Lade Inhalt...

Das Geheimnis der Torwelt

von Patrick Arbogast (Autor:in)
566 Seiten
Reihe: Die Torwelt-Saga, Band 1

Zusammenfassung

Drachen und Raumschiffe!

Seit Jahrtausenden beschützt der mystische Orden der Salas Kai die Menschen Eddors vor den Mächten der Finsternis. Doch dann tauchen Fremde auf ihrer Welt auf: Sie behaupten, Reisende zwischen den Sternen zu sein und von einem Planeten namens Erde zu kommen. Unabsichtlich setzen sie durch ihre Ankunft schreckliche Ereignisse in Gang, die das Schicksal beider Welten bedrohen. Der junge Prinz Cordian und seine Schwester Lissina stehen unvermittelt im Zentrum des Geschehens, konfrontiert mit einem tödlichen Feind. Sie müssen lernen, die Kluft zwischen den beiden grundverschiedenen Kulturen zu überwinden, wollen sie überleben und die Menschheit noch retten.

Magie trifft Technologie, Fortschritt trifft Vorbestimmung – Fantasy und Science-Fiction verschmelzen zu einem spannenden Roman, der die Grenzen des Genres sprengt!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Die Torwelt-Saga

Teil 1

 

 

Das Geheimnis der Torwelt

Patrick Arbogast


Roman

 

 

Drachen und Raumschiffe!

 

Seit Jahrtausenden beschützt der mystische Orden der Salas Kai die Menschen Eddors vor den Mächten der Finsternis. Doch dann tauchen Fremde auf ihrer Welt auf: Sie behaupten, Reisende zwischen den Sternen zu sein und von einem Planeten namens Erde zu kommen. Unabsichtlich setzen sie durch ihre Ankunft schreckliche Ereignisse in Gang, die das Schicksal beider Welten bedrohen. Der junge Prinz Cordian und seine Schwester Lissina stehen unvermittelt im Zentrum des Geschehens, konfrontiert mit einem tödlichen Feind. Sie müssen lernen, die Kluft zwischen den beiden grundverschiedenen Kulturen zu überwinden, wollen sie überleben und die Menschheit noch retten.

 

Magie trifft Technologie, Fortschritt trifft Vorbestimmung – Fantasy und Science-Fiction verschmelzen zu einem spannenden Roman, der die Grenzen des Genres sprengt!

 

 

map

Prolog

Wie der Kegel eines erloschenen Vulkans ragte das titanische Monument aus der kargen, felsigen Ebene. Ein einsames Bauwerk gewaltigen Ausmaßes, geformt aus geschwärztem Metall. Rätselhafte Gravuren bedeckten die steil aufragenden Flanken. Welchem Zweck es einst gedient haben mochte, verrieten sie nicht. Ebenso wenig, wer es errichtet hatte.

Im Vergleich wirkten die Wissenschaftler zu seinen Füßen wie Ameisen. Kleine, aber emsige Insekten, die Kabelstränge durch die wenigen Öffnungen ins Innere verlegten und empfindliche Messinstrumente justierten. Mit großem Aufwand und modernsten technischen Mitteln trachteten sie danach, die Geheimnisse des uralten Kolosses zu lüften. Heute würden sie ihrem Ziel einen wichtigen Schritt näher kommen. Nach Monaten der Vorbereitung war es nun endlich so weit.

»Wann können wir anfangen?«, fragte Doktor Curtis seinen Assistenten an der Kontrollkonsole ungeduldig. Der eisige Wind hier draußen ließ ihn frösteln. Die Zeltplane ihres behelfsmäßigen Unterstandes flatterte im Luftzug und rüttelte dabei unentwegt am tragenden Gestänge. Gleichwohl sollte seine thermoregulierte Kleidung ihn eigentlich warm halten. Vielleicht, so überlegte er, war es auch nur die Aufregung, die ihm eine Gänsehaut bescherte.

»Jeden Moment«, kam die Antwort. Der angesprochene Mitarbeiter war ein fähiger, junger Forscher namens Dickson. Konzentriert starrte dieser auf einen blass schimmernden holografischen Bildschirm über seinem Pult. »Alle Techniker haben den Gefahrenbereich verlassen. Jetzt brauchen wir nur noch … na, wer sagt’s denn: Die Einsatzleitung gibt grünes Licht für Prometheus.«

Curtis kam nicht zum ersten Mal in den Sinn, wie passend die Namenswahl für dieses Projekt ausgefallen war. Prometheus hatte der Legende nach den Menschen das Feuer vom Himmel geholt. Mit etwas Glück würden sie heute Ähnliches vollbringen. Andererseits, so mahnte eine innere Stimme, war die Sagengestalt von den Göttern für ihre Anmaßung bestraft worden. Ärgerlich wischte er den Gedanken beiseite. Er war nicht zum wissenschaftlichen Leiter der Operation ernannt worden, weil er abergläubisch war. Und ängstlich war er auch nicht. Er und sein Assistent hätten das Experiment genauso gut vom weit entfernten Stützpunkt aus überwachen können, wie die anderen Wissenschaftler, doch er wollte dabei sein. So nah wie möglich.

»Heute werden wir Geschichte schreiben«, verkündete er deshalb stolz. »Wir werden das erste Mal ein Stück Technik in Betrieb nehmen, das nicht von Menschenhand geschaffen wurde.«

»Unsere Linguisten sagen, die Einheimischen nennen es das Tor«, bemerkte Dickson. »Aber ein Tor müsste ja irgendwo hinführen. Ich denke nach wie vor, dass es sich um eine Waffe handelt.«

»Bald wissen wir mehr«, unterband Curtis die Spekulationen. »Beginnen Sie damit, Energie auf das Artefakt zu übertragen.«

Dickson fütterte den Computer mit den entsprechenden Befehlen. Ein kurzer Warnton erklang aus den Lautsprechern überall auf dem Gelände, gefolgt von einer automatischen Durchsage, die dazu ermahnte, den festgelegten Sicherheitsabstand einzuhalten.

»Als ob wir wüssten, wie groß dieser Abstand zu sein hat«, murmelte der junge Wissenschaftler. »So etwas hat noch keiner vor uns versucht.«

»Wir haben großzügig kalkuliert«, wiegelte Curtis ab und spähte dabei hinüber zum Artefakt. Sie waren ein paar Hundert Meter entfernt, dennoch verdeckte die einschüchternde, schwarze Silhouette den größten Teil des Abendhimmels. Er hoffte, dass er recht hatte …

»Gibt es schon erste Reaktionen?«

Dickson schüttelte den Kopf. »Der Ring ist nach wie vor tot.«

Curtis trat näher und studierte aufmerksam den Bildschirm. Ausschnitte zeigten Kamerabilder eines übermannsgroßen, aufrecht stehenden Ringes aus unterschiedlichen Entfernungen. Diagramme von zahlreichen Messinstrumenten gaben Aufschluss über alles, was sie nicht mit bloßem Auge sehen konnten. Das kreisförmige Gebilde befand sich im kuppelartigen Hohlraum im Zentrum des Artefaktes. Curtis war sich sicher, dass es das Herz der gesamten Anlage darstellte.

»Modulieren Sie die Frequenz«, wies er Dickson an. »Und erhöhen Sie langsam die Leistung.« Sie hatten einen mobilen Fusionsreaktor zur Verfügung, das sollte ihnen genug Spielraum geben.

Gespannt beobachtete er, was sich tat. Dickson regelte den Reaktor auf zehn Prozent Leistung, ohne dass etwas geschah, dann auf zwanzig. Erst bei fünfundzwanzig Prozent fing eines der Diagramme an, zu blinken.

»Der Ring emittiert ein schwaches Magnetfeld«, stellte Dickson fest. »Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.«

»Leistung weiter erhöhen«, ordnete Curtis an.

Als die Reaktorleistung erst auf dreißig, dann auf vierzig und schließlich auf fünfzig Prozent anstieg, nahm auch die Aktivität des Ringes kontinuierlich zu. Visuell war immer noch nichts zu erkennen, aber die Anzeigen versetzten die Wissenschaftler in helle Aufregung.

»Es erwacht«, flüsterte Curtis ehrfürchtig. »Das Artefakt erwacht.«

»Es sieht ganz so aus«, pflichtete sein Kollege gebannt bei. »Wir haben es tatsächlich …«, er stockte. »Irgendetwas stimmt da nicht.«

Er sah auf Anhieb, was Dickson meinte. Das Magnetfeld des Ringes begann, wie wild zu fluktuieren. Die Bilder der Kamera waren mit einem Mal von statischem Rauschen erfüllt, sicherlich, weil ihre Elektronik durch das Phänomen beeinträchtigt wurde.

»Den Reaktor herunterfahren, sofort!«, brachte Curtis noch heraus, doch es war zu spät. Mehrere Dinge passierten gleichzeitig: Sämtliche Anzeigen erloschen, es gab einen peitschenden Knall und irgendwo draußen flogen grelle Funken. Jemand schrie. Curtis stürmte aus ihrem Unterstand, um zu sehen, was los war. Auf dem ganzen Areal herrschte Chaos. Ihre Ausrüstung war an verschiedenen Stellen in Flammen aufgegangen, Techniker liefen durcheinander und versuchten, die Feuer zu löschen. Einer von ihnen lag reglos am Boden. Qualm stieg von seiner Kleidung auf. Er musste einen elektrischen Schlag abbekommen haben; Helfer eilten an seine Seite. Das militärische Wachpersonal hatte die Waffen erhoben, als rechneten die Männer damit, angegriffen zu werden. Doch Angreifer gab es nicht – Curtis hatte nur eine Erklärung: Ein massiver elektromagnetischer Impuls musste all das angerichtet haben.

Einen Moment lang stand er einfach so da, ratlos, was zu tun war. Eine derart heftige Reaktion hatte er nicht kommen sehen. Natürlich war es ein Risiko, sich mit unbekannter Technologie einzulassen, niemand hatte genau sagen können, was geschehen würde. Risiken mussten eingegangen werden, um Ergebnisse zu erzielen, und die Einsatzleitung wollte Ergebnisse – genau wie er selbst. Trotzdem hatte er sich der Illusion hingegeben, alles unter Kontrolle zu haben.

Ein Techniker kam plötzlich wild gestikulierend auf ihn zugerannt.

»Verflucht, was haben Sie angerichtet?«, verlangte er zu erfahren, und bevor Curtis etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Der Reaktor überhitzt und wir können ihn nicht abschalten!«

Erstaunlich, dass er überhaupt noch läuft, dachte Curtis. Vielleicht, weil er in größerem Abstand vom Artefakt aufgestellt worden war. Die Klärung dieser Frage würde wohl warten müssen.

»Wir können von hier aus nichts machen«, entschuldigte er sich. »Unsere Kontrollen sind tot.«

Er warf Dickson einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass dem tatsächlich noch so war und dieser bestätigte mit einem hilflosen Kopfschütteln.

»Nun gut«, knurrte der Techniker. »Ich werde versuchen, die Kühlmittelpumpen wieder in Gang zu setzen. Sie müssen jemanden da hineinschicken, der die Kabelverbindungen trennt«, drängte der Mann und zeigte in Richtung des Artefaktes. »Dieses Ding zieht immer noch Saft, jede Sekunde zählt«.

»Ich übernehme das selbst«, erklärte sich Curtis, den Ernst der Lage erkennend, bereit. »Dickson, Sie halten hier die Stellung, bis ich zurück bin.« Er lief los. Den felsigen Boden bis zum Eingang des Bauwerkes überquerte er im Laufschritt. Vor ihm lag ein breiter, leicht abfallender Gang, der sich mehr als einen Kilometer bis zum Zentrum des Gebildes erstreckte; das erste Kabelrelais war aber glücklicherweise nur knapp einhundert Meter vom Eingang entfernt. Er hoffte, dass dort noch genug Licht einfiel, um etwas zu erkennen, denn ohne künstliche Beleuchtung war es hier drinnen ziemlich dunkel …

Es wird schon gehen, machte er sich Mut. Er musste schließlich nur ein paar Klemmen lösen. Eilig schnappte er sich eine Werkzeugtasche von einem Ausrüstungsstapel und eilte weiter. Der Versuch, das Artefakt zu aktivieren, war spektakulär gescheitert, daran konnte er nichts mehr ändern. Jetzt galt es zu retten, was noch zu retten war.

Als er das Relais erreichte, war er außer Atem. Körperliche Anstrengung war er einfach nicht mehr gewohnt. Dennoch schaffte er es mit ein paar entschlossenen Handgriffen, die Stromversorgung zu kappen, glücklicherweise ohne so zu enden, wie der arme Kerl, den er draußen gesehen hatte. Er glaubte nicht, dass die Ärzte noch etwas für ihn tun konnten. Erschöpft ging er in die Hocke, den Rücken an die harte, kalte Wand gelehnt. Er trug für diesen Tod die Verantwortung. Er musste dafür geradestehen. Wie Prometheus hatte er nach dem Feuer gegriffen, und wie die Sagengestalt würde er büßen müssen.

Ein leichter Luftzug setzte ein. Wieder ließ er ihn trotz seines thermoregulierten Anzuges erschauern. Begleitet wurde diese Empfindung von dem unbestimmten Gefühl, in der Dunkelheit nicht mehr allein zu sein. Mit dem Wind schien ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern durch den Gang zu wehen, das Curtis später seiner überreizten Fantasie zuschieben würde, aber während der folgenden Jahre dennoch nicht aus seinem Gedächtnis verbannen konnte: »Befreie uns

 

1

Ein frostiger, beißender Wind wehte über das Land und trug die Kälte der Gletscher von den schneebedeckten Berggipfeln hinab in die Täler. Spuren von Reif bedeckten das niedrige Gras sowie die wenigen umstehenden Bäume. Blasse Nebelschwaden und ein trüber Himmel hüllten die Welt in einen Schleier aus Grau.

Frierend zogen die knapp zwei Dutzend Männer ihre Umhänge enger, während ihr Atem und der ihrer Pferde feine Wölkchen vor den Gesichtern der Schar bildete. Außer dem gelegentlichen Schnauben der Tiere störte kein Geräusch die unheimliche Stille, als hätten sich selbst die Vögel vor dem nahenden Winter zurückgezogen.

Doch es war nicht die Kälte, die den Reitern Sorge bereitete, sondern etwas, das ganz und gar nicht in diese verlassene Einöde zu gehören schien: Am Horizont stieg drohend eine dunkle Rauchsäule zum Himmel empor.

»Drei Dörfer in knapp ebenso vielen Tagen«, stellte Cordian fest. Ein leichtes Schaudern schwang in den Worten des jungen Mannes mit. Es war nicht der Wind allein, der ihn frösteln ließ.

»So ist es, mein Prinz«, bemerkte Dankon. Der ältere Mann an der Spitze der Gruppe wendete sein Pferd, um die anderen direkt ansehen zu können. Seine Stimme klang ruhig und fest, auch wenn sich Sorgenfalten um seine stahlblauen Augen gelegt hatten. »Das macht fünf insgesamt. Nur die gezählt, von denen wir wissen. Ich frage mich wirklich, was die Norkai derart in Rage versetzt.« Er strich sich in einer nachdenklichen Geste mit der Hand über das bärtige Kinn, als könne er so die Antwort ergründen.

»Sie sind blutrünstige Barbaren«, erwiderte Cordian. »Sie leben für das Töten. Was braucht es da sonst noch für Gründe?«

Seine Worte wurden von einem zustimmenden Murmeln begleitet. Die meisten, wenn nicht alle der ihn begleitenden Männer, dachten so wie er. Wenn man im Königreich Keldor aufwuchs, lernte man, die Barbaren des Nordlandes zu fürchten.

Dankon schüttelte den Kopf. »Das mag sein, mein Junge, aber bisher hielt sie die Angst vor unserer Vergeltung zurück. Es ist schon sehr lange her, dass sie sich so weit in unser Land vorgewagt haben.« Mit tief gerunzelter Stirn blickte er in die Runde. »Ich fürchte, es steckt mehr dahinter.«

Einer der Männer stieß ein wütendes Knurren aus. »Wir müssen dem ein Ende bereiten«, forderte er.

Cordian drehte sich in Richtung des Sprechers. Es war Rugem, ein alter und erfahrener Ritter, der als Einziger der Gruppe noch länger in den Diensten seines Vaters stand als Dankon. Wie sein schlohweißes Haupt verriet, hatte er zudem schon einige Sommer mehr auf dem Buckel. Während er sprach, verfinsterte sich seine Miene und seine Hand wanderte zum Schwertknauf.

»Wahre Worte«, bekräftigte Dankon, als er sein Pferd wendete. »Vielleicht kommen wir noch nicht zu spät. Vorwärts, Männer!«

 

Damit galoppierten sie los und das Donnern der Hufe schien die Stille um sie herum herauszufordern. Dicht über den Hals seines Pferdes gebeugt, trieb Cordian das Tier unbarmherzig an.

Er ritt genau hinter Dankon, die anderen folgten ihnen dichtauf. Wenn sie die Plünderer tatsächlich antrafen, würde es mit Sicherheit zu einem Kampf kommen, doch er fürchtete sich nicht. Der Anblick der entschlossenen Ritter mit ihren wehenden Umhängen, das dumpfe Klirren ihrer eisenbeschlagenen Rüstungen und der Geruch der schwitzenden Pferde; all das erzeugte ein seltsames Hochgefühl in ihm, das die Angst vertrieb.

Dankon hatte ihn gewarnt, dass sich Männer vor der Schlacht manchmal in einen Rausch hineinsteigerten, der sie unvorsichtig machte und die Gefahr vergessen ließ. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, wenn seine Haut nicht als Trophäe in irgendeinem Norkaizelt enden sollte. Aber wie auch immer die Dinge lagen, alles war besser, als ein weiteres Mal nur qualmende Ruinen vorzufinden. Man hatte sie gerufen, um den Plünderungen Einhalt zu gebieten, doch stets waren sie zu spät eingetroffen und hatten nur noch die Toten begraben können.

 

Als Dankon den Arm hob und die kleine Gruppe auf einer Hügelkuppe halten ließ, lag unter ihnen das Dorf. Es bot ein schreckliches Bild: Die meisten Häuser – einfache, eingeschossige Bauwerke aus Holz oder Lehm – waren zerstört und brannten. Möbel und Einrichtungsgegenstände lagen zertrümmert auf der Straße, Viehgatter waren niedergerissen und von den Tieren fehlte jede Spur. Menschliche Körper lagen regungslos im Staub und der Übelkeit erregende Geruch verbrannten Fleisches kroch Cordian in die Nase, ohne dass er sich dagegen wehren konnte.

Er wandte unwillkürlich für einen kurzen Moment den Blick ab und hoffte, dass die Ritter es nicht bemerkten. Die Aufregung, die während des wilden Galopps von ihm Besitz ergriffen hatte, war verflogen und wich nun einer gefährlichen, dunklen Wut, die langsam nach seinem Herzen griff.

Den Dorfbewohnern konnten sie nicht mehr helfen, doch zum Kämpfen kamen sie nicht zu spät! Zwischen den Resten der Scheunen und Bauernhäuser bewegten sich fellbekleidete Menschen. Einige begutachteten die Leichen, andere trugen weitere Körper heran und luden sie neben den übrigen ab. Ihre Haare waren nach Art der Norkai mit Tierfett zu einer Vielzahl langer Zöpfe verklebt und ihre Gesichter waren wie alle anderen freien Körperstellen mit roter und schwarzer Kriegsbemalung bedeckt.

»Für Keldor!«, brüllte Dankon und gab den Männern das Signal zum Angriff. »Für die Gerechtigkeit!«

Ohne zu zögern, trieben die Ritter ihre Pferde den Abhang hinunter und Cordian hatte plötzlich alle Mühe, mit ihnen mitzuhalten. Als die Barbaren sie bemerkten, war es bereits zu spät: Wie eine Lawine aus Stahl brachen sie über die Norkai herein. Im Vorbeireiten streckte Dankon den Ersten der Plünderer nieder und ließ sein Schwert nur Sekunden später erneut herabsausen, um einen weiteren Krieger zu erschlagen.

Cordian sah, wie ein grobschlächtiger Speer an Rugems Schild abprallte und dieser ausholte, um seinem Gegner mit einem gewaltigen Schwinger den Kopf von den Schultern zu trennen. Die Verteidiger Keldors fuhren zwischen ihre Widersacher wie Blitz und Donner, teilten Hiebe und Schläge aus oder ritten ihre überraschten Feinde einfach nieder. Nach wenigen Augenblicken war jeglicher Widerstand unter dem gerechten Zorn von Dankons Männern zusammengebrochen und die verbliebenen Norkai ergriffen die Flucht. Als Cordian zu seinen Mitstreitern aufschloss, war der Kampf bereits entschieden und die Ritter sprengten auseinander, um die Überlebenden zur Strecke zu bringen. Er wollte sich ihnen gerade anschließen, da nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Neben ihm befand sich eine brennende Scheune. Durch eines der Fenster hatte er einen Schatten gesehen.

Ohne zu zögern, sprang er vom Ross und zog sein Schwert. Wenn sich einer der Barbaren dort versteckt hielt, würde er ihn nicht entkommen lassen! Und wenn es sich stattdessen um einen überlebenden Dorfbewohner handelte, musste er ihn schnellstens da herausholen!

Das Scheunentor brannte lichterloh, doch er entdeckte rasch eine Hintertür, durch die er ins Gebäude gelangen konnte. Sie klemmte – ihre Scharniere hatten sich vermutlich durch die Hitze verzogen –, doch unter einem kräftigen Tritt gab sie nach wie dünnes Papier.

Im Inneren schlug ihm heiße, stickige Luft entgegen und beißender Qualm vernebelte ihm schon nach wenigen Schritten die Sicht. Überall knackte und knisterte es. Das Gebälk über ihm ächzte derart bedrohlich, dass er fürchtete, die ganze Scheune könne im nächsten Moment zusammenbrechen, um ihn und jeden anderen, der sich hier aufhalten mochte, unter sich zu begraben.

Cordian dachte einen kurzen Moment daran, umzukehren. Er überlegte, wie unklug es war, für irgendeine unbestimmte Ahnung sein Leben zu riskieren, doch dann hörte er aus nächster Nähe einen erstickten Schrei. Wenn noch jemand aus diesem Dorf lebte, dann musste er ihn um jeden Preis retten!

Das Schwert in der Hand stolperte er weiter, und plötzlich tauchten zwei Gestalten vor ihm auf. Es handelte sich um einen kräftigen Norkai, der eine junge Frau in eine Ecke getrieben hatte. Sie konnte kaum älter sein als Cordian selbst – eher noch jünger – und drückte sich ängstlich an die rückwärtige Wand. Ihr Gesicht war rußverschmiert und ihre angesengte Kleidung hing ihr in Fetzen vom Körper.

Der Barbarenkrieger machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu und ließ drohend seine schartige Axt kreisen. Dem Prinzen indes wandte er den Rücken zu und hatte seine Gegenwart offenbar noch nicht bemerkt. Gut so. Er überragte Cordian, der selbst nicht unbedingt klein gewachsen war, sicher um einen Kopf, doch das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Nun würde sich zeigen, ob Dankons harte Ausbildung Früchte getragen hatte.

In diesem Moment bemerkte ihn die Frau. Ihrem Blick folgend drehte der Norkai sich um und stieß ein drohendes Knurren aus, als er seines Widersachers gewahr wurde.

»Für Keldor!«, brüllte Cordian, so laut er konnte, und stürzte sich auf seinen Gegner. Mit aller Kraft ließ er die Waffe herabsausen, doch zu seinem Schrecken gelang es dem Barbaren mit spielerischer Leichtigkeit, seine Klinge abgleiten zu lassen. Vom Schwung der eigenen Bewegung getragen, geriet Cordian ins Stolpern und krachte gegen einen hölzernen Stützbalken. Seine metallbeschlagene Lederrüstung und die dicke Pelzkleidung schluckten den größten Teil des Aufpralles, doch in seiner rechten Schulter machte sich trotz allem ein schmerzhaftes Pochen bemerkbar.

Zu Hause, am Hof seines Vaters, hatte er oft gekämpft, jedoch nie auf Leben und Tod. Er besaß Talent, aber es fehlte ihm an Erfahrung, so pflegte Dankon zu sagen. Der alte Ritter hatte sich dagegen gesträubt, ihn zur Nordgrenze mitzunehmen. Er hatte es für zu gefährlich gehalten.

Doch wie sollte er Erfahrung sammeln, ohne sich jemals der Gefahr zu stellen? Mit diesem Argument hatte er sich schließlich durchgesetzt. Womöglich hätte er lieber auf Dankons gut gemeinten Rat hören sollen, aber nun war es zu spät. Er selbst konnte vielleicht davonlaufen und die Ritter zu Hilfe holen, doch dann wäre es um die junge Frau mit Sicherheit geschehen. Nein, das würde er nicht zulassen, es waren schon genug Menschen gestorben! Mit grimmiger Miene ging er in Verteidigungshaltung.

Der Angriff des Norkai ließ nicht lange auf sich warten. Seine Axt zielte direkt auf Cordians Hals, doch behände warf sich der Prinz zur Seite und entging so dem tödlichen Hieb. Er hatte seinen Körper mit ausdauerndem Training in Form gebracht, was sich nun bezahlt machte. Beweglichkeit war im Kampf mindestens genauso wichtig wie rohe Kraft.

Als die Axt des Kriegers in den Balken krachte, mit dem Cordian kurz zuvor Bekanntschaft gemacht hatte, regneten glühende Funken von oben auf den Barbaren herab und ließen ihn vor Wut und Schmerz aufschreien. Kleine Rauchwölkchen stiegen von der ungeschützten Haut seiner muskulösen Oberarme auf, doch er fürchtete, dass dies die Kampfeslust des Kriegers eher noch anheizte.

Ohne ihm eine Atempause zu gönnen, ging sein furchterregender Gegner erneut auf ihn los. Die Hitze und den Qualm ignorierend, konzentrierte sich Cordian auf das, was er gelernt hatte: Jeder Gegner hatte eine Schwachstelle. Bei diesem hier war es die Tatsache, dass er den jungen Prinzen unterschätzte.

Als der Norkai seine Axt ein weiteres Mal nach ihm schwang, schlug er die Waffe des Kriegers gekonnt zur Seite, nutzte den Schwung für eine schnelle Drehung um sich selbst, und rammte ihm das Schwert tief in die Brust.

Der tödlich getroffene Barbar starrte ihn einen endlos erscheinenden Moment aus weit aufgerissenen Augen an. Verblüffung war darin zu lesen. Dann gaben seine Knie nach und er stürzte schwer zu Boden.

Erleichtert und dankbar, noch am Leben zu sein, wischte Cordian sich den klebrigen Schweiß von der Stirn und zog seine Waffe aus dem leblosen Körper. Dann wendete er sich der Frau zu und streckte ihr den Arm entgegen.

»Komm jetzt, du bist in Sicherheit. Lass uns hier verschwinden.«

Die Angesprochene reagierte nicht, sondern starrte mit Schrecken auf einen Punkt über ihm. Er sah sie fragend an, und gerade als er den Kopf hob, um ihrem Blick zu folgen, warf sie sich mit aller Kraft auf ihn. Ihre Wucht reichte aus, dass er rücklings ins Straucheln geriet und schließlich den Halt verlor. Im selben Moment, in dem sie der Länge nach zu Boden fielen, stürzte ein brennender Balken in einer Wolke aus Asche und Splittern von der Decke herab, genau dort, wo er eben noch gestanden hatte. Als sich der Qualm verzogen und er den Hustenreiz fürs Erste zurückgedrängt hatte, sah er der Unbekannten direkt in die Augen. Sie waren von einem klaren, strahlenden Grün und besaßen eine geheimnisvolle, anziehende Tiefe. Ihm kam zum ersten Mal zu Bewusstsein, dass sie unter dem ganzen Ruß möglicherweise sehr schön sein mochte.

»In Ordnung, ich habe dir das Leben gerettet und du mir«, bemerkte er, als der Schreck verflogen war. »Nun lass uns verschwinden, damit nicht alles umsonst war.«

Als sie sich nicht rührte, fügte er hinzu: »Es würde helfen, wenn du von mir runtergingest.«

Ob die Fremde seine Worte nun verstand oder nicht, sie erhob sich und ließ ihn aufstehen. Ohne noch länger zu warten, ergriff er sie bei der Hand und rannte mit ihr zum Ausgang, den Lärm weiterer herabstürzender Balken im Rücken.

 

Als sie ins Freie stürmten, sog er die frische Luft in gierigen Zügen in die Lunge und hustete zwischendurch immer wieder schrecklich. Seine gesamte Kleidung war von Staub und Ruß bedeckt und sein ansonsten dunkelbraunes, kurzes Haar war grau vor Asche, wie er feststellte, als er mit der Hand hindurchfuhr. Die Gerettete sah noch viel schlimmer aus – er konnte kaum erkennen, wo versengte Bekleidung aufhörte und schmutzbedeckte Haut anfing. Es war wirklich knapp gewesen.

»Prinz Cordian!« Es war Dankon, der auf ihn zugeeilt kam. Der sonst strenge Blick seiner stets wachen Augen war Sorge gewichen. »Da bist du ja, Junge. Wer ist das?«

»Sie … war … da drinnen«, schnaufte er. »Ich habe sie aus der Scheune gerettet. Ein Norkai war auch da. Ich habe ihn …«

»Schon gut, die Lage ist so weit sicher«, unterbrach ihn der Ritter. »Wir glauben, dass niemand entkommen ist.« Während er sprach, legte er seinen Umhang um die Schultern der Unbekannten und führte sie und Cordian in Richtung der anderen Ritter.

»Wie heißt du, mein Kind?«, fragte er sanft.

Als er keine Antwort erhielt, meinte Cordian: »Sie steht noch unter Schock. Der Barbar ist mit der Axt auf sie losgegangen.«

»Er hat versucht, sie zu töten? Das ist seltsam. Seltsam und beunruhigend.«

»Wieso?«, wollte Cordian wissen. »Sie sind Monster. Nicht besser als wilde Tiere. Ich bin froh, dass wir ihnen ein Ende bereiten konnten.«

»Das mag sein, Junge, aber auch die Norkai müssen von irgendetwas leben. Normalerweise nehmen sie bei einem Raubzug alles mit, was sie tragen können. Sie stehlen das Vieh und entführen die Frauen …«, er machte eine Geste, die andeutete, dass er die Aufzählung beliebig fortführen könnte. »Aber hier ist alles anders. Nur Tod und Zerstörung …«

»Genau wie in den übrigen Dörfern.« Es war Rugem, der gesprochen hatte. Sie hatten die Gruppe inzwischen erreicht.

»Sie haben keinen Stein auf dem anderen gelassen«, fuhr er fort. »Es scheint kein Haus zu geben, das nicht bis in den letzten Winkel verwüstet worden wäre, doch durch das Feuer lässt sich das nicht mehr genau feststellen.«

»Überlebende?«

Rugem schüttelte den Kopf.

»Wenn sie keine Beute machen, was bezwecken sie dann mit all der sinnlosen Gewalt?«, wollte Cordian von Dankon wissen.

Dieser blickte nachdenklich ins Leere. »Vielleicht geht es gar nicht um Zerstörung. Möglicherweise suchen sie etwas …«

»Was sollte das sein?«, fragte Cordian skeptisch.

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Ritter, »aber irgendetwas geht hier im Norden vor, und ich bin nicht sicher, ob es schon vorbei ist.«

»Das ist es nicht«, knurrte Rugem. »Wir bekommen Gesellschaft.«

 

Keine einhundert Schritt entfernt, auf der gegenüberliegenden Hügelkuppe, war eine lange Reihe berittener Silhouetten aufgetaucht: Norkai. Zwischen ihnen erhoben sich massige, zweibeinige Schatten; hochgewachsen genug, dass sie den Reitern beinahe bis an die Schultern reichten, dabei deutlich breiter als diese und am ganzen Körper mit zotteligem Fell bedeckt.

»Bestien!«, spie Rugem aus. »Sie haben Bestien dabei.«

»Aufsitzen!«, befahl Dankon und die Ritter sprangen in ihre Sättel. Cordian reichte der Frau aus der Scheune auffordernd die Hand. Sie schien zu verstehen, was die Geste bedeutete und stieg hinter ihm aufs Pferd.

»Das sind mindestens einhundert«, stellte einer der Männer fest, »die sind uns vier zu eins überlegen.«

In diesem Moment löste sich einer der Reiter aus der Linie der Barbaren und ließ sein Tier ein paar Schritte vorwärts traben. Bis auf ein Paar metallene Handschuhe wurde seine Gestalt vollständig von einem dunklen Mantel verhüllt. Eine tief herabgezogene Kapuze warf tiefe Schatten auf sein Gesicht. Die martialische Kriegsbemalung, welche die Pferde der anderen aufwiesen, fehlte bei seinem Rappen gänzlich.

»Der sieht nicht aus wie ein Norkai«, raunte Rugem den anderen leise zu.

»Nein, tut er nicht«, bestätigte Dankon.

Der geheimnisvolle Reiter stoppte sein Pferd und begann zu sprechen. Etwas von dem Krächzen einer Krähe lag in seiner Stimme, ohne dass Cordian es genau hätte beschreiben können.

»Sieh an, die tapferen Ritter des Königs.« Er lachte hässlich. »Ich bin bereit, euer Leben zu verschonen, wenn ihr mir unverzüglich das Mädchen aushändigt!«

Überrascht starrten die Ritter von einem zum anderen. Cordian drehte den Hals so weit wie möglich, um seiner Begleiterin in die Augen sehen zu können. Ihr Gesicht zeigte denselben Ausdruck unbestimmter Angst wie schon die ganze Zeit über. Er vermochte nicht zu sagen, ob sie überhaupt bemerkt hatte, dass über sie gesprochen wurde.

Dankon deutete anklagend auf den Sprecher der Norkai. »Ihr wisst, wer wir sind. Dann müsst Ihr auch wissen, dass wir eher sterben würden, als unser Leben durch solche Feigheit zu erkaufen!« Damit zog er sein Schwert.

»Ich hatte gehofft, dass ihr euch so entscheiden würdet!«, rief der verhüllte Reiter und warf bei diesen Worten seine Kapuze zurück.

Ein erschrecktes Keuchen fuhr durch die Reihen der Ritter Keldors. Der kahl geschorene Schädel des Mannes war mit fremdartigen, blutigen Symbolen bedeckt, die direkt in seine Kopfhaut geritzt worden waren. Seine Augenhöhlen waren leer und blutverkrustet. Er konnte nur einem Albtraum entsprungen sein.

»Arn schütze uns!«, entfuhr es Dankon. Auch Cordian richtete ein Stoßgebet an den Schöpfer.

»Tötet sie!«, befahl der Entstellte.

Die Norkai setzten sich wie ein Mann in Bewegung und preschten den Hügel hinab. Die massigen, geifernden Gestalten der blutrünstigen Bestien folgten dichtauf. Ihre raubtierartig nach hinten gebogenen Beine verliehen ihnen eine enorme Sprungkraft.

»Verteidigungsposition!«, ordnete Dankon an, und die Ritter formten einen weiten Halbkreis. Er sah sich nach dem Prinzen um und brüllte: »Cordian! Verschwinde von hier! Bring dich in Sicherheit, wir halten sie auf!«

»Nein!«, schrie dieser über den Lärm der herandonnernden Angreifer hinweg. »Ich werde Euch nicht im Stich lassen, Dankon!«

»Bring dich in Sicherheit, Junge! Das ist ein Befehl!«

Cordian war hin- und hergerissen. Er konnte die Ritter doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen; er konnte kämpfen und er war doch schließlich kein Feigling!

»Rette dich und das Mädchen, Cordian! Jemand muss deinem Vater berichten, was hier vorgefallen ist! Los jetzt!«

Cordian lenkte ein und gehorchte. »Gut festhalten«, warnte er die Frau, die hinter ihm saß und sich ängstlich an ihn drückte. Dann trieb er sein Pferd an, wie nie zuvor in seinem Leben und galoppierte davon. Auf dem Hügel angekommen, riskierte er einen kurzen Blick zurück und seine Augen füllten sich mit Tränen. Die Angreifer brachen wie eine Flutwelle über die tapferen Ritter herein und mehr als einer lag bereits tot im Staub; erschlagen von archaischen Waffen der Norkai oder zerrissen durch die Klauen der Bestien. Wahrscheinlich würde er keinen der Männer je wiedersehen.

 

2

Auf die Brüstung der Mauer gelehnt, genoss Lissina die wärmenden Strahlen der Sonne. Der Wind strich ihr um die Nase, streichelte durch ihre blonden Locken und zupfte sanft an ihrem bequemen, hellblauen Kleid, welches einst ihrer Mutter gehört hatte. Ihr Blick glitt die Flanke des felsigen Hügels hinab, hinweg über die schindelgedeckten Dächer der Stadt, über Wiesen und Felder, zu den fernen, schneebedeckten Bergen des Nordens. Dort hielt bereits der Winter Einzug; doch hier in Keld, der Hauptstadt des Königreiches, war es noch angenehm mild und spätsommerlich.

Ein Schmetterling flog an ihr vorbei, und hoch über dem höchsten Turm der Burg zog ein Adler seine Kreise. Nichts konnte die perfekte Idylle dieses Tages stören. Fast nichts, dachte sie. Wäre da nur nicht dieser Gerion …

Unter ihr, im zentralen Innenhof der Burg, ging die penetrante Nervensäge ihren Fechtübungen nach. Er gab sich dabei große Mühe, von ihr bemerkt zu werden, während sie sich ihrerseits nicht weniger bemühte, ihn einfach zu übersehen.

 

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie war nicht sonderlich überrascht, eine pummelige, ältere Frau auf sich zueilen zu sehen, welche die schlichten Kleider einer Bediensteten trug.

»Lissina«, rief die Heraneilende erleichtert, »da seid Ihr ja, Prinzessin. Ich habe Euch einen warmen Umhang mitgebracht, Ihr holt Euch hier draußen sonst noch den Tod.«

»Ira, das ist wirklich nicht nötig. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.« Vergeblich versuchte sie, die wohlmeinenden Bemühungen des Kindermädchens abzuwehren, doch dieses war erst zufrieden, als sie von Kopf bis Fuß in Pelz gehüllt war.

»Oh, seht nur«, rief die Amme erfreut aus. »Da unten ist Fürst Gerion. Ist er nicht ein stattlicher Mann?«

»Stattlich? Er sieht aus wie ein Kleiderständer.«

Das war übertrieben und Lissina wusste es. Obwohl nicht eben kräftig, gab es äußerlich wenig an dem Adeligen auszusetzen. Es war eher das hochnäsige, selbstverliebte Auftreten, welches sich unter seinem gepflegten Erscheinungsbild verbarg, das ihr zuwider war.

»Sagt so etwas nicht, mein Kind«, wurde sie von Ira getadelt. »Er kommt aus gutem Hause, und seht selbst, welch begabter Fechter er ist.«

»Von wegen. Gegen meinen Bruder hätte er keine Chance. Sogar ich könnte es mit ihm aufnehmen.«

Ira schlug erschreckt die Hände über dem Kopf zusammen. »Was redet Ihr da? Ihr seid eine Prinzessin, es steht Euch nicht an, Euch mit der Fechterei zu beschäftigen. Was hätte Eure Mutter nur dazu gesagt?«

Bei dem Gedanken an ihren Bruder war Lissinas Blick erneut zu den entfernten, weiß glänzenden Berggipfeln gewandert. Irgendwo dort musste Cordian in diesem Moment unterwegs sein. Weit weg von den Zwängen und Regeln des Hofes, nur sich selbst und seinen treuen Begleitern gegenüber in der Pflicht. Was gäbe sie dafür, nur einmal mit ihm tauschen zu dürfen …

»Ich bin sicher, meiner Mutter hätte es gefallen, aber leider kann sie es ja nun nicht mehr erleben.«

»Verzeiht, ich hätte das nicht sagen sollen. Sie wäre sicher stolz darauf, was aus Euch geworden ist. Oh, seht doch«, die Amme deutete hinunter in den Hof, »Gerion hat seine Übung beendet. Er hat gewonnen!«

Lissina verdrehte genervt die Augen. »Ira, er hat gegen eine Holzpuppe gekämpft …«

Sie sah hinab in den Burghof und erkannte zu ihrem Verdruss, dass sich der Adelige aus Eltera der Mauer näherte und zu ihr empor blickte.

»Prinzessin«, begann er schwungvoll, »habe ich Euch am heutigen Tage bereits gesagt, wie bezaubernd Ihr ausseht?«

»Ich bin nicht sicher, mein Fürst«, rief sie zurück. Seine oberflächlichen Schmeicheleien waren ihr schon seit dem ersten Tag übel aufgestoßen. »Falls dem so ist, habe ich Euch wohl nicht zugehört.«

Ira hielt sich bestürzt die Hand vor den Mund. »Aber Kind«, flüsterte sie, »so könnt Ihr doch nicht mit ihm sprechen. Er ist hier, um Euren Vater um Eure Hand zu ersuchen.«

»Das mag schon sein«, entgegnete sie leise, sodass Gerion nichts von ihrem Gespräch mitbekam, »aber mein Vater hat mir versprochen, mich nicht gegen meinen Willen zu vermählen, also könnte er diesen Gecken auch gleich nach Hause schicken.«

Ihrem Freier indes schien die Spitze nichts auszumachen. Er zog seinen Hut – eine lächerliche Mütze aus buntem Stoff, die mit Faunfedern geschmückt war – und meinte: »Schlagfertig wie immer, meine Teure. Gedenkt Ihr, heute Abend mit Eurem Vater und mir zu speisen?«

»Das wird wohl sehr von meinem Appetit abhängen«, antwortete sie voll honigsüßer Freundlichkeit. Der müsste dann aber schon ziemlich groß sein, fügte sie in Gedanken hinzu.

Ira raufte sich beinahe die Haare, als sie die Prinzessin so reden hörte. »Arn möge mir verzeihen. Ich habe Euch wohl nicht oft genug den Hintern versohlt, als Ihr noch klein wart. Wie könnt Ihr diesem edlen Herrn nur solche Frechheiten an den Kopf werfen? Euer Vater hofft übrigens, dass Ihr es Euch noch einmal überlegt. Ihr seid jetzt siebzehn Jahre alt und noch nicht verlobt. Die Leute werden bald anfangen, sich Gedanken zu machen.«

Lissina deutete ein Schulterzucken an: »Mir ist egal, was die Leute denken. Mein Bruder ist drei Jahre älter als ich und ebenfalls nicht verlobt. Und stört das vielleicht irgendjemanden?«

»Aber Kind«, die Amme schlug voller Sorge die Hände zusammen. »Euer Bruder ist auch keine Prinzessin …«

»Schon gut, Ira, ich weiß«, seufzte sie, »aber wie könnte ich jemanden zum Mann nehmen, den ich überhaupt nicht liebe?«

»Liebe …«, das Kindermädchen blickte Hilfe suchend zum Himmel. »Liebe ist nichts für eine Prinzessin. Höchstens im Märchen …«

In diesem Moment hallte der Ton eines tiefen Hornes durch die gesamte Burg. Ein Warnsignal, das bedeutete, dass die Wachen etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten.

Lissina blickte sich besorgt um und entdeckte vor dem blauen Himmel einen dunklen Schatten, der sich mit langsamen Flügelschlägen näherte.

»Das ist Tennlor!«, rief die Prinzessin erfreut und sprang aufgeregt in die Luft. »Tennlor kommt uns besuchen!«

Gerion, der aus dem Burghof nicht sehen konnte, was vorging, starrte misstrauisch in die Runde. »Was hat diese Aufregung zu bedeuten, Prinzessin? Erhalten wir Besuch?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Ja!«, rief sie ihm fröhlich zu. »Ein alter Freund!« Sie eilte auf die Tür zu, hielt jedoch inne und beugte sich noch einmal über die Brüstung. »Ihr solltet besser etwas zur Seite treten, Gerion!«

»Wie bitte?«, rief dieser zurück, doch die Prinzessin war bereits verschwunden.

Dafür schoss im nächsten Moment ein gewaltiger Drache über die Mauer und setzte dazu an, im Burghof zu landen. Seine Flügelspannweite mochte beinahe zehn Manneslängen betragen und seine Krallen schienen groß genug, im Flug einen Ochsen zu greifen, ohne dabei langsamer zu werden. Mit einem dumpfen Stoß setzte er auf. Sein schlängelnder Schwanz peitschte durch die Luft, um den riesigen, rot geschuppten Leib auszubalancieren, und seiner Kehle entfuhr ein tiefes Fauchen, das sich anhörte, als würde Metall über Stein reiben.

 

Als Lissina den Hof betrat, sprang ein Reiter vom Rücken des Ungetüms. Sein langes, dunkles Haar war lose hinter dem Kopf zurückgebunden und zeigte genau wie sein kurzer Bart erste, vorsichtige Anzeichen von Grau. Gekleidet war er in eine weite, hauptsächlich in blau gehaltene Robe, die aufwendig verziert war – wie bei Angehörigen seines Ordens üblich.

Sein Gesicht hellte sich auf, als er die Prinzessin erblickte, die auf ihn zugerannt kam und ihn herzlich umarmte.

»Lissina! Bei den Göttern – bist du groß geworden.”

»Tennlor, es ist schön, dich zu sehen. Du warst so lange nicht mehr hier.«

»Ich hatte viel zu tun, mein Kind«, entschuldigte er sich. »Als Salas Kai gibt es unzählige Dinge, die meine Aufmerksamkeit erfordern, aber ich versichere dir, ich habe Keld nicht vergessen.«

Er schob sie sanft von sich und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Das gleiche goldene Haar, die gleiche niedliche Stupsnase und sogar diese kleinen frechen Sommersprossen. Als hätte ich die junge Elanora vor mir. Ganz besonders in diesem Kleid.«

Lissina konnte es nicht verhindern, zu erröten. »Du erinnerst dich daran, dass sie es trug?«

Tennlor lächelte entwaffnend. »Die Erinnerungen an die schönen Dinge währen am längsten.«

Er setzte sich in Bewegung und sie gingen nebeneinander auf das Hauptgebäude zu. »Was macht dein Bruder gerade?«

»Conn? Er ist zurzeit nicht da. Begleitet Dankon und seine Ritter auf eine Reise zur Nordgrenze. Es hat dort ein paar Überfälle gegeben.«

»In den Norden, sagst du?«

Tennlors Stimme klang auf einmal nachdenklich, doch falls er sich aus irgendwelchen Gründen Sorgen machte, ließ er sich nichts anmerken.

Vor dem Eingang des Hauptgebäudes hatte eine Ehrenwache Stellung bezogen, die sich verneigte, als der Besucher an ihnen vorüberschritt. Gerade als sie im Begriff waren, den Hof zu verlassen, bemerkte Tennlor, wie Lissina amüsiert über die Schulter zurückblickte, und wendete sich noch einmal um.

Auf der anderen Seite des gepflasterten Platzes hatte Gerion sich so dicht wie möglich an die Mauer gedrückt und zitterte unter dem misstrauischen Blick des Drachen. Prüfend sog die gewaltige Kreatur die Luft durch die großen Nasenlöcher ein, um den unbekannten Geruch einzuschätzen.

»Oro!«, rief Tennlor seinem Reittier zu.

Auf den Klang seines Namens hin blickte das Ungetüm fragend in Richtung seines Meisters und rollte sich dann gelangweilt zum Schlafen zusammen.

 

Ihr Vater wartete in der Empfangshalle auf sie. Eine goldene Krone zierte sein Haupt und er hatte sich den schweren Purpurumhang über die Schultern geworfen, den er nur bei offiziellen Anlässen verwendete. Außerdem trug er seine besten Pelzgewänder darunter. Große Buntglasfenster tauchten ihn und die spalierstehenden Rüstungsständer in ein faszinierendes Farbenspiel. Lissina fragte sich, wie er sich in der kurzen Zeit hatte umziehen können, aber wenn sie darüber nachdachte, hätte es ihrem Vater auch nicht ähnlich gesehen, einen Salas Kai, der zudem noch ein Freund der Familie war, in seinem Haus warten zu lassen. Der Haushofmeister stand etwas abseits im Hintergrund und wirkte ein wenig pikiert. Er hatte es augenscheinlich nicht geschafft, rechtzeitig repräsentative Kleidung anzulegen.

Als Tennlor vor den König trat, verbeugte er sich kurz: »König Garin Leongart, Herrscher von Keldor, ich bin erfreut, Euch und Eure Tochter bei bester Gesundheit anzutreffen.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Tennlor Kai.« Ihr Vater lachte herzlich und drückte sein Gegenüber kurz an sich. »Es ist wirklich lange her …«

Als Lissina die Männer nebeneinanderstehen sah, verglich sie beide kurz miteinander: Das Haar ihres Vaters wirkte etwas voller als das des Salas Kai, und sein Gesicht war auch nicht so schmal. Die Schultern breiter, das Kinn markanter, machte der König insgesamt einen etwas kräftigeren Eindruck, aber ansonsten schienen sie im gleichen Alter zu sein. Doch wenn das stimmte, wie kam es dann, dass ihr Vater behauptete, schon als kleiner Junge von Tennlor und seinem Drachen besucht worden zu sein? Während sie darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass ihr alter Freund sich seit ihrer letzten Begegnung im Gegensatz zu ihr selbst äußerlich kaum verändert hatte. Er sah noch genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

»Was hat Euch so lange ferngehalten Tennlor? Wollt Ihr uns nicht bei einem Becher Wein erzählen, was sich in der weiten Welt alles ereignet hat?«, fragte der König.

»Später vielleicht. Vorher sind da noch ein paar Dinge, über die ich gerne mit Euch unter vier Augen sprechen würde, Garin.«

»Natürlich. Gehen wir ins Beratungszimmer.«

»Ich darf doch sicher mit?«, meldete sich Lissina zu Wort. Sie brannte darauf, zu erfahren, was so wichtig war, dass Tennlor nicht vor den anderen darüber reden wollte. Warum musste der Salas Kai auch immer so geheimnisvoll tun?

»Lissina!«, wies ihr Vater sie zurecht. »Du hast Tennlor gehört. Unter vier Augen heißt unter vier Augen. Er wird beim Abendessen sicher genug Zeit haben, all deine Fragen zu beantworten.«

»Aber …«, protestierte sie.

Ihr Vater hob warnend den Zeigefinger: »Kein aber, Kind.«

»Es geht bloß um Politik«, ergänzte Tennlor beiläufig. »Das würde dich ohnehin langweilen.«

Als sich die Männer entfernten, starrte sie ihnen trotzig hinterher. Durfte sich eine Prinzessin vielleicht nicht für Politik interessieren? Sie wäre jede Wette eingegangen, dass man ihrem Bruder erlaubt hätte, dabei zu sein!

Verärgert verließ sie die Empfangshalle und trat im Vorbeigehen wütend gegen eine der aufgestellten Ritterrüstungen, die scheppernd in sich zusammenbrach, was den Haushofmeister beinahe ebenso laut mit den Zähnen knirschen ließ.

Sie hatte langsam genug davon, von allen bevormundet und immer nur als Kind bezeichnet zu werden. Sie würde schon herausbekommen, was Tennlor und ihr Vater für Geheimnisse hatten, sie war schließlich nicht auf den Kopf gefallen!

 

Die auf einem schroffen Felsen über der Stadt thronende Burg war von vielen begehbaren Mauern durchzogen, welche sie in einen großen und mehrere kleine Höfe unterteilten. Von einer dieser Mauern konnte man auf einen schmalen Sims gelangen, der außen am Hauptgebäude entlang führte und erst an einem der Fenster endete, die zum Beratungszimmer gehörten.

Als kleines Mädchen war Lissina hier des Öfteren herumgeklettert. Als sie einmal dabei erwischt worden war, hatte es großen Ärger gegeben. Es war viel zu gefährlich, hatten die Erwachsenen ihr gesagt, und sogar ihre Mutter war dieser Meinung gewesen. Damals hatte sie sich ungerecht behandelt gefühlt, doch wenn sie jetzt nach unten schaute, konnte sie ihre Eltern nur zu gut verstehen. Es ging wirklich sehr tief abwärts, zudem wuchsen am Fuß der Mauer auch noch dornige Rosen, also sollte sie es tunlichst vermeiden, den Halt zu verlieren.

Als hätte sie es mit ihren Gedanken heraufbeschworen, brach plötzlich unter ihrem linken Fuß ein Steinsplitter ab und stürzte in die Tiefe. Erschrocken drückte sie sich, so dicht es ging, an die Mauer und atmete erst einmal tief ein und aus. Als Kind war ihr der Sims irgendwie breiter vorgekommen …

Schließlich tastete sie sich weiter. Sie hatte ohnehin schon mehr als die Hälfte geschafft, da würde sie doch jetzt nicht unverrichteter Dinge umkehren! Aus dem Beratungszimmer konnte sie bereits leise Stimmen hören. Die Fenster bestanden dort nicht aus buntem Glas wie in der Empfangshalle, sondern waren im Grunde nicht mehr als bloße Löcher in der Mauer, die mit hölzernen Läden versehen waren. Im Winter konnte man natürlich auch Felle davorhängen, doch im Moment standen sie offen.

Endlich war sie nah genug, um die Männer zu verstehen, und machte es sich auf dem schmalen Vorsprung so gut es ging bequem. »Was meint Ihr damit, wenn Ihr von Gefahr sprecht, Tennlor?«, hörte sie ihren Vater fragen.

»Ich komme gerade aus dem Norden. Dort oben regt sich etwas. Ich bin so schnell wie möglich hierher geflogen, nachdem ich es mit eigenen Augen gesehen hatte«, antwortete der Salas Kai.

»Ihr sprecht in Rätseln, alter Freund. Was regt sich dort oben?«

»Die Norkai sammeln eine Armee. Eine Streitmacht, wie es sie seit Menschengedenken nicht mehr gegeben hat.«

»Eine Armee? Was redet Ihr da, Tennlor? Wollt Ihr behaupten, es bestünde die Gefahr eines Krieges?«

»Es wird Krieg geben, Garin. Ich habe die Armee gesehen. Angehörige aller Stämme, Bestien und Schlimmeres. Die ersten Krieger haben Eure Grenze bereits überschritten.«

Die Stimmen schwiegen einen Moment. Lissina schluckte schwer. Cordian war an der Nordgrenze. Wenn es stimmte, was Tennlor sagte, dann war ihr Bruder in höchster Gefahr!

»Mein Sohn ist dort oben, zusammen mit Dankon«, erkannte auch ihr Vater. Seine Stimme war nun ernst und voller Sorge. Die fröhliche Heiterkeit der letzten Minuten war verflogen. »Wisst Ihr etwas über ihren Verbleib?«

»Es tut mir leid, von ihnen habe ich nichts gesehen. Ich kam, so schnell ich konnte nach Keld, um Euch zu warnen. Ihr müsst Vorbereitungen treffen, um die Stadt zu verteidigen.«

»Sie können unmöglich vor dem Winter losschlagen, nicht mal die Norkai sind so hartgesotten, dass sie eine Belagerung im Tiefschnee in Erwägung ziehen würden.«

»Dieser Feind wird sich vom Winter nicht aufhalten lassen, Garin. Genauso wenig wie von irgendetwas anderem. Angst treibt sie voran. Die Angst vor ihrem neuen Khan. Er nennt sich Barail za Apoch, was soviel bedeutet wie Bär, der aus dem Winterschlaf erwacht ist. Niemand weiß, woher er kam, doch hat er es geschafft, in kurzer Zeit sämtliche zerstrittenen Stämme zu vereinen, und alle getötet, die es gewagt hatten, sich ihm in den Weg zu stellen. Es geht das Gerücht um, er sei besessen und stehe mit dem Zaihor im Bunde …«

Lissina erschrak. Das Zaihor war die schrecklichste, zerstörerischste Kraft, die existierte. Wer sich ihrer bediente, musste durch und durch böse sein!

»Was Ihr sagt, hört sich alles sehr beunruhigend an«, befand der König. »Da Ihr mein Freund seid, zweifle ich nicht an Euren Worten und werde unverzüglich alle nötigen Maßnahmen ergreifen, mein Land zu schützen. Außerdem werde ich Boten in alle befreundeten Reiche entsenden, um Hilfe zu erbeten.«

Sie hörte ein pergamentenes Rascheln und lehnte sich ein Stück zur Seite, um einen Blick durch das Fenster zu riskieren. Ihr Vater hatte eine große Karte über den runden Tisch ausgebreitet, an dem er alle wichtigen Beratungen zu halten pflegte, und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Werdet Ihr bleiben und uns beistehen, Tennlor? Eure Fähigkeiten könnten sich als ausgesprochen nützlich erweisen.«

Tennlor trat neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »So wie damals, als ich Eurem Vater zur Seite stand? Ihr habt recht, aber in diesem Fall braucht Ihr mehr Unterstützung, als ich Euch bieten könnte. Ich werde morgen zum Saphirturm aufbrechen und die Versammlung des Lichtes bitten, Hilfe zu entsenden. Die Salas Kai werden sie in Eurem Fall wohl kaum verwehren können.«

Er machte eine Pause, ehe er fortfuhr: »Es gibt noch etwas, das ich Euch mitzuteilen habe. Es ist noch zu früh, um es mit Sicherheit zu sagen, aber es wäre möglich, dass dieser geheimnisvolle Khan weiß, was sich unter dieser Burg befindet. Wenn dem so ist, wird er mit allen Mitteln versuchen, sie einzunehmen. So weit darf es niemals kommen. Nicht nur das Schicksal Eures Reiches, sondern das von ganz Eddor könnte davon abhängen.«

Lissina zog hastig den Kopf zurück und keuchte bestürzt. Was sich unter der Burg befand? Was könnte ihr Vater so Wichtiges im Keller versteckt haben, dass es das Schicksal der gesamten Welt bedrohte?

 

3

Die tief hängenden Wolken zogen sich dunkel und bedrohlich über den Bergen des Nordens zusammen. Die Gipfel hatten sie bereits verschlungen, und es schien, als hätten sie es darauf abgesehen, auch den Rest der Welt unter sich zu erdrücken und niemanden aus dem Tal entkommen zu lassen.

Schnell wie der Wind jagte das einsame Pferd mit ihnen dahin und trug seinen Reiter und dessen Begleiterin der Hoffnung auf Rettung entgegen. Es war jedoch nicht das Wetter, vor dem sie flohen, auch wenn es so schien, als wolle die Natur selbst sich ihnen in den Weg stellen. Nein, die Gefahr, die ihnen auf den Fersen war, wies eine viel konkretere Form auf: Sie hatte vier Beine, lange scharfe Fänge und unersättlichen Hunger. In diesem Moment stieß sie ein unmenschliches Heulen aus.

Der grauenerregende Laut erzeugte in Cordian das Gefühl, sein Blut müsse augenblicklich in den Adern gefrieren. Gehetzt blickte er zurück über die Schulter.

»Blutwölfe«, presste er voller Schrecken zwischen den Zähnen heraus. »Sie haben Blutwölfe auf unsere Fährte gesetzt.«

Die Fremde, die er aus der Scheune gerettet hatte, reagierte nicht auf seine Worte. Sie hatte überhaupt noch nichts von sich gegeben, seit Beginn ihrer Flucht. Wahrscheinlich war sie immer noch wie gelähmt vor Angst und hatte bis jetzt nicht richtig registriert, was um sie herum los war. Sie saß nach wie vor hinter ihm auf dem Rücken seines Pferdes und hielt sich eng umschlungen an ihm fest. Die Kälte würde ihre Glieder sicher bald steif werden lassen, wenn er nichts unternahm. Sie trug schließlich nichts, bis auf die Fetzen ihrer dünnen Kleidung und Dankons Fellumhang. Erstaunlich, dass sie sich überhaupt noch so gut hielt.

Aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Die berittenen Norkai hatten sie zwar fürs Erste abgeschüttelt, doch diese würden ihre Spur bald wieder aufnehmen, angelockt vom Geheul der geifernden Blutwölfe.

 

Der Prinz ging seine Optionen durch: Bis zur nächsten Ortschaft, an die er sich entsinnen konnte, lag noch eine Strecke von mehr als einem Tag vor ihnen. Selbst wenn er das Pferd zu Tode ritt, würden sie es nicht vor Einbruch der Dunkelheit bis dorthin schaffen. Und selbst wenn ihre Verfolger sie nicht vorher einholten und in Stücke rissen, würde das Mädchen in der Nacht erfrieren.

Möglicherweise gelang es ihnen, einen geschützten Lagerplatz zu finden, an dem er es riskieren konnte, ein Feuer zu machen, ohne entdeckt zu werden. Er erinnerte sich, dass es entlang der Straße einige leer stehende Hütten gab, die nur im Sommer von Viehhirten genutzt wurden. Wenn sie es schafften, dort Unterschlupf zu finden, konnten sie die Nacht überstehen.

Doch zuerst mussten sie den Wölfen entkommen.

Wieder erschallte ihr Heulen. Näher diesmal. Er blickte zurück und konnte ihre dunklen Leiber geduckt über den gefrorenen Boden hetzen sehen. Es waren nur drei an der Zahl, aber es konnten durchaus noch weitere in der Nähe sein.

Er trieb das Pferd zu noch mehr Tempo an, doch es war aussichtslos. Erschöpft, wie das Tier war, und mit dem Gewicht von zwei Personen beladen, konnten sie unmöglich entkommen.

Nun gut; wenn er seinen Verfolgern nicht zu entfliehen vermochte, dann musste er sich ihnen eben stellen.

Er sah sich um und entdeckte, was er suchte. Nicht weit entfernt machte er ein kleines Waldstück auf einer Anhöhe aus. Eine Handvoll kurze, stämmige Eichen, in deren Windschatten sich dornige Sträucher breitgemacht hatten. Ihre Blätter hatten sie bereits abgeworfen und boten dadurch nur wenig Deckung, aber er musste jeden noch so winzigen Vorteil nutzen.

 

Kurz entschlossen riss Cordian die Zügel herum und hielt auf die Anhöhe zu. Die Wölfe waren ihnen dicht auf den Fersen, aber ihr Vorsprung war noch groß genug, um den Kreaturen einen angemessenen Empfang zu bereiten.

Zwischen den Bäumen angekommen, sprang er aus dem Sattel und seine Begleiterin tat es ihm ohne Aufforderung nach. Er nahm das Pferd bei der einen, das Mädchen bei der anderen Hand und führte sie beide ein paar Schritt ins Unterholz. Hinter einem breiteren Baumstamm angelangt, band er hastig das Tier fest und wandte sich dann an die verängstigte Fremde: »Ich kümmere mich jetzt um die Blutwölfe. Keine Angst, es wird nicht lange dauern.«

Auf die eine oder andere Art hatte er damit sicher recht. Er hoffte nur, dass es nicht die Wölfe waren, die dann noch lebten. »Du wartest genau hier. Wenn sich etwas blicken lässt, das nicht wie ein Mensch aussieht, dann benutzt du das hier.«

Er zog sein Jagdmesser und reichte es ihr. Er machte sich keine Hoffnungen, sie könne sich damit tatsächlich verteidigen, aber vielleicht spendete ihr das Gefühl der Waffe in der Hand ein klein wenig Mut. Das war sicher besser als gar nichts.

Die Angesprochene blickte ihn die ganze Zeit über aus großen Augen an, sagte aber kein Wort. Egal, für Unterhaltungen hatte er im Augenblick ohnehin keine Zeit. Mit grimmiger Entschlossenheit in den Augen zog er sein Schwert und lief zurück zum Waldrand.

 

Von ihren Jagdinstinkten getrieben, erreichten die Blutwölfe schließlich das Waldstück. Obwohl ursprünglich aus ihnen hervorgegangen, wiesen diese schrecklichen Kreaturen kaum noch Ähnlichkeit mit echten Wölfen auf. Ihre Schultern waren breit und massig und überragten deutlich den tief ansetzenden Kopf. Von vorne betrachtet glich ihre Gestalt eher der eines Ochsen. Nach hinten verschmälerte sich ihr Leib; der Rücken war mit langen, borstigen Haaren bedeckt, die an Stacheln erinnerten, und ihre Vorderläufe endeten in scharfen Krallen.

Als der erste Wolf heran war und zum Sprung ansetzte, ließ Cordian einen zurückgebogenen dornigen Ast in seine Richtung vorschnellen. Der Kehle des Biestes entfuhr ein gepeinigtes Jaulen, als es mitten in der Bewegung aus der Luft gefegt wurde, doch nur eine Sekunde später sprang ihn das zweite Raubtier an.

Cordian riss schützend die Arme vors Gesicht und ließ sich nach hinten fallen. Die Kreatur streifte ihn im Flug und wurde von ihrem eigenen Schwung über ihn hinweggetragen. Es gelang ihm, sich abzurollen und sofort wieder auf die Füße zu springen. Beim Aufstehen schmeckte er Blut; die Krallen des Untiers hatten seine Wange geschrammt.

Ihm blieb keine Zeit, zu verschnaufen. Der Wolf, dessen Angriff er gerade abgewehrt hatte, jagte bereits wieder geifernd heran. Doch diesmal war er besser vorbereitet: In einer fließenden Bewegung löste er seinen Umhang, warf ihn nach dem Tier und sprang zur Seite. Als der Blutwolf blind an ihm vorbeisegelte, traf er ihn mit einem tödlichen Schwerthieb in die Flanke.

Er bekam keine Gelegenheit, seinen Triumph zu feiern. Etwas Schweres prallte unerwartet von hinten gegen ihn und schleuderte ihn zu Boden. Der harte Aufprall ließ die Waffe seinem Griff entgleiten und über den Boden davon schlittern.

Cordian stieß sich ab und versuchte, an das Schwert zu gelangen, da landete der Wolf erneut in seinem Kreuz und presste ihm die Luft aus den Lungen. Krallen schabten über seinen Rücken, und er konnte spüren, wie sie Leder zerfetzten, während die starken Kiefer der Kreatur Metallplatten von seiner Rüstung rissen.

Die kräftigen Pranken rissen ihn schließlich herum und er kam auf dem Rücken zum Liegen. Die Fänge der Bestie waren plötzlich dicht über seinem Gesicht und der heiße, stinkende Atem drohte, ihm die Sinne zu rauben. Es musste sich um den Wolf handeln, den er mit dem Ast getroffen hatte, denn seine Schnauze war mit einer Unzahl kleiner blutiger Stiche übersät. Die Schmerzen mussten das Untier geradezu rasend machen.

In einer letzten verzweifelten Anstrengung streckte er den Arm und bekam den Knauf seiner Waffe zu fassen. Gerade, als der Blutwolf zum tödlichen Biss ansetzte, trieb er ihm die Klinge tief in den weichen Unterleib. Das Monster krümmte sich vor Pein, und dem Prinzen gelang es, den schweren Körper von sich zu stoßen und sich zu befreien. Der Wolf zuckte noch ein letztes Mal, dann blieb er reglos liegen.

Cordian blickte hastig in alle Richtungen, bereit, einen weiteren Angriff abzuwehren, doch um ihn herum war alles ruhig. Zu ruhig. Wo steckte der dritte Blutwolf?

 

Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm empor. Wie von Dämonen gehetzt, rannte er zu der Stelle zurück, an der er sein Pferd angebunden hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er bereits, wie der überlebende Wolf seinen Blutdurst an der zerfetzten Leiche des Mädchens stillte. Es war, als würde sich eine kalte Hand um seinen Hals legen und langsam die Luftröhre zudrücken.

Als er durch die Büsche brach, glaubte er, auf alles gefasst zu sein, doch mit dem, was er tatsächlich sah, hatte er nicht gerechnet: Der Blutwolf lag reglos auf dem kalten Boden. Seine Kehle war mit einem einzelnen Schnitt sauber durchtrennt worden. Das Mädchen kniete daneben, sein blutiges Jagdmesser in der Hand.

Er hielt so überrascht inne, dass er beinahe ausgerutscht wäre. Abwechselnd blickte er von einem zum anderen.

»Was … wie …?«, brachte er verdutzt heraus. »Ich meine«, er räusperte sich kurz, um seine Stimme in den Griff zu bekommen, »wie hast du das gemacht?«

Sie stand auf und hielt ihm das Messer entgegen. »Benutzen«, sagte sie unsicher.

»Ja«, antwortete er und nahm ihr hastig das Messer aus der Hand, »ich sagte, du sollst es benutzen, aber wie hast du …?«

Er hielt verblüfft inne. »Du kannst ja sprechen!«, rief er erfreut aus.

Das Mädchen nickte. »Ja, sprechen. Viele Worte da …, aber ich kenne nicht die Bedeutung.«

»Was?«, fragte er verwirrt.

»Ich habe früher gesprochen, aber ich habe vergessen.«

»Was hast du vergessen? Ich verstehe nicht …«

Sie blickte sich einen Moment zögerlich um, als würde sie nach Hilfe suchen. Schließlich sagte sie. »Was früher war. Die Worte.«

»Du hast dein Gedächtnis verloren!«, erkannte Cordian.

Sie nickte zögerlich.

»Weißt du noch, wie du heißt?«, hakte er nach. »Deinen Namen?«

Sie schüttelte den Kopf und meinte: »Ich weiß nicht.«

»Ich bin Cordian«, erklärte er und deutete dabei auf sich, »du brauchst keine Angst zu haben, ich bringe dich in Sicherheit. Zu meinem Vater, nach Keld.«

Aus weiter Ferne konnten sie in diesem Augenblick das Geheul weiterer Blutwölfe vernehmen. Für den Moment waren sie außer Gefahr, aber früher oder später würden die Raubtiere ihre Spur aufnehmen.

»Wir sind hier nicht sicher«, warnte Cordian. »Wir müssen so schnell wie möglich weiter, doch zuerst solltest du dir etwas Wärmeres anziehen.«

Er eilte zu seinem Pferd hinüber und öffnete die Satteltaschen. Es befand sich noch ein Paar Handschuhe und eine warme Weste darin, die er bislang nicht benötigt hatte. Er warf ihr beides zu und suchte weiter. Was sie am meisten brauchte, waren feste Schuhe. Sie war schließlich immer noch barfuß unterwegs.

Leider hatte er kein zweites Paar Stiefel dabei, doch er sorgte für Abhilfe, indem er ein Satteltuch nahm, in der Mitte entzweiriss und ihr die beiden Stücke um die Füße wickelte. Sie wehrte sich nicht dagegen, machte aber auch keine Anstalten, ihm zu helfen, als wisse sie nicht, was das Ganze bezwecken sollte.

Er selbst hatte zumindest einen ungefähren Plan und zog sein Löwenmedaillon unter dem Hemd hervor. Es zeigte das Wappentier von Keldor und war ein Zeichen seiner Königswürde. Sein Vater hatte es ihm zum zehnten Geburtstag geschenkt und gesagt, er solle stets darauf achtgeben.

Mit einem Schulterzucken zerschnitt er die Lederschnur, an der es festgemacht war, und benutzte sie, um die provisorischen Stoffbandagen an den Füßen der Fremden zu befestigen.

Nur ihre Arme und Beine waren jetzt noch ungeschützt und lediglich von einigen dunklen Fetzen ihrer früheren Kleidung bedeckt, doch es würde schon irgendwie gehen.

Ihm fiel auf, dass sie Hosen getragen haben musste. Ungewöhnlich für eine Frau, erst recht in dieser abgelegenen Ecke des Königreiches, doch wer konnte schon sagen, was es mit ihr auf sich hatte? Vielleicht stammte sie überhaupt nicht aus dem zerstörten Dorf, sondern kam sonst woher.

»Komm jetzt, wir müssen hier weg«, forderte er sie auf und schwang sich in den Sattel. Er wartete, bis sie hinter ihm aufgesessen hatte, dann ließ er die Zügel knallen und galoppierte los.

Als sie unter den Bäumen hervorkamen, fiel eine einzelne Schneeflocke auf sein Gesicht. Sehr gut! Wenn es anfing zu schneien, würden ihre Verfolger die Fährte verlieren. Doch bevor es so richtig begann, sollten sie besser einen sicheren Unterschlupf gefunden haben.

 

Sie brauchten etwa eine Stunde, ehe sie das erreichten, was man hier im Norden als Straße bezeichnete. Es handelte sich um ein gewundenes Band festgestampfter Erde, das sich von Nord nach Süd durch das Tal schlängelte und hier und da mit einer hölzernen Brücke einen Bach überquerte. Sie bot an den breiten Stellen gerade genug Platz, dass zwei Fuhrwerke aneinander vorbei gelangen konnten.

Es gab hier oben nur wenige dieser Straßen, und obwohl sie weder gepflastert noch sonst irgendwie befestigt waren, stellten sie wichtige Verkehrsadern für die Menschen dar, die sich in dieser abgelegenen Gegend niedergelassen hatten. Wenn sie hoffen konnten, irgendwo Hilfe anzutreffen, dann am ehesten hier.

Sie hatten unterwegs nicht viel geredet. Cordian hatte seine mysteriöse Begleiterin ein paar Mal gefragt, ob sie sich an bestimmte Dinge erinnern konnte. An ihre Eltern, wo sie herkam, wie alt sie war und ähnlich grundlegende Dinge. Er hatte bemerkt, dass sie einen silbernen Armreif am linken Handgelenk trug und vermutet, dass es sich dabei um ein Familienerbstück handelte, und sie darauf angesprochen. Doch sie hatte jedes Mal entweder ganz geschwiegen oder behauptet, sich nicht mehr erinnern zu können.

Ihm fiel es schwer, zu glauben, dass jemand seinen eigenen Namen vergessen konnte, doch er nahm auch nicht an, dass sie ihm etwas vormachte. Abgesehen davon fiel ihm kein Grund ein, warum sie nicht ehrlich sein sollte. Es blieb nur zu hoffen, dass ihre Erinnerungen rasch zurückkehrten.

Irgendwann hatte er aufgehört, Fragen zu stellen. Nicht nur, weil er keine Antworten bekam, sondern auch, weil andere Sorgen schwer auf seiner Seele lasteten. Zu Beginn ihrer Flucht war er einfach zu beschäftigt gewesen, daran zu denken, doch nun gingen ihm Dankon und seine Ritter nicht mehr aus dem Kopf. Wie er sie zurückgelassen hatte und sie unter den Klauen der Bestien gefallen waren …

Er hatte die Männer alle persönlich gekannt, viele waren seine Freunde gewesen. Er konnte sich noch daran erinnern, wie er als Kind manchmal auf Dankons Schultern gesessen und sein Holzschwert durch die Luft geschwungen hatte. Sie hatten Ritter gespielt, waren gegen alle möglichen Ungeheuer angetreten, von den hölzernen Übungspuppen im Burghof über die Töpfe in der Küche bis zur Lieblingspuppe seiner Schwester, was diese ihm bis heute nicht ganz verziehen hatte. Nun waren die Monster zurückgekehrt und hatten den alten Ritter geholt. Anstatt ihm beizustehen, war er einfach davongelaufen.

Er wusste zwar, dass er nicht viel hätte ausrichten können, wäre er geblieben, aber das machte den bitteren Geschmack in seiner Kehle nicht angenehmer. Er würde sicher keinen der Männer je wiedersehen.

Der Schneefall hatte inzwischen an Stärke gewonnen und den Boden ringsherum mit einer dünnen weißen Schicht überzogen. Noch beeinträchtigte der Schnee sie nicht in ihrem Fortkommen, aber Cordian wusste, dass sich hier im Norden eine scheinbar harmlose Wetterverschlechterung schnell in einen ausgewachsenen Sturm verwandeln konnte.

Doch wie es aussah, hatten sie Glück. Hinter einigen Biegungen der Straße stieg die dünne weiße Rauchsäule eines warmen Kamins empor. In wenigen Minuten würden sie vor einem gemütlichen Feuer sitzen und die müden Knochen wärmen. Er ließ sein Pferd vorwärts traben.

»Ich freue mich schon auf eine warme Mahlzeit und etwas zu trinken«, sagte er laut, um sie beide aufzumuntern. »Vielleicht können wir auch wetterfeste Kleidung für dich auftreiben und dir endlich den ganzen Schmutz abwaschen.«

Die Straße verlief auf den letzten hundert Schritt dicht an einer Felswand aus brüchigem Schiefer entlang, die zu ihrer Linken über ihnen aufragte. Erst als sie um eine Kurve bogen, hatten sie Gelegenheit, das Haus, zu dem der Kamin gehörte, aus der Nähe zu betrachten. Es war eng an die Felsen gelehnt, möglicherweise, um Material für die Rückwand zu sparen, und lag nun unmittelbar vor ihnen. Die Wände bestanden aus aufeinandergestapelten, grob behauenen Steinen mit einigen hölzernen Stützbalken dazwischen, die das Dach trugen. Scheite für das Kaminfeuer stapelten sich neben der Eingangstür und einige Werkzeuge lehnten locker an der Wand. Es war ein einfaches Haus, das vermutlich einem Pelzjäger gehörte. Ein hölzernes Gestell war vor dem Gebäude errichtet worden, auf dem Pelze verschiedener Größe aufgespannt waren, vom Schneehasen bis zum ausgewachsenen Braunbären.

Doch noch etwas baumelte dort in der Luft. Etwas, das dort gar nicht hingehörte: die verstümmelten Leichen zweier Männer.

»Arn schütze uns!«, entfuhr es Cordian. Er ließ das Pferd unverzüglich anhalten. Es mussten die Fallensteller sein, ging man von ihrer Kleidung aus. Gut möglich, dass es sich um Vater und Sohn handelte. Aber was war ihnen zugestoßen? Cordian wusste die Antwort im selben Moment, in dem er sich die Frage stellte: An der Südflanke des Hauses entdeckte er zwei angebundene Pferde. Die rot-schwarze Kriegsbemalung, mit der sie versehen waren, ließ keinen Zweifel, wem sie gehörten.

»Norkai. Sie sind bereits hier.«

»Jemand kommt«, sagte das Mädchen hinter ihm leise.

Er lauschte. Sie hatte recht, er konnte den Hufschlag mehrerer Reiter vernehmen, die sich von Süden her über die Straße näherten und jeden Moment hinter der nächsten Biegung auftauchen mussten. Mit Sicherheit weitere Barbaren. Rasch wendete er sein Tier und ritt den Weg zurück, den sie gekommen waren, damit rechnend, jeden Augenblick wütende Schreie hinter sich zu hören.

Sie gelangten außer Sichtweite, bevor die Reiter vor dem Haus auftauchten, doch er ritt nun schneller statt langsamer. Wenn die Norkai ihre Spuren im flachen Schnee entdeckten, konnten sie die Jagd wieder aufnehmen und ihnen ihre Blutwölfe hinterher hetzen. Er konnte nur hoffen, dass sie ebenfalls den starken Wunsch verspürten, sich am Feuer zu wärmen, und nicht weiter die Straße hinaufkamen.

 

Sie ritten noch eine Weile, ohne dass sich irgendwelche Verfolger blicken ließen, doch Cordian entschied, dass es am sichersten wäre, die Straße zu verlassen und ihren Weg querfeldein fortzusetzen. Das Schneetreiben gewann die ganze Zeit über weiter an Stärke, was ihre frischen Spuren bereits nach einigen Minuten wieder verschwinden ließ.

Aus nördlicher Richtung hörten sie ab und zu das entfernte Heulen von Blutwölfen, er glaubte allerdings nicht, dass sie ihnen unmittelbar auf den Fersen waren. Doch wie es schien, hatten die Norkai ihnen den Fluchtweg abgeschnitten.

»Wir müssen diese Mistkerle ganz schön verärgert haben«, stellte Cordian fest. »Hast du den Mann ohne Augen gesehen?« Er schauderte, als er an den grässlichen Anblick zurückdachte, den die Gestalt geboten hatte. Er hatte die Norkai angeführt, aber er hatte nicht wie einer von ihnen gewirkt. Was hatte es bloß mit ihm auf sich?

»Ja«, antwortete seine Begleiterin, ohne eine weitere Regung zu zeigen.

»Weißt du, wer das ist?«, fragte er weiter.

»Nein.«

Er schüttelte unzufrieden den Kopf. »Er wollte, dass wir dich ausliefern. Hast du eine Ahnung, warum?«

»Nein.«

Cordian zuckte mit den Schultern. »Vielleicht erinnerst du dich ja irgendwann wieder. Jetzt sollten wir erst einmal überlegen, wie wir mit heiler Haut davonkommen.«

Er schwieg einen Moment und sprach dann weiter: »Die Norkai bewachen die Straße, also wird es schwer, diesen Weg zu nehmen, ohne uns durch eine ganze Horde von ihnen zu kämpfen. Es gibt aber noch eine Möglichkeit, nach Süden zu gelangen.« Er ließ das Pferd anhalten und zeigte auf einen der wolkenverhangenen Gipfel, den man durch den fallenden Schnee nur noch als matten Umriss erkennen konnte. »Über den Pass. Doch ich fürchte, dieser Weg ist kaum weniger gefährlich …«

Trotz seiner Bedenken brachen sie schließlich auf und hielten auf den Pass zu. Letztendlich hatten sie keine andere Wahl.

Das Gelände stieg zunächst sanft an und wurde rasch immer steiler, bis sie das Pferd am Zügel hinter sich herführen mussten. Die Einheimischen nannten den Berg Frostvater. Es handelte sich um den höchsten Gipfel in einer Kette, dessen oberste Spitze das ganze Jahr über mit Schnee bedeckt war und von Weitem, so sagte man, wie das Haupt eines alten Mannes anzusehen war. Im Augenblick konnten sie jedoch nicht einmal sehen, was ein paar Dutzend Schritt vor ihnen lag. Das anfänglich leichte Schneetreiben war zu einem Sturm angewachsen, und der Wind pfiff ihnen immer lauter um die Ohren, je höher sie stiegen. Nach einer Stunde wünschte Cordian sich, er hätte anders entschieden und sich mit den Norkai angelegt. Seine Kleidung schien gegen die Böen nichts ausrichten zu können, die aus immer neuen Richtungen an ihm zerrten, und bei jedem Schritt versank er beinahe knietief im frisch gefallenen Schnee.

Unter den Bewohnern des Grenzgebirges kursierte die Legende, dass ein wütender Berggeist in den felsigen Gebeinen des Frostvaters hauste, der seinem Unmut zuweilen Luft machte und das Land mit Schnee und Eis heimsuchte. Eigentlich schenkte er solchem Unsinn keinen Glauben, doch mittlerweile war er sich nicht mehr so sicher, ob alles, was man sich über den grimmigen Frostvater erzählte, wirklich nur der Einbildung entsprang …

Der Pass lag auf halber Höhe unterhalb eines kleineren Nachbargipfels. Es konnte nicht mehr weit sein. Wenn er nicht die Orientierung verlor, würden sie es schon bald geschafft haben. Sie mussten es schaffen. Ohne Unterkunft würde das Mädchen die kommende Nacht nicht überstehen. Und er womöglich auch nicht.

Cordian drehte sich zu ihr um und reichte ihr die Hand, um ihr bei einem besonders steilen Stück zu helfen. Gemeinsam zogen sie dann ihr Pferd zu sich hinauf. Die Kletterei war anstrengend und gefährlich. Theoretisch gab es einen Pfad, doch wo der verlief, wussten die Götter. Er konnte nur vermuten, wie der Untergrund unter der ständig wachsenden Schneedecke beschaffen war, und oft machten sie Umwege, weil ihm einige Stellen zu riskant erschienen. Seine Begleiterin hielt sich immer noch ausgesprochen gut. Sie beschwerte sich kein einziges Mal und es schien fast so, als ob die Anstrengung ihr weniger zusetzte als ihm.

Tapferes Mädchen, dachte er und konnte nicht umhin, ihr Durchhaltevermögen zu bewundern. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis Kälte und Erschöpfung ihren Tribut fordern würden. Verflucht, sie mussten eigentlich jeden Moment den Pass erreichen …

 

Nach einer weiteren halben Stunde gestand er sich ein, dass er die Orientierung vollständig verloren hatte. Eine Gruppe schneebedeckter Tannen tauchte vor ihnen auf, und er hätte schwören können, dass sie schon einmal vor diesen Bäumen gestanden hatten. Aber das war im Grunde unmöglich, da sie sich die ganze Zeit über bergauf bewegt hatten.

Er blieb stehen. Panik drohte, in ihm aufzusteigen. Er klopfte sich den Schnee von den Kleidern und sah sich um. Verzweifelt suchte er nach irgendwelchen Orientierungspunkten, doch um ihn herum gab es nur Weiß.

Wie auf ein Zeichen brach sein Pferd in diesem Moment mit einem kraftlosen Schnauben zusammen.

»Verdammt!«, fluchte er. »Nicht auch noch das!«

Ohne Pferd waren sie verloren. Selbst wenn sie den Schneesturm überlebten, konnten sie kaum hoffen, den Norkai zu entkommen. Er zerrte an den Zügeln und versuchte alles, was in seiner Macht stand, um das Tier zum Aufstehen zu bewegen, doch es lag bloß da und atmete flach. Die vergangenen Anstrengungen waren einfach zu viel für es gewesen.

Es stand nicht gut um sie. Wenn kein Wunder geschah, würden sie hier draußen sterben, das wurde ihm allmählich klar. Cordian wandte sich dem rätselhaften Mädchen zu. Irgendwie musste er es ihr erklären.

»Hör mal, so wie es aussieht …« Er hielt inne, als er bemerkte, dass sie auf einen Punkt hinter ihm starrte. Er drehte sich um und sah dort eine weiße Eule auf einem tief hängenden Ast sitzen, so nah, dass er beinahe den Arm nach ihr ausstrecken konnte.

Irgendetwas war seltsam an ihr. Sie schien ihn direkt anzusehen, und es kam ihm beinahe so vor, als wollte sie ihm stumm etwas mitteilen. Dann flog sie plötzlich davon und ließ sich auf einem weiter entfernten Ast nieder. Wieder starrte sie ihn aus ihren großen, unergründlichen Augen unverwandt an.

»Vielleicht sollten wir ihr folgen«, murmelte er. Er wusste selbst nicht so recht, wie er auf diesen Gedanken kam, es war mehr eine spontane Eingebung als eine vernünftige Überlegung, aber was blieb ihnen schon anderes übrig?

Schnell durchwühlte er die Satteltaschen und nahm alles heraus, was er tragen konnte, hauptsächlich Proviant und warme Decken, außerdem – mehr aus Trotz, denn aus Notwendigkeit – sein Löwenmedaillon. Er wollte es einfach nicht der eisigen Einöde und den Norkai überlassen. Dann nahm er seine Begleiterin an die Hand und ging auf die Eule zu.

Sie flog davon, als sie sich näherten, ließ sich jedoch sogleich auf einem anderen Ast nieder. Sie kamen näher, und sie flog ein Stück weiter. Ein ums andere Mal spielte es sich so ab, doch nie verschwand sie außer Sicht.

Gerade, als Cordian sich zu fragen begann, ob er nicht bereits den Verstand verloren hatte, schälte sich ein dunkler Umriss vor ihnen aus dem Sturm. Eine Hütte! Sie waren gerettet! Nur noch ein kleines Stückchen, dann hatten sie ein Dach über dem Kopf.

»Siehst du das?«, rief er laut, um den anschwellenden Wind zu übertönen. »Beeilen wir uns!«

Sie rannten los, doch die Vorfreude ließ den Prinzen unvorsichtig werden. Am Boden einer flachen Senke angekommen, vernahm er plötzlich ein warnendes Knacken unter seinen Füßen. Wie brechendes Eis, durchfuhr es ihn.

Die Senke musste das Bett eines zugefrorenen Baches oder etwas Ähnlichem sein. Mit einem Satz brachte er sich in Sicherheit ans andere Ufer. Seine Begleiterin hatte nicht so viel Glück. Das Eis unter der Schneedecke gab plötzlich nach und das Mädchen stürzte in die eisigen Fluten. Der Bach konnte nicht sehr tief sein, vermutlich konnte man darin stehen, aber die Strömung war reißend. Geistesgegenwärtig bekam er ihre Hand zu fassen und zog mit aller Kraft. Ihr Kopf tauchte prustend aus dem Wasser, dann der Rest ihres Körpers. Gemeinsam gelang es ihnen schließlich unter großer Mühe, sie an Land zu schaffen.

»Jetzt aber schnell hinein ins Trockene!«, verlangte Cordian. Das Wasser in ihren Haaren begann bereits, Eiszapfen zu bilden. Wenn sie nichts taten, würde sie vor seinen Augen erfrieren.

 

Die Hütte stand leer. Es fanden sich keine Anzeichen dafür, dass sie in letzter Zeit bewohnt gewesen wäre. Vermutlich eine Schutzhütte, die nur in seltenen Notfällen genutzt wurde. Es gab eine ganze Reihe von ihnen in den Bergen. Sie boten Wanderern oder den ansässigen Hirten Unterschlupf, wenn diese vom Wetter überrascht wurden. So wie sie jetzt.

Die Wände und das Dach waren nicht im besten Zustand, wie Cordian sofort bemerkte. An einigen Stellen zog es herein, doch wenigstens gab es einen Stapel mit Feuerholz. Zunächst gab es allerdings Wichtigeres zu tun.

»Raus aus den nassen Kleidern«, wies er das Mädchen an. »Zieh alles aus, schnell!«

Er entrollte die Decken, die er mitgebracht hatte, während sie seinen Anweisungen folgte.

Zwar bemühte er sich, nicht hinzusehen, ertappte sich aber doch dabei. Bei Arn, sie ist wunderschön, wurde ihm plötzlich bewusst. Sie befreite sich gerade von ihren zerrissenen Sachen und kehrte ihm den Rücken zu. Es fiel nur wenig Licht ins Innere der Hütte, doch ihre Silhouette zeichnete sich deutlich vor dem noch dunkleren Hintergrund ab. Nun, da der ganze Schmutz von ihr gewaschen war, und er nicht mehr unmittelbar um sein Leben bangen musste, erkannte der Prinz mit einem Mal, dass sie die schönste Frau sein musste, der er je begegnet war. Stark und zerbrechlich zugleich wirkte sie, grazil wie eine Katze, zart wie eine Blume.

Als er bemerkte, dass sie den Kopf drehte und ihn fragend anblickte, errötete er leicht. »Hier, nimm das, um dich abzutrocknen.« Er reichte ihr eine Decke und ging zum Kamin. »Ich versuche in der Zwischenzeit, ein Feuer in Gang zu bringen. Bei dem Sturm dort draußen werden die Norkai den Rauch wohl kaum bemerken.«

Abwesend begann er, Holz für das Feuer aufzuschichten. Seine Gedanken waren noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt, als er bemerkte, dass mindestens die Hälfte der Scheite nass und morsch war. Er fluchte gedämpft und legte sie zurück. Es dauerte eine Weile, bis er die wenigen noch brauchbaren Stücke herausgesucht und mit ein wenig Zunder entflammt hatte.

 

Er hielt seine Hände für einen Moment dicht über die prasselnden Flammen und genoss das Gefühl, die Wärme in seine tauben Finger zurückkehren zu spüren.

Das Mädchen, nun vollständig in eine trockene Decke gehüllt, setzte sich wenig später zu ihm auf den Boden. Sie sah ihn an, als erwarte sie, dass er ihr sagte, wie es nun weiterging.

»Hey«, meinte er sanft und strich ihr durchs noch nicht ganz trockene Haar, »wir haben es geschafft. Du solltest dich ein wenig entspannen. Man entkommt nicht jeden Tag dreimal knapp dem Tod.«

Er hielt plötzlich überrascht inne, als er etwas bemerkte. »Einen Augenblick mal. Deine Haare …«

»Was ist?«, fragte sie. Wenn Cordian sich nicht täuschte, schwang ein leichter Unterton von Sorge in ihrer Stimme mit.

»Sie sind …«, er stockte und sah noch einmal genauer hin. Das Licht war nicht besonders gut, doch es bestand kein Zweifel: »Sie sind grün!«

Er hatte es bisher einfach nicht bemerkt. Doch nun, wo Ruß und Schmutz herausgewaschen waren und die Haare langsam trockneten, konnte er es im Schein des Feuers deutlich sehen. Ihre langen, bis auf den Rücken hinabreichenden Strähnen hatten – passend zu ihren Augen – eindeutig eine grüne Farbe. Wie frisches Gras im Frühling. Er hatte noch nie gehört, dass jemand solche Haare besaß.

»Gefällt es dir nicht?«, fragte das Mädchen und sah ihn mit großen Augen ängstlich an.

»Was?«, erwiderte er verwirrt. »Äh, ich meine, doch. Ja, deine Haare gefallen mir, sie sind schön, es ist nur …«, er ließ den Satz unvollendet und fragte stattdessen vorsichtig: »Haben alle in deiner Familie grüne Haare?«

Sie blickte zu Boden und schwieg. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie schließlich.

Wie auch? Sie konnte sich ja nicht einmal an ihren Namen erinnern. Irgendwie machte sie einen betrübten Eindruck, und er wollte nicht, dass sie sich durch seine Frage gekränkt fühlte.

»Nicht so wichtig«, meinte er in aufmunterndem Tonfall. »Komm her, es ist doch alles gut.«

Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie leicht an seine Seite. Er konnte sich erinnern, auf diese Weise manchmal seine Schwester getröstet zu haben, wenn sie traurig gewesen war. Er hoffte nur, was er tat, war der geheimnisvollen Fremden nicht unangenehm.

»Cordian?«, sprach sie irgendwann.

»Ja?«

»Ich mag dich. Du bist so nett zu mir. Nicht wie die anderen Männer.«

»Du meinst die Norkai? Das sind Barbaren!«

Sie legte den Kopf auf seine Schulter und fragte: »Darf ich bei dir bleiben? Ich kenne sonst niemanden.«

»Natürlich darfst du. Ich werde nicht zulassen, dass du denen in die Hände fällst.«

So wie Dankon?, schien eine innere Stimme hämisch zu erwidern. Er drängte den Gedanken zurück. Der Ritter hatte ihm befohlen, sie in Sicherheit zu bringen, und die beste Art, die Gefallenen zu ehren, war, diesen Befehl auszuführen. Was immer sich ihm auch in den Weg stellte …

 

Lange Zeit saßen sie schweigend vor dem Feuer und genossen die Wärme und die Gegenwart des jeweils anderen. Als die Flammen mehr und mehr herunterbrannten, meinte Cordian schließlich: »Wir sollten jetzt schlafen. Morgen haben wir einen anstrengenden Marsch vor uns.«

»Ich will nicht schlafen«, antwortete das Mädchen, »ich habe Angst.«

»Angst? Wovor denn?«, fragte Cordian verwundert. »Die Norkai finden uns bestimmt nicht.«

Sie schien einen Moment nach Worten zu suchen, dann sagte sie: »Träume.«

»Ich bin doch da«, beruhigte sie der Prinz und nahm ihre Hand. »Es kann nichts passieren. Und wenn ein Albtraum kommt, wecke ich dich.«

Sie sah ihn unschlüssig an.

»Vertrau mir einfach. Ein alter Freund von mir hat einmal gesagt, Träume seien ein Spiegel der Seele. Wenn man keine Angst hat, lassen einen auch die Albträume in Ruhe.«

Tennlor hatte das zu ihm gesagt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, kurz nach dem Tod seiner Mutter. Er hatte daran geglaubt und wirklich besser schlafen können. Hoffentlich funktionierte es bei ihr genauso.

»Da wäre noch etwas«, ergänzte er zögerlich. »Das Feuer wird bald ausgehen, und ich fürchte, es könnte dann sehr kalt hier drinnen werden. Wir sollten uns vielleicht die Decke teilen, um uns gegenseitig zu wärmen …«

Er konnte nicht verhindern, dass er ein wenig rot wurde, doch sein Gegenüber schien es nicht zu bemerken. Sie lächelte ihn an und meinte: »Ich vertraue dir.«

Er breitete eine Decke auf dem Boden aus und wartete, bis sie sich hingelegt hatte. Dann legte er sich daneben und deckte sie beide zu. Das Mädchen war bereits eingeschlafen.

 

4

Der Rotwein schmeckte köstlich. Es war der Beste, über den König Garin verfügte, denn etwas Geringeres würde er einem alten Freund und Ehrengast wie Tennlor niemals anbieten. Auch das Essen war vorzüglich: Wildbret in einer schmackhaften Soße, garniert mit kleinen roten Beeren, die so weit im Norden nirgends wuchsen und extra aus dem fernen Sulzur eingeführt worden waren.

Das Essen allein wäre schon Grund genug gewesen, die Gegenwart Gerions einen Abend lang zu ertragen, doch wenn Lissina dem Abendessen ferngeblieben wäre, wie ursprünglich beabsichtigt, hätte sie nicht nur den elteranischen Adeligen und ihren Vater vor den Kopf gestoßen, sondern ebenso Tennlor. Mal abgesehen davon, dass es sich einfach nicht gehörte, sich einem Salas Kai gegenüber unhöflich zu geben, und ihr Vater dies auch sicher nicht so ohne Weiteres hätte durchgehen lassen, wollte sie das keinesfalls. Sie freute sich im Gegenteil, nach all den Jahren wieder etwas Zeit mit dem seltenen, aber gern gesehenen Besucher verbringen zu können.

Im Gegensatz zum großen Festsaal war der Speisesaal für kleinere Runden ausgelegt, üblicherweise die königliche Familie und ihre Gäste. Der Leibdiener des Königs war heute ebenfalls anwesend, hielt sich jedoch im Hintergrund für den Fall, dass er gebraucht wurde. Die Wände waren mit Malereien und Wandteppichen verziert und vor die Fenster waren schwere, rote Vorhänge gezogen worden. Zahlreiche Kerzenhalter verbreiteten ausreichend Licht und sorgten für eine anheimelnde Atmosphäre.

Trotzdem konnte sie das Essen nicht genießen, und das lag nicht an der Anwesenheit Gerions. Jedenfalls nicht allein. Ihr Vater hatte seit der Unterredung mit Tennlor kein Wort über das verloren, was im Beratungszimmer besprochen worden war. Wenn der Salas Kai die Wahrheit sprach, woran sie keinen Zweifel hatte, waren ihr Bruder und das gesamte Königreich in höchster Gefahr. Und sie saßen hier gemütlich am Tisch, tranken Rotwein und unterhielten sich über Belanglosigkeiten. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wozu diese ganze Heimlichtuerei gut sein sollte.

 

Tennlor hatte während der letzten Minuten von den seltsamen Bräuchen der Hafenstadt Aldesbon erzählt, die er vor einigen Jahren besucht hatte. Er war weit herumgekommen, und Lissina wusste, dass er Dutzende solcher Geschichten zum Besten geben konnte, doch da diese nun beendet war, nutzte Gerion die Chance, das Wort zu ergreifen: »Ich muss zugeben, Euer plötzliches Auftauchen hier hat mich überrascht, Tennlor Kai. Pflegt Ihr des Öfteren so aus heiterem Himmel zu erscheinen?«

Tennlor schmunzelte, als er antwortete: »Der Drache hat Euch wohl ganz schön Angst eingejagt?«

Der Fürst nippte pikiert an seinem Weinkelch. »Es lässt sich nicht leugnen, dass mich Euer Schoßtier durch sein unerwartetes Auftauchen ein wenig aus der Fassung gebracht hat …«

Als Lissina das hörte, biss sie hastig auf ein Stück Fleisch, um nicht einfach loszukichern. Das war ja wohl die Untertreibung schlechthin. Bedrohung des Königreiches hin oder her – das Bild von Gerion, der sich furchtsam an die Wand gepresst hatte, war einfach zu komisch, um sich nicht darüber zu amüsieren.

»Nichts für ungut«, erwiderte der Salas Kai, »es geht den meisten so, wenn sie Oro das erste Mal sehen. Aber ich kann Euch beruhigen: Er hat noch niemanden gefressen.«

Tennlor machte eine Pause, die Gerion dazu nutzte, einen weiteren Schluck Wein zu trinken, und fügte dann hinzu: »Jedenfalls nicht, wenn ich dabei war.«

Der Adelige, der gerade im Begriff war, den Kelch abzusetzen, entschied plötzlich, dass es das Beste wäre, ihn komplett auszutrinken.

Die Prinzessin versuchte mit aller Macht, ihr Grinsen zu unterdrücken, als sie ihm zusah. Nach dem strengen Blick zu urteilen, mit dem ihr Vater sie bedachte, gelang es ihr wohl nicht vollständig, aber sie dachte gar nicht daran, sich zu entschuldigen.

»In Eltera bekommt man nicht oft einen Drachen zu Gesicht, wie ich annehme«, vermutete Tennlor.

»Das ist wohl wahr«, bestätigte Gerion. »Die wenigen Salas Kai, die man am Hof von Ganthalas antrifft, bevorzugen in der Regel ein etwas zivilisierteres Auftreten. Mir war nicht bewusst, dass es überhaupt noch Menschen gibt, die sich mit diesen Ungetümen abgeben. Welchem Zweck soll das bitte schön dienen?«

»Die Drachen sind für den Saphirturm unverzichtbar«, kam die belehrende Antwort. »Es gibt keinen schnelleren Weg, zu reisen, als auf dem Rücken dieser majestätischen Geschöpfe. Außerdem sorgen sie dafür, dass einem an den meisten Orten, die man aufsucht, ein gewisser Respekt entgegengebracht wird.«

»Ein Respekt, der von der Furcht der einfachen Leute herrührt. Als wäre eure unheimliche Macht nicht schon genug. Es wird noch der Tag kommen, da man euch Salas Kai aus der Stadt jagt. Die Kirche von Arn fordert das schon lange.«

Er nahm sich ganz schön was heraus, fand Lissina. Entweder wollte er nach der Geschichte mit dem Drachen beweisen, dass er doch kein Feigling war, oder er war einfach nur eingebildet. Sie tendierte eher zu Letzterem.

»Nun, es ist nicht die Kirche, die gegen die Salas Kai predigt«, stellte Tennlor gelassen fest, »sondern einige Narren, die ihr angehören. Einflussreiche Narren, wie ich zugebe, aber dennoch Narren. Mit der Macht Sirains schützen wir die Welt von alters her vor dem zerstörerischen Einfluss des Zaihor. Seit Asmarel und die Verdammten aus dieser Welt verbannt wurden, wachen wir darüber, dass niemand ihrem Beispiel folgt und Unheil über Eddor bringt. Nur jene, die auf dunklen Pfaden wandeln, haben die Salas Kai zu fürchten. Gleiches gilt für die Drachen. Kein unbescholtener Bürger braucht sich von ihnen bedroht zu fühlen.«

Gerion winkte ab und machte dadurch deutlich, wie wenig er von diesen Worten hielt. »Ich bitte Euch, Tennlor Kai. Das Zaihor? Die Verdammten? Das sind doch bloß Aberglaube und alte Geschichten, wie die von ihren riesigen haarigen Bestien, halb Mensch, halb Tier. So etwas gibt es nicht wirklich.«

Es war ihr Vater, der sie unterbrach: »Ich bin sicher, wir alle sind den Salas Kai dankbar für das, was sie tun, auch wenn wir den Sinn ihrer Taten nicht immer erkennen. Und Bestien existieren hier im Norden tatsächlich, wie ich Euch sehr wohl versichern kann.«

»In diesem Punkt mag ich mich geirrt haben, Euer Majestät«, gestand Gerion nach kurzem Zögern ein. »Ich wollte Eurem Gast auch keineswegs zu nahe treten, ich sprach nur aus, was viele denken.«

»Das möchte ich hoffen«, meinte der König. »Tennlor ist in diesen Mauern stets willkommen.«

Lissina nutze die Gelegenheit, sich in das Gespräch einzuschalten: »Und er bringt immer wichtige Neuigkeiten, wenn er uns besucht. Mich würde interessieren, was er diesmal zu berichten hat.« Sie war nun wieder vollkommen ernst. Sie hatte nicht vergessen, was sie gehört hatte, und würde sich nicht so einfach mit dem allgemeinen Schweigen abfinden.

»Nichts, was nicht bis morgen warten könnte«, wiegelte ihr Vater ab und aß ungerührt weiter.

Doch sie hakte nach: »Dann können es wohl kaum allzu schlechte Neuigkeiten sein. Ich meine, wenn zum Beispiel die Norkai in den Norden des Landes eingefallen wären, würdest du es uns doch sicher mitteilen, Vater.«

Sie sah ihn herausfordernd an und wartete auf eine Antwort. Der König und Tennlor hatten mit dem Essen aufgehört und schwiegen. Einzig Gerion gab sich belustigt und meinte: »Was für einen herzerfrischenden Humor Ihr doch habt, verehrte Prinzessin.«

Ihr Vater winkte seinen Diener heran und sagte: »Bring unseren Gästen noch ein wenig Wein, Antoni.« Dann wandte er sich ihr zu. »Wir zwei werden uns jetzt mal unterhalten, Lissina.« Damit erhob er sich und entschuldigte sie beide. Sie wollte zuerst protestieren, hielt es dann jedoch für besser, ihm zu folgen und den Bogen nicht noch weiter zu überspannen.

 

Er führte sie aus dem Speisesaal ins Beratungszimmer und schloss die Tür hinter ihnen. Draußen war es bereits dunkel und das einzige Licht kam von einem Kerzenhalter, den der König vom Gang mitgebracht hatte sowie dem schwach silbrigen Glanz des Mondes, der durch die Fenster hereinfiel.

»Du hast uns belauscht«, stellte ihr Vater kühl fest.

»Ja«, gab Lissina kleinlaut zu und sah betroffen zu Boden. Sie fühlte sich unwohl. Wäre er wütend geworden, hätte sie sich mit Sicherheit gewehrt, aber alles, was sie in seiner Stimme hörte, war Enttäuschung, und das traf sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.

»Das war nicht nötig, Lissina. Ich dachte, du würdest mir mehr Vertrauen entgegenbringen.«

»Aber warum erzählst du niemandem davon?«, wollte sie wissen. »Das ganze Königreich ist in Gefahr. Conn ist in diesem Augenblick da draußen! Wann wolltest du es mir sagen?«

Nun war es der König, der den Blick senkte. »Bitte hör zu, ich wollte dich nicht unnötig beunruhigen. Du hast dich so gefreut, Tennlor wiederzusehen, und ich wollte dir diesen Abend nicht verderben.« Er versuchte, ihr über den Kopf zu streicheln, doch sie wich ihm aus.

»Aber wir befinden uns alle in Gefahr«, protestierte sie. »Wir können doch nicht einfach so herumsitzen und die Hände in den Schoß legen.«

»Ich habe für morgen alle meine Berater zusammengerufen. Wir werden gemeinsam entscheiden, wie wir der Bedrohung entgegentreten werden. Der Grund, aus dem ich bisher Stillschweigen gewahrt habe, ist der, dass ich nicht möchte, dass Gerüchte in Umlauf geraten.«

Als sie ihn zweifelnd anblickte, fügte er hinzu: »Du weißt nicht, wie das ist: Eine unachtsame Bemerkung hier, eine Andeutung da, und morgen denkt die halbe Stadt, der Weltuntergang stünde bevor. Bauern werden ihre Felder verlassen, ohne die Ernte einzubringen, Soldaten den Dienst quittieren, um ihre Familien zu beschützen und Händler werden sich in Richtung Grenze davonmachen. Ich möchte, dass die Menschen erst davon erfahren, wenn wir die Bedrohung selbst einschätzen und konkrete Maßnahmen beschließen können, um ihr zu begegnen. Krieg findet nicht nur auf dem Schlachtfeld statt, sondern genauso in den Köpfen der Menschen. Sie dürfen das Vertrauen in ihren König nicht verlieren, sonst werden wir alle untergehen.«

»Dann wird es also Krieg geben«, stellte Lissina überflüssigerweise fest.

»Ich wünschte, die Dinge lägen anders«, antwortete ihr Vater, »aber wir müssen dem Unvermeidlichen ins Auge sehen.«

Sie trat ans Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Wo war ihr Bruder gerade? Wie erging es ihm dort oben im Norden? Alles, was sie tun konnte, war zu beten, dass er wohlbehalten zurückkehrte.

Sie spürte, wie der König hinter sie trat und seine Hand beruhigend auf ihre Schulter legte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er mitfühlend. »Es wird schon alles gut werden.«

Wie gern würde sie ihm glauben. Sich einfach zurücklehnen und warten, dass die Dinge ein gutes Ende nahmen. Doch so einfach war es nicht.

»Was hat Tennlor damit gemeint, der Khan wisse vielleicht, was sich unter der Burg befindet?«

Er zog seine Hand zurück, als sie die Frage stellte, und sie drehte sich zu ihm herum, damit er ihr in die Augen sehen musste. »Was befindet sich unter der Burg?«

Er schien einen Augenblick zu überlegen, den Gedanken aber sogleich zu verwerfen. Als er antwortete, war seine Stimme wieder kühl und distanziert: »Das war nur so dahergeredet. Eine alte Geschichte. Du solltest dem Ganzen keine Bedeutung beimessen.«

Lissina stemmte die Hände in die Hüfte. »Vater, ich bin kein sechsjähriges Mädchen mehr. Sag mir jetzt verdammt noch mal, was los ist!«

»Ich werde mich dazu nicht mehr äußern. Und eine Prinzessin sollte nicht derart fluchen. Das Gespräch ist beendet.«

Der König öffnete die Tür und wartete, dass sie den Raum verließ. Sie setzte bereits zu einer trotzigen Erwiderung an, schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge gelegen hatten, jedoch im letzten Moment herunter.

»Ich werde mich in mein Gemach zurückziehen, wenn du nichts dagegen hast«, beschloss sie, als sie an ihrem Vater vorbei stampfte. Dieser zog es vor, nicht zu antworten, und ließ sie ziehen.

Die Gesellschaft der anderen hätte sie jetzt einfach nicht mehr ertragen können. Schade um das gute Abendessen, aber sie konnte ja morgen früh in der Küche nachfragen, ob noch etwas übrig war. Das würde ihren Vater zwar erneut verstimmen, da so etwas einer Prinzessin natürlich nicht geziemte, aber ihr war das im Augenblick herzlich egal. Wenn er ihr nicht sagen wollte, was er verschwieg, würde sie es eben selbst herausfinden!

 

***

 

In ihrem Gemach angekommen, wartete sie, bis Antoni ihr einen Schlaftrunk vorbeibrachte, und tat so, als habe sie vor, sich unverzüglich zu Bett zu begeben. Stattdessen stopfte sie jedoch ein paar Kissen unter ihre Decke, damit es auf den ersten Blick so aussah, als würde sie tatsächlich schlafen, und stahl sich, so bald es ging, mit einer Laterne bewaffnet davon. Wenn sich etwas unter der Burg verbarg, würde sie ihre Suche im Keller beginnen, und zwar noch in dieser Nacht!

Um diese Zeit waren in der Burg nicht mehr allzu viele Dienstboten unterwegs, aber sie achtete trotzdem darauf, sich leise zu bewegen und von niemandem gesehen zu werden. Um in den Keller zu gelangen, musste sie durch den Gesindetrakt, und sie hatte kein Bedürfnis, auf Antoni zu treffen, der gerade die Reste des Abendessens fortbrachte. Nicht, dass sie etwas gegen den alten Kerl hatte, aber als persönlicher Diener ihres Vaters würde er diesem sicher berichten, wo er sie gesehen hatte.

Sie hatte Glück und niemand bemerkte sie. Beinahe wäre sie dem Koch über den Weg gelaufen, doch der war zu beschäftigt damit, seine Küche aufzuräumen, und so konnte sie sich leichtfüßig an ihm vorbeischleichen.

Die schwere Kellertür quietschte, als sie versuchte, sie zu öffnen, und sie hielt erschrocken inne, um zu lauschen. Nichts geschah. Keine Schritte näherten sich und niemand rief ihren Namen. Schließlich öffnete sie die Tür weiter, bis der Spalt breit genug war, und schlüpfte eilig hindurch.

Feuchtkalte Dunkelheit umfing sie. Vorsichtig schritt sie die Kellertreppe hinunter und versuchte, mit der Laterne so weit wie möglich voraus zu leuchten. Spinnweben hingen in den Ecken, und teilweise tropfte Wasser von der Decke herab, das durch die Ritzen des Mauerwerkes gesickert war. Sie war lange nicht mehr hier unten gewesen. Als Kind hatten sie und Cordian hier gelegentlich gespielt, doch ihre Eltern hatten das nicht gerne gesehen. Einige Teile des Kellers waren einsturzgefährdet, und es hatte jedes Mal eine Standpauke gegeben, wenn sie sich mal wieder leichtfertig in Gefahr begeben hatten.

Sie überlegte, wo man in diesen Gewölben etwas verstecken konnte, und kam zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab: Ihr Vater hatte vor langer Zeit einen besonders alten und gefährdeten Teil des Kellers mit einem Gitter verschließen lassen. Der Abschnitt, der dahinter lag, wurde schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt, und niemand wusste, wie weit die Katakomben in den Fels hinabreichten, auf dem sich die Burg über die Stadt erhob. Wenn sie irgendwo etwas finden würde, dann am ehesten dort.

 

Lissina begab sich tiefer in das Gewölbe und erreichte schließlich den versperrten Gang. Im spärlichen Licht der Laterne untersuchte sie das Gitter. Es gab weder Schloss oder Riegel noch sonst irgendeinen Öffnungsmechanismus. Die Eisenstäbe waren an mehreren Stellen direkt in die Wand getrieben, um den Durchgang für immer zu versperren.

Doch die allgegenwärtige Feuchtigkeit hatte im Laufe der Jahre ihren Tribut gefordert. Das eiserne Gitter war mit Rost überzogen und an mehreren Stellen brüchig geworden. Vielleicht gelang es ihr, es herauszubrechen.

Die Prinzessin stellte die Laterne vorsichtig ab und probierte, an den rostigen Stäben zu rütteln. Zu ihrer Enttäuschung dachten diese jedoch nicht daran, auch nur eine Handbreit nachzugeben. Sie trat zurück und klopfte sich den Rost von den Handflächen. »So leicht gebe ich nicht auf«, flüsterte sie trotzig in die Dunkelheit.

Sie nahm die Laterne und eilte zurück zur Kellertür. Lauschend blieb sie einen Moment stehen, bevor sie es wagte, hinaus in den Gang zu treten, doch es schien niemand in der Nähe zu sein. Die Küche war nun ebenfalls verlassen, wie sie erleichtert feststellte. Kurz entschlossen nahm sie einen Schürhaken vom Ofen zur Hand und schlich in den Keller zurück. Am Gitter angelangt, verkeilte sie das Werkzeug zwischen den Stäben und hebelte mit aller Kraft.

Etwas knackte hörbar, doch nichts geschah. Sie holte schwer Atem und probierte es noch einmal. Endlich! Einer der Stäbe barst mit einem ohrenbetäubenden Krachen aus dem Gitter. Es geschah so plötzlich, dass sie beinahe gestolpert wäre, doch es gelang ihr, sich abzufangen und ihr Werk zu begutachten.

Sie war recht schlank. Die entstandene Lücke musste eigentlich groß genug sein, um sich hindurchzuquetschen. Sie hoffte, dass niemand oben in der Burg durch den Lärm auf sie aufmerksam geworden war, und vertraute dabei auf die dicken Kellerwände. Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden, legte sie den Schürhaken beiseite, ergriff die Laterne und zwängte sich auf die andere Seite.

Sie hätte besser etwas anderes anziehen sollen, kam ihr in den Sinn, als sie die rostigen Streifen auf ihrem vorher sauberen Kleid bemerkte. Aber dafür war es nun ein bisschen zu spät, also setzte sie ihren Weg fort.

Nach ein paar Schritten gelangte sie zu einer schmalen Wendeltreppe, die tiefer hinabführte. Die Stufen waren eng und rutschig, und sie musste beständig darauf achten, wo sie ihre Füße aufsetzte. Überdies schien die Treppe kein Ende zu nehmen. Sie musste sich bereits auf Höhe der Stadt befinden, wenn nicht sogar darunter, überlegte sie.

Das Mauerwerk um sie herum wirkte uralt. Viel älter als der Rest der Burg. Und brüchig. Sie fragte sich zum ersten Mal, ob ihr Vater diesen Gang am Ende wirklich wegen der Einsturzgefahr verschlossen hatte und nicht, weil er etwas versteckte. Wenn sie hier verschüttet wurde, mochte es Tage dauern, bis man sie fand, wenn überhaupt jemand hier unten suchte.

Einen Augenblick lang war sie kurz davor, umzukehren, doch dann erreichte sie das Ende der Treppe und ihre Neugier siegte.

Vor ihr lag ein Gang, der sowohl nach rechts als auch nach links weiterführte. Beide Richtungen verloren sich in der Dunkelheit, also zuckte sie mit den Schultern und entschied sich für den rechten Weg. Ihr fiel sofort auf, dass Wände, Decke und Boden nicht mehr aus behauenen Steinen bestanden. Es handelte sich um natürlichen Fels. Soweit sie sehen konnte, gab es kaum Spuren einer Bearbeitung. Sie musste sich in einer Art natürlicher Höhle befinden. Allerdings einer, die vor sehr langer Zeit bewohnt gewesen war. In regelmäßigen Abständen entdeckte sie kleine Löcher in der Wand; wahrscheinlich waren hier Halterungen für Fackeln befestigt gewesen, doch von diesen fehlte jede Spur.

Lissina ging weiter und gelangte nach kurzer Zeit an eine Abzweigung. Sie überlegte einen Moment, ging dann aber geradeaus weiter. Der Gang beschrieb nach einer Weile eine leichte Kurve und wurde ein wenig abschüssig. Sie ging weiter, bis zu ihrer Rechten ein Durchgang in der Wand auftauchte. Sie leuchtete vorsichtig hinein und entdeckte, dass eine kleine Höhle dahinter lag, die allerdings keine weiteren Ausgänge besaß. Als sie ihren Weg fortsetzte, traf sie auf eine weitere, beinahe identische Höhle, diesmal zu ihrer Linken.

Ein Stückchen weiter gabelte sich der Weg erneut. Sie blieb stehen, um nachzudenken. Dieses versteckte Höhlensystem musste den ganzen Felsen durchziehen. Sie tat gut daran, sich den Rückweg genau zu merken. Wenn sie sich hier unten verirrte, konnte es womöglich einige Zeit dauern, bis sie das Tageslicht wiedersah.

Sie entschied, wieder den rechten Gang zu nehmen, so fand sie am einfachsten zurück. Und da der abschüssige Korridor sie immer tiefer führte, bestand auch nicht die Gefahr, im Kreis zu laufen. Sie wollte gerade weitergehen, da ließ sie etwas innehalten. Ihr war, als hätte sie ein Geräusch gehört. Ein leises, weit entferntes Echo, irgendwo hinter ihr. Sie lauschte angestrengt, doch was immer es gewesen sein mochte, es wiederholte sich nicht. Wahrscheinlich nur ihre Einbildung, entschied sie und setzte ihren Weg fort. Langsam wurde ihr kalt, aber wenn es hier unten wirklich etwas gab, musste sie es bald gefunden haben, so groß konnten die Höhlen auch wieder nicht sein.

Plötzlich war das Geräusch wieder da. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Schritte! Was sie da hörte, war der Hall von Schritten. Und sie kamen aus derselben Richtung, aus der sie gekommen war.

Suchte man sie etwa schon? Sie war doch noch nicht einmal eine halbe Stunde weg. Aber wer sollte sonst hier unten sein? Bilder von menschenfressenden Bestien, riesigen Spinnen und entstellten Leichen, die sich nach dem Tod erhoben und durch alte Ruinen spukten, rasten in Zeitraffer an ihrem inneren Auge vorbei. Obwohl sie wusste, dass die meisten Schrecken, die sich ihr Unterbewusstsein ausmalte, bloß in albernen Geschichten vorkamen, beschleunigte sie unwillkürlich ihren Schritt. Wer auch immer dort herumschlich, es war besser, er würde sie hier nicht antreffen.

Die Schritte verstummten jedoch nicht. Im Gegenteil, es kam ihr so vor, als würden sie immer näher kommen. Lissina ertappte sich mehrmals dabei, wie sie über die Schulter zurückblickte, doch der Gang hinter ihr blieb leer. Sie achtete nun nicht mehr darauf, welche Abzweigungen sie nahm, sondern wählte einfach willkürlich eine Richtung. Ihr Verfolger ließ sich jedoch nicht abschütteln. Sie bemerkte, dass sie zitterte. Und das lag nicht allein an der Kälte, wie sie sich eingestehen musste.

Vielleicht konnte er sie ja wittern, durchfuhr es sie. Ihre Gedanken an Monster und Ungeheuer kamen ihr mit einem Mal gar nicht mehr so weit hergeholt vor. Wer wusste schon, was sich hier unten herumtrieb, sich hier womöglich seit Jahrhunderten versteckte? Sie ging immer schneller und schließlich rannte sie los, die unheimlichen Schritte beständig im Nacken.

Die Stufen sah sie zu spät. Der Gang endete in einem künstlich angelegten Gewölbe, dessen steinerner Boden etwa eine halbe Armlänge unter dem Niveau des Tunnels lag. Sie schrie vor Schreck auf, als sie den Boden unter den Füßen verlor, und die Laterne entglitt ihrem Griff, als sie den Sturz mit den Armen abzufangen versuchte.

Der Aufprall war schmerzhaft, doch außer ein paar Kratzern würde sie wohl keine Verletzungen davontragen. Viel schlimmer war, dass in diesem Moment die Laterne zerbrach, und sie vollkommene Dunkelheit umfing. Die Schritte kamen näher.

 

Die Prinzessin lag still auf dem Boden und wagte nicht, zu atmen. Als die Schritte ganz nah waren, stoppten sie schließlich. Ihr Verfolger musste sich am Eingang des Gewölbes befinden.

»Lissina?«, fragte eine Stimme, und plötzlich füllte sich der Raum mit Licht.

Sie sprang auf. »Tennlor!«, erkannte sie voller Erleichterung und warf sich dem Salas Kai in die Arme.

»Bist du in Ordnung, Kind?«

»Tennlor, ich bin ja so froh, dich zu sehen!«, schluchzte sie, die Tatsache völlig ignorierend, dass sie schon wieder als Kind bezeichnet worden war. »Ich dachte schon …, aber wie hast du …? Wo sind wir …?«

Sie hatte das erste Mal Gelegenheit, sich umzusehen. Das Gewölbe musste etwa die Größe des Speisesaales haben, vielleicht etwas kleiner. Die Wände bestanden aus großen, behauenen Steinquadern, genau wie Boden und Decke von Menschenhand erschaffen. Das Licht schien von überall gleichzeitig zu kommen, und sie hatte keinen Zweifel, dass Tennlor dafür verantwortlich war. Mit der Macht Sirains war ein Salas Kai in der Lage, noch viel größere Kunststücke zu vollbringen. Was ihre Aufmerksamkeit indes wirklich auf sich zog, war eine Art Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Sowohl die Tür selbst als auch die sie umgebende Wand waren mit seltsamen Zeichen bedeckt, die eine Schrift darstellen mochten. Das größte Symbol, direkt in der Mitte der wuchtigen Tür, war gleichzeitig das einzige, das sie kannte: Ein schwarzer und ein weißer Drache, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen – das uralte Emblem der Salas Kai. Das gleiche, das auch auf Tennlors Siegelring prangte.

»Als mir Garin erzählte, was zwischen euch vorgefallen war, wusste ich, dass ich dich hier finden würde«, erklärte Tennlor. »Kissen unter die Bettdecke zu stecken, ist auch nicht gerade der neueste Trick, musst du wissen«, fügte er schmunzelnd hinzu.

Doch Lissina achtete gar nicht auf seine Worte. Fasziniert löste sie sich von ihm und ging ein paar Schritte auf die Tür zu. Sie schien aus Stein zu bestehen, und es gab kein Schloss, keine Klinke oder sonst einen Hinweis darauf, wie man sie öffnen konnte.

»Das muss es sein, was mein Vater vor mir verbergen wollte«, erkannte sie. »Was ist das hier, Tennlor?«

»Jetzt, wo du ohnehin hierher gefunden hast, kann ich es dir auch erklären, denke ich.«

Der Salas Kai trat vor die mit Zeichen bedeckte Wand und fuhr mit der Hand über die Symbole. Lissina staunte, als diese matt in blauem Licht zu glühen begannen, nachdem er sie kurz berührt hatte.

»Dieser Raum erzählt eine Geschichte, junge Prinzessin. Eine Geschichte, die weit in die Vergangenheit zurückreicht«, begann er.

»Bis zu meinem Großvater?«, vermutete Lissina.

Tennlor schmunzelte. »Noch ein bisschen weiter. Diese Geschichte reicht zurück bis zu jener Zeit, als die Ewigen über das Antlitz Eddors wandelten.«

»Die Ewigen? Die Kinder Arns?«, fragte sie ungläubig.

»So nennt man sie heute. Lange, bevor die Menschen anfingen, Arn zu verehren, hielt man die Ewigen selbst für Götter. Hier steht, dass sie zu jener Zeit, da sie unter uns Sterblichen weilten, drei kristallene Artefakte erschufen: die Angrale der Macht. Ihre Kraft war gewaltig, welchem Zweck sie jedoch ursprünglich dienten, ist nicht mehr bekannt. Fest steht nur, dass die Angrale eine Rolle dabei spielten, als die Salas Kai das Tor am Ende des Krieges der Götter versiegelten und das Zaihor aus dieser Welt verbannten. Und, dass Asmarel mit ihrer Hilfe das Tor erneut zu öffnen versuchte.«

»Asmarel? Der Fürst der Lügen?«, unterbrach ihn Lissina. »Aber das muss ja schon Jahrtausende her sein.«

»So ist es«, fuhr Tennlor fort. »Er war der Größte von uns, doch am Ende verfiel er dem Zaihor und brachte unsäglichen Schrecken und großes Leid über die Welt. Nachdem seine Pläne schließlich vereitelt wurden, überlegten die Salas Kai, was mit den Angralen geschehen sollte. Man befürchtete, es könne erneut ein Verräter aus ihren Reihen erwachsen, also gab man jeden in die Obhut eines Bewahrers, eines Mannes, der unerkannt leben und das Geheimnis der Angrale hüten würde. Selbst vor dem Saphirturm. Vor seinem Tod sollte er die Bürde an einen geeigneten Nachfolger weitergeben, und dieser sollte genauso verfahren.«

»Wieso hat man die Angrale nicht einfach zerstört, wenn sie doch so gefährlich waren?«, fragte Lissina dazwischen.

Tennlor zuckte mit den Schultern. »Das steht hier nicht geschrieben. Vielleicht waren die Salas Kai dazu nicht in der Lage. Oder sie wollten es nicht – schließlich kennen wir ihre wahre Bestimmung heutzutage nicht mehr. Was hier allerdings steht, ist, dass einer der Bewahrer eines Tages keinen geeigneten Nachfolger finden konnte. Das war vor langer Zeit, noch vor den Blutkriegen. Damals gab es das Königreich Keldor noch nicht, ebenso wenig wie diese Burg. In den Höhlen hier lebte ein Mönchsorden, der sein Leben dem Gebet verschrieben hatte, und der Bewahrer, von dem hier die Rede ist, verbrachte seine letzten Jahre unter ihnen. Vor seinem Tod schickte er einen Boten zum Saphirturm und bat die Salas Kai um Hilfe. Als sie kamen, war er bereits verschieden, und sie betteten ihn zusammen mit dem Angral in eine Gruft, die sich genau hier, hinter dieser Tür befindet. Es wurden keine Aufzeichnungen über den Vorfall angelegt, und die Salas Kai redeten mit niemandem darüber. So geriet die ganze Geschichte bald in Vergessenheit.«

»Aber du hast davon gewusst«, warf sie ein.

»Ich habe lange Jahre meines Lebens mit der Suche nach den Angralen verbracht, habe die Welt bereist und alte Schriften studiert. Irgendwann konnte ich die Spur eines dieser Artefakte bis nach Keld verfolgen. Damals bin ich deinem Großvater begegnet und stand ihm bei im Kampf gegen die Norkai. Es dauerte noch eine weitere Ewigkeit, bis ich diesen Ort hier entdeckte. Die Wendeltreppe, die uns hier heruntergeführt hat, war damals vollständig verschüttet.«

»Aber wie in Arns Namen konntest du an der Seite meines Großvaters kämpfen? Du kannst nicht viel älter sein als mein Vater …«

»Der äußere Schein kann oft trügen«, erwiderte der Salas Kai, »und Sirain lässt jene, die seine Geheimnisse kennen, länger leben als andere Menschen.«

»Und wieso hat mein Vater mir nie etwas von all dem erzählt? Vertraut er mir etwa nicht? Ich bin doch nicht irgendwer. Ich bin seine Tochter!«

Ein Hauch von Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. So unfassbar das Geheimnis der Angrale auch war, sie konnte sich keinen Grund vorstellen, warum sie nicht davon erfahren durfte.

Tennlor gebot ihr mit einer Geste, sich zu beruhigen. »Das ist nicht der Grund. Garin hat dir nichts gesagt, weil er mir einst geschworen hat, zu niemandem ein Wort hierüber zu verlieren.«

»Oh«. Sie fühlte sich plötzlich elend. In Gedanken hatte sie ihrem Vater schwere Vorwürfe gemacht, weil er nicht offen zu ihr war, doch er war ein Mann, dem sein Wort über alles ging. Sie musste ihn mit ihrer Sturheit ganz schön in die Zwickmühle gebracht haben. Es war sicher alles andere als leicht für ihn gewesen, sie zurückweisen zu müssen.

Trotzdem blieb da noch eine Sache, die keinen Sinn ergab.

»In Ordnung«, begann sie, »aber wenn das hier alles so geheim ist, wie kann es sein, dass ein dahergelaufener Barbar aus dem Norden ebenfalls von den Angralen weiß?«

»Wir haben es hier nicht mit irgendeinem Norkai zu tun. Ich fürchte, es steckt weit mehr dahinter.«

Er schien einen Moment nach den richtigen Worten zu suchen, ehe er weitersprach: »Wenn sich meine Befürchtungen bewahrheiten, dann sind die Verdammten zurückgekehrt. Vielleicht sogar Asmarel persönlich.«

Lissina starrte ihn voller Unglauben einfach nur an. Das konnte er doch keinesfalls ernst meinen! Davon hatte er bei der Unterredung, die sie belauscht hatte, kein Wort erwähnt!

»Asmarel? Das ist doch unmöglich! Er und die Verdammten wurden vor langer Zeit aus dieser Welt verbannt.«

»Das ist wahr. Doch ihre Rückkehr wurde prophezeit. Es heißt, ein böses Omen werde davon künden, wenn das Zaihor erneut erstarkt, und auch die Verdammten werden dann wiederkehren.« Er räusperte sich und rezitierte: »Wenn der Schweif des Drachen am Nachthimmel erstrahlt, wird sich ein dunkler Sturm erheben und die Welt mit Leid und Schrecken überziehen. Die Stadt der Sonne wird verschlungen, die des Mondes sich verdunkeln. Was zersprungen war, wird erneut ein Ganzes, und was versiegelt war, geöffnet. Wenn des Himmels Feuer herab auf Eddor fällt und beide sich entzünden, kehrt das Zaihor zurück, mit jenen, die verbannt geglaubt für alle Zeit an seiner Spitze.«

Lissina schüttelte den Kopf. »Von dieser Prophezeiung hat wohl jeder schon einmal gehört. Der Schweif des Drachen ist aber nicht am Nachthimmel erschienen, oder?«

»Nein, ist er nicht. Wenn die Sterndeuter recht behalten, wird er das auch die nächsten zweihundert Jahre nicht«, gab Tennlor zu. »Der Schweif ist ein wiederkehrender Komet. Er erscheint und verschwindet in einem langen Zyklus, und bis jetzt ist die Welt noch nie untergegangen, wenn er zu sehen war. Auch wenn jedes Mal schlimme Dinge unmittelbar danach geschehen sind, wie ich anmerken möchte. Man denke nur an die Blutkriege oder die Zerstörung von Istala.«

Er machte eine Handbewegung, als könne er weitere aufzählen, nahm dann aber den ursprünglichen Gedanken wieder auf: »Gegenwärtig dürfte uns eigentlich keine Gefahr drohen. Dennoch steht es außer Frage, dass das Zaihor in den letzten Jahren deutlich an Macht gewonnen hat. Im Norden geht etwas vor sich. Menschen berichteten mir, wie sich vor ein paar Nächten eine Lichtsäule von einem der Berggipfel in den Himmel gereckt, und gleichzeitig der Boden gebebt haben soll. Ich kann nur raten, was dies zu bedeuten hat, doch es war sicher keine natürliche Erscheinung. Auch wenn noch nicht alle Zeichen der Prophezeiung eingetreten sind, sollten wir wachsam sein.«

»Ob Verdammte oder nicht, es wäre vielleicht das Beste, wenn wir diesen Angral von hier fortschafften. Es wird sich doch sicher ein neues Versteck finden lassen, wo er sicherer ist?«

»Ich habe auch schon daran gedacht«, verriet Tennlor. »Doch diese Gruft ist mit der Macht Sirains versiegelt. Ich vermag sie nicht zu öffnen, jedenfalls nicht allein. Ich werde zum Saphirturm zurückkehren müssen, so oder so.«

Er machte eine Pause. »Und du solltest ins Bett gehen, und zwar so schnell wie möglich. Dein Vater weiß nicht, dass du hier unten warst, und er muss es auch nicht erfahren, jedenfalls nicht sofort. Er wird ab morgen genug Sorgen am Hals haben.«

»Aber das Gitter …«, warf Lissina ein. Ihr Vater kam vielleicht nicht oft in den Keller, aber irgendwem würde schon auffallen, dass sie dort zu Werke gegangen war.

»Das lass mal meine Sorge sein«, beruhigte sie Tennlor und lächelte freundlich.

Es war wohl das Beste, wenn sie auf ihn hörte. Hier unten gab es nichts, was sie noch tun konnte, und etwas Ruhe brauchte sie jetzt wirklich.

Als sie sich auf den Rückweg machten, ging sie in Gedanken noch einmal durch, was Tennlor ihr erzählt hatte. Die Verdammten! Das konnte unmöglich sein, das waren Geschichten, mehr nicht. Aber was, wenn doch? Wenn es Asmarel, dem Verräter, gelingen sollte, das Siegel zu brechen, und den Angral an sich zu bringen? Das durfte einfach nicht passieren!

 

5

Es war kalt in der Hütte. Das Feuer war schon vor Stunden erloschen und Cordians Atem bildete kleine Wölkchen vor seiner Nase. Draußen war die Sonne noch nicht aufgegangen, aber erstes dämmriges Licht schien bereits durch die Ritzen zwischen den alten Brettern herein.

Er hatte den größten Teil der Nacht wach gelegen. Die Erschöpfung hätte eigentlich ausreichen müssen, um ihn wie einen Stein bis weit in den Morgen hinein schlafen zu lassen, doch er war innerlich einfach zu aufgewühlt.

Außerdem fror er an den Zehen. Das Mädchen hatte sich die ganze Nacht über unruhig hin und her gewälzt und den größten Teil der Decke zu sich hinüber gezogen. Mehr als einmal hatte sie ihm dabei den Ellenbogen schmerzhaft in die Seite gerammt. Er war sich ziemlich sicher, dass sie von Albträumen gequält wurde, doch entgegen seinem Versprechen hatte er es nicht gewagt, sie zu wecken. Sie brauchte den Schlaf einfach – viel dringender noch als er. Sie hatte mit geschlossenen Augen gestöhnt und vor sich hin gemurmelt, doch nichts, was für ihn irgendeinen Sinn ergeben hätte.

Jetzt lag sie friedlich neben ihm. Ihre Atemzüge gingen ruhig und flach. Nur gelegentliche Bewegungen ihrer geschlossenen Lider ließen ihn vermuten, dass sie immer noch träumte. Ihr Gesicht war wunderschön, wenn sie schlief. Ihre Wangen waren glatt und sanft geschwungen, ihr Kinn rund, dennoch markant genug, um ihren Zügen bei genauerem Hinschauen etwas Kämpferisches zu geben. Ein Eindruck, der auf faszinierende Weise im Widerspruch zu ihrem kleinen, leicht aufwärts gebogenen Stupsnäschen und ihrer restlichen grazilen Erscheinung stand. Sie wirkte so jung und unschuldig, beinahe wie ein scheues Reh. Wie alt mochte sie sein? Sicher nicht viel älter als seine Schwester. Auf den ersten Blick könnte man sie sogar für jünger halten. Ihr schlanker Körper allerdings war voll entwickelt, nach dem zu schließen, was er am Vorabend gesehen hatte und was sich nun unter der Decke abzeichnete. Er hätte stundenlang an ihrer Seite liegen und sie einfach nur betrachten können, doch so langsam musste er sich Gedanken machen, wie es weitergehen sollte.

Der Sturm hatte sich die Nacht über ausgetobt und war nun abgeklungen. Das war einerseits gut, da sie nun schneller vorankommen konnten, andererseits würde es auch den Norkai Gelegenheit geben, die Suche nach ihnen wieder aufzunehmen.

Behutsam legte Cordian seine Hand auf die Stirn der Schlafenden und fühlte ihre Temperatur. Sie hatte kein Fieber. Sehr gut. Er hatte seinen Umhang als zusätzliche Decke über ihr ausgebreitet, aber betrachtete man die Unterkühlung, die sie sich am Vortag zugezogen hatte, war sie trotz allem ausgesprochen glimpflich davongekommen. Er hätte sie gerne noch länger ruhen lassen, doch es war wohl das Beste, so schnell wie möglich aufzubrechen, also rüttelte er sie sanft an der Schulter.

»Zeit aufzustehen«, flüsterte er, als sie die Augen aufschlug. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und sollten bald aufbrechen.«

»Cordian«, bemerkte sie erfreut, als wäre sie überrascht, ihn zu sehen. Sie setzte sich auf und machte Anstalten, die Decke zurückzuschlagen – anscheinend war sie sich nicht mehr bewusst, dass sie darunter vollkommen nackt war.

Cordian reagierte rasch und hielt sie rechtzeitig zurück. »Warte«, gebot er ihr. »Wie fühlst du dich?«

Wie so oft fiel es ihm schwer, ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten: Vorsichtige Neugier gepaart mit ängstlicher Verunsicherung, als wüsste sie nicht, was sie von sich und der Welt halten sollte. Als wartete sie darauf, dass er etwas sagte oder tat, das für sie Sinn ergab.

Da sie nicht antwortete, fügte er schließlich hinzu: »Du hast im Schlaf gesprochen.«

Sie reagierte immer noch nicht, sondern sah ihn bloß weiterhin an. Er überlegte, ob es besser wäre, das Thema fallen zu lassen, doch seine Neugier siegte und er hakte nach: »Da war ein Wort, das du immer wieder gesagt hast. Ich glaube, es war Tao oder so ähnlich. Weißt du, was das bedeutet? Ist es vielleicht ein Ort? Ein Name?«

Das Mädchen wirkte mit einem Mal erschrocken und senkte den Blick. Offensichtlich hatte das Wort eine Bedeutung für sie. Als sie sich ihm wieder zuwandte, stand ihr die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Vorsichtig, als würde sie Zweifel an ihren eigenen Worten hegen, erklärte sie: »Ich bin Tao …«

Cordians Augen weiteten sich überrascht: »Du? Dann ist das dein Name?«

Sie sah ihn an, als wäre sie nicht sicher, was sie nun sagen sollte. »Ich weiß es nicht. Gefällt er dir?«, fragte sie Hilfe suchend.

»Ich … nun …«, stammelte er etwas verduzt und rang verlegen mit den Händen in der Luft. »Natürlich gefällt er mir, aber ist es nun dein Name oder nicht?«

Sie lächelte und ihr Lächeln schien das kalte Halbdunkel der alten Hütte einen Moment lang zu vertreiben. »Ja, es ist mein Name. Ich bin Tao.«

 

Ein seltsamer, irgendwie geheimnisvoll klingender Name, dachte der Prinz von Keldor. Genauso geheimnisvoll wie alles an ihr. Er fragte sie, ob weitere Erinnerungen zurückgekehrt waren, zum Beispiel, woher sie kam oder wer ihre Eltern waren, doch sie verneinte. Ob sie es ihm nun nicht sagen konnte oder nicht sagen wollte; es hatte keinen Zweck, sie zu drängen. Irgendwann erhob er sich, streckte ein wenig seine müden Glieder, gürtete sein Schwert um die Hüfte und kündigte an, er wolle sich ein wenig draußen umsehen, bevor sie aufbrachen. »Warte hier solange«, wies er das Mädchen an. »Ich komme bald zurück.«

Sie schien traurig zu sein, dass er ging, sagte jedoch nichts. Vielleicht bildete er es sich auch bloß ein. Er stellte den Gedanken erst einmal zurück; es war wichtig, dass er sich ein Bild von der Lage machte, und er würde sie ja nicht lange allein lassen.

Als er die Tür öffnete, fuhr ein kühler Windstoß durch die enge Hütte und ließ ihn frösteln. Er merkte mit einem Mal wieder deutlich, wie taub sich seine Zehen und Fingerspitzen anfühlten, und beeilte sich, die Tür hinter sich zu schließen, damit seine Begleiterin nicht doch noch krank wurde. Er dachte daran, wie Tao sich fühlen musste. Sie war dem Tod durch die Hände der Norkai und ihren Blutwölfen mehrmals nur knapp entronnen und hatte eine Flucht in eisiger Kälte hinter sich, bekleidet mit wenig mehr als einem Fellumhang. Im Gegensatz zu ihr hatte er wenigstens in seinen Kleidern schlafen können. Und doch ertrug sie all das, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu beschweren. Er konnte nicht umhin, sie zu bewundern. Was immer es mit ihr auf sich hatte, er war sicher, dass sie etwas ganz Besonderes sein musste.

 

Das Unwetter von letzter Nacht hatte die Landschaft mit einer knietiefen Schneedecke überzogen. Die Sonne versteckte ihr Antlitz noch hinter den Bergen im Osten, doch die schwache Helligkeit des anbrechenden Morgens reichte aus, dass er sich orientieren konnte. Die Hütte schmiegte sich eng an die Flanke des Berges und lag dort gut geschützt vor Wind und Wetter. Hohe Tannen verbargen sie wirksam vor neugierigen Blicken. Es war nicht leicht, sie aus der Entfernung auszumachen, wenn man nicht wusste, wo man suchen sollte. Waren sie wirklich von einer Eule hierher geführt worden, oder hatte seine überreizte Fantasie ihm vielleicht einen Streich gespielt? Es fiel ihm schwer, daran zu glauben, doch ohne Hilfe hätte er diesen Unterschlupf im dichten Schneetreiben wohl nur durch pures Glück finden können.

Er stapfte ein Stück weiter den Hang hinauf, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Sie hatten die Nacht dicht unter der Baumgrenze verbracht, und von weiter oben würde er eine hervorragende Sicht haben.

Während des Aufstieges waren seine Gedanken bei seiner rätselhaften Gefährtin. Tao hörte sich nicht gerade nach einem Namen aus der Gegend an. Vielleicht stammte sie aus dem Nachbarreich Tarbor, doch Cordian bezweifelte dies, wenn er ehrlich war. Tarbische Namen mochten sich zwar komisch anhören, doch Mädchen mit grünen Haaren suchte man dort genauso vergeblich wie in Keldor oder sonst einem Land, von dem er wusste.

Ihm fiel ein, was er einmal über das wandernde Volk der Brjim gehört hatte: Es hieß, sie trugen bunte Kleider in allen Farben des Regenbogens und färbten sich die Haare mit Beerensaft. Aber wenn das die Erklärung war, hätte die Farbe dann nicht ausgewaschen werden müssen, nachdem Tao ins eiskalte Wasser gestürzt war? Ihre Herkunft würde wohl ein Rätsel bleiben, bis sie sich erinnerte. Gab es eine Familie, die sich um sie sorgte? Ein Heim, das auf sie wartete?

Er verwarf seine Überlegungen, die zu keinem Ergebnis führten, und sah sich um. Von hier aus hatte er einen guten Blick ins nördliche Tal und auf die umliegenden Berge. Und was er sah, ließ ihm vor Schreck den Atem stocken.

So weit das Auge reichte, war das Tal überzogen von kleinen flackernden Lichtern. Funken, die auf der Stelle hin und her zu hüpfen schienen wie Irrlichter, die einen stillen Tanz vollführten. Doch er wusste, um was es sich in Wahrheit handelte: Lagerfeuer. Nach Süden war seine Sicht durch das Haupt des Frostvaters eingeschränkt, doch auch dort konnte er Feuer entdecken.

Es waren Dutzende. Für Hunderte oder gar Tausende von Norkai. Dort lagerte eine Armee und sie befanden sich mittendrin. Er musste unverzüglich zurück nach Keld und seinen Vater warnen. Diese Barbaren konnten unmöglich alle hinter ihm oder Tao her sein. Das musste ein Raubzug sein, wie es ihn seit den Zeiten seines Großvaters nicht mehr gegeben hatte! Wenn er das Königreich unvorbereitet traf, würde es einen schrecklichen Preis zahlen müssen, dessen war er sich sicher.

Er riss sich von dem erschütternden Anblick los und hielt Ausschau nach dem Pass. Er lag ein Stück unterhalb der Hütte, gar nicht allzu weit entfernt. Sie mussten ihn am gestrigen Tage nur knapp verpasst haben. Er konnte zwischen den Bäumen sogar den Weg ausmachen, den er im Schneesturm so verzweifelt gesucht hatte.

Und auf dem Weg näherten sich zwei Lichter. Männer mit Fackeln, durchfuhr es ihn. Ohne Zweifel Norkai. Er duckte sich instinktiv in den Schnee. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie ihn gesehen hatten, aber er durfte kein Risiko eingehen. Was, wenn sie die Hütte fanden? Tao war noch dort, völlig schutzlos. Er musste sich beeilen und vor ihnen da sein. Er hatte geschworen, sie zu beschützen, und das würde er tun. Selbst wenn er sein Leben dabei aufs Spiel setzte!

Während er den Abhang hinuntereilte, kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht eine günstige Fügung war, dass die Barbaren hier auftauchten. Es waren letztlich nur zwei, und sie hatten Kleidung und Proviant, vielleicht sogar Pferde …

Ein Hinterhalt war nicht unbedingt ritterlich, doch wie hatte Dankon immer gesagt? Es ist nicht feige, einem überlegenen Gegner eine Falle zu stellen. Er musste nur bereit sein, dabei dem Tod ins Auge zu sehen. Seine Hand schloss sich unwillkürlich um den Schwertgriff und ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit legte sich um seine Züge.

 

***

 

Kalter Wind pfiff durch den Hohlweg und übertönte beinahe das nervöse Schnauben der Pferde. Die Reiter ließen ihre Tiere auf Passhöhe anhalten. In der Ferne war der Schrei eines Raubvogels zu vernehmen, sonst war alles ruhig. Dennoch spürten die geschulten Sinne der Krieger, dass etwas nicht stimmte. Die steile Böschung zu beiden Seiten machte diese Stelle ideal für einen Überraschungsangriff, und der hohe Schnee konnte möglichen Angreifern helfen, lange genug verborgen zu bleiben.

Sie befanden sich auf feindlichem Gebiet, doch letztendlich suchten sie nur eine hilflose Frau, deren einziger Schutz ein junger Bursche war, den man kaum als Mann, geschweige denn als Kämpfer bezeichnen konnte. Außer diesen beiden und den Kriegern des Khan gab es hier weit und breit niemanden. Zudem war ihre Beute auf der Flucht und musste verzweifelt sein. Sollten sie auf sie stoßen, wäre alles Weitere ein Kinderspiel.

Nach einem kurzen Wortwechsel ließen sie ihre Tiere weitertraben, vergaßen dabei jedoch eins: Verzweifelte Menschen begehen verzweifelte Taten.

 

***

 

Als die Norkai nahe genug waren, sprang Cordian aus seinem Versteck und warf sich von oben brüllend auf den ersten der Reiter. Der Anprall riss den überraschten Krieger aus dem Sattel und ließ beide eng umschlungen in den Schnee stürzen. Die Pferde scheuten erschrocken, und der zweite Reiter hatte zunächst alle Hände voll damit zu tun, nicht abgeworfen zu werden.

Der Prinz rang mit seinem Gegner im Schnee. Der Norkai war stark, doch Cordian gelang es, ihn am Boden zu halten. Das Gesicht des Barbaren war mit martialischer Kriegsbemalung überzogen, und seiner Kehle entfuhr wutentbranntes Gebrüll. Cordian verstand nicht viel von seiner Sprache, aber es reichte, um zu erkennen, dass es sich um wilde Flüche handelte. Die Hand seines Gegners glitt zu seiner Waffe, einem grobschlächtigen, schartigen Beil, doch er hielt ihn rechtzeitig zurück, indem er mit aller Kraft dessen Handgelenk packte. Die Verwünschungen des Norkai verstummten kurz darauf, als Cordian ihm sein Knie gegen das Kinn rammte. Die Benommenheit seines Widersachers ausnutzend, entriss er ihm die Waffe und zog ihm gleichzeitig mit wilder Entschlossenheit sein Jagdmesser quer über den Hals.

Während der Krieger unter ihm starb, ergriff ein seltsames Hochgefühl von Cordian Besitz. Es war wie am Vortag, als sie das zerstörte Dorf erreicht hatten, nur viel intensiver diesmal. Er spürte Kraft und Stärke durch seinen Körper fließen und seine Sinne waren geschärft wie nie zuvor. Kälte und Müdigkeit waren für den Moment vergessen. Aus dem Augenwinkel sah er den zweiten Norkai, der sein Pferd inzwischen unter Kontrolle gebracht hatte, auf sich zu galoppieren. Im ersten Moment sah es so aus, als wollte er ihn einfach niederreiten, doch der Krieger hatte andere Absichten. Als er heran war, warf er sich aus dem Sattel direkt auf den Prinzen. Sein Speer zielte genau auf Cordians Brust.

Dieser versuchte verzweifelt, die Waffe mit dem erbeuteten Beil abzuwehren, das er mit seiner Linken schwang, und riss gleichzeitig sein Schwert in die Höhe. Dann prallte der schwere Leib des Barbaren auf ihn, und ihm wurde schwarz vor Augen.

 

***

 

Die ersten Sonnenstrahlen krochen langsam über die Berge am Horizont, dünnen Fingern gleich, die sich vorsichtig herantasteten. In der zugigen Schutzhütte war es jedoch nach wie vor dunkel und kalt. Und es war still. Kein Vogel sang und kein Geräusch drang von draußen herein. Doch plötzlich durchbrach das Schnauben von Pferden die Ruhe. Kurz darauf näherten sich Schritte der Tür. Sie wurden durch den tiefen Schnee gedämpft, aber man konnte sie dennoch hören, wenn man aufmerksam lauschte. Dann endeten sie abrupt, und die Tür flog auf.

Im hellen Rechteck des Einganges stand Cordian und lächelte müde, die linke Schulter erschöpft gegen den Türrahmen gelehnt.

»Du bist zurück«, stellte Tao erleichtert fest. Sie saß immer noch auf dem Fußboden, eingewickelt in die Decke, unter der sie beide geschlafen hatten. Lange grüne Strähnen fielen über ihre nackten Schultern herab und ihre ebenso schönen wie geheimnisvollen Augen schienen im schwachen Licht beinahe von innen heraus zu leuchten.

Er warf ihr ein Bündel zu. Es handelte sich um ein paar Stiefel, eine Hose und eine Jacke. Alles aus Bärenfell. Dazu eine Mütze, die mit den Zähnen des Tieres verziert war. Die Kleidung eines Barbarenkriegers.

»Zieh das an«, sagte er. »Es stinkt ein wenig, aber es wird dich warm halten. Außerdem haben wir bessere Chancen, unentdeckt zu bleiben, wenn wir aussehen wie sie.«

Er nickte ihr noch einmal aufmunternd zu, drehte sich um und schloss die Tür hinter sich, um ihr Gelegenheit zu geben, sich anzukleiden.

Er selbst begann damit, seine Kleidung gegen die des anderen Norkai zu wechseln. Sie war zwar etwas weit und noch dazu blutbefleckt, aber es würde gehen. Seine eigenen Sachen verstaute er in den Satteltaschen der beiden erbeuteten Pferde. Er hatte dem Tod ins Auge gesehen und überlebt. Was man von den Barbaren nicht behaupten konnte.

Ihr Tod machte ihm nun, da der Kampf vorüber war, mehr zu schaffen, als ihm lieb war. Es war nicht so, dass er ihnen ihr Ableben nicht gewünscht hätte. Für das, was sie Dankon und den Rittern angetan hatten, verdienten sie ihr Schicksal, und im ersten Moment hatte es sich auch gut und richtig angefühlt. Dennoch war es das erste Mal, dass er bewusst einen Menschen mit der Absicht angegriffen hatte, ihn zu töten. In der brennenden Scheune war es mehr oder weniger Notwehr gewesen, schließlich hatte er Taos Leben gerettet, doch diese Ausrede konnte er diesmal nicht gelten lassen. Er hatte Dankon einmal gefragt, ob man sich als Ritter irgendwann an das Töten gewöhnte, und dieser hatte ihm geantwortet: »Mancher tut das, doch ein guter Ritter gewöhnt sich nie daran, er lernt lediglich, damit umzugehen.«

Vielleicht war es besser, beim Tod seiner Feinde noch etwas zu empfinden. Das erinnerte einen daran, dass man noch ein Mensch war. Dass man besser war als sie …

Als Tao zu ihm ins Freie trat, war er gerade damit beschäftigt, eine Stoffbinde um seinen linken Oberarm zu wickeln.

»Was machst du da?«, fragte sie und trat näher heran. Als sie den Verband mit der Hand berührte, zuckte er zusammen und zog schnell den schmerzenden Arm zurück.

»Du bist verletzt«, erkannte sie erschrocken.

»Ist nur ein Kratzer«, wehrte er ab. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, damit sie nicht bemerkte, wie er bei diesen Worten die Zähne zusammenbiss. »Die beiden Norkai, die ich überwältigt habe, wollten ihre Pferde nicht ganz kampflos herausrücken.«

Er schauderte, als er daran dachte, wie knapp der Speer sein Herz verfehlt und stattdessen seinen Arm geritzt hatte. Langsam musste er seinen Vorrat an Glück mehr als aufgebraucht haben.

»Sie kamen den Berg hinauf, um nach uns zu suchen«, erklärte er, »und wir sollten besser verschwunden sein, bevor noch mehr auftauchen.«

»Noch mehr?«

Tao klang ein wenig entsetzt, als befürchtete sie, jeden Moment einen Norkai zu erblicken. Er drehte sich wieder zu ihr um und versuchte, etwas Zuversicht auszustrahlen.

»Wir schaffen das schon. Wir müssen nur vorsichtig sein. Der Umweg über den Pass hat uns eine Menge Zeit gekostet, aber wenn wir erst auf der anderen Seite sind, werden wir bald wieder auf die Südstraße treffen. Der folgen wir dann und in spätestens einem oder zwei Tagen erreichen wir die obere Narralbrücke. Dann sind wir in Sicherheit. Und bis wir da sind, gehen wir den Norkai einfach aus dem Weg.«

Sie sah ihn mit großen Augen an, als hätte er ihr soeben von Feuer speienden Drachen und unglaublichen Wundertaten erzählt, doch seine Worte schienen sie zu beruhigen. Er konnte nur hoffen, dass tatsächlich alles so reibungslos verlief, wie er es eben ausgemalt hatte. Bei der Brücke gab es eine befestigte Garnison. Auf die andere Seite des Narral würden die Norkai ihnen nicht so ohne Weiteres folgen können.

Er musterte das Mädchen prüfend. Ihre grünen Haare weitgehend unter der Fellmütze verborgen, sah sie auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Norkai aus. Von Weitem mochten sie ihre Verfolger täuschen, doch aus der Nähe würde man sie durchschauen wie die Oberfläche eines klaren Bergsees.

Es wurde Zeit, dass sie aufbrachen. Je tiefer die Sonne stand, desto größer war die Chance, unentdeckt zu bleiben.

Er wollte sich gerade in den Sattel schwingen, da fiel ihm etwas ein und er blieb noch einmal stehen. »Kannst du eigentlich reiten?«, fragte er Tao.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie, »aber ich habe gesehen, wie du es gemacht hast.«

Na wunderbar, dachte er. Ihre Stimme war zwar voller Zuversicht, doch er korrigierte in Gedanken seine Schätzung darüber, wie lange sie brauchen würden, ein gutes Stück nach oben. Nun, es würde sich schon zeigen, was sie konnte. Zur Not würde sie eben wieder hinter ihm Platz nehmen müssen.

Damit saß er auf und ließ sein Tier langsam auf den Pass zutraben. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass Tao ebenfalls im Sattel saß und ihm folgte. So weit, so gut.

 

Während der nächsten Stunden waren sie ohnehin gezwungen, ihre Pferde die meiste Zeit über am Zügel zu führen. Der Abstieg war beinahe so schwierig wie der Aufstieg. Der Pfad war eng und tückisch; stellenweise führte er gefährlich dicht an steil abfallenden Felswänden entlang und der tiefe Schnee behinderte ihr Fortkommen zusätzlich. Wieder dankte Cordian den Göttern, dass sie auf die Hütte gestoßen waren. Arns schützende Hand musste wahrlich über ihnen geschwebt sein. Selbst wenn sie den Pass im gestrigen Sturm gefunden hätten, wären sie wohl kaum zurück ins Tal gelangt, ohne sich ein Dutzend Mal den Hals zu brechen.

Die Berge des Nordens waren von atemberaubender Schönheit, wenn sie, so wie jetzt, ruhig und majestätisch vor ihnen lagen. Doch sie konnten jederzeit zu einem tödlichen Gegner werden, wie er gestern am eigenen Leib erfahren hatte.

Als der Weg schließlich breiter wurde und sie die Talsohle erreichten, näherte sich die Sonne bereits dem Zenit. Cordian entschied, dass es am besten wäre, jetzt eine Pause einzulegen und suchte eine geschützte Stelle auf, wo sie vor zufälliger Entdeckung sicher waren.

In ihren Satteltaschen fanden sie geräuchertes Fleisch. Er konnte nicht erkennen, von welchem Tier es stammte, doch es schmeckte halbwegs. Wie es aussah, hatten sie Glück; einigen Erzählungen zufolge ernährten sich die Norkai mit Vorliebe von halb verfaulten Innereien. Vermutlich nichts weiter als Schauergeschichten. Die Barbaren des Nordens waren seit Generationen der Schrecken Keldors und der angrenzenden Königreiche. Einem Geschichtenerzähler fiel es sicher leicht, Halbwahrheiten zu verbreiten, welche die blutrünstigen Krieger noch schrecklicher erscheinen ließen.

Aber es war nicht alles erfunden. Er dachte an die zerstörten Dörfer zurück, die sie vorgefunden hatten. Keine Überlebenden, nicht einmal Frauen und Kinder. Bestien aßen am liebsten Menschenfleisch. Er war sich sicher, dass dies mehr als nur ein Gerücht war, und mit einem Mal war ihm der Appetit vergangen.

Tao hingegen stopfte sich mit erstaunlichem Eifer Fleischbrocken in den Mund. Wenn er sich nicht täuschte, hatte sie bereits eine komplette Tagesration verdrückt und kaute noch immer. »Du solltest unsere Vorräte nicht alle auf einmal verbrauchen«, ermahnte er sie. »Vielleicht brauchen wir sie später noch.«

»Wieso?«, erwiderte sie mit vollem Mund. »Gibt es da, wo wir hingehen, nichts zu essen?«

»In Keld?«

Er glaubte zuerst, sie hätte gescherzt, doch die Frage war anscheinend ernst gemeint. »Sicher gibt es das, aber bis wir da sind, wird es noch eine Weile dauern, und wer weiß, wann sich eine Gelegenheit ergibt, unseren Proviant aufzufüllen.«

Er erhob sich und fügte hinzu: »Wir sollten besser weiterreiten. Hoffen wir, dass uns keine Norkai begegnen. Und wenn doch, mach genau, was ich dir sage. Überlass mir das Reden. Ich kenne ein paar Brocken ihrer Sprache. Auch wenn es nicht viel ist, reicht es vielleicht, um sie einen Moment lang zu täuschen.«

Als er sich wieder in den Sattel gehievt hatte, wanderte sein Blick noch einmal zurück zum Pass. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, auf dem Bergrücken in der Ferne eine aufrecht stehende Silhouette ausmachen zu können. Waren bereits Verfolger auf ihrer Fährte? Als sich die Gestalt bewegte, kamen ihm jedoch Zweifel, ob es sich wirklich um einen Menschen handelte. Kurz bevor sie aus seiner Sicht verschwand, meinte er, in der Sonne graues Wolfsfell erkannt zu haben. Er blinzelte und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatten ihm seine Sinne einen Streich gespielt. Kaum verwunderlich, wenn man so wenig geschlafen hatte wie er.

Damit setzten sie ihre Reise fort. Cordian ritt etwas langsamer, als er es normalerweise getan hätte, um Rücksicht auf Tao zu nehmen. Bald merkte er jedoch, dass sie ihm problemlos folgen konnte, und zog das Tempo an.

 

Sie erreichten die Straße ohne Zwischenfälle. Der Schnee war hier von zahlreichen Hufen zertrampelt und hatte sich mit dem Schlamm der Straße vermischt. Sie mussten äußerste Wachsamkeit an den Tag legen, wenn sie keinem Barbarentrupp in die Arme reiten wollten.

Trotz aller Vorsicht entgingen sie der Entdeckung nur mit Glück. Zweimal gelang es ihnen, sich zu verstecken, kurz bevor bewaffnete Krieger an ihnen vorbeipreschten. In beiden Fällen war es Tao, die ihr Nahen zuerst bemerkte; ein klares Zeichen dafür, dass er wirklich übermüdet war.

Dann trafen sie auf eines ihrer Lager. Aus sicherer Entfernung und aus dem Schatten der schneebedeckten Bäume betrachtet, wirkte es beinahe wie ein Ameisenhaufen. An die einhundert Norkai mussten sich dort zwischen den Zelten herumtreiben, fast ebenso viele Pferde waren zu sehen. Die fellbedeckten Gestalten einiger Bestien waren ebenfalls auszumachen. Cordian fühlte einen Stich in der Brust, als er erkannte, dass sie Gefangene hatten. Männer und Frauen in schmutzigen, zerfledderten Kleidern waren aneinander gekettet und mühten sich damit ab, in der Mitte des Lagers, wo sie bereits ein paar größere Steine zusammengetragen hatten, einen mächtigen Findling aufzurichten. Mit Sicherheit waren das Bewohner der umliegenden Dörfer, die das zweifelhafte Glück besaßen, noch am Leben zu sein. Sie waren in keinem guten Zustand, soweit er es von hier beurteilen konnte, und er rechnete jeden Moment damit, dass einer von ihnen erschöpft zusammenbrach.

»Was machen die da?«, fragte Tao leise, die sich neben ihm in den Schnee geduckt hatte.

»Sie errichten einen Hordenstein. Eine Art Altar, wenn du so willst. Sie werden an seinem Fuß eine blutige Opferung vornehmen, sobald die Sonne verschwunden ist. Nach ihrem Glauben wird das umliegende Land auf diese Weise mit der Macht des Zaihor durchtränkt.«

Tao schien erschrocken: »Was ist denn das Zaihor?«

»Du weißt nicht, was das Zaihor ist?«, fragte Cordian verwundert.

Anscheinend wusste sie es nicht. Sie schien jedenfalls darauf zu warten, dass er es ihr erklärte. »Es ist das Böse, das Chaos, die Zerstörung – es heißt, es hätte die Welt vor langer Zeit beinahe vernichtet.«

Taos Blick glitt in die Ferne, und ihm kam es einen Augenblick so vor, als würde sie einen tieferen Zusammenhang erkennen, der ihr bis jetzt verborgen war. Dann trat wieder ein unschuldig fragender Ausdruck in ihr Gesicht.

»Ich mag das Zaihor nicht. Warum wollen diese Männer seine Kraft beschwören?«

Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Wäre er nicht so verblüfft gewesen, hätte er wahrscheinlich sogar gelacht. Hatte sie eben gesagt, sie möge das Zaihor nicht? Nun, wer tat das schon? Doch bei ihr hörte sich das an, als würde sich seine Schwester beschweren, dass ihr ein Kleid nicht gefiel oder als ginge es um den passenden Wein zum Mittagessen. Er bezweifelte, dass sie die wahre Bedeutung des Begriffs wirklich erfasste.

Tao sah ihn immer noch fragend an, und er rang sich zu einer Antwort hindurch: »Dankon sagte, sie fürchten es. Auf diese Weise unterwerfen sie sich ihm. Um es zu besänftigen.«

Nach einer Pause fügte er grimmig hinzu: »Wahrscheinlich werden sie die Gefangenen opfern.«

»Werden sie das auch mit uns machen, wenn sie uns gefangen nehmen?«, fragte Tao besorgt.

»Ich weiß nicht, warum sie hinter dir her sind«, antwortete Cordian mit einem Schulterzucken, »aber mich würde wohl ein ähnliches Schicksal erwarten. Wenn sie herausfinden, wer ich bin, versuchen sie vielleicht, mich als Druckmittel gegen meinen Vater einzusetzen, aber so weit werde ich es nicht kommen lassen.«

Er ließ seinen Blick noch einmal über das Lager schweifen. »Wir sollten weiterreiten, hier können wir nichts tun. Es sind einfach zu viele.«

Es tat beinahe körperlich weh: Schon wieder musste er Menschen zurücklassen, die seine Hilfe brauchten. Aber was sollte er allein gegen ein Lager Bewaffneter ausrichten? Es half niemandem, wenn sie ihn und das Mädchen auch noch zu fassen bekamen.

Er wollte Tao gerade signalisieren, sich zu den Pferden zurückzubegeben, da blieb sein Blick am schlohweißen Haar eines der bedauernswerten Gefangenen haften. Das konnte unmöglich sein! Er sah noch einmal genauer hin. Kein Zweifel, es war Rugem! Der Ritter lebte! Er hatte den Angriff im zerstörten Dorf überlebt und war jetzt ihr Gefangener.

»Tao, einer der Ritter – siehst du ihn?« Cordian deutete auf die Stelle, die er meinte. Sie nickte: »Er gehört zu den Männern, die bei dir waren. Ich erkenne ihn wieder.«

»Hör zu, ich muss da rein«, erklärte er aufgeregt. »Ich muss ihn befreien, ich bin es ihm schuldig.«

»Aber haben diese … Ritter …«, sie zögerte ein wenig bei dem Wort, als wäre sie sich noch nicht ganz über dessen Bedeutung im Klaren, »dir nicht befohlen, sie zurückzulassen?« Sie klang ein wenig verwundert, aber ihre Frage enthielt keine versteckte Aufforderung. Sie probierte nicht, ihm die Sache auszureden, wofür er ihr sehr dankbar war.

»Ja, das haben sie«, räumte er ein, »aber es gibt Situationen, da muss man einen Befehl auch mal missachten.«

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und blickte ihr eindringlich in die Augen. »Ich werde mich jetzt in das Lager schleichen. Du wartest hier und lässt dich von niemandem sehen. Nimm das hier«, er drückte ihr sein Jagdmesser in die Hand. »Nur für den Fall. Du weißt ja, wie man damit umgeht. Sollte ich geschnappt werden oder aus irgendeinem Grund nicht zurückkommen, dann reitest du auf der Straße nach Süden weiter, bis du an die Brücke kommst. Den Soldaten dort zeigst du dies«, er griff unter seine Weste und holte das Löwenmedaillon hervor, »und sagst ihnen, was hier oben los ist. Dann lässt du dich nach Keld bringen und redest dort mit meinem Vater. Er wird sich um dich kümmern.«

Sie nickte als Zeichen, dass sie alles verstanden hatte, und er lächelte ihr noch einmal aufmunternd zu. Dann schlich er sich vorsichtig davon.

»Pass auf dich auf, Cordian«, rief sie ihm leise nach, als er im Unterholz verschwand.

 

6

Das Papier war vergilbt und die dunklen verschnörkelten Lettern nicht leicht zu entziffern. Schrift und Sprache mochten über einhundert Jahre alt sein, denn ebenso lange hatte der alte Foliant Lissinas Einschätzung nach unbenutzt in der Bibliothek gestanden. Einige Seiten waren derart ausgeblichen, das nur noch zu erahnen war, was dort einst gestanden haben mochte, andere Passagen waren jedoch immer noch lesbar:

»Und so geschah es, dass Asmarel und die Acht erneut vor das Tor traten. Er, der geheißen wurde, der Auserwählte, und der nun den Namen trug Verräter. Und seine Getreuen Taugutor, Morglen, Balza’an und die anderen, einst die angesehensten der Salas Kai, jeder der Größte seiner Schule, nun genannt Verdammte. Ihre Pläne vereitelt, ihre Armeen vernichtet, ihre Diener erschlagen von den Brüdern, die nach wie vor im Licht wandelten, blieb ihnen keine Wahl: Das Zaihor zu befreien, hatten sie versucht, Verbannung lautete nun ihr Schicksal. Verbannung in der schwarzen Leere auf der anderen Seite. Und geschlossen wurde das Tor hinter ihnen für die Ewigkeit. Ihre Namen sollten fortan als Warnung dienen, für all jene, die glauben, Arn den Rücken zu kehren und sich dem Zaihor zuwenden zu können.«

Lissina klappte schnell das Buch zu, als sie jemanden eintreten hörte. Es war Ira, die ihr einen guten Morgen wünschte und mit einem Stapel frischer Wäsche beladen auf den Kleiderschrank zuhielt.

Die gelesenen Namen hallten unheilvoll im Kopf der Prinzessin wider. Sie überlegte einen Moment lang, ob es richtig war, sich mit ihren Sorgen an Ira zu wenden, doch wenn sie nicht mit der molligen Amme reden konnte, mit wem dann überhaupt?

»Ira?«, begann sie vorsichtig. »Könnte ich dich etwas fragen?«

Die ältere Frau hielt in ihrer Arbeit inne und warf ihr einen verwunderten Blick über die Schulter zu. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, stand Lissina die Besorgnis deutlich auf die Stirn geschrieben. »Aber natürlich, mein Kind«, antwortete diese einfühlsam, während sie die Wäsche beiseitelegte und zu ihr herüber kam.

»Bedrückt Euch etwas? Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«, fragte sie, die Hände besorgt vor der Brust gefaltet.

»Nein, mir geht es gut«, winkte Lissina ab, rutschte dabei jedoch unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Es ist nur …«

Als Ira das Buch erkannte, das vor ihr auf dem Tisch lag, runzelte sie missbilligend die Stirn. »Der Verräter und die Zeit des Zwistes – nicht gerade die geeignete Lektüre für eine junge Prinzessin. Erst recht nicht an solch einem schönen Morgen. Ihr solltet lieber hinaus an die frische Luft, statt Euch in Eurem Zimmer zu verstecken und die Stimmung von düsteren Geschichten verderben zu lassen. Fürst Gerion wartet sicher schon darauf, dass Ihr Euch zeigt.«

Bei der Erwähnung ihres Freiers verdrehte Lissina genervt die Augen. Es hätte sie auch überrascht, wenn er sie zur Abwechslung mal einen Tag in Ruhe gelassen hätte. Außerdem war sie bereits an der Luft gewesen. Das Horn der Burg hatte sie geweckt, und sie war sofort hinausgeeilt, in der Hoffnung, Cordian sei zurückgekehrt. Doch es hatte lediglich die Ankunft des Grafen Mantredt angekündigt. Der schon etwas betagte Adelige war sicherlich der einflussreichste der keldorischen Grafen, darüber hinaus jedoch eine weitere Person, auf deren Gesellschaft sie getrost verzichten konnte. Es war ihr unbegreiflich, was ihn schon wieder nach Keld führte, war er doch erst im Sommer das letzte Mal zu Besuch gewesen. Wie dem auch sei, sie versuchte, sich ihren Ärger nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, die Amme meinte es schließlich nur gut mit ihr.

Mit einem Blick auf das Buch fragte sie: »Diese Geschichten – glaubst du, sie sind wahr?«

»Aber nicht doch, mein Kind«, wurde sie von Ira getadelt. »Das sind bloß alte Legenden. Niemand weiß mehr, was damals wirklich geschehen ist. Außerdem braucht uns das heutzutage nicht mehr zu kümmern.«

»Aber es gibt doch diese Prophezeiung. Es heißt, Asmarel wird zurückkehren und der Schweif des Drachen wird sein Kommen ankündigen, und …«

Das Kindermädchen schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. »Das ist kompletter Unfug, Kind«, fiel sie der Prinzessin ins Wort. »Es gab immer irgendwelche selbst ernannten Propheten, die vom Weltuntergang predigten, doch keiner hatte jemals recht damit. Eher lernen die Kühe das Eierlegen.«

»Aber wenn Asmarel nun doch …«

Lissina wurde sofort von Ira unterbrochen: »Wird er aber nicht. Und hört endlich damit auf, den Verräter beim Namen zu nennen. Ihr wisst doch, dass es Unglück bringt.«

»Wieso?«, protestierte Lissina. »Ich denke, es sind alles bloß Legenden, wie kann eine Legende Unglück bringen?«

Ira raufte sich beinahe die Haare. »Manchmal ist es wirklich hoffnungslos mit Euch. Wenn Eure Mutter …«

Sie wurde jäh durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Wenn das Gerion ist, reiß ich ihm den Kopf ab, dachte Lissina und bat den Besucher freundlich herein. Zu ihrer Erleichterung war es nur Antoni, der Diener ihres Vaters, der das Zimmer betrat.

»Prinzessin Lissina«, grüßte er sie mit einer angedeuteten Verbeugung, »verzeiht vielmals mein Eindringen, doch Euer Vater schickt mich zu Euch.«

Antoni wahrte immer eine gewisse Höflichkeit, wenn er mit ihr oder ihrem Bruder sprach. Von einem Diener wurde das auch erwartet, doch Lissina kam sich jedes Mal ein wenig komisch dabei vor, von einem Mann, der ihr Großvater hätte sein können, und den sie seit ihrer frühesten Kindheit um sich hatte, derart zuvorkommend behandelt zu werden.

»Mein Vater? Was wünscht er denn?«, fragte sie vorsichtig. Tennlor hatte doch versprochen, sich um das Gitter im Keller zu kümmern. Hatte Garin etwa auf anderem Weg von ihrem nächtlichen Streifzug erfahren?

»Er lässt ausrichten, dass er sich in einer halben Stunde mit seinen Beratern zusammenfindet, und …«

»Ich soll ihn dabei nicht stören«, ergänzte sie gleichmütig. Es war ihm eigentlich nicht zu verübeln, dass er sie nun auf Distanz hielt, nachdem sie ihn am Vortag belauscht hatte. Wenigstens drohte ihr keine Strafpredigt.

»Im Gegenteil«, wurde sie von Antoni überrascht, »er wünscht ausdrücklich Eure Anwesenheit.«

Lissina musste ihn wohl ganz schön dumm angestarrt haben, doch er ließ sich nichts anmerken und gab ihr Gelegenheit, sich zu sammeln, bevor er fortfuhr: »Außerdem dachte er, Ihr würdet vorher gerne die Gelegenheit wahrnehmen, Euch von Tennlor Kai zu verabschieden.«

»Nimmt er denn nicht an der Beratung teil?«, fragte sie erstaunt und sprang auf.

»Er schien es sehr eilig zu haben …«, meinte Antoni entschuldigend.

»Ich bin schon unterwegs«, rief sie aus und schob sich an dem Diener vorbei durch die Tür.

»Aber Kind«, hörte sie Ira rufen, »zieht Euch doch wenigstens etwas Warmes über, es ist windig im Freien …«

 

Sie traf Tennlor im großen Innenhof der Burg, wo er gerade Anstalten machte, den Sattel seines gewaltigen Drachen zu besteigen. Oro selbst schien bereits ungeduldig darauf zu warten, sich in die Lüfte erheben zu können. Die Burg musste ihm bedrückend eng vorkommen, verglichen mit der blauen Weite des Himmels, die sein wahres Element darstellte.

»Warte!«, rief sie und rannte zu ihm. Der Salas Kai hielt inne, als er sie kommen sah, und breitete freundlich die Arme aus.

»Sachte, sachte«, keuchte er, als sie ihm um den Hals fiel und ihn an sich drückte. »Ich bin nicht mehr der Jüngste.«

»Wolltest du etwa gehen, ohne auf Wiedersehen zu sagen?«, fragte sie mit gespieltem Ärger, nachdem sie die Umarmung gelöst hatte.

»Ich dachte schon, du würdest heute gar nicht mehr aus dem Bett kommen. Nachdem, was du gestern erlebt hast, könnte ich es dir jedenfalls nicht übel nehmen«, verteidigte er sich lächelnd.

Lissina schwieg einen Augenblick. Der Abschied machte sie traurig. Gerade in dieser schwierigen Zeit hätte sie Tennlor gerne in ihrer Nähe gewusst, doch sie verstand, warum er gehen musste. Schließlich sagte sie: »Mir ist klar, dass du nicht bleiben kannst, aber könntest du mit der Abreise nicht bis zum Ende der Beratung warten? Deine Meinung wäre sicher wichtig …«

Der Salas Kai schüttelte traurig den Kopf. »Ich fürchte, ich habe jetzt schon zu viel Zeit verloren. Dein Vater weiß alles, was er wissen muss, und glaube mir, er ist in der Lage, sein Reich alleine zu regieren. Es besteht keine Notwendigkeit, dass ich ihm dabei über die Schulter schaue.«

»So war das auch nicht gemeint«, schmollte sie.

»Ich weiß«, gab Tennlor lachend zu und stieg in den Sattel. »Garin hat seine eigenen Berater, und nicht alle wären erfreut, mich zu sehen. Graf Mantredt tut schon den ganzen Morgen alles, um mir aus dem Weg zu gehen. Ich würde letzten Endes mehr stören als nützen.«

»Dein Verdacht, was die Ver…«, sie stockte und sah sich beinahe ängstlich um, »was, du weißt schon, wen, angeht: Hast du meinem Vater davon erzählt?«

»Nein, noch nicht. Ich möchte mir erst Gewissheit verschaffen. Es wäre nicht gut, ihm jetzt noch mehr Sorgen zu bereiten, vor allem nicht solche, die sich – so das Schicksal uns wohlgesonnen ist – als Spinnerei eines alten Mannes erweisen könnten.«

Er machte eine Geste, dass dieses Thema für ihn erledigt war, und verabschiedete sich herzlich: »Leb wohl, kleine Prinzessin.«

»Leb wohl«, erwiderte sie seufzend. Insgeheim fragte sie sich, ob Tennlor wirklich derartige Zweifel an seinen eigenen Vermutungen hegte, oder ob er lediglich wollte, dass sie sich ebenfalls keine Sorgen machte.

»Und richte Fürst Gerion doch meine Grüße aus«, ergänzte der Salas Kai in übertrieben ernsthaftem Tonfall. »Er schien es wohl nicht einrichten zu können, sich persönlich von mir zu verabschieden. Oder von Oro.«

Verwundert sah sie zu ihm auf und musste grinsen, als sie den Schalk in seinen Augen aufblitzen sah.

»Mach, dass du wegkommst!«, rief sie und trat dem Drachen spielerisch in die Seite, was dieser mit einem grollenden Fauchen beantwortete.

Dann erhob sich Oro in die Lüfte und sie brachte sich eilig in Sicherheit, um nicht durch die mächtigen Schwingen von den Füßen gerissen zu werden. Es dauerte nur Augenblicke, dann waren Drache und Reiter über der Mauer und damit aus ihrem Blickfeld verschwunden. Trotzdem stand sie noch eine Weile da und sah ihnen nach. Es versetzte sie jedes Mal von Neuem in Erstaunen, mit welch scheinbarer Leichtigkeit diese gewaltigen Geschöpfe der Schwerkraft trotzten. Wenn es ein Sinnbild für Kraft gab, so waren es die Drachen, und wenn es ein Sinnbild für Weisheit gab, so kam dafür niemand anderes als die Salas Kai infrage. Solange beide über Eddor wachten, drohte ihnen weder von den Verdammten noch von Asmarel persönlich Gefahr, dessen war sie sich sicher.

 

***

 

Das geräumige Beratungszimmer wirkte beinahe zu klein, nachdem sich alle versammelt hatten. Der König hatte für solche Anlässe einen runden Tisch gewählt, sodass sich alle gegenseitig in die Augen sehen konnten und sich jeder Berater den anderen gegenüber gleichwertig fühlen konnte.

Er selbst trug seine Krone und das würdevollste Gewand, das er besaß, um die Wichtigkeit des heutigen Anlasses zu verdeutlichen. Auch die übrigen Anwesenden wirkten mehr oder weniger prunkvoll gekleidet, und Lissina hoffte, dass ihr einfaches Kleid niemandem unangemessen erschien.

Zur Linken ihres Vaters hatte der königliche Schatzmeister Platz genommen. Ein älterer Mann mit langem grauem Schnurrbart, dessen Kopf von einer blauen Filzmütze bedeckt wurde, wie es eher der elteranischen denn der hiesigen Mode entsprach. Direkt neben ihm saßen Balthos Neb, der wohlbeleibte Gildenmeister der Händler, und Brondeg, das schmale, hakennasige Oberhaupt der Handwerkszünfte. Laut Gesetz hatten sie als Vertreter der Bürger der Stadt Keld das Recht, allen Versammlungen, die ihre Interessen betrafen, beizuwohnen. Obwohl es der König in der Vergangenheit nicht immer so genau mit dieser Regelung gehalten hatte, wollte er sie am heutigen Tage offenbar nicht außen vor lassen.

Rechts von ihrem Vater saßen ein Schreiber, der das Protokoll führte, Ritter Arwend mit seiner langen schwarzen Mähne, der in Dankons Abwesenheit als oberster Heermeister fungierte, und Ritter Brann, Arwends rechte Hand. Letzterer war zwar noch ein paar Jährchen jünger als der altgediente Recke, aber kaum weniger respektiert.

Der Letzte in ihrer Runde war ein Mann, der Lissina schon immer etwas unheimlich erschienen war. Er hörte auf den Namen Kladis und war so etwas wie der oberste Spion ihres Vaters. Man bekam den schweigsamen Mann nur selten zu sehen, obwohl er sich die meiste Zeit über in der Burg aufhielt. Über seine Vergangenheit war nichts bekannt, nicht einmal, welchem Stand er angehörte, und über seine Arbeit redete er nur mit dem König. Seine ständig wachsamen Augen schienen die übrigen permanent zu beobachten, und Lissina vermutete, dass er über so manch einen der Anwesenden mehr wusste, als diesem lieb sein konnte.

Als sich die Prinzessin setzte, blieb noch ein Stuhl frei. Sie konnte sich denken, auf wen sie warteten, auch wenn sie nicht besonders glücklich darüber war. Und tatsächlich: Kaum da sie Platz genommen hatte, betrat Graf Mantredt den Raum.

»Ihr seid spät. Setzt Euch doch bitte«, forderte ihn der König auf.

»Ich hoffe, Ihr verzeiht mir, Euer Majestät. Ein Mann in meiner Position hat viele Verpflichtungen einzuhalten, die keinen Aufschub dulden.«

Es klang zwar formell wie eine Entschuldigung, doch Lissina bezweifelte, dass es so gemeint war. Der alte, hagere Graf mit dem schütteren Haar war ihr schon immer etwas eingebildet und wichtigtuerisch vorgekommen. Es war nicht ungewöhnlich für einen keldorischen Grafen, sich des Öfteren am königlichen Hof sehen zu lassen, doch Mantredt verbrachte beinahe mehr Zeit in Keld als auf seinem Landsitz.

Vielleicht hielt er sich für etwas Besonderes, weil sein Hoheitsgebiet das reichste der fünf Provinzen des Landes war. Mit Tambadd fiel die zweitgrößte Stadt des Königreiches in sein Einflussgebiet, und er erzielte die größten Ernteerträge. Das gab ihm aber noch nicht das Recht, sich aufzuführen, als wären alle mit Ausnahme des Königs unter seiner Würde. Wenn sie darüber nachdachte, war er ihr beinahe so unsympathisch wie Gerion, mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass Mantredt sie wenigstens nicht zur Frau nehmen wollte. Ganz im Gegenteil – er beachtete sie gewöhnlich überhaupt nicht, und sie begnügte sich damit, es ihm gleich zu tun.

Auch jetzt schenkte er ihr wenig mehr als einen flüchtigen Blick und fragte stattdessen ihren Vater: »Ist es wirklich notwendig, dass Eure Tochter dieser Besprechung beiwohnt?«

»Prinzessin Lissina ist auf meinen ausdrücklichen Wunsch hier«, kam die deutliche Antwort. »Sie ist Mitglied der königlichen Familie und alt genug, um sich selbst ein Urteil über das zu bilden, was heute Gegenstand der Beratung sein wird.«

Genau das hatte sie von Mantredt erwartet: Er redete einfach über sie hinweg, als wäre sie nicht anwesend! Nicht bereit, sich diese Behandlung gefallen zu lassen, beschloss sie, ihn ein wenig zu sticheln und richtete das Wort an ihn: »Verzeiht, werter Graf, aber Ihr scheint auch keine Zeit gefunden zu haben, Euch bei Tennlor Kai zu verabschieden, bevor er abreiste. Wenn ich mich nicht täusche, hattet Ihr überhaupt keine Gelegenheit, unserem hochgeschätzten Gast Eure Aufwartung zu machen. Eure Verpflichtungen müssen Euch in der Tat sehr in Anspruch nehmen.«

Der Angesprochene funkelte sie kurz böse an, bevor er – in Richtung ihres Vaters – antwortete: »Bei all den Pflichten, die meine Stellung mit sich bringt, bleibt die Höflichkeit leider manchmal auf der Strecke, aber ich war mit einigen dringenden Angelegenheiten meine Heimat betreffend beschäftigt.«

Von wegen, dachte sie. Er war dem Salas Kai bloß aus dem Weg gegangen, weil er es hasste, jemanden mit Respekt behandeln zu müssen, der nicht durch Geburtsrecht auf einer Stufe mit ihm stand. Lissina konnte nicht widerstehen, den Stachel in der Wunde noch einmal herumzudrehen: »Wenn Eure Heimat Euch derart in Anspruch nimmt, wäre es vielleicht das Beste, unverzüglich dorthin zurückzukehren und vor Ort nach dem Rechten zu sehen. Ich bin sicher, Eure Untertanen vermissen Euch bereits …«

Bevor Mantredt zu einer Erwiderung ansetzen konnte, ergriff ihr Vater das Wort: »Ich wäre allen Anwesenden sehr verbunden, wenn wir nun anfangen könnten. Es gilt, wichtige Fragen zu klären und weitreichende Entscheidungen zu treffen.«

Was immer der Graf hatte sagen wollen, er schluckte es herunter. Alle Blicke richteten sich nun auf den König.

»In der Tat«, bemerkte Balthos Neb von der Händlergilde, »ich brenne schon darauf, den Grund für dieses überraschende Treffen zu erfahren. Unser ehrenwerter Graf ist nicht der Einzige, auf den dringende Geschäfte warten.«

Ihr Vater beachtete ihn nicht weiter, sondern wandte sich an die gesamte Runde. »Gestern erhielt ich von Tennlor Kai die Information, dass Norkai in großer Zahl in den Norden des Reiches eingedrungen sind. Es handelt sich um eine Armee größer als jede andere, die seit zwei Generationen ihren Fuß auf unser Gebiet gesetzt hat, und sie beabsichtigen, noch vor dem Winter zuzuschlagen. Keldor befindet sich im Krieg.«

Nach diesen Worten herrschte einige Sekunden Schweigen. Dann redeten plötzlich alle durcheinander. Balthos Neb und Graf Mantredt sprangen von ihren Stühlen auf und Zunftmeister Brondeg trommelte lautstark mit der Faust auf den Tisch. Dem König gelang es nur mit Mühe, seine Berater wieder zur Ruhe zu bringen.

Als alle wieder an ihren Plätzen saßen und sich weit genug beruhigt hatten, wandte ihr Vater sich an Mantredt: »Mir schien, als wolltet Ihr etwas dazu sagen, Graf. Bitte sehr, Eure Meinung interessiert mich außerordentlich.

»Mein König«, begann er sichtlich aufgebracht, »ich respektiere Euer Vertrauen in Tennlor Kai, doch wir sollten nicht auf das Wort eines einzelnen Mannes hin überstürzt den Krieg ausrufen. Wir sollten bedenken, wie unsere Nachbarn reagieren, wenn sich das Ganze als Missverständnis entpuppt. Man könnte es als Akt der Provokation ansehen.«

Balthos Neb nickte eifrig: »Wir sollten erst sicher sein, dass diese Bedrohung auch existiert. Ich will den Salas Kai keinen Lügner schimpfen, aber möglicherweise hat er etwas gesehen, dass es in dieser Form gar nicht gibt. Wir sollten uns hüten, eine Panik heraufzubeschwören.«

Brondeg gab ein zustimmendes Murmeln von sich, und auch die beiden Ritter schienen sich nicht sicher zu sein, was sie von der Sache halten sollten. Arwend gab schließlich zu bedenken: »Die Stämme der Norkai liegen seit Langem im Zwist untereinander. Ich sehe nicht, wie ein einzelner Stamm – oder meinetwegen auch ein Bündnis aus zwei oder drei Stämmen – eine Armee aufstellen sollte, die eine ernst zu nehmende Gefahr für uns darstellen könnte.«

»Ich sehe das genauso«, pflichtete Brann dem anderen Ritter bei. »Wir sollten abwarten, was Dankon uns zu berichten hat, wenn er aus dem Norden zurückkehrt. Vielleicht wissen wir dann mehr.«

Der König musterte prüfend die Runde. »Wenn sonst keiner mehr etwas zu sagen hat«, verkündete er, »erteile ich Kladis das Wort.«

Lissina fiel auf, dass der unheimliche Schatten ihres Vaters der Einzige im Raum war, der noch kein einziges Wort gesprochen hatte. Nicht einmal, nachdem der König den Grund der Zusammenkunft bekannt gegeben hatte. Er hatte einfach ruhig und still dagesessen. Völlig regungslos, abgesehen von seinen ständig hin und her huschenden, wachsamen Blicken.

»Der Salas Kai hat recht«, sagte er. Seiner ruhigen, gefassten Stimme war nicht anzumerken, wie er bei der Sache fühlte. »Erst gestern erhielt ich den Bericht eines Jägers, der behauptete, Norkai verschiedener Stämme beobachtet zu haben, die nach Süden zogen. Ich wollte die Geschichte zunächst auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, doch einschließlich der Aussage Tennlor Kais liegen mir mittlerweile drei unabhängige Berichte vor.«

Betroffenes Schweigen machte sich unter den Beratern breit. Der König wartete einen Moment, bevor er fortfuhr: »Nun, da wir alle wissen, welcher Bedrohung wir uns gegenübersehen, sollten wir uns darüber einigen, wie ihr zu begegnen ist.« Ein Blick in die Runde zeigte, dass niemand Einwände vorzubringen hatte. »Tennlor warnte mich, dass die Barbaren versuchen würden, Keld direkt anzugreifen. Sie folgen einem Khan, der sich Barail za Apoch nennt. Diesem Mann wird offenbar einiges nachgesagt, was ich nicht alles für bare Münze nehme. Fest steht jedoch, dass es ihm gelungen ist, nahezu alle großen Stämme zu vereinen, was ihn ausgesprochen gefährlich macht. Ich bin sicher, er ist ein fähiger Anführer, und wir sollten keinesfalls den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen, oder die Norkai unter seiner Führung bloß als undisziplinierte Wilde ansehen.«

Er sah jedem Einzelnen tief in die Augen, um seine Worte sacken zu lassen, dann fuhr er fort: »Ritter Arwend, in Dankons Abwesenheit seid Ihr mein oberster Heermeister. Welche Strategie schlagt Ihr vor, um das Königreich zu verteidigen?«

Der dunkelhaarige Ritter brauchte anscheinend nicht lange zu überlegen. Er tauschte einen schnellen Blick mit Brann und erklärte: »Der Narral wird in diesem Krieg der Schlüssel zum Erfolg sein. Er teilt Keldor von Ost nach West. Wenn wir verhindern können, dass die Barbaren südlich des Flusses Fuß fassen können, brauchen wir nur den Winter abzuwarten. Sie sitzen dort oben in den Bergen fest und werden Schwierigkeiten mit Nachschub und Verpflegung bekommen. Wir können unsere Position verstärken und sie zurücktreiben, wenn der Frühling kommt. Zu diesem Zeitpunkt wird ihre Moral einen vorläufigen Tiefpunkt erreicht haben.«

»Wer hindert sie daran, den Fluss im Nordosten zu umgehen?«, warf Mantredt dazwischen.

»Sollten sie das versuchen«, fuhr der Ritter in eindringlichem Ton fort, »würde es Wochen dauern und ihre Nachschublinien derart ausdünnen, dass wir sie problemlos abschneiden könnten. Nein, glaubt mir: Sie werden versuchen, den Narral zu überqueren, und genau das müssen wir verhindern.«

»Im Prinzip könnten sie überall versuchen, dies zu tun, indem sie Flöße oder Brücken bauen«, ergänzte Brann, »doch das würde viel Zeit in Anspruch nehmen und außerdem nicht unbemerkt geschehen. Es gibt nur drei Möglichkeiten, den Fluss schnell zu überqueren. Die obere und die untere Brücke sowie die Furt bei Dornthal. Die Brücken zu erobern, können sie nur hoffen, wenn sie völlig unerwartet zuschlagen, denn ansonsten wäre es uns ein Leichtes, sie einfach zu zerstören. Die Furt eignet sich jedoch hervorragend als Angriffsziel, weshalb wir unsere Kräfte dort konzentrieren sollten.«

Lissina staunte mit offenen Augen darüber, wie schnell die Ritter die Lage einzuschätzen wussten. Auch ihr Vater schien zufrieden zu sein.

»Sehr gut«, erklärte der König. »Was braucht Ihr für diese Aufgabe?«

»Wenn die Gefahr wirklich so groß ist«, antwortete Arwend, »brauche ich vor allem mehr Männer. Wir müssen Milizen aufstellen, und zwar in großem Umfang. Und wir brauchen die Unterstützung der Provinzen.«

»Die werdet Ihr erhalten«, entschied der König. »Graf Mantredt, was schätzt Ihr, wie viele Männer ihr beisteuern könnt?«

Der Angesprochene machte eine nichtssagende Geste und antwortete: »Vielleicht zweitausend …«

»Zweitausend?«, polterte Arwend. »Das ist lächerlich.«

»Es könnten auch mehr sein, aber dann müsste ich die Bauern von den Feldern abziehen und sie könnten ihre Ernte nicht mehr einbringen«, verteidigte sich der Graf schlecht gelaunt.

»Schickt Boten aus«, wies ihn der König an. »Die Bauern haben eine Woche Zeit, alles einzubringen, was erntereif ist. Spätestens dann hat sich jeder Mann, der eine Waffe benutzen kann, bei der Armee zu melden.«

»Es könnte auch nicht schaden, unsere Verbündeten um Beistand zu ersuchen«, bemerkte Arwend. »Ich glaube nicht, dass wir ihre Hilfe wirklich benötigen, aber wir sollten auf alles vorbereitet sein.«

»Das wird nicht so einfach, fürchte ich.« Es war Kladis, der sich zu Wort gemeldet hatte. »Fant rüstet an der Ostgrenze gegen Brascheer. Von ihnen können wir keine Hilfe erwarten. Und Tarbor? Wie man hört, ist im Land eine schlimme Seuche ausgebrochen; die werden sehr bald genug eigene Probleme haben und ihre Soldaten brauchen, um die öffentliche Ordnung zu bewahren. Eltera würde sicher Hilfe schicken, doch bis diese eintrifft …« Er sprach nicht weiter, sondern zuckte nur mit den Schultern.

Die schlechten Nachrichten, die Kladis brachte, schienen ihm selbst keine Sorgen zu bereiten. Lissina fragte sich nicht zum ersten Mal, was in dem Mann vorging und ob seine nach außen getragene Gelassenheit vielleicht bloß Fassade war. Ihr Vater schien einen Moment über seine Worte nachzudenken. »Ich werde trotzdem Boten schicken«, entschied er schließlich, »die entsprechenden Vorbereitungen wurden bereits getroffen.«

»Mein König, wenn Ihr erlaubt?« Es war der Schatzmeister, der das Wort ergriff. Garin machte eine Geste und ließ ihn fortfahren. »Eine Unternehmung wie diese ist mit einem beträchtlichen logistischen Aufwand verbunden. Die Truppen brauchen Waffen und Verpflegung sowie zahlreiche Kriegsmaterialien. Das Ganze verursacht naturgemäß hohe Kosten. Ich schlage daher die sofortige Erhebung von Kriegsabgaben vor.«

»Rechnet aus, wie viel wir brauchen«, stimmte der König zu.

Balthos Neb, der neben dem Schatzmeister saß, schien mit dieser Idee jedoch gar nicht einverstanden zu sein: »Kriegsabgaben? Damit ruinieren wir meinen Leuten das Geschäft!«, beschwerte er sich mitleidheischend. »So etwas können wir unmöglich machen, die letzten Jahre waren schon schwierig genug.«

Den Schatzmeister beeindruckten die Argumente des Händlers offensichtlich wenig: »Das fällt schwer zu glauben, wenn man Euch so anschaut«, antwortete er mit einem vielsagenden Blick auf dessen Leibesfülle, »aber vielleicht denkt Ihr ja, das Geschäft liefe besser, wenn die Norkai Eure Lagerhäuser geplündert haben …«

»Das ist eine Unverschämtheit«, erboste sich der Gildenmeister. »Ich protestiere aufs Schärfste …«

»Euer Protest ist hiermit zur Kenntnis genommen und abgewiesen worden«, brachte ihn der König zur Ruhe. »Bevor wir nun auf Einzelheiten zu sprechen kommen, gibt es noch eine Sache, die mir am Herzen liegt: Wie die meisten wissen, befindet sich mein Sohn zusammen mit Dankon und einigen anderen Rittern nördlich des Narral. Ich möchte, dass Ihr, Ritter Arwend, unverzüglich ein paar Eurer besten Männer zur oberen Brücke entsendet. Sie sollen herausfinden, ob sie bereits zurück sind, und wenn nicht, dort warten, bis sie eintreffen und sie dann schnellstens hierher eskortieren. Wir können nur hoffen, dass die Norkai nicht zuerst dort sind und wir die Brücke zerstören müssen.«

»Zu Befehl, mein König.« Damit entschuldigte sich der Ritter und überließ es Brann, für ihn zu sprechen. Lissina blickte ihm nach und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass seine Männer mit guten Nachrichten zurückkehren würden. Am liebsten wäre sie selbst losgeritten, um in den Bergen nach den Vermissten zu suchen, doch sie wusste, wie aussichtslos eine solche Unternehmung gewesen wäre.

Was den Rest der Beratung anging, so hörte sie nur mit einem Ohr zu und verlor bald völlig das Interesse, als die verschiedenen Berater anfingen, über Detailfragen zu debattieren. Normalerweise ließ ihr Vater sie nicht an derartigen Besprechungen teilnehmen, und normalerweise war ihr das auch ganz recht. Doch diesmal ging es unter anderem um ihren Bruder, und ihr Vater hatte sich wohl dafür revanchieren wollen, sie am gestrigen Abend nicht eingeweiht zu haben. Was hier besprochen wurde, war natürlich wichtig, doch sie konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren. Ihre Gedanken waren bei Cordian …

 

7

Die Sonne stand hoch am Himmel, doch ihre Strahlen reichten nicht aus, um die Wärme in die tauben Glieder des alten Ritters zurückkehren zu lassen. Sein Atem ging rasselnd und sein Blick trübte sich zunehmend. Den ganzen Morgen hatten er und die anderen Gefangenen sich dabei verausgabt, den blasphemischen Hordenstein zu errichten. Jetzt, da er stand, gab man ihnen – zumindest denjenigen, die noch nicht unter der Belastung zusammengebrochen waren – Gelegenheit, zu verschnaufen. Ihre Füße waren immer noch zusammengekettet, Wasser gab es nicht, doch wenigstens schwiegen die Peitschen.

Eine letzte Galgenfrist, mehr nicht. Für das Weiheritual brauchten die Norkai Gefangene, die lebend geopfert wurden. Er wusste nicht, ob er bis dahin durchhalten würde; sein Tod war nahe, so oder so. Und er war bereit für ihn.

»Rugem«, flüsterte jemand in seiner Nähe. Seinen eigenen Sinnen misstrauend, bewegte der Ritter vorsichtig den Kopf, um den Sprecher auszumachen. Strähnen seines weißen Haares, die an seiner feuchten Stirn klebten, behinderten ihm die Sicht. Niemand hier kannte seinen Namen, niemand wusste, wer er war. Was hatte das zu bedeuten? Er spürte, wie sich jemand an den Ketten zu schaffen machte. Etwas klickte und seine Füße waren plötzlich frei. Dann schob sich ein bekanntes Gesicht vor seine Nase.

»Cordian«, wisperte er schwach, die Augen zusammenkneifend, »das ist unmöglich, du kannst nicht hier sein.«

»Ich bin es, Rugem«, sprach der Prinz gedämpft und schüttelte ihn leicht, als sein Blick ins Leere zu gleiten begann.

»Nein, du bist längst auf halbem Weg nach Keld. Du und dieses Mädchen. Ich muss träumen …«

»Wir mussten einen kleinen Umweg machen. Und jetzt bin ich hier. Um dich zu befreien. Dich und die anderen. Ich lasse nicht zu, dass sie euch abschlachten wie Vieh. Diese Bastarde haben schon genug Menschen auf dem Gewissen.«

Rugem schüttelte müde den Kopf. »Sieh dich doch mal um, Junge. Keiner von uns ist in der Lage, zu fliehen, mich eingeschlossen. Und kämpfen kommt erst recht nicht infrage. Diese Leute sind einfache Bauern, und es sind viel zu viele Norkai in der Nähe …«

Cordians Blick glitt unsicher über die lange Reihe der Gefangenen, die erschöpft im Dreck lagen, mit den Rücken gegen ein paar Säcke und Kisten gelehnt, die Köpfe gesenkt. Der Ritter glaubte, zu erkennen, dass ihm nun doch Zweifel kamen.

»Verschwinde hier«, beschwor er ihn. »Rette dich, solange du noch kannst. Lass den alten Mann hier in Ruhe sterben.«

»Nein«, widersprach der Prinz energisch. »Ich werde dich nicht zurücklassen. Es muss einen Weg geben …«

»Cordian, pass auf!«, hustete Rugem, als er bemerkte, wie sich hinter dem Jungen ein Schatten aufbaute.

Cordian reagierte mit den Reflexen eines Kriegers. Er sprang auf und rammte dem Barbaren, ohne sich vorher nach ihm umzusehen, den Ellenbogen in den Leib. Mit einem schmerzerfüllten Keuchen taumelte der Norkai rückwärts, doch auch Cordian stöhnte gepeinigt auf und hielt sich den Arm, was dem alten Ritter nicht entging. Die Barbarenkleidung, die er trug, musste eine Verletzung verbergen, die er sich dort zugezogen hatte.

Die Hand des Prinzen glitt zu seinem Schwert, doch bevor er die Waffe ziehen konnte, wurde er von starken Armen gepackt und zu Boden geworfen. Drei Männer stürzten sich auf ihn und einer schlug ihm so hart gegen den Kopf, dass er reglos zusammensackte.

 

***

 

Rasende Kopfschmerzen waren das erste, was Cordian spürte, als er zu Bewusstsein kam. Er schmeckte getrocknetes Blut auf seinen Lippen und stellte fest, dass er seine Arme nicht bewegen konnte. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo er sich befand. Man hatte ihn im Inneren eines großen Zeltes aufrecht an einen massiven hölzernen Pfosten gefesselt. Der Boden war mit Fellen ausgekleidet und der Eingang war mit einer Plane verhängt. Rugem war auch da, an einen gleichartigen Pfosten ein paar Schritte links von ihm gebunden. Er lebte, wie Cordian erleichtert feststellte, wenn er im Augenblick auch nicht bei vollem Bewusstsein war. Den Norkai bemerkte er erst, als dieser ihm mit dem Handrücken gegen die Wange schlug.

»Willkommen unter den Lebenden, Junge«, knurrte eine raue Stimme in gebrochenem Elteranisch. »Du bist nur deshalb noch nicht tot, weil du etwas wissen könntest, das wichtig für mich ist. Etwas, das mich in der Achtung des Kahns steigen lassen könnte.«

Das Pochen in seinem Schädel ignorierend, hob Cordian vorsichtig den Blick. Sein Gegenüber war ein wahrhaft breitschultriger Kerl, dessen kantiges Gesicht von einer wilden Mähne und einem geteilten Kinnbart eingerahmt wurde. Eine hässliche Narbe zog sich über seine linke Wange, und eines seiner Augen wirkte trüb und glasig. Wahrscheinlich war es blind. Er trug die gleiche Fell- und Lederkleidung wie die anderen Norkai, jedoch war die seine reichlich mit Trophäen, insbesondere mit den Zähnen verschiedenster Tiere behängt. Dies verriet, dass es sich bei ihm um einen erfolgreichen Jäger beziehungsweise Krieger handelte – die Norkai unterschieden nicht großartig zwischen beiden –  und er vermutlich die Position eines Anführers einnahm. Ein menschliches Ohr befand sich ebenfalls unter den Trophäen …

»Bei Arn«, brachte Cordian mit kratziger Stimme hervor, »deine Mutter muss wirklich traurig gewesen sein, als sie dich nach deiner Geburt erblickte.«

Der Schlag traf ihn härter als der erste, und er schmeckte frisches Blut auf seiner Zunge. »Dein Humor wird dir schon vergehen, du dreckige Ratte!«

Der Norkai packte ihn bei den Haaren und zwang den Prinzen, ihn direkt anzusehen. Ihre Gesichter waren sich jetzt so nahe, dass Cordian seinen schlechten Atem roch. Hinter ihm standen zwei weitere Krieger mit verschränkten Armen, die kaum weniger gefährlich aussahen als das Narbengesicht.

»Der Khan sucht ein Mädchen. Ein ganz besonderes Mädchen. Und ich glaube, du weißt, wo sie stecken könnte«, grunzte der Norkai.

Er dachte gar nicht daran, dem anderen irgendetwas zu verraten. Seine Lage schien fürwahr aussichtslos, aber wenn er schon abtreten musste, dann wenigstens erhobenen Hauptes: »Wenn der Khan ein Mädchen sucht, soll er doch deine Schwester nehmen, oder sind eure Frauen nicht hübsch genug?«

Der Barbar knurrte gefährlich und Cordian spürte auf einmal Stahl an seinem Hals. Einen Augenblick lang glaubte er, den Bogen überspannt zu haben. Dann senkte der Krieger die Klinge.

»Sie reist mit einem Südländer, dessen Beschreibung genau auf dich passt. Weißt du nun, wo sie sich versteckt?«

»Foltert mich doch und findet es heraus«, forderte Cordian ihn auf.

»Oh, das werden wir. Aber mit ihm fangen wir an!« Der Barbar riss seinen Kopf hart herum und deutete auf den gefesselten Rugem. »Du hast eine Menge riskiert, um ihn zu befreien. Ich glaube kaum, dass du ihn sterben sehen willst …«

Er schwieg einen Augenblick, um seine Worte wirken zu lassen. »Meine Männer finden das Mädchen sowieso früher oder später. Wenn du uns hilfst, schenke ich euch die Freiheit, wenn nicht …«

Der Norkai ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. »Wenn ich das nächste Mal komme, redest du oder lauschst seinen Schreien!«

Er drehte sich um, gab seinen Männern einen kurzen Befehl in ihrer Muttersprache und verließ mit ihnen das Zelt. Cordian und Rugem blieben allein zurück.

 

In Cordians Kopf drehte sich alles. Sein Plan war völlig schief gegangen. Statt den Ritter und die restlichen Gefangenen zu befreien, lag er nun selbst in Ketten. Wenn er hier doch noch irgendwie lebend herauskommen wollte, musste er sich dringend etwas einfallen lassen. Er war in keiner guten Verfassung und Rugem noch weniger. Er konnte nur hoffen, dass Tao sich an seine Anweisungen gehalten und schnellstmöglich das Weite gesucht hatte.

Hilfe suchend blickte er in Richtung des alten Ritters. Für einen guten Vorschlag hätte er jetzt wirklich offene Ohren gehabt.

»Hör nicht auf sie«, sprach Rugem plötzlich und öffnete die Augen.

»Du bist wach!«, stellte Cordian überrascht fest. »Du hast alles mit angehört?«

»Das habe ich. Doch ich hielt es für besser, mich nicht einzumischen. Du hast schließlich genug Höflichkeiten für uns beide ausgetauscht. Wo ist das Mädchen?«

»Auf halbem Weg nach Keld, wie ich hoffe«, antwortete er, die früheren Worte des Ritters benutzend.

»Ganz allein?«

Cordian versuchte, mit den Schultern zu zucken, was ihm aufgrund der Fesseln nicht so recht gelang. »Sie ist fähiger, als du vermutlich denkst. Sie wird es schaffen.«

Der alte Ritter musterte ihn zweifelnd, sagte jedoch nichts.

»Es muss eine Möglichkeit geben, wie wir beide hier herauskommen«, drängte der Prinz. »Wenn wir es irgendwie zu den Pferden schaffen könnten …«

»Hör zu«, unterbrach ihn Rugem, »du musst mich zurücklassen. Wenn sich dir die Gelegenheit zur Flucht bietet, hast du allein bessere Chancen. Ich würde dich nur aufhalten.«

»Was redest du da?«, widersprach Cordian. »Ich sagte bereits, ich werde dich auf keinen Fall dem sicheren Tod überantworten.«

»Ich sollte schon längst tot sein. Ich hätte im Kampf sterben sollen! Nur durch die Laune des Schicksals bin ich noch am Leben. Ich wurde unter dem Körper einer Bestie begraben. Nachdem alles vorüber war, fanden sie mich und entschieden, dass ich die Mühe nicht wert sei, getötet zu werden.« Verbitterung lag in seiner Stimme. »Das Schicksal eines Ritters ist, in der Schlacht zu fallen und nicht in der Sklaverei langsam zu verenden. Ich begrüße den Tod.«

Beide schwiegen daraufhin. Cordian starrte eine Weile nachdenklich zu Boden. »Was ist mit den anderen?«, fragte er schließlich.

Rugem schüttelte traurig den Kopf. »Ich war der Einzige.«

Wieder schwiegen sie.

»Diese verdammten …«, warf Cordian irgendwann in die Stille, doch ein Rascheln hinter ihnen ließ ihn sofort innehalten.

Rugem hatte es auch gehört, wie ihm ein schneller Blickwechsel zeigte, doch keiner konnte seinen Kopf weit genug drehen, um die Quelle des Geräusches auszumachen. Dennoch spürte er, dass dort jemand war.

Cordian versuchte, seine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen, als er rief: »Wer immer da ist, er möge vor mich treten und mir ins Gesicht sehen!«

Es gab wirklich keinen Grund, sich an zwei Gefangene anzuschleichen, die mit Händen und Füßen an Holzpfähle gefesselt waren. Vermutlich handelte es sich nur um eine Ratte, und er machte sich gerade lächerlich, doch das war ihm im Augenblick herzlich egal.

Tatsächlich trat auf seine Aufforderung hin eine Gestalt in sein Gesichtsfeld, doch er weigerte sich einfach, zu glauben, wen seine Augen erblickten.

»Tao!«, stieß er hervor und verschluckte sich dabei um ein Haar. Rugem seufzte im Hintergrund resigniert.

»Cordian«, begrüßte sie ihn fröhlich. Dann machte sich Besorgnis auf ihrem Gesicht breit. »Du bist noch mehr verletzt«, erkannte sie und trat näher. Sie nahm ihn vorsichtig beim Kinn und tastete über seine Wange.

Er zuckte unwillkürlich ein wenig zusammen, wehrte jedoch ab. »Das ist nichts. Wirklich, mir geht es gut.«

Sie trat einen Schritt zurück, und er bemühte sich, seinen strengsten Blick aufzusetzen. »Ich hatte dir doch befohlen, dich in Sicherheit zu bringen, sollte mir etwas zustoßen. Wie kann es sein, dass du immer noch hier bist?«

Bildete er sich das bloß ein oder wirkte sie tatsächlich ein wenig stolz, als sie antwortete: »Du hast mir beigebracht, dass man einen Befehl auch mal missachten muss …«

Seine Kinnlade musste in diesem Moment wohl ziemlich hinuntergesackt sein. Sie hatte recht: Genau das waren seine Worte gewesen, doch dass sie derart schnell auf ihn zurückfielen, hatte er nicht im Traum erwartet.

Rugem schnaufte vernehmlich, womit er zeigte, dass er sich seinen Teil dazu dachte, und Cordian hatte Mühe, bei seiner nächsten Frage nicht ins Stottern zu geraten: »Und wie bei allen Dämonen des Zaihor hast du es fertiggebracht, dich hier hereinzuschleichen, ohne entdeckt zu werden?«

»Ich habe dir zugesehen, wie du es gemacht hast«, antwortete sie ohne eine Spur von Ironie in der Stimme.

Der Prinz und der Ritter wechselten kurz ungläubige Blicke. Er hatte sein gesamtes Können aufbieten müssen, um unbemerkt von Wachposten und Spähern in das Lager zu gelangen, hatte weit über eine Stunde dafür gebraucht und war am Ende doch geschnappt worden. Tao musste wahrlich göttlichen Beistand gehabt haben …

Oder es gab wirklich eine Menge, was er nicht über sie wusste. Während er noch grübelte, fuhr sie fort: »Ich wollte nicht, dass die Norkai dir etwas antun, deshalb bin ich gekommen. Draußen wird es bald dunkel und du sagtest, bei Sonnenuntergang findet die Opferung statt.«

»Hast du etwas, um unsere Fesseln durchzuschneiden?«, fragte Cordian, der langsam akzeptierte, dass sie wirklich hier war und in voller Lebensgröße vor ihm stand und nicht etwa seiner Einbildung entsprang.

Das Mädchen blickte ihn verdutzt an, als wäre ihr der Gedanke noch gar nicht gekommen. Dann hatte sie offensichtlich einen Einfall und zog das Jagdmesser hervor, das er ihr überlassen hatte.

»Geht das?«, fragte sie.

»Du bist unglaublich«, lobte er sie.

Langsam schien die Freiheit in greifbare Nähe zu rücken. Cordian bemerkte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Wenn das Glück sie jetzt nicht verließ, konnten sie es schaffen. »Ihn zuerst«, forderte er sie auf und deutete mit dem Kopf in Richtung des Ritters. »Beeilung, dieser hässliche Häuptling wird sicher bald zurückkommen.«

Ohne zu zögern, eilte Tao an die Seite des alten Kämpfers. Sie hatte die Klinge bereits angesetzt, da erstarrte sie plötzlich. »Jemand kommt«, flüsterte sie alarmiert.

»Was?«, fragte Rugem, der genauso wenig gehört hatte wie Cordian. Doch schon wenige Herzschläge später schien draußen ein gewisser Tumult einzusetzen.

»Es ist der böse Mann«, hauchte Tao.

»Derselbe wie vorhin?«, wollte Cordian wissen.

»Nein, schlimmer.«

Rugem beschloss, die Warnung ernst zu nehmen: »Steck das Messer in meinen Gürtel, Mädchen. So, dass man es nicht sieht. Und dann versteck dich – schnell!«

Sie tat, wie ihr geheißen, und huschte hinter ein paar Säcke, die jemand in einer schattigen Ecke aufgestapelt hatte. Keine Sekunde zu früh: Die Plane, die den Eingang verdeckte, wurde zurückgeworfen und zwei Krieger betraten das Zelt, um zu beiden Seiten der Öffnung Stellung zu beziehen.

Dann tauchte eine Person auf, bei deren Eintreten sich sämtliche Nackenhaare des Prinzen aufrichteten. In eine weite Robe gehüllt war, außer einem Paar eiserner Handschuhe, nur das Gesicht zu erkennen. Fremdartige Runen, mit einem scharfen Werkzeug in die bleiche Haut geritzt, umgaben die blutverkrusteten Löcher, die einst seine Augen gewesen sein mussten, und nahmen seinem Antlitz alles Menschliche. Es war der Entstellte!

Er drehte den Kopf von der einen zur anderen Seite, als wolle er den Raum ungeachtet seiner Blindheit mit Blicken erfassen. Seine leeren Augenhöhlen blieben an Cordian hängen, und dieser war sich auf einmal sicher, dass sein Gegenüber ihn sehen konnte. Es war ein Gefühl, das einen kalten Schauer seinen Rücken hinunter trieb.

Hinter dem Augenlosen betrat der narbengesichtige Anführer der Norkai das Zelt. Er verbeugte sich unterwürfig vor der grässlichen Gestalt und deutete dann mit einer Geste auf die Gefesselten.

»Der Gefangene und der Junge, der ihn befreien wollte.«

Ohne den Barbaren auch nur zu beachten, trat der Entstellte direkt vor Cordian. Dann begann er mit unheimlich krächzender Stimme zu sprechen: »Du bist ein interessanter, junger Mann. Du hast es geschafft, dich meinem Zugriff mit großem Geschick zu entziehen. Für eine Weile.«

Cordian schluckte schwer. Allein die Stimme des Fremden reichte aus, dass sich etwas in ihm unangenehm zusammenzog. Doch es war nicht nur die Stimme: Alles an diesem Mann schien ihn abzustoßen, als besäße dieser eine Art von widernatürlicher Aura, die seinen Körper wie ein surrender Fliegenschwarm umgab.

Der Entstellte fuhr indes ungerührt fort: »Doch du bist es nicht, den ich suche. Ich will das Mädchen, mit dem du geflohen bist.«

»Dann seid Ihr der Khan?«, brachte Cordian mühsam hervor.

»Der Khan?« Der Fremde lachte hässlich. »Nein, ich bin nicht der Khan. Aber er und ich dienen letztlich demselben Herrn. Also, wo ist sie?«

»Sie ist längst über alle Berge.« Es kostete ihn große Kraft, den Augenlosen anzulügen. Es war, als würde sein leerer Blick direkt in sein Innerstes sehen können.

»Das ist sie nicht«, stellte sein Gegenüber ungerührt fest und begann, langsam im Raum hin und her zu gehen. »Sie hat sie gesehen. Ihre allsehenden Augen sind auf ihre Spur gestoßen und haben mich hierher geführt. Sie ist ganz nah, ich spüre es.«

Er blieb vor den Säcken stehen, hinter denen sich Tao versteckte, und Cordian hielt den Atem an.

Der Entstellte blickte sich suchend um, doch seine Aufmerksamkeit wurde in diesem Moment vom Anführer der Norkai auf sich gezogen, der fragte, was mit den Gefangenen geschehen solle.

»Diesen da schafft fort«, ordnete der Augenlose an und deutete auf Rugem. »Er ist nicht weiter wichtig. Um den Jungen kümmere ich mich selbst.«

Die beiden anwesenden Krieger packten auf einen Wink des Narbengesichtes hin den Ritter von beiden Seiten und lösten seine Fesseln, um ihn transportieren zu können. Der geschwächte Körper des alten Mannes sackte beinahe in sich zusammen, und die Norkai mussten ihn stützen, damit er gehen konnte. Ein kurzer Blick Rugems verriet Cordian jedoch, dass noch weit mehr Kraft in seinen Knochen steckte, als er den Barbaren glauben machen wollte.

Sie hatten noch keine zwei Schritte getan, da stieß Rugem einen der Wächter von sich, zog das versteckte Messer und schlitzte dem anderen die Kehle auf, bevor der überhaupt bemerkte, was vor sich ging.

»Tao, befreie den Prinzen, schnell!«, brüllte er und warf dem Mädchen, das hinter den Säcken hervorsprang, das Messer zu.

Sobald der einäugige Norkai mit der hässlichen Narbe begriff, was los war, brüllte er sofort lautstark in seiner Muttersprache nach Verstärkung. Viel Zeit würde ihnen nicht bleiben. Als der Entstellte Tao gewahr wurde, hielt er für einen Moment beinahe andächtig inne und sprach schließlich: »Ich wusste es. Jetzt gehörst du uns!«

Das Mädchen fing das ihr zugeworfene Jagdmesser mit spielerischer Leichtigkeit und einen Wimpernschlag später war Cordian frei. Sofort stellte er sich schützend zwischen Tao und den Entstellten, der mit ruhigen Schritten zielstrebig auf sie zu kam.

»Das Messer«, raunte er und streckte eine Hand nach hinten, um die Klinge entgegenzunehmen. Als er den kühlen Griff auf der Handfläche spürte, riss er die Waffe nach vorne und schrie: »Keinen Schritt näher, Scheusal! Ich schwöre bei Arn, ich werde sie mit meinem Leben verteidigen.«

Die Antwort des Augenlosen bestand nur aus einem höhnischen Krächzen.

Weder die Drohungen Cordians noch der Stahl in seiner Hand schienen ihn zu beeindrucken, denn er verlangsamte weder seinen Schritt noch zog er seinerseits eine Waffe. Als er plötzlich aus dem Tritt kam und stehen blieb, zuckte der Prinz vor Schreck zurück: Die blutige Spitze eines Speeres ragte dem unheimlichen Gegner aus dem Bauch.

Rugem hatte sich von hinten genähert und ihn mit der Waffe des getöteten Kriegers regelrecht aufgespießt. »Für Keldor, du Bastard!«, knurrte der Ritter mit grimmiger Befriedigung.

Die Antwort des Augenlosen bestand aus einem zornerfüllten Brüllen, das keinem Laut glich, den Cordian je aus einer menschlichen Kehle vernommen hatte. Der narbengesichtige Norkai hatte ein Schwert gezogen, doch anstatt einzugreifen, wich er unsicher ein paar Schritte zurück. Auch der Krieger, den Rugem zu Beginn weggestoßen hatte, hielt so viel Abstand, wie er konnte, die eigene Waffe abwehrend vor sich haltend.

Der alte Ritter zog den Speer mit einem Ruck aus dem Leib des Durchbohrten, doch dieser fiel nicht. Schwankend drehte er sich herum und machte einen Schritt auf Rugem zu. Dieser stieß erneut zu, diesmal von vorne. Wieder trieb er den Speer durch den Körper seines Widersachers, bis die Spitze zwischen dessen Schulterblättern hervorbrach.

Cordian beobachtete mit Entsetzen, wie sich die Arme des Entstellten hoben und seine Hände den Hals des Ritters umschlossen. Unnatürliche, purpurrote Flammen begannen plötzlich, über den Körper des tödlich Verwundeten zu tanzen, brannten sich durch seine Robe und ließen die bleiche Haut langsam verschmoren.

Hitze schlug Cordian entgegen. Die Flammen waren dabei, sich auszubreiten. Sie griffen auf die Kleidung des Ritters über, der vor Schmerzen aufschrie, und sie steckten die Felle in Brand, die den Boden bedeckten. Vor dem Eingang waren zahlreiche Norkai zusammengekommen, doch sie wagten es nicht, das Zelt zu betreten. Das Narbengesicht und der verbliebene Krieger wandten sich zur Flucht, während Cordian fieberhaft überlegte, was er tun sollte.

Der Entstellte umklammerte Rugems Hals noch immer mit eisernem Griff. Unter großer Mühe brachte dieser hervor: »Flieht, solange ihr noch könnt!«

»Aber …« setzte Cordian an.

»Mein Weg endet hier«, hustete der Ritter. »Deiner beginnt gerade erst. Jetzt flieht!«

Ein wütendes Krächzen entfuhr der Kehle seines brennenden Widersachers: »Lauft, so weit ihr könnt, Narren. Es gibt kein Entkommen. Das Zaihor sammelt sich hinter den Grenzen der Zeit und seine Ankunft wird eure Ordnung zerschmettern! Der Tod wartet auf euch, wo ihr euch auch verkriecht!«

Seine letzten Worte gingen beinahe im Prasseln des Feuers unter. Cordian griff nach Taos Hand und zerrte sie zur Rückwand des Zeltes. An derselben Stelle, an der sie hineingelangt war, krochen sie unter der Plane hinaus ins Freie. Die Sonne war gerade im Begriff, hinter den Bergen zu versinken und tauchte das Lager in düsteres, rötliches Licht.

Sie waren eben ein paar Schritte davon gestolpert, da fraßen sich die geisterhaft purpurnen Flammen mit unglaublicher Wut durch das Dach des großen Zeltes und züngelten hoch in den dunkler werdenden Himmel. Der Schnee war bereits im weiten Umkreis geschmolzen. Einige Norkai bemerkten ihre Flucht, beachteten sie aber anscheinend nicht. Die meisten lagen wimmernd auf den Knien und beteten zum Himmel oder zur Erde, sie zu verschonen, archaische Schutzamulette abwehrend Richtung Feuer haltend.

»Zu den Pferden!«, entschied Cordian, und kurz darauf saßen sie im Sattel. Schon liefen einige Barbaren auf sie zu und gestikulierten wild in ihre Richtung. Sie waren nicht außer Gefahr, solange sie nicht die Brücke erreicht hatten. Die Brücke. Ein kurzes Gebet für den tapferen Ritter sprechend, galoppierte Cordian los und trieb sein Tier den dunklen Silhouetten der südlichen Berge entgegen.

 

8

»Lissina?«

Als auf sein Klopfen niemand antwortete, beschloss der König, einzutreten. Die Beratungen hatten sich mit Unterbrechungen bis in den späten Nachmittag hineingezogen. In einer der Pausen hatte sich die Prinzessin entschuldigt und zurückgezogen.

Er hatte ihr deutlich ansehen können, dass eine schwere Last auf ihrem Herzen lag. Es war wohl vor allem die Sorge um ihren Bruder, die sie bedrückte, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass da noch mehr war. Ein Königreich zu regieren, war nicht immer einfach, doch Vater zu sein, erwies sich oft als noch schwieriger …

Er sah sich um. Lissina war nicht in ihrem Zimmer. Das Himmelbett stand leer und niemand saß auf dem Stuhl am Fenster oder stand vor dem großen, kostbaren Spiegel.

Der Spiegel. Er hatte einst Elanora, seiner geliebten Frau, gehört. Wenn Lissina wüsste, wie ähnlich sie ihr sah. Sie brauchte sich nur davor zu stellen und konnte das Abbild ihrer Mutter in Lebensgröße vor sich sehen. Sie hatte das gleiche, sanft gelockte blonde Haar, die gleichen neugierigen, blaugrauen Augen, und ihre schlanke Figur war der seiner verstorbenen Gemahlin so ähnlich, dass ihr sogar ihre Kleider wie maßgeschneidert passten. Lissina kam so sehr nach ihrer Mutter, wie Cordian mit seinem dunkelbraunen Haar und seinen hohen Wangenknochen ganz der Sohn seines Vaters war.

Er bemerkte, dass noch kein Feuer im Kamin brannte, und nahm sich vor, einem Diener Bescheid zu geben. Die Nächte wurden mittlerweile empfindlich kühl und das Letzte, was er wollte, war, dass seine Tochter sich eine Erkältung einfing. Als er gerade im Begriff war, sich zum Gehen zu wenden, fiel sein Blick auf den dunklen Umriss eines dicken, alten Buches, das auf Lissinas Tisch lag. Interessiert trat er näher.

 

***

 

Es war ruhig in der Bibliothek der Burg. Ruhig und einsam. Nur selten betrat jemand diese Räume. In unruhigen Zeiten wie diesen noch weniger als sonst. Mittlerweile wusste wohl jeder in der Burg, dass Krieg bevorstand und überall hatte man begonnen, Vorbereitungen zu treffen. Bald würde es die ganze Stadt wissen. Wenn der König am Morgen des kommenden Tages vor das Volk trat, waren alle wichtigen Stellen längst informiert, alles Nötige bereits veranlasst, und jeder würde wissen, was der Herrscher ihm zu verkünden hatte.

Lissina war hergekommen, um dem Trubel zu entfliehen und ihre Gedanken zu ordnen. Krieg – was bedeutete das? Sie hatte nie einen erlebt, doch sie hatte darüber gelesen und Leute reden hören. In den Geschichten war es eine Zeit großer Heldentaten, in den Erinnerungen der Menschen oft ein Abschnitt ihres Lebens, den sie froh waren, hinter sich gelassen zu haben. Tennlor hatte einmal gesagt, der Krieg kenne nur wenige Sieger, aber viele Opfer. Sie hoffte inständig, dass ihr Bruder nicht bereits zu Letzteren gehörte.

In der Bibliothek fand sie die Ruhe, die sie andernorts oft vergeblich suchte. An ihre Zimmertür klopften ständig Bedienstete, die alles taten, damit sie sich wohlfühlte, außer, sie in Ruhe zu lassen. Wenn sie angab, nicht gestört werden zu wollen, wurden es dadurch eher mehr als weniger, da sich jedermann Sorgen um ihr Befinden machte.

Hier bestand ihre einzige Gesellschaft aus langen Reihen von Büchern, die schon seit der Regentschaft ihres Großvaters in dieser Form dort aufgereiht waren. Zum Teil waren sie von Ratten angefressen, zum Teil hatte Wasser sie aufquellen lassen – vor Jahren hatte sich im Sturm einer der Fensterläden gelöst und Regen war eingedrungen –, doch im Großen und Ganzen hatten sie dem Zahn der Zeit recht gut getrotzt.

Im Moment waren es jedoch nicht die alten Wälzer und Folianten, denen Lissina ihre Aufmerksamkeit schenkte. An den Fenstersims gelehnt, starrte sie in den dunkler werdenden Abendhimmel. Von draußen zog es kalt herein, doch sie hatte sich einen warmen Pelzmantel um die Schultern gelegt. Die ersten Sterne zeigten sich bereits. Nach einem von ihnen hielt sie ganz besonders Ausschau.

»Darf ich fragen, was meine Tochter dort betrachtet?«

Lissina zuckte erschrocken zusammen und wandte sich dem Sprecher zu. Sie hatte ihren Vater nicht eintreten hören.

»Ich habe mir bloß die Sterne angesehen«, antwortete sie ein wenig verlegen. »Der Himmel ist beinahe wolkenlos heute Abend. Aber was führt dich hierher?«

»Ich habe dich gesucht«, erklärte der König freundlich. »Ich dachte, du brauchst vielleicht jemanden zum Reden.«

Lissina wehrte ab: »Das ist sehr nett, aber ich komme schon zurecht. Du hast sicher genug um die Ohren. Was macht der Krieg?«

Ihr Vater zuckte ergeben mit den Schultern. »Die Vorbereitungen laufen planmäßig an«, er machte eine Pause, bevor er das Thema wechselte: »Die Sterne haben dich schon immer fasziniert, nicht wahr?«

»Das stimmt«, bejahte sie. »Seit mir Tennlor als kleines Mädchen diese Geschichte erzählt hat …«

»Ja, ich kann mich dunkel erinnern«, meinte der König. »Was waren noch gleich seine Worte?«

Lissina musste ein wenig lächeln, als sie sich zurückerinnerte. »Er sagte, als Eddor noch jung war, seien die Ewigen zu den Sternen gereist und brachten von dort alles mit, was läuft, kriecht, schwimmt, fliegt oder wächst. Auch die Menschen sollen sie von dort geholt haben.«

»Eine ziemlich seltsame Vorstellung, wenn ich so darüber nachdenke«, sinnierte ihr Zuhörer.

»Ja, das ist sie.« Lissina schmunzelte. »Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl wäre, auf einem Stern zu leben. Sie sehen so klein aus. Wie winzige Diamanten. Wie soll dort ein Mensch wohnen oder ein Baum wachsen können? Aber vielleicht sind sie auch einfach nur sehr weit entfernt und in Wirklichkeit so groß wie die ganze Stadt hier oder vielleicht noch größer.«

»Nun, ich hätte wohl zu viel Angst davor, herunterzufallen, um auf einem Stern leben zu können. Andererseits muss es wunderbar sein, die ganze Welt überblicken zu können. Gibt es denn einen bestimmten, den du gern besuchen würdest?«

»Wenn ich könnte, würde ich sie alle besuchen«, antwortete sie.

»Und mit welchem würdest du anfangen?«

Lissina überlegte einen Moment. Ihre Miene wirkte auf einmal ernster. »Es gibt da einen Stern, der ist anders als die anderen. Aber ich weiß nicht, ob ich dort hin wollte.

»Anders?«, fragte der König. »Wie meinst du das?«

»Sie ihn dir an«, forderte sie ihn auf und ließ ihn ans Fenster treten.

Sie deutete auf einen schwachen Lichtpunkt über dem östlichen Horizont und erklärte: »Das ist ein junger Stern. Ich habe alte Himmelskarten aus der Bibliothek studiert und auf keiner war er zu finden. Er fiel mir eines Abends auf, als er plötzlich verschwand. Man kann ihn nur kurz nach Sonnenuntergang und manchmal kurz vor Sonnenaufgang sehen.«

»Er verschwindet?«, fragte der König skeptisch.

»Ja. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat. Ich habe noch nie davon gehört, dass ein neuer Stern erschienen wäre, erst recht keiner, der auftaucht und verschwindet. Was mögen Arn oder die alten Götter sich dabei gedacht haben?«

»Das scheint dich ziemlich zu beunruhigen«, stellte ihr Vater fest.

»Es ist …« Sie wich seinem Blick verlegen aus. »Es ist etwas, das Tennlor zu mir gesagt hat. Vor Kurzem erst. Er sagte, es stünden große Veränderungen bevor. Vielleicht ist der junge Stern das erste Zeichen dafür.«

»Veränderungen, hm …« Ihr Vater wirkte nachdenklich. »Hat es vielleicht etwas hiermit zu tun?« Er hielt ihr das Buch entgegen, in dem sie am Morgen gelesen hatte.

»Gib das her!«, beschwerte sie sich und nahm es ihm verärgert aus der Hand. »Das geht dich gar nichts an.«

Ihr Gegenüber hob beschwörend die Hände. »Du hast recht, doch ich denke, wir sollten reden. Wir brauchen keine Geheimnisse voreinander zu haben.«

»Ich kann lesen, was ich will, und ich brauche keinen bestimmten Grund dazu«, erwiderte sie kühl und setzte sich an ihm vorbei in Richtung Ausgang in Bewegung. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten, doch bevor sie die Bibliothek verlassen hatte, erhob er noch einmal die Stimme: »Eine Bitte habe ich noch.«

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm herum.

Der König räusperte sich. »Verbring bitte ein bisschen mehr Zeit mit Fürst Gerion. Er ist unser Gast und ich möchte, dass du ihn als solchen behandelst.«

Ärgerlich stemmte Lissina die Hände in die Hüften. »Gerion ist ein Trottel. Ich denke nicht im Traum daran, ihn zu heiraten, wieso sollte ich also Zeit mit ihm verbringen?«

»Seine Familie, die Talfamas, haben großen Einfluss in Ganthalas. Sein Vater sitzt im Thronrat von Eltera. Er wäre eine gute Partie für dich.«

»Für mich oder für das Königreich?«, fragte die Prinzessin bissig zurück.

»Für beide«, kam die ehrliche Antwort des Königs.

»Ich heirate aber niemanden, nur weil er Geld und Macht besitzt! Ich muss den Menschen auch lieben können.«

»Wie willst du jemals herausfinden, ob du es kannst, wenn du ihn nicht an dich herankommen lässt? Ich bitte dich nur darum, ihm eine Chance zu geben.«

Die Prinzessin verlagerte ihr Gewicht unentschlossen von einem Fuß zum anderen. »Also gut«, lenkte sie schließlich ein. »Er soll seine Chance bekommen, aber versprich dir nicht zu viel davon.«

Ihr Vater nickte anerkennend. »Sehr gut. Ich habe vorgeschlagen, dass ihr beide morgen eine Stadtrundfahrt unternehmt. Natürlich wird die Wache für eure Sicherheit sorgen. Und Ira begleitet euch – als deine Anstandsdame.«

»Ich brauche keine Anstandsdame«, protestierte sie aufgebracht. »Wenn der Kerl zudringlich wird, werde ich dafür sorgen, dass er es bereut.«

Der König zuckte mit den Schultern. »Nun, wenn ihr beide lieber ungestört sein wollt …«

»Schon gut.« Lissina wandte sich um und stapfte gereizt davon. »Ich werde mich nun zur Ruhe legen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739456812
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Helden Weltraum Abenteuer Drachen Science-Fantasy Originelle Fantasy Space Fantasy Genre Mix Fantasywelt Raumschiffe Space Opera

Autor

  • Patrick Arbogast (Autor:in)

Patrick Arbogast studierte Biologie und schreibt hauptberuflich PR-Texte, war aber auch schon freiberuflich für die Lokalzeitung unterwegs. Seine erste selbstveröffentlichte Romanreihe, die dreiteilige Torwelt-Saga, verwebt bekannte Fantasy- und Science-Fiction-Elemente zu einer spannenden Abenteuergeschichte. Sein neuestes Projekt »Sturmzorn« entführt die Leser in eine römisch angehauchte Welt voller Schwertkämpfe und Mystik.
Zurück

Titel: Das Geheimnis der Torwelt