe zu hellem Rot, war also wieder ziemlich aufgeregt: „Brrrms! Sag das nie wieder! Ich verarsche dich nicht. Und damit du es weißt, es waren keine hässlichen Hunde, sondern unsere Geisterhunde, unsere Piffkos. Höllenhunde, wenn dir das besser gefällt. Wenn du sie mal haben willst, um jemand zu erschrecken, Mädchen oder so, kannst du mich bitten, klack, klack.“

Das war für Simon zu viel. Total erledigt sackte er auf seinen Stuhl, starrte das wieder grüne Wesen mit aufgerissenen Augen an und murmelte: „Wenn ich nicht wüsste …“

Mehr wagte er nicht zu sagen. Dieses kleine, hässliche, seltsame Wesen, dieser Roboter oder vielleicht doch Gespenst, oder wer weiß was, ließ ihn in diesem Augenblick erschaudern. In seinem Kopf arbeitete es mit rasender Geschwindigkeit. Er war immer und jederzeit zu einem Abenteuer bereit. Noch nie hatte er gekniffen, wenn seine Freunde irgendeine verrückte Idee hatten, die weder seine Mutter noch die Eltern seiner Freunde erfahren durften. Im Gegenteil, Simon verblüffte oft seine Mitschüler mit besonders witzigen oder ausgefallenen Vorschlägen. Doch jetzt war eine Grenze überschritten. Es fiel ihm kein Mensch auf der ganzen Welt ein, mit dem er über dieses verrückte Erlebnis reden könnte. Nicht einmal Leon wollte davon etwas wissen, hatte er wenigstens gesagt. Doch er musste unbedingt bei Leon Rat suchen.

„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, knarrte Prix. „Brrrms. Warum sagst du nichts mehr?“

„Du machst mir Angst.“ Kaum waren diese Worte gesagt, ärgerte sich Simon über sich selbst. Das hätte er nicht verraten dürfen.

Prix kicherte ganz schrecklich: „Brrrms. Hab schon bemerkt. Brauchst aber keine Angst zu haben. Ich tu dir nichts. Wir sind Freunde, oder?“

Zitternd nickte Simon. Hoffentlich merkte der Grüne sein Zittern nicht.

„Also gut“, entschied das Gespenst, es hatte das Zittern natürlich bemerkt. „Wenn dir das zu aufregend war, machen wir das nächste Mal was Anderes. Ich geh jetzt. Wenn ihr euch verabschiedet, sagt ihr auf Wiedersehen oder Tschüss oder Servus. Wir sagen Pft. Das kann man auch leise sagen, damit es niemand hört. Also dann, Pft, Simon.“

Plötzlich war er verschwunden.

„Ja, Pft“, murmelte Simon, ohne die Lippen zu bewegen.

Ein merkwürdiges Ereignis machte die Runde und war seit diesem Tag in aller Munde. Eine alte Frau behauptete, etwas Schreckliches erlebt zu haben. Kreidebleich erschien sie auf der Polizeiwache. Die Polizisten sahen ihr an, dass sie gleich zusammenbrechen würde und führten sie schnell zu einem bereit stehenden Stuhl. Einer der beiden Polizisten eilte los und brachte ein Glas Wasser. Erschöpft saß sie auf dem Stuhl und atmete schwer. Nach einiger Zeit begann sie zu reden: „Ich bin heute Morgen auf der Seepromenade spazieren gegangen. Das mache ich jeden Tag. Die Luft ist morgens immer so schön und der weite Blick über den See bis zu den Alpen, Herzogstand, Heimgarten, Zugspitze …“

„Ja, ja“, unterbrach sie der diensthabende Beamte. „Deswegen sind Sie gewiss nicht zu uns gekommen.“

Die alte Frau stutzte: „Aber sie wollten doch wissen …“

„Erzählen Sie einfach, was Sie gesehen haben.“

„Bin gerade dabei“, murrte sie. „Ich dachte …, also plötzlich erschrak ich ganz fürchterlich. Ein Getöse, wie sonst nie. Es kam von dort …“ Sie deutete in eine Richtung.

„Wo ist denn dort, liebe Frau?“, wollte der Beamte sehr ruhig wissen. „Meinen Sie vom Bahnhof?“

„Ja, eigentlich nein“, sie schüttelte den Kopf. „Schon viel näher. Sie kamen vom Undosa herangeschossen.“

„Geschossen? Sie haben doch nicht etwa geschossen?“, wunderte sich der Polizist.

Sie stutzte: „Wieso denn geschossen. Ihr schießt vielleicht, aber nicht Reiter.“

„Gut. Sie sagten, sie kamen vom Undosa herangeschossen.“

Die Frau nickte: „Wie man eben sagt. Natürlich haben sie nicht geschossen, es war auch so schlimm genug. Es war …, wie eine wilde Jagd.“

„Aber keine wilde Reiterjagd am Undosa!“ Der Polizist schüttelte entschieden den Kopf, „das wüssten wir.“

„Wenn ich es Ihnen sage! Genau deswegen bin ich hier. Wieso glauben Sie mir nicht?“ Auf ihrer Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet.

„Also gut, wir glauben Ihnen erst einmal. Was geschah dann?“

Sie riss die Augen auf: „Diese verdammte Bande ritt genau auf mich zu, schnell wie der Teufel. Ich bekam schreckliche Angst, habe rumgefuchtelt und wie verrückt geschrien. Aber ihr seid ja nie dort, wo ihr gebraucht werdet.“

Der Polizist hüstelte leicht gekränkt: „Ist Ihnen denn etwas passiert? Ich meine, wurden Sie verletzt?“

„Fast!“ Sie nickte heftig. „Ja, Fast! Beinahe hätten sie mich in Grund und Boden …“ Ein heftiger Weinkrampf schüttelte sie.

„Nun beruhigen Sie sich doch. Sie sehen nicht verletzt aus, oder?“

„Nein. Zum Glück nicht. Zehn Meter vor mir, ach was, einen Meter vor mir schlugen sie einen Haken und sausten an mir vorbei, direkt auf das Ufer zu. Es hat bestialisch gestunken – nach Schwefel.“

„Nach Schwefel! Und dann?“ Inzwischen war auch der zweite Kollege mit seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch hervorgerollt. Die beiden Polizisten blickten sich an, der zweite konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken.

„Dann“, die Frau atmete tief. „Dann waren sie an mir vorbei aber …“ Ihre Augen waren weit aufgerissen.

„Bitte beruhigen Sie sich doch“, wiederholte der erste Polizist mit sanfter Stimme. „Erzählen Sie uns einfach, was dann geschah.“

„Dann …, oh Gott“, stöhnte sie. „Dann sprangen sie alle mit einem gewaltigen Satz von der Uferpromenade ins Wasser.“

„Äääh“, unterbrach der zweite Polizist. „Haben Sie das so gesehen? Pferde und Reiter?“

„Ich bin doch nicht verrückt“, sagte sie verärgert. „Sie sind alle mit einem Satz ins Wasser gesprungen. Zuerst sind sie auf der Wasseroberfläche dahingeritten, dann geschwommen. Sie waren noch eine weite Strecke zur Hälfte überm Wasser und schließlich sind sie untergetaucht und waren plötzlich verschwunden. So! Jetzt wissen Sie, was hier für Dinge geschehen, während ihr Kaffee trinkt.“ Mit einer unmissverständlichen Geste deutete sie auf die beiden Kaffeetassen, die auf den Schreibtischen standen. „Und jetzt sag ich Ihnen noch etwas“, sie war nun total erregt, „das waren Außerirdische und nichts Anderes. Ein ekelhafter Schwefelgeruch. Das lass ich mir nicht ausreden.“

„Äääh“, ein leichtes Grinsen huschte wieder über das Gesicht des zweiten Polizisten. „Sollen wir das so zu Protokoll nehmen oder möchten Sie noch mal darüber schlafen?“

„Schlafen? Unerhört! Natürlich! Ich bestehe sogar auf ein Protokoll.“

„Gut“, nickte der erste Polizist und beschwichtigte seinen Kollegen mit einer beruhigenden Geste. „Dann nehmen wir jetzt ein Protokoll auf, das Sie anschließend unterschreiben müssen. Wie viele Reiter sagten Sie doch gleich wieder?“

„Ich habe nichts gesagt, weil Sie mich danach noch nicht gefragt hatten.“

Der erste Polizist zog den Kopf ein wenig ein.

Am nächsten Tag stand es in der örtlichen Tageszeitung, dem Morgen-Merkur, kurz Merkur genannt, im Regionalteil:

Außerirdische Reiter verschwinden in unserem See

Unzählige Geheimnisse umranken unseren See. Mehr als hundert Leichen sollen noch in der Tiefe schlummern. Sogar König Ludwig soll manchmal noch herumgeistern. Immer wieder verschwinden auch Segler auf nimmer Wiedersehen. Wir alle wissen davon!

Doch was geschah gestern?

Eine Seniorin, deren Beobachtung nicht angezweifelt wird, wäre gestern Morgen um sechs Uhr auf der Uferpromenade, nahe dem Undosa, beinahe von einer vorbeipreschenden Reiterschar überrannt worden. In letzter Sekunde konnte sie sich mit einem gewagten Sprung in Sicherheit bringen. Ohne die geringste Reaktion donnerten die geheimnisvollen Reiter an ihr vorbei. Pferde und Reiter sprangen danach todesmutig in den See. Mehrere hundert Meter seien sie auf der Wasseroberfläche weiter geritten, bevor sie allmählich versanken und kurz darauf in der Tiefe des Sees verschwanden.

So unglaublich diese Schilderung auch klingen mag, unser Reporter hat sich durch sorgfältige Kontrollfragen vom Wahrheitsgehalt der Beobachtung dieser Dame überzeugt.

Nun fragen wir uns: Welche Geheimnisse verbirgt unser See noch? Wäre die beherzte Frau nicht zufällig früh morgens zu genau dieser Zeit auf der Promenade spazieren gegangen, wäre das Ereignis unbemerkt geblieben. Wir danken unserer mutigen Mitbürgerin sehr.

Die Redaktion des Morgen-Merkurs hat Grund zur Annahme, dass uns Gefahren drohen, die wir bislang überhaupt noch nicht einschätzen können. Ist die Behauptung der betroffenen Frau, dass es sich um außerirdische Reiter handelte, gerechtfertigt?

Deshalb die Frage an unsere Leser: Wer kann eine Aussage zu diesem geheimnisvollen Vorkommnis an unserem schönen See machen?

Unsere Redaktion freut sich auf Ihren Anruf unter der kostenlosen Rufnummer: 0800-6060456.

Nur einen Tag später füllten Leserbriefe zu diesem Thema eine ganze Seite.

Wie immer, wurde auch dieses Mal kein Blatt vor den Mund genommen. Die Meinungen waren vielfältig und reichten von verrückt über durchgeknallt oder Papierverschwendung, aber auch sorgenvoll bis hin zu echter Angst jener Menschen, die direkt am See wohnten und ebenfalls über manch unerklärliche Erlebnisse berichten konnten.

Simon hatte seit Tagen von dem grünen Gespenst nichts mehr gehört. Oft saß er an seinem kleinen Schreibtisch und überlegte, ob er sich das alles vielleicht doch nur eingebildet hatte. Aber dann haute er sich an die Stirn: „Du verdammter Idiot“, murmelte er ärgerlich. „Rambo hat schließlich auch gefaucht und Katzen lassen sich nicht täuschen.“

Es war ein wunderschöner Sommernachmittag. Die Freunde hatten sich im Strandbad verabredet, Kimberly, Lena, Anna sowie Simon, Leon und Florian. Als Kimberly Simon erblickte, lächelte sie ihn an und warf ihren blonden Pferdeschwanz nach hinten: „Hallo, du! Alles wieder okay?“

Simon stoppte überrascht, weil sie ihn so noch nie angesprochen hatte, schließlich kannte er Kimberly von Kindheit an. Bestimmt verfolgte sie irgendeine Absicht. Nachdenklich antwortete er: „Doch Kimberly, alles okay. Gibt‘s denn was Neues?“

Sie kicherte ein wenig verlegen: „Eigentlich nicht. Antonia hat mir von eurer lustigen Radtour erzählt. Und dass ihr endlich mal eine ordentliche Dusche abbekommen habt. Nach Florians perfekter Vorhersage.“

„Hör bloß auf!“, mischte sich Leon ein. „Ist mir bis heute nicht klar, was da abgelaufen ist. Simon tut so, als wüsste er mehr, aber er druckst immer so rum.“

„Tu ich nicht“, erhob Simon Einspruch. „Immer wenn ich euch was erklären will, werde ich angepfiffen. Und jetzt mag ich nicht mehr.“

„Ach bitte, Simon“, flötete Lena, „so kenn ich dich gar nicht. Wieso bist du in letzter Zeit so abweisend?“

„Weil ihr alle auf einmal meint, dass ich euch verarschen will. Dabei stimmt das gar nicht.“

„Tust du das denn nicht oft?“, gackerte Lena.

„Manchmal, das heißt früher“, grinste Simon zurück, „aber nicht immer. Man muss auch mal was ernsthaft besprechen können. Immerhin ist schon wieder so was Komisches passiert.“

„Meinst du die Sache mit der verrückten Frau?“, vermutete Florian.

„Weiß ich nicht, ob sie verrückt ist. Aber es ist seltsam und unser Fahrradausflug war auch seltsam. Meine Mutter hat steif und fest behauptet, dass kein Wölkchen am Himmel stand. Sie hat behauptet, dass ich sie anschwindle. Das war gemein.“

„Und? Hast du?“, wollte Kimberly wissen.

„Wirklich nicht. Ich weiß viel mehr über die Radtour als ihr euch vorstellen könnt. Mit meiner Mutter kann ich darüber nicht reden, die verkraftet das nicht. Sie hat jeden Tag so viel um die Ohren. Wenn ich ihr das auch noch erzähle, dreht sie garantiert durch. Und ihr …, ihr habt mir verboten darüber zu sprechen.“

„Wer hat dir das verboten?“, wollte Florian wissen. „Ich nicht.“

„Nein, du nicht“, antwortete Simon, „aber mein bester Freund Leon.“ Mit einer eindeutigen Kopfbewegung zu Leon unterstrich er diese Aussage. „Das ärgert mich schon. Und du auch, Kimberly. So, und jetzt spring ich ins Wasser. Ich brauch dringend eine Abkühlung.“

Er ließ seine Freunde sprachlos stehen.

Als er zurückkam, hatte er den Eindruck, dass er von der gesamten Gruppe besonders nett empfangen wurde. Bestimmt hatten sie über ihn während seiner Abwesenheit gesprochen. Rasch trocknete er sich ab. Leon wollte nicht länger warten: „Also, Simon, das tut mir wirklich leid. Ich dachte, wir können über alles reden.“

„Dachte ich auch. Konnten wir immer, aber dieses Mal …“, brummte Simon und hockte sich auf seine Decke.

Kimberly lenkte ein: „Wie wäre es, wenn du uns jetzt alles erzählst. Weil wir hier alle Freunde sind, brauchst du es nur einmal zu sagen und jeder weiß jetzt Bescheid.“

„Und worüber darf ich nicht sprechen, Kimby?“

„Äääh …“, Kimberly stutzte.

Simon vermutete, dass sie in diesem Augenblick einen für sie besonders wichtigen Entschluss fassen musste. Schließlich nickte sie entschlossen: „Äääh“, fuhr sie fort, „von mir aus über alles.“

„Ich weiß nicht so recht“, murmelte Simon, „werde ich wieder angepfiffen, wenn dir das Thema auf den Geist geht?“

Kimberly schüttelte wortlos aber leicht angewidert den Kopf. Bestimmt ekelte sie sich immer noch vor Gespenstern.

Leon entschied: „Los, komm, Simon. Du bist doch sonst auch nicht so zimperlich. Wir warten alle auf deine tolle Geschichte. Und wenn es sich wieder um dein blödes Gespenst handelt, dann lachen wir anschließend und die Sache ist vergessen. Okay?“

Simons Gesicht wurde breit: „Es handelt sich tatsächlich um mein blödes Gespenst. Aber ich will nicht, dass Kimby wieder durchdreht.“

„Bitte entschuldige“, Kimberlys Gesicht wurde ernst. „Bei uns in Afrika hatte jeder Angst vor Gespenstern. Da gibt es schreckliche Geschichten ...“

„... die du als Baby erlebt hast?“, gackerte Leon.

„Nein, über die mir meine Eltern oft erzählt haben. So, jetzt wisst ihr das auch! Ich hatte oft nächtelang Albträume und plötzlich kommt Simon ...“

„… ich muss nichts sagen, Kimby, wenn es dir lieber ist.“

„Nein, ist schon okay. Habe mich entschlossen.“

„Also gut“, fuhr Simon fort, „doch bevor ihr abwinkt, will ich euch sagen, dass dieses blöde Gespenst uns bei unserer Radtour zur Maisinger Schlucht den Regen und die Hundemeute geschickt hatte.“

Wie er es erwartet hatte, war er nach dieser Bemerkung von versteinerten Gesichtern mit offenen Mündern umgeben.

„Ihr schaut jetzt wie Autos, nur nicht so schnell“, kicherte Simon.

Es dauerte lange, bis das seine Freunde begriffen hatten. Einige Zeit blickten sie sich nachdenklich an. Keiner wollte als Erster antworten. Schließlich entschloss sich wieder Leon: „Also, Simon, äääh …, ich sag jetzt einfach mal, dass ich dir glaube.“

Wieder nickte Kimberly wortlos, auch wenn sie bei Simons letzten Worten ziemlich blass geworden war.

Und dann berichtete Simon ausführlich. Zunächst vom ersten Besuch dieses grünen Etwas, das behauptete, das Gespenst vom Würmsee zu sein. Er erzählte auch über die verschiedenen Gespräche und welche Antworten er auf seine Fragen erhalten hatte. Zuletzt erfuhren seine Freunde, was das Gespenst über die Geisterhunde, auch Höllenhunde genannt, gesagt hatte, dass Gespenster allen Geistern Befehle erteilen können und so weiter.

Als er seine Ausführungen beendet hatte, waren sie rundum sprachlos. Kimberly war sichtlich zusammengesackt. Zuerst hatte sich Anna wieder im Griff: „Und Antonia hatte einen sechsten Sinn, als sie sich die Regenjacke anzog.“

Kimberly, noch immer leichenblass, presste heraus: „So auf die Schnelle kann ich dazu gar nichts sagen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752118384
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Freunde Geheimnis Geister Fantasy Spannung Gespenster Humor

Autor

  • Ben Lehman (Autor:in)

Ben Lehman kommt aus dem Bayerischen Wald und lebte in München. Seit zehn Jahren ist der Starnberger See seine neue Heimat. Der Informatiker arbeitete als Programmierer und Systemanalytiker, auch in internationalen Unternehmen in New York und Northampton. Sein erfolgreiches Softwarehaus wurde vor einigen Jahren veräußert. Danach begann er seine ehrenamtliche Tätigkeit für die Peter-Ustinov-Stiftung bis zu dessen Tod, Schwerpunkt die Organisation der Peter-Ustinov-Mädchenschule in Afghanistan.
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Titel: Das Gespenst vom Würmsee