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Kampf um die Torwelt

von Patrick Arbogast (Autor:in)
549 Seiten
Reihe: Die Torwelt-Saga, Band 2

Zusammenfassung

Magie trifft Technologie!

Gestrandet auf einem fremden Planeten muss die Mannschaft der Ikarus lernen, dass es im uralten Konflikt zwischen Licht und Finsternis keinen Platz für neutrale Zuschauer gibt. Zur selben Zeit erfährt Prinz Cordian von einer legendären Waffe, die sich als die letzte Hoffnung auf Rettung erweisen könnte, und begibt sich auf eine gefährliche Suche. Zu spät erkennt er, dass nicht alles ist, wie es scheint, und seine Feinde ihm stets einen Schritt voraus sind. Der Kampf um die Torwelt beginnt.

Die Saga geht weiter! Mehr Drachen, mehr Raumschiffe! Fantasy und Science-Fiction verschmelzen zu einem fantastischen Abenteuer!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Die Torwelt-Saga

Teil 2

 

 

Kampf um die Torwelt

Patrick Arbogast


Roman

 

 

 

Magie trifft Technologie!

 

Gestrandet auf einem fremden Planeten muss die Mannschaft der Ikarus lernen, dass es im uralten Konflikt zwischen Licht und Finsternis keinen Platz für neutrale Zuschauer gibt. Zur selben Zeit erfährt Prinz Cordian von einer legendären Waffe, die sich als die letzte Hoffnung auf Rettung erweisen könnte, und begibt sich auf eine gefährliche Suche. Zu spät erkennt er, dass nicht alles ist, wie es scheint, und seine Feinde ihm stets einen Schritt voraus sind. Der Kampf um die Torwelt beginnt.

 

Die Saga geht weiter! Mehr Drachen, mehr Raumschiffe! Fantasy und Science-Fiction verschmelzen zu einem fantastischen Abenteuer!

 

 

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Prolog

Krähen hatten sich auf der geborstenen Burgmauer versammelt und beobachteten neugierig das blutige Schauspiel im Hof unter ihnen. Während die meisten anderen Vögel bereits nach Süden aufgebrochen waren, um dem nahenden Winter zu entgehen, waren die Aasfresser geblieben, fast, als hätten sie gespürt, dass sich das Warten für sie lohnen würde. Und tatsächlich: Die letzten Tage waren ein üppiges Fest für sie gewesen. Nachdem die Norkai in Keld eingefallen waren, hatten sie alle Stadtbewohner zusammengetrieben, denen nicht rechtzeitig die Flucht gelungen war. Die gesunden und kräftigen unter ihnen mussten nun Sklavenarbeit leisten. Wer dazu nicht in der Lage war, wurde ihren dunklen Göttern geopfert oder einfach zur Belustigung den Blutwölfen vorgeworfen.

Es fiel wahrlich genug für die gefiederten Unglücksboten ab, wenngleich es so aussah, als ob sie dieses Mal leer ausgingen. Ein alter Mann mit kahl geschorenem Schädel kniete unten im Burghof. Er hatte aufgehört, zu schreien, war aber offensichtlich noch am Leben. Zwei kräftige Stammeskrieger hielten ihn fest an den Armen gepackt. Sein in dunkle Roben gehüllter Peiniger, der nun in seinem Tun innegehalten hatte, ließ keine Absicht erkennen, dem Gequälten ein gnädiges Ende zu bereiten. Ob die Krähen nun ahnten, dass ihre Geduld heute vergebens sein würde, oder ob das neuerlich einsetzende Heulen der Blutwölfe von außerhalb der Mauern größeres Interesse weckte: Die Vögel erhoben sich in die Lüfte und glitten über die felsige Flanke des Berges hinweg, hinab zu den Dächern der Stadt. Die Menschen im Inneren des Burghofes blieben zurück.

Der Schwarzgekleidete packte den vor ihm knienden, sichtlich geschundenen Mann mit der linken Hand am Kinn und besah ungerührt sein Werk. Unheilvolle blutige Runen bedeckten nun das für die Prozedur geschorene Haupt, unter höllischen Schmerzen direkt in die Kopfhaut geritzt. Runen, die Macht bedeuteten – und gleichzeitig Unterwerfung. Die erhitzte Klinge, die er zum Zeichnen des Mannes benutzt hatte, glühte noch immer rötlich. Beiläufig reichte er den Dolch an einen unterwürfigen Diener weiter, der sich eilig damit entfernte. Den beiden kräftigen Kriegern, welche die zusammengesunkene Gestalt wie in einem Schraubstock hielten, gab er einen Wink, ihren Griff zu lösen. Der Gezeichnete sank in sich zusammen und atmete in schweren, rasselnden Stößen.

Als der Robenträger die Stimme erhob, klang diese kühl und beherrscht. Dennoch waren die Worte, die aus den tiefen Schatten seiner Kapuze hervordrangen, laut genug, um von allen Umstehenden vernommen zu werden: »Du hattest einen Namen. Du hattest einen Titel: Mantredt aus dem Hause Dolwin, Graf von Autringen. Dieser Mann existiert nicht mehr. Dein früheres Leben ist ab heute bedeutungslos, denn du bist nun ein Dar’zai, ein vom Zaihor Berührter.«

Während er sprach, hob der Angesprochene langsam den Blick. Sein Körper wirkte ausgemergelt, seine Haut blass. Der alte Graf hatte schon zu besseren Zeiten nicht eben vor Kraft gestrotzt, nun wirkte er fast wie ein Geist. Die Augen lagen tief in den Höhlen, von der Stirn perlte fiebriger Schweiß. Doch wer genau hinsah, erkannte weder Verzweiflung noch Resignation in seinem Blick. Stattdessen war Hass auszumachen – blanker ungezügelter Hass auf alles und jeden und ganz besonders auf denjenigen, dem er die Schuld an seiner Lage gab. Dieser Hass war der Grund, aus dem der Schwarzgekleidete ihn ausgewählt hatte.

»Dein Versagen in meinen Diensten hat mich tief enttäuscht«, fuhr eben jener fort. »Aber ich gebe dir hier und heute die Gelegenheit, Wiedergutmachung zu leisten. In dir steckt nun ein Teil meiner Macht. Diese Gabe ist Segen und Fluch zugleich, wie du feststellen wirst …«

Er holte ein etwa handtellergroßes metallenes Medaillon aus den Tiefen seiner dunklen Gewandung hervor, das einen Löwenkopf zeigte, und hielt es dem alten Gezeichneten hin. Dieser nahm es fast ehrfürchtig entgegen, strich vorsichtig die Konturen mit dem Finger nach, besah es sich von allen Seiten und schnüffelte schließlich sogar daran.

»Ein Segen«, sprach der Schwarzgekleidete derweil weiter, »weil dich nun nichts auf der Welt davon abhalten kann, den Einen zu finden, den du suchst. Ein Fluch, weil du nicht eher zur Ruhe kommen wirst, als bis sein Leben ausgelöscht ist.«

Tatsächlich hatte mit der Berührung des Medaillons eine kribbelnde Unruhe von dem neu erschaffenen Dar’zai Besitz ergriffen, die sich in kleinen nervösen Bewegungen der Hände und der Augen bemerkbar machte. Es war, als zöge ihn irgendetwas in eine bestimmte Richtung. Nach Süden, genauer gesagt nach Südosten. Dorthin wanderten seine Blicke am häufigsten und dort blieben sie am längsten hängen. Er war dort irgendwo: Er, dem der Schmuck gehörte, der Mann, den er am meisten hasste …

»Cordian …«, knurrte der ehemalige Graf voll Bitterkeit.

»Er gehört dir«, bestätigte die dunkle Gestalt. »Ich aber will das Mädchen, das mit ihm reist. Sie muss sterben, wenn meine Pläne Früchte tragen sollen. Genau wie ich trägt sie einen Angral der Macht in sich, im Gegensatz zu mir weiß sie ihn aber nicht zu nutzen. Anders als ein Salas Kai benötigst du keine jahrelange Unterweisung, um deine Kräfte zu entfesseln. Du wirst ihr ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen sein, wenn du ihr gegenüberstehst. Erprobe nun deine Macht, Dar’zai.«

»Ja, mein Gebieter.«

Dem Befehl folgend, erhob sich der gebrechlich erscheinende Mann auf die Füße und drehte sich mit einem gefährlichen Grollen zu einem der breitschultrigen Krieger um, die ihn während der schmerzvollen Zeichnung gehalten hatten. Eine Geste mit der Hand genügte und grelle purpurne Blitze sprangen aus seinen Fingerspitzen auf den Norkai über, hüllten ihn ein und verschmorten Haut und Kleidung gleichermaßen. Vor Schmerzen aller Sinne beraubt, stieß dieser ein Brüllen aus, das kaum einer menschlichen Kehle entstammen konnte, während er ziellos im Kreis torkelte. Es dauerte nur Augenblicke, bis sein verbrannter Leib leblos zu Boden fiel. Gerade solange, wie der andere Krieger brauchte, um zu begreifen, was soeben geschehen war, und vor Angst schreiend in die entgegengesetzte Richtung davonzulaufen. Die Blitze erfassten ihn, kurz bevor er den Hof durch den halb eingestürzten Torbogen verlassen konnte.

Weder der Gezeichnete noch sein Meister schenkten den verkohlten Leibern auch nur einen zweiten Blick.

»Zwischen uns besteht nun ein Band, Dar’zai«, erklärte der Erschaffer seinem Geschöpf. »Wenn du Erfolg hast, werde ich es wissen, wenn du scheiterst, ebenso. In diesem Fall bete, dass dein Tod schnell kommen möge …«

Der Mann, dessen Name Mantredt gelautet hatte, nickte verstehend. Beide wandten sich um, als sich ihnen eine Gruppe von Männern näherte. Bei den Neuankömmlingen handelte es sich um fast ein Dutzend besonders muskelbepackter Norkai. Der vorderste trug die prunkvolle und reichhaltig verzierte Bärenfellbekleidung, die bei den Stämmen des Nordens nur einem großen Anführer, einem Khan, zugestanden wurde. Die anderen zehn Männer, die ihn flankierten, trugen untypischerweise massive metallene Harnische. Wo sich nackte Haut zeigte, war diese gerötet, ihre Schädel waren auf die gleiche blutige Weise mit Runen beschrieben, wie es bei Mantredt der Fall war, auch wenn sich die Symbole im Detail unterschieden. Sie waren Dar’zai.

»Du wirst nicht allein reisen«, sprach der Vermummte zu seinem Diener. »Diese Dar’zai begleiten dich. Jeder kann es im Kampf mit zehn gewöhnlichen Männern aufnehmen. Geht nun und brecht auf.«

Während die Gezeichneten sich folgsam entfernten, trat der Khan mit der Fußspitze gegen den qualmenden Leichnam des ersten unglücklichen Kriegers und lachte abfällig. »Wertloses Pack! Kaum zu glauben, dass diese verlausten Barbaren die Nachfahren jener Elitekrieger sein sollen, die ich vor dreitausend Jahren von Hand verlesen habe.«

Erst jetzt, als er nähergekommen war, zeigte sich, was mit ihm nicht stimmte: Äußerlich wirkte er fast menschlich, seine Augen jedoch waren pupillenlos und tiefschwarz. Keiner der einfachen Norkai würde es wagen, ihn direkt anzusehen, auch die Dar’zai neigten stets respektvoll das Haupt. Einzig der Robenträger erwiderte den Blick nun aus ebenso mitternachtsschwarzen konturlosen Augen, die zum Vorschein kamen, als ein wenig Licht unter seine Kapuze fiel.

»Wir waren lange fort«, gab er zu bedenken. »Zu lange. Wie ich sehe, hast du inzwischen vollständig von diesem Körper Besitz ergriffen.«

»Notgedrungen«, schränkte der andere ein. »Es wäre zu früh gewesen, diesen Narren sterben zu lassen. Noch brauchen die Norkai ihren Khan.«

»Und noch brauchen wir die Norkai«, antwortete der Schwarzgekleidete. »Doch bald schon wirst du wieder mit eigenen Füßen auf dieser Erde wandeln.«

»Das will ich hoffen«, grollte der fellbekleidete Riese. »Es ist nicht alles nach Plan verlaufen.«

»Ich weiß.«

»Asmarel«, beschwor der Khan den Vermummten eindringlich beim Namen, »eine von uns wurde getötet! Eine der Acht!« Er ballte die Faust. »Nicht nur der Körper, den sie benutzte, sondern ebenso ihr Geist. Wer immer das war, ist mächtig und kennt unsere Schwächen. Was wird nun aus unseren Plänen? Wer verschleiert sie vor den Sehern der Salas Kai, jetzt wo Morglen es nicht mehr kann?«

»Morglen war leichtsinnig«, entgegnete sein Gegenüber gelassen. »Erfreulicherweise sind wir weit genug vorangeschritten, dass Verschleierung von nun an entbehrlich ist. Die Salas Kai werden uns nicht aufhalten – wir machen weiter wie geplant. Oder kommen dir etwa Zweifel, Taugutor?«

»Natürlich nicht«, bestritt dieser entschieden. »Aber die anderen werden das von dir persönlich hören wollen. Balza’an hat angefangen, Fragen zu stellen: Wie es so weit kommen konnte und was wir deswegen unternehmen.«

»Lass die anderen meine Sorge sein«, entschied der Schwarzgekleidete. »Stell du nur sicher, dass die Norkai nach ihrem Sieg nicht übermütig werden und weiter meinen Befehlen folgen.«

»So soll es geschehen«, bestätigte der Kriegsherr und wandte sich zum Gehen.

Asmarel sah ihm nach und lächelte. Taugutor war schon immer aufbrausend gewesen, trotzdem war er von allen seinen Gefährten der treueste und verlässlichste. Der Rest würde nicht so leicht zu beschwichtigen sein, dennoch würden sie ihm folgen. Sie hatten letztlich keine Wahl. Er war der Amnon Kai, der wahre Auserwählte, und er brachte ihnen das Ende der Verbannung. Dies war sein Schicksal und dieses Mal würde es sich erfüllen!

Selbst ein bisschen erstaunt über die heftigen Gefühle, die dieser Gedanke und die dazugehörigen Erinnerungen bei ihm auslösten, ließ er den Blick nachsinnend über die geborstenen Mauern und die eingestürzten Türme wandern. Die Energien, die er hier entfesselt hatte, um den Angral zu binden, hatten dem einst stolzen Herrschaftssitz der Könige von Keldor sichtbar zugesetzt. Doch dies war nichts im Vergleich zu den Umwälzungen, die noch bevorstanden. Das Gefühl, in einem fremden Körper zu stecken, verabscheute er genauso wie sein alter Gefährte. Es war, als trüge man die stinkende und schlecht sitzende Kleidung eines anderen. Wenn das Tor erst offen war, würden sie frei sein. Frei und bereit, die Welt mit der Macht des Zaihor neu zu formen, und dieser Tag war nicht mehr fern. Kurz hielt er inne, als sich die drängende Ahnung in den Vordergrund schob, beobachtet zu werden. Ohne Zweifel ein Seher der Salas Kai, irgendwo in weiter Ferne, der sich nun hastig zurückzog, da seine Präsenz bemerkt worden war. Früher als erwartet wussten ihre Widersacher nun von ihrer Rückkehr, doch ihm sollte es recht sein: Bald schon würde ganz Eddor von seiner Existenz erfahren, und die Welt, die ihm einst so viel Leid zugefügt hatte, würde vor ihm erzittern.

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Mo unterdrückte ein gequältes Stöhnen und rutschte unbehaglich auf ihrem harten Sitz hin und her, als der Eselskarren durch ein weiteres Schlagloch rumpelte. Man hätte annehmen sollen, dass sich das Pflaster so nahe am Palast in einem besseren Zustand befand, doch dem war offenbar nicht so, jedenfalls nicht in den kleineren Nebenstraßen. Hätte sie das im Voraus geahnt, dann hätte sie das gut gemeinte Angebot ihres Gastwirtes, sie herzubringen, möglicherweise ausgeschlagen und wäre einfach zu Fuß gegangen. Ganthalas war eine große Stadt, aber so weit war der Weg nun auch wieder nicht, und bedingt durch den dichten Verkehr waren sie ohnehin nicht besonders schnell vorangekommen.

Als sie wieder einmal durch ein vorausfahrendes Fuhrwerk zum Anhalten gezwungen wurden, ergriff sie die Gelegenheit dankbar beim Schopf.

»In Ordnung, ich denke, ab hier finde ich mich zurecht«, verkündete sie und sprang vom Kutschbock. Der freundliche ältere Mann, der das Fuhrwerk lenkte, wäre ihr sicher auch beim Absteigen behilflich gewesen, aber für jemanden, der nicht bezahlen konnte, hatte sie ihm ihrer Meinung nach schon genug Umstände bereitet. Außerdem hatte sie es eilig.

Um nicht noch mehr Zeit mit Höflichkeiten und Entschuldigungen zu verlieren, richtete die junge Frau ein paar knappe Dankesworte an ihn und gab ihm anschließend ihren Segen mit: »Möge Sirain stets über dich wachen.«

Dann machte sie sich auf zum Palast, nicht ohne vorher noch einmal ihre Robe zurechtgezupft zu haben, die nicht weniger als perfekt sitzen musste, wenn ihr Anliegen Gehör finden sollte. Als Salas Kai besaß sie nicht viele weltliche Güter, und das vornehm geschnittene violette Gewand war zusammen mit ihrem Siegelring die einzige Habe, die sie bei ihrer überstürzten Flucht aus dem Saphirturm hatte mitnehmen können. Zumindest, solange man von der silbernen Halskette absah, bei der es sich um ein Geschenk ihres alten Freundes und Förderers Tennlor handelte.

Tennlor – wenn er nur hier wäre … Sie schob den Gedanken an ihn beiseite; auch daran, dass er vermutlich gerade in höchster Gefahr schwebte. Es galt, ein Problem nach dem anderen zu lösen. Die Palastmauer war nur noch zwei Querstraßen entfernt, und sie, die sich die Roben der Salas Kai erst vor Kurzem verdient hatte, würde um nichts Geringeres ersuchen, als um eine sofortige Audienz beim König persönlich. Nervös spielte sie mit dem Ring an ihrem Finger, der das uralte Symbol ihres Ordens zeigte: einen schwarzen und einen weißen Drachen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen. Sie würde die gesamte Autorität ihrer Stellung in die Waagschale werfen müssen, um nicht sofort abgewiesen, geschweige denn rechtzeitig vorgelassen zu werden. Doch die Zeit drängte; ihre am heutigen Tage erschienene Vision ließ daran keinen Zweifel.

Als Mo tapfer einen Fuß vor den anderen setzte, wissend, dass jeder Schritt sie ihrem Ziel näher brachte, gelang es ihr, die Nervosität weitgehend zu verbannen. Die Konzentrationstechniken, die sie als Novizin verinnerlicht hatte und eigentlich dazu dienten, ihren Geist mit Sirain in Einklang zu bringen, halfen ihr dabei.

In anderen Königreichen hätte man ihr den roten Teppich ausgerollt, wenn man sie nur von Weitem hätte kommen sehen, in Eltera lagen die Dinge jedoch etwas anders. Der elteranische König hatte genug Macht und Einfluss, dass er um das Wohlwollen des Saphirturmes nicht zu buhlen brauchte. Andersherum wurde eher ein Schuh daraus: Ihr Orden bemühte sich redlich, am Hof einen größeren Einfluss zu erlangen oder zumindest den wenigen, den er hatte, nicht zu verlieren. Besonders erfolgreich liefen diese Bemühungen allerdings nicht. Soweit sie wusste, waren die einzigen anderen Salas Kai, die sich zurzeit in der Stadt aufhielten, ein paar Kalhiri – Angehörige der Schule der Heiler – in einem Spital vor den Toren. Sie kümmerten sich um die Schwerkranken, für die es sonst keine Hilfe gab, was ihnen viel Dankbarkeit, aber wenig hochrangigen Besuch einbrachte. Aus der Politik hielten sie sich dementsprechend auch vollständig heraus.

Eltera war das in seiner Ausdehnung größte Reich Eddors und auch die Stadt Madaras und somit der Saphirturm lagen innerhalb seiner Grenzen, auch wenn der Sitz der Salas Kai formell als unabhängiger Staat unter der Herrschaft des Kai Thul galt. Während Madaras seit Jahrtausenden ein wichtiges Machtzentrum darstellte, war die Reichshauptstadt Ganthalas erst in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren zu voller Blüte gelangt. Durch eine vorausschauende und kluge Politik der hier residierenden Herrscher überstrahlte ihr Glanz jedoch mittlerweile sogar den der Stadt des Mondlichts, und entsprechend selbstbewusst waren Volk und Fürsten. Mo hatte sich auf dem Weg hierher umgesehen: Kaum ein Haus im Stadtzentrum verfügte über weniger als drei Stockwerke. Vier waren nicht selten. Viele waren aus Fachwerk, aber nicht wenige aus Stein oder einer Kombination von beidem errichtet. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Fenster verglast, was überall sonst einen unerhörten Luxus dargestellt hätte, hier aber ganz normal zu sein schien. Auch eine fortschrittliche Kanalisation gehörte zur Stadt, und anstelle des andernorts vorherrschenden Gestankes von Unrat durchwehte der Geruch exotischer Gewürze die Gassen, die aus aller Welt eingeführt und auf den hiesigen Märkten feilgeboten wurden.

Die pompöse elteranische Mode war ohnehin ein Kapitel für sich. Überall sah sie Menschen in bunten Stoffen umherflanieren. Die wohlhabenderen in Brokat gehüllt, die weniger vermögenden gerne in einer Imitation dessen, und wenn es dafür nicht reichte, so trug man doch wenigstens einen ausgefallenen Filzhut zur Schau. Bei den Männern herrschten elegante Jacken mit weiten Ärmeln vor sowie kurze Kniehosen, zu denen hohe Stiefel getragen wurden. Die Kleider der Frauen waren tief ausgeschnitten, die Haare dazu meist kunstvoll hochgesteckt und mit Perlen oder zierenden Schleifen dekoriert. Mo kam sich mit ihren glatt herabhängenden halblangen Haaren und ungeschminkt, wie sie war, plötzlich wie eine graue Maus vor.

Wo es Licht gab, gab es natürlich auch Schatten. Sie bemerkte einen einbeinigen Bettler, der die Hand nach Münzen aufhielt. Gerne hätte sie ihm etwas zugesteckt, doch im Moment war sie selbst auf die Großzügigkeit ihrer Mitmenschen angewiesen.

Ihre Gedanken wandten sich anderen Dingen zu, als sie aus dem Halbdunkel der Gasse hinaustrat und die Palastmauer erreichte. Diese überragte die in der Nähe erbauten Häuser noch einmal deutlich. Aus hellem Stein gefertigt und mit kunstvollen Ornamenten verziert, wirkte sie trotz ihrer Höhe keineswegs abweisend, wenn auch Zinnen, Schießscharten und angeschrägte Mauerstützen darauf hindeuteten, dass sie nicht bloß dekorativen Zwecken diente.

Mo hielt zielstrebig auf einen Seiteneingang zu, der vermutlich überwiegend zur Anlieferung von Waren genutzt wurde. Vielleicht hätte sie mit einer Pferdekutsche am Haupttor vorfahren sollen, um möglichst wichtig zu erscheinen. Sie war überzeugt, dass ihr Status ihr zur Not auch ohne Geld ermöglicht hätte, auf ein solches Gefährt zurückzugreifen. Andererseits war ihr daran gelegen, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen – sie hatte sich mächtige Feinde gemacht und war sich nicht sicher, wie weit deren Einfluss womöglich reichen mochte.

Vor dem breiten Torbogen standen zwei gerüstete Wachtposten mit Hellebarden in der Hand stramm. Weiter hinten, im Schatten des Durchganges, machte die junge Frau zwei weitere Soldaten aus. Als sie auf die Männer zu trat, und diese sie bemerkten, stand ihnen die Überraschung deutlich ins Gesicht geschrieben. »Kai …«, murmelte derjenige, der ihr am nächsten stand, und verbeugte sich ehrerbietig.

Na bitte, dachte Mo bei sich. Die Robe verfehlte ihre Wirkung nicht. Jetzt musste sie nur noch darauf achten, nicht über ihre eigenen Worte zu stolpern.

»Mein Name ist Mo«, stellte sie sich vor, und schalt sich dafür sogleich. Eine Salas Kai hatte es nicht nötig, einem einfachen Torwächter ihren Namen zu nennen. Schnell überspielte sie den Patzer: »Ich bringe dringende Kunde für König Regaland den Vierten. Es ist von größter Wichtigkeit, dass ich ihn sofort spreche.«

Der Soldat sah sie mit offenem Mund an und schaute dann Hilfe suchend zu seinem Kameraden. Als dieser seinem Blick mit der gleichen Ratlosigkeit begegnete, begann er verlegen vor sich hin zu stammeln: »Wir … äh … ich gebe dem Hauptmann Bescheid …, verzeiht bitte …«

Er drehte sich auf dem Absatz herum und machte sich eilig davon, darauf bedacht, es möglichst nicht wie eine Flucht wirken zu lassen. Mo ließ ihn jedoch nicht so einfach entkommen: »Ihr wollt doch eine Salas Kai nicht etwa auf der Straße warten lassen?«

Es war ihr gelungen, ihre Worte mehr wie eine Feststellung, denn wie eine Frage klingen zu lassen, ganz so wie Tennlor es immer tat, und der Wächter blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Eine Entschuldigung murmelnd, drehte er sich noch einmal zu ihr herum und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Der erste Teil wäre geschafft, gratulierte Mo sich selbst. Jetzt mussten sie sich wohl oder übel mit ihr befassen, auch wenn sie bezweifelte, dass damit bereits alle Klippen umschifft waren.

 

Ihre Zweifel wurden zur Gewissheit, als sie wenig später von einem gehetzten Hauptmann aus der Wachstube abgeholt wurde, in der man sie hatte warten lassen. Nicht zum König würde er sie bringen, sondern zu Kardinal Vaspar, einem engen Vertrauten des Monarchen, der sich mit ihrem Anliegen befassen und es – wie man ihr versicherte – ganz sicher weiterleiten würde. Mo genügte das nicht. Es half jedoch nichts, mit dem Soldaten darüber zu streiten, der nur Befehle ausführte; sie würde sich schon mit diesem Kardinal persönlich auseinandersetzen müssen, auch wenn sie alles andere als erpicht darauf war.

Also schwieg sie und nutzte die Gelegenheit, ihre Umgebung zu studieren. Der Palast war auf einer Erhebung inmitten der Stadt errichtet worden und in mehrere ansteigende Terrassen unterteilt. Jede war durch Mauern und Tore gesichert, deren verschnörkelte Bauweise, genau wie im Fall der Außenmauer, dezent ihre Wehrhaftigkeit überspielte. Einige der Gebäude wurden von vergoldeten Kuppeln gekrönt, deren größte sich im Zentrum des weitläufigen Komplexes erhob. Als Wahrzeichen der Stadt war diese weithin sichtbar und als Meisterwerk der Baukunst in ganz Eddor berühmt. Mo hatte die Kuppel als Vision in einem Traum gesehen, und war aus diesem Grund überhaupt erst nach Ganthalas aufgebrochen. Doch erst seit wenigen Stunden begann sie zu ahnen, warum das Schicksal sie gerade hierher geführt hatte.

Auf ihrem Weg ins Innere von Elteras Machtzentrum folgte sie dem Hauptmann kreuz und quer durch lange Korridore und säulengesäumte Galerien, sodass sie schon bald die Orientierung verloren hatte. Der Würdenträger der Kirche empfing sie in einem weitläufigen, exquisit eingerichteten Salon, dessen Hauptfunktion augenscheinlich darin bestand, Besucher zu beeindrucken.

Kardinal Vaspar war in einen weißen Talar mit goldbesticktem Saum gekleidet und trug darüber eine ebenso verzierte Stola. Eine dazu passende Mitra zierte sein Haupt und vervollständigte die repräsentative Tracht. Die hohe Kopfbedeckung zeigte zwei konzentrische Kreise, das Symbol der Kirche Arns. Hätte es noch eines Hinweises bedurft, dass Bescheidenheit nicht zu den Tugenden des Kardinals zählte, so wäre dies mit Sicherheit sein protziger juwelenbesetzter Fingerschmuck gewesen, der allein bereits mehr gekostet haben mochte, als manch einfaches Gotteshaus.

Als sie eintraten, kam ihnen der ältere mittelgroße Mann gemessenen Schrittes entgegen und hieß Mo betont höflich im Palast von Ganthalas willkommen. Zur Begrüßung streckte er ihr die rechte Hand mit dem Handrücken nach oben entgegen. Offenbar erwartete er, dass die Salas Kai sie küsste. Diesen Gefallen tat die junge Frau ihm nicht, sondern schenkte ihm stattdessen einen kurzen Händedruck, was ihn missbilligend die Stirn in Falten legen ließ. Den Hauptmann schickte er mit einer knappen Geste fort und schlenderte dann zu einer Karaffe voll Wein hinüber, die auf einem kleinen Tisch bereitstand.

»Möchtet Ihr ein Glas, Mo Kai?«, erkundigte er sich zuvorkommend.

Mo verneinte höflich. Sie war nicht hier, um zu trinken oder den offen zur Schau gestellten Luxus zu genießen. Sie war hier, um den König von wichtigen Ereignissen in Kenntnis zu setzen, und dazu musste sie irgendwie an diesem Mann vorbei. Sie zweifelte nicht daran, dass er als Berater das Ohr des Regenten hatte, sie glaubte jedoch nicht, dass er ihr Anliegen in ihrem Sinne an diesen weiterleiten würde. Nachdem die Kirche Arns und die Salas Kai viele Jahrhunderte lang friedlich koexistiert hatten, war ihr Orden den Kirchenoberen während der letzten Dekaden mehr und mehr ein Dorn im Auge geworden. Mangelnde Frömmigkeit war der am häufigsten gegen sie erhobene Vorwurf. In Wahrheit war es aber das umfangreiche, jahrtausendealte Wissen der Salas Kai, welches nicht in das zunehmend enger und dogmatischer ausgelegte Weltbild der Geistlichkeit passte.

»Nun, dann kommen wir gleich zur Sache«, befand Vaspar. »Ich bin neugierig, was eine Salas Kai so unvermutet an unseren bescheidenen Palast führt. Ich fürchte, der Saphirturm hat versäumt, uns Euer Kommen rechtzeitig anzukündigen, sonst hätten wir Euch selbstverständlich einen angemesseneren Empfang bereitet.«

»Ich hatte gehofft, mit dem König persönlich über die Gründe meines Besuches sprechen zu können«, versuchte es Mo. »Ich bringe Kunde von Dingen, die sehr wichtig für das Geschick Elteras sein werden, vielleicht für das Schicksal ganz Eddors.«

Der Kardinal gab sich unbeeindruckt. Keine Regung verriet, was er von ihren Andeutungen hielt. »Gehen wir doch in mein Arbeitszimmer und sehen, was ich für Euch tun kann«, schlug er vor.

 

Das Arbeitszimmer war, wie sich herausstellte, zwar kleiner, aber kaum weniger prunkvoll eingerichtet als der Salon. Vaspar nahm hinter einem wuchtigen Schreibtisch Platz, auf dem Pergament und Federkiel bereitlagen. Nachdem sich Mo auf seine Aufforderung hin ebenfalls gesetzt hatte, nahm er den Faden wieder auf: »Was habt Ihr also zu berichten, das so immens bedeutsam sein soll, Mo Kai?«

»Mit Verlaub, Euer Eminenz«, bremste Mo ihr Gegenüber, »diese Information ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt.«

»Aber gewiss nicht«, bekräftigte der Kardinal ihre Worte süffisant grinsend. »Doch Ihr werdet sicher verstehen, dass Regaland der Vierte ein viel beschäftigter Mann ist, und es mir als seinem Berater obliegt, Neuigkeiten erst auf ihre Dringlichkeit und Relevanz zu prüfen, bevor ich sie an ihn herantrage.«

»Oh, dringlich ist diese Neuigkeit in der Tat«, verriet Mo. »Jemand wird in dieser Stadt eintreffen, jemand, der im Zentrum großer Veränderungen steht. Und zwar noch heute.«

Vaspar strich sich abwägend über das rasierte Kinn. »Das hört sich alles sehr geheimnisvoll an, um es einmal bedacht zu formulieren. Dürfte ich fragen, woher Ihr dieses Wissen nehmt? Versteht mich nicht falsch«, fügte er sogleich hinzu, »ich stelle Eure Ausführungen nicht in Abrede, aber wir beide wissen doch, wie leicht man einem Gerücht aufgesessen ist, das sich später als«, er machte eine vage Handbewegung, »unzutreffend entpuppt.«

Für Mo wurde es zunehmend schwieriger, die gespielte Freundlichkeit des Kirchenmannes zu ertragen. Es war offensichtlich, dass er ihr kein Wort glaubte.

»Wie Ihr an der Farbe meiner Robe erkennen könnt, bin ich eine Wa’dur, eine Seherin. Ich nutze meine Gabe, um mit der Macht Sirains die mannigfaltigen Wendungen des Schicksals zu enträtseln und sehe dabei, was anderen verborgen bleibt.«

»Sirain ist die Macht der Schöpfung«, hob Vaspar nun an, der augenscheinlich die Gelegenheit sah, einen theologischen Disput vom Zaun zu brechen. »Sie kommt direkt von Arn, unserem Schöpfer und Erlöser. Es ist vermessen von Menschen, sie für eigene Zwecke zu gebrauchen, besonders von jenen, die nicht fest und rein im Glauben sind!«

»Sirain existiert einfach«, konterte Mo. »Unabhängig vom Glauben desjenigen, der sich seiner bedient.«

»Aber nur, wer in Arns Licht wandelt, vermag damit Gutes zu bewirken«, gab der Kardinal zurück. »Dennoch weigert sich der Saphirturm bis heute, sich klar zur heiligen Lehre zu bekennen. Viele Angehörige Eures Ordens sind noch im Glauben an die alten Götter verhaftet.«

»Unsere Gabe ist selten«, führte die junge Frau an. »Die Salas Kai rekrutieren sich aus allen Reichen Eddors, einschließlich solcher, in denen ein anderer Glaube vorherrschend ist. Für ihre Eignung als Verteidiger des Lichts und Bewahrer des Friedens ist dies jedoch unerheblich: Die vorbehaltlose Verdammung des Zaihor ist allen Religionen gemein.«

»Aber waren es nicht auch fehlgeleitete Salas Kai, die vor dreitausend Jahren um ein Haar das Zaihor entfesselt hätten? Jene Acht, die wir heute die Verdammten nennen? Wie ist es eigentlich um Euren eigenen Glauben bestellt, Mo Kai?«

Bevor die Seherin in die Verlegenheit kam, die Frage zu beantworten, wurde ihr Gespräch durch die sich öffnende Zimmertür unterbrochen.

»Bei Arn!«, schimpfte der Kardinal, »ich habe dir doch gesagt, du sollst anklopfen, bevor du einen Raum betrittst!«

Als Mo sich herumdrehte, erblickte sie einen unglücklichen jungen Diener, der in der Tür stehen geblieben war und peinlich berührt zu Boden starrte. »Vergebt mir, Herr«, entschuldigte er sich. »Ich hatte nicht erwartet, Euch zu dieser Zeit hier anzutreffen. Dies ist für Euch abgegeben worden«, er hielt einen ausgebeulten pergamentenen Umschlag in der Hand, der mit schwarzem Wachs versiegelt war. Das Siegel zeigte eine Rosenblüte. »Von Fürstin Tarisa. Ihr müsst Euren Siegelring verlegt haben, als Ihr gestern Abend in ihrem Haus …«

»Gib schon her«, fauchte Vaspar, der aufgestanden war und dem Diener den Umschlag nun förmlich aus der Hand riss. Offensichtlich war ihm die Angelegenheit peinlich, wie Mo mit Interesse registrierte. »Und nun scher dich fort, sonst suche ich mir einen neuen Kammerdiener!«

»Verzeiht, Herr«, entschuldigte sich der Getadelte noch einmal. »Kai«, fügte er mit einer kurzen Verbeugung in ihre Richtung hinzu und beeilte sich dann, die Tür hinter sich zu schließen.

Nachdem er sich wieder gesetzt und den Umschlag eilig in einer Schublade verstaut hatte, wandte der Kardinal sich erneut seinem Gast zu. »Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte er mit auf der Tischplatte gefalteten Händen. »Ach ja richtig, Ihr sagtet, dass Ihr in die Zukunft sehen könntet …«

»Nicht in die Zukunft«, berichtigte Mo, der der abfällige Unterton in der Stimme des Kirchenmannes nicht entgangen war. »Diese Gabe ist den Salas Kai vor langer Zeit verloren gegangen. Aber die Gegenwart und die Vergangenheit stehen mir offen. Ich könnte also«, sie tat so, als müsse sie überlegen, »die genauen Umstände klären, unter denen Euch am gestrigen Abend Euer Ring abhandengekommen ist. Nur, damit sich so ein Missgeschick nicht wiederholt, versteht sich.«

Mit Genugtuung beobachtete sie, wie die Farbe schlagartig aus dem Gesicht ihres Gegenübers wich. »Nun«, begann der Kardinal, nachdem er sein Erschrecken mit einem Räuspern überspielt hatte, »ich möchte Eure wertvolle Zeit nicht noch weiter in Anspruch nehmen. Ich sollte den König schleunigst über Euer Eintreffen unterrichten. Angesichts der Wichtigkeit Eures Anliegens bin ich zuversichtlich, dass er Euch umgehend Gehör schenken wird.«

»Das freut mich zu hören, Eminenz. Euer Diener könnte mir derweil ja ein Glas von Eurem Wein bringen; unser anregendes Gespräch hat meine Kehle durstig gemacht. Er hat doch hoffentlich keinen Ärger für sein Ungeschick zu erwarten?« Erneut ließ sie die Frage wie eine Feststellung klingen. Langsam fand sie Gefallen daran.

Der geistliche Würdenträger presste die Lippen zusammen und hatte sichtlich Mühe, die Fassade der Höflichkeit zu wahren, als er antwortete: »Natürlich nicht, Kai. Die Lehre von Arn ist die Lehre der Vergebung.«

Zufrieden machte es sich Mo bequem, nachdem Kardinal Vaspar den Raum verlassen hatte.

 

Als sie schließlich zum König geführt wurde, war die junge Salas Kai hoffnungsfroh, dass sich nun alles zum Guten wenden würde. Elteras amtierender Monarch galt trotz seines fortgeschrittenen Alters als weltoffener Mann und hatte sich, seit er vom Thronrat ins höchste Amt des Staates gewählt worden war, als kluger und weitsichtiger Regent erwiesen.

Ein paar weitere Treppen hatte sie zu erklimmen, bevor sie zum Thronsaal gelangte. Kurz musste sie warten, dann ließ man sie ein. Mo staunte nicht schlecht, als sie die breite Flügeltür durchschritt: Der beeindruckende Saal wurde allen Erzählungen gerecht. Das Zentrum bildete ein großes säulenumstandenes Rund von gut und gerne fünfzig Schritt Durchmesser. Sonnenlicht fiel aus hohen Fenstern ringsherum ein. Der Boden glich einer marmornen Karte, bei der die Landmasse Eddors aus dunklerem und die umgebenden Meere aus hellerem Stein nachgebildet worden waren. In luftiger Höhe über ihr weitete sich der Saal zu einer Kuppel, die eine stilisierte Nachbildung des Firmaments zeigte. Die einzelnen Sterne waren dabei durch in die Decke eingelassene Edelsteine dargestellt, die in allen Farben funkelten und teilweise die Größe einer menschlichen Faust aufweisen mussten. Linien aus Blattgold zeigten die Umrisse der Sternbilder. Mo befand sich nun direkt unterhalb der großen, von außen vergoldeten Kuppel, dem Wahrzeichen der Stadt. Sie stand mitten im Herzen des Königreiches.

Regaland der Vierte wartete auf seinem Thron auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite des Raumes auf sie. Ein Banner, das den elteranischen Adler zeigte, hing hinter ihm herab. Langes graues Haar und ein ebenso langer grauer Vollbart ließen beinahe nur seine Nase und seine Augen frei. Diese jedoch wirkten wach und freundlich. Die goldene Krone auf seinem Haupt trug er mit Würde. An seiner Seite stand Kardinal Vaspar, den der Regent jedoch – sehr zu dessen Missfallen – mit einem Wink fortschickte, als Mo näher trat. Zurück blieben nur sie, der König und zwei Wachen am Eingang. Diesmal hielt sie es für angemessen, Respekt zu zeigen, und verbeugte sich ehrerbietig.

»Ich heiße Euch in Ganthalas herzlich willkommen, Mo Kai«, begrüßte der Herrscher sie. »Auch wenn Euch anderes zu Ohren gekommen sein sollte: Die Abgesandten des Saphirturmes sind mir nach wie vor gern gesehene Gäste.«

»Das ist sehr gütig von Euch, Majestät«, bedankte sich Mo, »doch ich komme nicht im Auftrag des Turmes. Um ehrlich zu sein«, fügte sie hinzu, »wäre es mir lieb, wenn der Turm nicht erfährt, dass ich hier bin.«

Der König horchte auf. Eine Augenbraue hob sich fragend.

»Ich bringe beunruhigende Nachrichten«, eröffnete sie. »Im Norden braut sich Übles zusammen. Die Norkai sind in Keldor eingefallen und haben das Königreich in die Knie gezwungen …«

»Wie ist das möglich?«, fiel Regaland ihr ins Wort. »Ein Eilbote aus Keldor hat uns am gestrigen Tage erst erreicht und die Nation von Eltera um Hilfe ersucht. Wir haben noch nicht einmal unsere Truppen gemustert, und Ihr behauptet, der Krieg sei für unseren Verbündeten bereits verloren? Wie haben die Norkai das bewerkstelligt?«

»Die Barbaren des Nordens handeln nicht auf eigene Faust. Sie sind nur Figuren in einem größeren Spiel. Sie folgen niemand Geringeren als den Verdammten.«

Der König erhob sich von seinem Thron. »Die Verdammten? Wollt Ihr damit sagen, sie seien ihrem Exil entronnen? Behauptet Ihr, die Prophezeiung habe sich letztendlich erfüllt?«

»Wenn der Schweif des Drachen am Nachthimmel erstrahlt«, begann Mo leise zu rezitieren, »wird sich ein dunkler Sturm erheben, und die Welt mit Leid und Schrecken überziehen. Die Stadt der Sonne wird verschlungen, die des Mondes sich verdunkeln. Was zersprungen war, wird erneut ein Ganzes und was versiegelt war, geöffnet. Wenn des Himmels Feuer herab auf Eddor fällt und beides sich entzündet, kehrt das Zaihor zurück, mit jenen, die verbannt geglaubt für alle Zeit an seiner Spitze.«

Sie sah dem König fest in die Augen. »Diese Worte stammen von Nylyan, der größten Seherin, die jemals lebte. Und nun ist es so weit: Das Tor steht im Begriff, sich zu öffnen. Die Verdammten setzen alles daran, sich zu befreien, und ihr Einfluss reicht bereits weit nach Eddor hinein.«

»Sterndeuter berichteten mir, dass der Schweif des Drachen vor einigen Nächten tatsächlich erschienen ist«, verriet der König. »Doch er war nur kurz zu sehen und verschwand darauf wieder. Keiner konnte sich das erklären, wir rechneten erst in zweihundert Jahren mit seinem erneuten Auftauchen und hofften daher, dass dieses Himmelszeichen kein Unheil bringen würde. Wie kann es sein, dass die Salas Kai eine mögliche Rückkehr der Verdammten nicht rechtzeitig bemerkt haben?«

»Einige von uns haben es«, erklärte Mo. »Doch es gibt Verräter innerhalb des Turmes. Ein guter Freund von mir, der die anderen vor der bevorstehenden Gefahr warnen wollte, wurde von ihnen verschleppt und wird nun gefangen gehalten. Ich selbst musste fliehen.«

Der König schüttelte ungläubig den Kopf. »Sollte das alles stimmen, dann stünden uns dunkle Zeiten bevor. Wie sollten wir ohne die Hilfe der Salas Kai gegen das Zaihor bestehen?«

»Die Prophezeiung hat noch einen zweiten Part«, erinnerte sie den Regenten und hob an: »In dieser Stunde ruht die Hoffnung aller auf den Schultern eines Mannes. Er wird die Waffe führen und den Kampf aufnehmen, mit Mut, mit Stärke und mit Weisheit. Auf Silberschwingen reitet er und aus Gold ist seine Rüstung. Doch für welches Schicksal er am Ende sich entscheidet, liegt verborgen in den Nebeln.«

»Ein Retter?«, fragte Regaland. »Ein Held? Das klingt nach dem Strohhalm eines Verzeifelten. Habt Ihr Beweise für irgendeine Eurer Behauptungen? Irgendetwas, das es mir leichter macht, Euren Worten Glauben zu schenken?«

»Zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht«, räumte Mo ein. »Aber schon sehr bald. Eine Gruppe von Menschen wird noch heute in Ganthalas eintreffen. Menschen, deren Schicksal – so viel kann ich bereits sagen – äußerst wichtig für Euch, für mich und für den Rest Eddors sein wird. Ich weiß nicht, wer sie sind, aber sie hegen keine bösen Absichten gegen Euer Reich. Es ist wichtig, dass ich Gelegenheit erhalte, mit ihnen zu sprechen, sobald sie hier sind, und dass sie alle nötige Unterstützung erhalten.«

»Noch heute sagt Ihr? Wie werden wir sie erkennen, wo Ihr doch nicht wisst, um wen es sich handelt?«

»Nun«, erwiderte Mo, »sie reiten auf Silberschwingen. Das ist doch für den Anfang kein schlechtes Zeichen …«

2

Rasch glitt die Raumfähre in südöstlicher Richtung über die Baumwipfel hinweg. Die in die großen Deltaflügel eingelassenen Mantelrotoren erzeugten ein tiefes monotones Summen, das am Boden nur leise und in der abgeschotteten Passagierkabine fast gar nicht zu hören war. Sie hatten sich für eine niedrige Flughöhe entschieden, da kaum noch Wolken am Himmel standen, die ihnen in größerer Höhe Deckung hätten bieten können. Auf diese Weise erschreckten sie zwar möglicherweise ein paar zufällig unter ihnen befindliche Planetenbewohner halb zu Tode, dafür waren sie nicht über etliche Kilometer hinweg zu sehen. Insgeheim bezweifelte Captain John Meyers allerdings, dass diese Vorsichtsmaßnahme noch einen Zweck erfüllte. Ihre Anwesenheit auf Eddor ließ sich vor den Bewohnern eben jenes Planeten wohl kaum länger verbergen; nicht zuletzt deshalb, weil sich zwei davon bereits an Bord befanden. Gerne hätte er sie abgesetzt und wäre unverzüglich zu der im Orbit wartenden Ikarus zurückgekehrt, doch diese Option stand ihnen nicht mehr offen, seit das Backbordtriebwerk der Fähre durch Drachenfeuer beschädigt worden war. Drachen! Er konnte es immer noch nicht glauben. Ihm fiel keine logische Erklärung ein, warum sie ausgerechnet auf dieser abgelegenen Welt auf Feuer speiende Kreaturen aus der irdischen Mythologie stießen. Es konnte sich nur um einen absurden Scherz der Evolution handeln!

Das andere Triebwerk war von Tara Sanchez, ihrer Pilotin, ebenfalls abgestellt worden, um Treibstoff zu sparen. Sie mussten einen sicheren Ort anfliegen, wo sie den angerichteten Schaden begutachten und umfangreiche Reparaturen durchführen konnten, und wo sie obendrein Zugang zu Nahrung und Wasser hatten – ihre mitgeführten Vorräte gingen bereits zur Neige. Wenn er den Worten seiner nicht ganz freiwillig zugestiegenen Passagiere Glauben schenken durfte, dann handelte es sich bei einer Stadt namens Ganthalas um genau einen solchen Ort. Trotz ihres reduzierten Tempos waren sie in der Lage, diese noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Bis es so weit war, standen ihnen aber noch ein paar Stunden Flug bevor.

Und dieser Flug dürfte interessant werden, dachte er bei sich. Nun, da sie der unmittelbaren Gefahr entkommen waren, ließen sich die Planetenbewohner nicht mehr mit Andeutungen hinhalten. Die beiden hatten, bei aller Dankbarkeit für ihre Rettung, natürlich ein verständliches Interesse daran, zu erfahren, wer die Leute waren, die sie in letzter Minute aus der Klemme befreit hatten. Während er noch seine Gedanken sortierte, um die richtigen Worte zu finden, bedrängten sie ihn schon mit Fragen.

Der eine, ein schlanker junger Mann um die zwanzig Jahre, mit kurzen dunkelbraunen Haaren, wirkte mitgenommen und erschöpft. In seinen Augen lag unverhohlenes Misstrauen. Seine Begleiterin, ein blondes Mädchen mit ein paar blassen Sommersprossen um die Nase, das noch ein paar Jahre jünger sein mochte, war in besserer Verfassung, obwohl auch sie nur knapp dem Tod entronnen war. Nicht zuletzt ihrer Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass die Fähre überhaupt noch in einem Stück war. Schon deshalb hatten sie eine Erklärung mehr als verdient, wie der Captain fand, zumal er ohnehin nicht zu den Menschen gehörte, die sich gerne in Ausflüchte retteten. Bloß wie erklärte man jemandem, der auf dem technologischen Niveau des Mittelalters lebte, was ein Raumschiff war? Eine Hand um einen Haltegriff gelegt, verlagerte er das Gewicht, um einen bequemeren Stand einzunehmen; dann holte er tief Luft: »Wir kommen nicht aus den Ländern westlich des Scheidegebirges«, verneinte er als Erstes eine zuvor geäußerte Vermutung der beiden. »Auch nicht von jenseits des Meeres …« Er würde es so einfach wie möglich machen: »Wir kommen von den Sternen.«

Ein Lautsprecher, auf Brusthöhe an seinem leichten Kampfanzug angebracht, übersetzte die Worte nahezu simultan in die Sprache der Einheimischen. Diese warfen sich gegenseitig ungläubige Blicke zu. Das Mädchen saß angeschnallt auf der Sitzbank zur Linken des Captains, der Junge ihr gegenüber zu seiner Rechten. Neben Letzterem hatte außerdem ihr dritter Passagier Platz genommen: eine schlanke junge Frau mit auffällig grasgrünen, lang über die Schultern herabfallenden Haaren. Auch sie starrte den Captain mit offenem Mund und großen Augen an, dabei hätte die Offenbarung sie keineswegs überraschen dürfen, stammte sie doch ebenso wenig von hier: Sie war eine sogenannte Alpha, ein synthetischer Organismus, der unter strengster Geheimhaltung in den Laboren der Aegis-Division entwickelt worden war, um gefährliche verdeckte Operationen durchzuführen. Was sie mit den anderen beiden zu schaffen hatte, wusste Meyers nicht, aber er würde es hoffentlich in Kürze herausfinden …

»Jeder Stern«, führte er zunächst aus, »ist aus der Nähe betrachtet eine Sonne wie die eure und scheint auf eine Welt wie Eddor. Nun ja, nicht genau wie Eddor«, schränkte er ein, »aber sehr ähnlich. Ähnlich genug, dass dort Menschen leben können.« Er vereinfachte hier ganz bewusst. Natürlich war nicht jeder Stern wie die hiesige Sonne beschaffen und natürlich war nicht jedes Sonnensystem bewohnt, auf solche Details kam es aber im Moment nicht an.

»Von den Sternen?« wiederholte das blonde Mädchen zweifelnd. »Gehört Ihr zu den Ewigen? Seid Ihr gekommen, um das Zaihor zu bekämpfen?«

Ewige? Ratsuchend blickte der Captain, der am Kopfende der Passagierkabine stand, zu den Mitgliedern seiner Crew. Ivan und Dex saßen rechts und links des blonden Mädchens, Divone auf der anderen Bank neben der Alpha. Ihre eng anliegenden Kampfanzüge aus schwarzem Synthoflex bildeten einen scharfen Kontrast zur hellen Leinenkleidung der anderen drei. Sie alle zuckten mit den Schultern. Den Blick ins Cockpit sparte er sich. Tara würde sich schon zu Wort melden, wenn sie etwas zu sagen hätte. Der Begriff Zaihor wurde von seiner Biotronik nicht übersetzt, was nicht mehr und nicht weniger hieß, als dass sich keine eindeutige Entsprechung in der Datenbank des Neuralimplantates fand.

»Wir sind keine Ewigen, was immer das sein mag«, erwiderte er nach kurzem Zögern. »Und wir sind auch nicht hier, um gegen irgendjemanden zu kämpfen.«

»Aber Ihr habt uns vor den abtrünnigen Kesenchai gerettet«, warf sie ein. »Ohne Euer Eingreifen hätten wir ausweglos in der Falle gesessen.«

»Diese Mistkerle«, knurrte Ivan. Der hünenhafte Waffenoffizier ließ die Faust in die offene Handfläche klatschen. »Ich möchte wissen, wie sie sich so schnell bewegen konnten und mit welchem gottverdammten Trick sie meine Granate abgewehrt haben.«

»Sie sind Salas Kai«, antwortete das Mädchen, als sei dies Erklärung genug.

Der Captain beschloss, diesen durchaus interessanten Fragen später nachzugehen. Dass sie die beiden gerettet hatten, stimmte sicherlich, doch hatte ihre Mission nicht ihnen gegolten; sie hatten lediglich Glück gehabt, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein.

»Wir sind hier, weil unser Stützpunkt auf diesem Planeten zerstört wurde. Hundertsechsunddreißig Menschen sind dabei gestorben. Wir untersuchen, was vorgefallen ist.«

Er sah der Alpha nun direkt in die Augen. Sie waren ebenso grün wie ihr Haar, noch immer spiegelte sich darin ein Ausdruck naiver Neugier. Was spielte sie für ein Spiel? Er beschloss, sie direkt zu konfrontieren: »Du müsstest es wissen, Alpha Fünf-Acht-Siebzehn. Wir haben Videoaufzeichnungen geborgen, die zeigen, dass du zur fraglichen Zeit vor Ort warst.«

»Warum nennt Ihr sie so?«, beschwerte sich der Junge. »Ihr Name ist Tao.«

Meyers hob verwundert eine Augenbraue. »Das ist meinen Informationen zufolge nicht korrekt«, entgegnete er. »Tao ist lediglich die Bezeichnung des Geheimprojektes, in das sie zuletzt involviert war. Ich weiß nicht, ob Alphas überhaupt Namen führen.«

Das wusste er tatsächlich nicht, aber wie er die Aegis-Division einschätzte, wohl eher nicht, eine Nummer erfüllte schließlich auch ihren Zweck. Verflucht sei dieser menschenverachtende Geheimdienst! Er würde darauf drängen, dass es eine gründliche Untersuchung von offizieller Seite gab, sobald diese Sache ausgestanden war. Wenn es nach ihm ging, würde er den ganzen Laden dichtmachen, aber darüber hatten Politiker zu entscheiden, während er zunächst einmal gezwungen war, wohl oder übel den Dreck wegzuräumen und den angerichteten Schaden zu minimieren.

»Ihr redet ja von ihr, als wäre sie eine Sache«, empörte sich nun das Mädchen. Es war ihr anzusehen, dass ihr der synthetische Organismus nicht gleichgültig war. Womöglich war in der Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, zwischen ihnen so etwas wie Freundschaft entstanden. Ob die Alpha emotional in der Lage war, diese auch zu erwidern, oder den anderen nur etwas vorspielte, konnte er zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen.

»Nun, jedenfalls ist sie kein Mensch«, rechtfertigte er sich, was ihm sofort erboste Widerworte von beiden Planetenbewohnern einbrachte. Der Junge stemmte sich gegen den Sicherheitsgurt, als wolle er aufspringen, wusste aber offenbar nicht, wie dieser zu lösen war. Glücklicherweise legte die Grünhaarige ihm in diesem Moment beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Es ist wahr«, gestand sie. Sie sprach flüssig in der Sprache der Einheimischen und brauchte dafür keine Übersetzungshilfe. »Ich war dort, als es passierte. Schlimmer noch. Ich habe es angerichtet.« Sie sah in Richtung des Captains, aber ihre Blicke gingen durch ihn hindurch in die Ferne. Ihre Augen füllten sich beim Sprechen mit Tränen. »All diese Toten. All die Zerstörung. Chaos, Schreie, Schüsse. Es war die Kraft, die sie mir gaben … Ich konnte sie nicht kontrollieren. Ich wollte es, aber ich schaffte es nicht. Ich habe mein Gedächtnis verloren. Ich weiß nicht genau, wie ich es getan habe, aber es sind genug Brocken zurückgekehrt, um mir sicher zu sein, dass ich es ausgelöst habe. Danach bin ich weggelaufen. Allein durch den Schnee. Durch die Dunkelheit …«

Ganz folgen konnte Meyers ihren Worten nicht, aber er war von der Traurigkeit in ihrer Stimme überrascht. Sie hörte sich nicht gestellt an. Technisch gesehen mochte sie ein Produkt der Bio- und Nanotechnologie sein, aber das hieß nicht zwingend, dass ihre Gefühle deshalb weniger echt oder weniger intensiv sein mussten.

»Erinnerst du dich daran, was der Zweck des Projektes war? An deine genauen Befehle?«

Während sie noch ratlos mit den Schultern zuckte, mischte sich der Junge bereits wieder ein: »Erzähl ihnen nichts! Das sind dieselben Leute, die Ralm entführt und ihm den Angral weggenommen haben. Sie haben ihm dieses furchtbare Ding in den Kopf gepflanzt!« In einem weiteren vergeblichen Versuch, sich loszureißen, zerrte er an den Gurten. »Wahrscheinlich haben sie uns nur gerettet, um uns gefangen zu nehmen und uns auch so eins zu verpassen!«

Verwirrte Blicke wurden zwischen dem Captain und seinen Crewmitgliedern getauscht. Es war Divone, die als Erste einen Verdacht hatte, was der tobende Passagier meinen könnte. Sie beugte sich vor und hielt ihm ihr linkes Handgelenk entgegen. Ihr Armbandkommunikator erwachte auf einen Gedankenbefehl hin zum Leben. Das polymorphe Material des fugenlosen silbernen Armreifes verschob sich leicht, woraufhin kleine Holoprojektoren zum Vorschein kamen, die das Porträtfoto eines älteren Mannes mit wettergegerbten Gesichtszügen auf eine Ebene wenige Zentimeter über ihrem Handrücken projizierten.

»Ist das der Mann, den du meinst?«

»Das wisst Ihr ganz genau!«

»Was ihm zugestoßen ist, bedauern wir sehr«, erklärte die Offizierin. »Diejenigen, die das taten, handelten unverantwortlich und gegen unsere Gesetze.«

»Ich glaube kein Wort davon!«, schimpfte der Junge und bäumte sich gegen seine vermeintlichen Fesseln. Dem Captain reichte es nun. Mit zwei Schritten war er bei ihm und berührte den Öffnungsmechanismus. Der Gurt wurde in die Bordwand zurückgezogen.

»Ihr seid nicht unsere Gefangenen!«, machte er unmissverständlich klar.

Meyers hoffte, dass dieser Vertrauensbeweis den Burschen beruhigen würde, doch womöglich hatte er sich getäuscht. Der junge Kerl sprang auf die Füße, die Fäuste geballt, als wolle er jeden Moment zuschlagen. Dann jedoch verdrehte er die Augen und seine Beine gaben nach.

»Cordian! Was ist mit dir?«, rief die Alpha erschrocken. Auch seine andere Begleiterin hielt sich bestürzt die Hand vor den Mund. Der Junge stammelte noch etwas, sank zu Boden und regte sich dann nicht mehr.

Divone schnallte sich sofort los und kniete neben ihm nieder. »Ohnmächtig«, diagnostizierte sie schnell. »Vermutlich ist sein Kreislauf kollabiert. Helft mir, ihn auf den Rücken zu drehen und seine Füße hochzulegen. War er in den letzten Tagen außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt, oder hat er irgendwelche Krankheitssymptome gezeigt?«

Die Frage war an seine Begleiter gerichtet, die einzigen, die sie beantworten konnten.

»Er … er hat zwei Tage im Fieber gelegen«, stammelte das Mädchen.

»Erst heute Morgen ist er wieder aufgewacht«, fügte die Alpha sogleich hinzu.

»Und die Kesenchai haben ihm übel zugesetzt«, ergänzte Erstere.

»In Ordnung, ich gebe ihm etwas«, beschloss Divone und holte einen Subkutaninjektor aus einer schmalen Umhängetasche, die sie bei sich führte. Sie verabreichte dem Gestürzten das Mittel, nachdem es ihr und den anderen Crewmitgliedern mit vereinter Anstrengung gelungen war, ihn auf den Rücken zu drehen. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Lippen spröde. Er hatte die ganze Zeit schon nicht besonders gut ausgesehen; jetzt glich er einem Geist.

»Das sollte helfen«, befand die ausgebildete Ärztin schnaufend. Meyers machte sich Sorgen um die zierliche Frau. Sie sah nicht wirklich besser aus als ihr Patient. Die Wirkung des Giftes, das Divone sich vor ihrem Einsatz notgedrungen gespritzt hatte, war noch nicht vollständig verflogen.

Ihrer Prognose entsprechend öffnete der Behandelte wenige Augenblicke später schwach die Augen und stöhnte leise.

»Er braucht jetzt vor allem Ruhe und Flüssigkeit«, verkündete die Offizierin und schleppte sich wieder an ihren Platz. »Und ich auch.«

Meyers registrierte mit Interesse, wie sich die blonde Planetenbewohnerin nach einigem Herumtasten von ihrem Gurt befreite und sich zu ihrem darniederliegenden Begleiter bückte – sie lernte schnell. Sanft schob sie ihre Hand unter seinen Kopf, gab ihm ein paar Schluck aus einer Feldflasche, die Dex ihr reichte, und redete beruhigend auf ihn ein, bis er die Augen schloss. Sein regelmäßiger Atem verriet alsbald, dass er eingeschlafen war. Seufzend wies der Captain seine Crew an, eine der Sitzbänke freizumachen und ihn darauf zu betten. Wenigstens hielt er nun Ruhe.

»Also dann«, ergriff er endlich wieder das Wort, nachdem er sich ausgiebig geräuspert hatte. »Wo waren wir stehen geblieben?«

 

Das folgende Gespräch war sehr aufschlussreich für den altgedienten Raumschiffkommandanten. Endlich fügten sich all die losen Enden zusammen. Nun ja, die meisten …

Sein Schiff war unter das Kommando der Aegis-Division, des Geheimdienstes der Galaktischen Union gestellt worden, um auf einem vom Stützpunkt ausgegangenen Notruf zu reagieren. Er machte sich nichts vor: Der einzige Grund, warum man sie hinzugezogen hatte, war der, dass die Ikarus mit ihrem experimentellen Antrieb so verdammt schnell war. Hätte die Aegis-Division gekonnt, hätte sie die Angelegenheit intern geregelt und kein Wort nach außen dringen lassen. Dem Geheimdienst wäre es ohne Zweifel am liebsten gewesen, die Existenz dieser fantastischen Welt noch ein weiteres Jahrzehnt vor dem Rest der Flotte – und was das anging, dem Rest der Menschheit – geheim zu halten. Wahrscheinlich wären sie damit sogar durchgekommen, aber nun konnten sie das vergessen. Zu viele Schweinereien waren schon ans Tageslicht getreten, als dass er einfach darüber hinwegsehen würde!

Was vorgefallen war, konnten sie inzwischen anhand der geborgenen Aufzeichnungen und der Schilderungen der geretteten Alpha rekonstruieren. Man hatte versucht, sie körperlich mit einer außerirdischen Energiequelle zu verschmelzen – sie selbst nutzte den Begriff Angral – und das war gründlich schief gegangen. Nun ja, nicht gänzlich, denn anscheinend trug sie nun die fremde Kraft in sich. Nur war dabei dummerweise der gesamte Stützpunkt verwüstet worden und die Künstliche Intelligenz der Einrichtung ausgerastet. Sie hatte mit automatischen Waffensystemen Jagd auf das Personal gemacht, und obendrein waren ein paar menschenfressende Ungeheuer aus ihren Käfigen ausgebrochen. Nicht unbedingt das, was er unter Erfolg verstand, soviel stand fest.

Was die Aegis-Division anging, so mochte sie das durchaus anders bewerten. Er wurde immer noch wütend bei dem Gedanken daran, dass ihr Verbindungsagent einen Antimateriesprengkopf an Bord seines Schiffes geschmuggelt hatte. Eine Massenvernichtungswaffe, die seine Behörde gar nicht besitzen durfte, und das einzig zu dem Zweck, im Notfall alle Spuren beseitigen zu können. Nun, wenigstens schmorte dieser Mistkerl nun in einer Arrestzelle …

Interessant war, was Tao – er begann, sich an den Namen zu gewöhnen, es war einfacher, eine Person mit Namen anzusprechen, als jedes Mal eine vierstellige Nummer zu nennen – anschließend widerfahren war. Der Junge, der auf den Namen Cordian hörte, hatte sie in der Wildnis aufgegriffen und davor bewahrt, von den blutrünstigen Norkai gefangen genommen und getötet zu werden. Meyers und seine Leute waren diesen wilden Kriegern selbst schon begegnet und hatten sie nur durch Einsatz ihrer Impulsgewehre davon abhalten können, über eine Gruppe von wehrlosen Zivilisten herzufallen. Es war sicher zu viel verlangt, von den Einheimischen dieser Welt zu erwarten, sich an herrschende Menschenrechtskonventionen zu halten, die sie unmöglich kennen konnten, aber Frauen und Kinder niederzumetzeln, hatte überall und zu jeder Zeit als Gräueltat gegolten.

Der Name des Mädchens war Lissina. Sie und Cordian hatten die verängstigte Tao kurzzeitig bei sich aufgenommen, bis sie selbst vor den anrückenden Barbarenhorden hatten fliehen müssen. Überrascht nahm er zur Kenntnis, dass es sich bei den beiden nicht nur um Geschwister, sondern auch um Kinder königlicher Abstammung handelte. Er hatte tatsächlich einen Prinzen und eine Prinzessin an Bord! Deren Rettung würde ihnen sicherlich ein paar Sympathiepunkte bringen, wenn sie in diesem ominösen Ganthalas eintrafen.

Sorgen machte ihm hingegen, dass jemand mit großer Macht und großem Einfluss auf diesem Planeten hinter der Alpha her war und über Leichen ging, um ihrer habhaft zu werden. Eigentlich hätte niemand hier von ihrer Existenz auch nur ahnen dürfen.

»Die Verdammten versuchen, sich aus ihrer dreitausend Jahre währenden Verbannung zu befreien«, erklärte die junge Prinzessin, als er genauer nachfragte. »Von jenseits des Tores manipulieren sie die Menschen, bringen sie dazu, ihnen und dem Zaihor zu dienen. Mithilfe der Angrale vermögen sie das Tor vollständig zu öffnen und nach Eddor zurückzukehren. Dann wird auch das Zaihor wiederkehren und die große Finsternis beginnen. So wurde es prophezeit.«

Gerne hätte der Captain dieses abenteuerliche Gerede als bloßen Aberglauben und religiösen Unsinn abgetan, doch er hatte schon zu viel Seltsames auf dieser Welt erlebt, um nicht ins Grübeln zu geraten. Still öffnete er über seine Biotronik eine private Visicom-Verbindung zu Divone. Der Rat seines Ersten Offiziers war ihm selten so willkommen wie jetzt. »Was halten Sie davon, Commander?«, formulierte er in Gedanken, ohne dass die anderen Anwesenden etwas von dem Gespräch mitbekamen.

»Viele Überlieferungen und Legenden beruhen auf einem wahren Kern«, antwortete die Angesprochene ebenso lautlos. »Wir wissen, dass es sich bei dem sogenannten Tor um ein außerirdisches Artefakt handelt, das von einer fortgeschrittenen Zivilisation erschaffen worden sein muss. Einer, die uns technologisch womöglich weit voraus war. Vielleicht benutzt jemand diese fortschrittliche Technologie, um es so erscheinen zu lassen, als ob er übernatürliche Kräfte besäße.«

»Gut möglich«, sinnierte Meyers. »Wenn dem so ist, dürfte er den anderen Planetenbewohnern gegenüber einen entscheidenden Vorteil besitzen. Wenn ich daran denke, was das für die Zivilbevölkerung bedeuten könnte, gefällt mir das gar nicht.«

»Mir auch nicht, Captain. Aber ich fürchte, wir können daran nichts ändern …«

»Vermutlich nicht …«, überlegte er und beendete das stumme Gespräch. Als Captain der Raumflotte musste er sich natürlich an die Vorschriften halten, und seine Mission sah nicht vor, direkt oder indirekt in einen Krieg einzugreifen, so edel seine Absichten auch sein mochten. In diesem Punkt hatte sie vollkommen recht. Er würde ohnehin in Erklärungsnöte geraten, wenn er seinen Missionsbericht ablieferte – manchmal war das Leben einfach ungerecht.

 

Glücklicherweise löste sich die anfängliche Spannung während des langen Fluges mehr und mehr. Cordian erwachte noch einmal für kurze Zeit und seine Schwester gab ihm ein wenig Wasser, dann dämmerte er wieder dahin. Divone versicherte ihr, dass sein erhöhtes Schlafbedürfnis eine ganz normale Reaktion auf das Medikament sei, das sie ihm gegeben hatte, und sie sich keine Sorgen zu machen brauche. Da eine Sitzbank blockiert war, musste seine Crew notgedrungen etwas enger zusammenrücken.

Tao und Prinzessin Lissina waren ihrerseits sehr neugierig und fragten Meyers geradezu Löcher in den Bauch.

»Dich ausfindig zu machen, war nicht leicht«, gestand er ein, als die Frage aufkam, wie er sie überhaupt gefunden hatte. »Geholfen hat uns das hier«, er reichte Tao ihren abgelegten Kommunikator. »Er ist auf deine biologische Signatur eingestellt. Als du ihn weggegeben hast, hat er ein Alarmsignal gesendet. Zudem hatten wir …«, er stockte. »Wir hatten noch andere Hinweise.« Dass es sich dabei um einen ausgesprochen seltsamen Traum gehandelt hatte, behielt er lieber für sich, bis er sich darauf selbst einen Reim machen konnte.

Die Grünhaarige nahm das silbrige Armband staunend entgegen. Das polymorphe Material wurde biegsam, als sie es über ihre linke Hand streifte und wieder steif, als es sich um ihr Gelenk geschmiegt hatte. Tao lächelte verzückt.

»Muss ich jetzt bei euch bleiben?«, fragte sie kurz darauf schüchtern, nachdem ihr Interesse an dem Gegenstand wieder erloschen war. »Ich würde nämlich lieber bei Cordian bleiben. Und bei Lissina; sie ist meine Freundin.«

Unsicher, wie er mit der Situation umgehen sollte, druckste der Captain einen Augenblick lang herum. »Das überlegen wir uns später, würde ich sagen«, verkündete er schließlich. »In aller Ruhe …«

Dies schien ihr fürs Erste zu genügen, dafür meldete sich nun Ivan über Visicom. »Ich würde auch gerne wissen, wie unser weiteres Vorgehen aussehen soll, Sir. Unseren Auftrag haben wir erfüllt: Wir kennen den Grund des Notrufs und Überlebende gibt es keine bis auf sie. Und sie macht nicht den Eindruck, unbedingt gerettet werden zu wollen. Sie benimmt sich wie ein großes Kind, nicht wie eine Spezialagentin.«

»Zunächst einmal werden wir zusehen, dass wir die Fähre wieder raumtüchtig machen und zur Ikarus zurückkehren können«, antwortete der Captain. »Außerdem müssen wir die Flotte von den bisherigen Entwicklungen informieren und neue Befehle einholen. Derweil werden wir verhindern, dass Tao oder diese seltsame Energiequelle in die falschen Hände fallen. Wir sind noch lange nicht raus aus dieser Sache.«

Früher oder später, das war Meyers klar, würden sie Tao von hier wegbringen müssen. Sie war Soldatin, ob sie sich erinnerte oder nicht, und war damit an Pflichten gebunden. Die Frage war, ob sie dann freiwillig folgen würde oder er sie dazu zwingen musste. Was wiederum die Frage aufwarf, ob er sie denn zwingen konnte. Er war nicht begierig darauf, dass seinem Schiff das gleiche widerfuhr wie der geheimen Einrichtung der Aegis-Division, die es gründlich in Einzelteile zerlegt hatte.

Diese Grübeleien schlugen ihm mehr aufs Gemüt, als er sich eingestehen wollte. Für weitere Fragen verwies er die beiden neugierigen jungen Frauen deshalb an Lieutenant Dex, der sie bereitwillig und ausführlich beantwortete. Sollte der junge Offizier mit dem kahl rasierten Schädel seinen ermüdenden Hang zum Quasseln ruhig einmal ausleben. Und tatsächlich hingen sie schon bald wie gebannt an seinen Lippen, als er ihnen von fremden Welten und technischen Wundern zu erzählen begann.

 

Der alte Captain wurde erst aus seinen Überlegungen gerissen, als sich die drei irgendwann an ihm vorbei Richtung Cockpit drängten.

»Ich verstehe immer noch nicht, wie dieses Gefährt fliegen kann«, ließ Lissina verlauten. »Ich meine, der ganze Stahl und all das ist doch unheimlich schwer!«

Dex schmunzelte amüsiert. »Nun, vielleicht kann Tara …«, er berichtigte sich sogleich, »ich meine Lieutenant Sanchez, das kurz erklären.«

Die Pilotin drehte den Kopf in seine Richtung und rollte genervt mit den Augen, begann dann aber trotzdem, einen kleinen Vortrag zum Thema Auftrieb aus dem Ärmel zu schütteln. Während die Prinzessin aufmerksam lauschte, sah Tao sich staunend um.

»Ich habe so etwas schon mal gesehen«, verkündete sie plötzlich. »Man steuert, indem man diesen Knüppel bewegt«.

»Vereinfacht gesagt ist das richtig«, bestätigte Tara, in ihren Ausführungen innehaltend, »auch wenn man natürlich auf weit mehr Dinge zu achten hat …«

»Darf ich mich mal setzen?«, fragte die Grünhaarige mit erwachter Neugier. »Ich glaube, ich erinnere mich an etwas …«

Die Pilotin, der dieser Vorschlag offenkundig gar nicht zusagte, sah fragend in Meyers’ Richtung.

»Lassen Sie die Kleine mal ran«, wies dieser sie über Visicom an. »Vielleicht hilft es dabei, ihr verschüttetes Gedächtnis aufzufrischen. Aber sperren Sie vorher die Kontrollen, ich will keine Bruchlandung erleben müssen.«

Tara erhob sich dem Befehl folgend widerstrebend aus dem Pilotensitz und bedeutete der anderen Frau, Platz zu nehmen.

»Keine Sorge«, meldete sie lautlos zurück. »Die manuellen Kontrollen sind blockiert und eine Biotronik hat sie ja offenbar nicht.«

Ja, das gänzliche Fehlen des kleinen metallischgrauen Kontaktpads an der linken Schläfe der Alpha war ihm ebenfalls aufgefallen. Seltsam: Für Flottenangehörige war das Neuralinterface beinahe unabdingbar. Nur bei seltenen biologischen Unverträglichkeiten wurden umständlichere Ersatzlösungen angewandt. Warum sollte die Aegis-Division gerade bei ihrem Spitzenprodukt darauf verzichten?

Nun, möglicherweise ja, weil sie keine solche benötigte: Kaum da Tao sich in den Pilotensitz geschwungen hatte, meldete die Fähre das Zustandekommen einer Neuralverbindung zu einer neuen Pilotin.

Tao riss Mund und Augen auf und tastete mit den Armen in der Luft herum, ganz so, als versuche sie, nach den virtuellen Anzeigen und Diagrammen zu greifen, die das Implantat – oder was immer sie stattdessen benutzte – direkt in ihrem Gehirn erzeugte. Für sie musste es den Anschein haben, als ob sie frei im Raum um sie herum schwebten.

»Es spricht zu mir«, murmelte sie verblüfft. Meyers spürte, wie sich die Fähre leicht zur Seite zu neigen begann.

»Ich denke, das reicht jetzt!«, entschied Tara und schob die andere mit sanftem Druck geradezu aus dem Sitz. Sofort stabilisierte sich der Raumgleiter wieder. Als sich die Pilotin ihr dunkles halblanges Haar mit den auffälligen roten Strähnen zurückstrich, standen ihr Schweißperlen auf der Stirn: »Verzeihung, Captain«, entschuldigte sie sich über Visicom, »ich wusste nicht, dass sie das kann.«

Divone, die ebenfalls mitbekommen hatte, was vorgefallen war, schaltete sich wie aufs Stichwort ins Gespräch ein und bot einen Erklärungsvorschlag an: »Vielleicht sind biotronische Funktionen bereits in ihren organischen Bauplan integriert. Ein schwacher Nahbereichssender wie derjenige des Kontaktpads könnte auch unter der Haut verborgen sein.«

»Wie dem auch sei«, befand Meyers, »Kommunikation ab jetzt nur noch verschlüsselt. Das gilt für alle.«

 

Von diesem kleinen Beinahe-Unfall abgesehen, verlief der Rest des Fluges ruhig. Dies gab dem Captain Gelegenheit, ein wenig über das angesteuerte Ziel in Erfahrung zu bringen. Er und seine Leute wussten nahezu nichts über diesen Planeten. Man hatte ihnen lediglich das verraten, was zur Erfüllung ihrer Mission notwendig war, und dabei waren keine Zwischenstopps in dicht besiedelten Gebieten eingeplant gewesen. Angesichts des auf dieser Welt herrschenden mittelalterlichen Entwicklungsstandes war er froh, zu hören, dass das Königreich Eltera, auf dessen Hauptstadt sie Kurs gesetzt hatten, als modern und fortschrittlich galt. Das steigerte die Chancen, dort materielle Hilfe zu erhalten, auch wenn er im Moment noch optimistisch war, dass sie den Triebwerksschaden selbst beheben konnten, sollte es nötig sein.

Je näher sie Ganthalas kamen, desto mehr wandelte sich die Landschaft, die unter ihnen hinwegglitt: Hatten vorher dichte Wälder das Bild bestimmt, nur gelegentlich von Weideland oder kleineren Ortschaften durchsetzt, so überflogen sie nun ein immer kompakteres Mosaik aus Ackerflächen. In der Entfernung konnten sie hin und wieder von Mauern umgebene Städte erspähen. Die Besiedlung wurde dichter, auch wenn man natürlich nicht von urbanem Terrain nach moderner Definition sprechen konnte. Meyers beobachtete dies alles interessiert über die Außenkameras, die ihr Bild über das Neuralinterface in ein kleines Fenster seines Sichtfeldes einspeisten. Wie viele Menschen mochten überhaupt auf diesem Planeten leben? Hundert Millionen? Bestenfalls eine halbe Milliarde, schätzte er. Und diese lebten hier seit Jahrtausenden abgeschieden vom Rest der Galaxis. Nun kamen sie in Kontakt mit einer Kultur, die sie nicht nur zahlenmäßig um ein Vielfaches übertraf, sondern auch noch technologisch etwa tausend Jahre Vorsprung hatte. Wie würde sich das auf sie auswirken? Unbewusst kamen ihm Bilder von Ureinwohnern des amerikanischen Kontinents auf der Erde in den Sinn, die erst gejagt und dann in Reservate gesteckt worden waren. Kein besonders schöner Gedanke. Nein, dachte er, diese Fehler durfte die Menschheit nicht wiederholen. Er würde diese Leute mit dem Respekt behandeln, den sie verdienten – und ihnen kein Feuerwasser verkaufen. Meyers grinste gedankenverloren. Er ganz sicher nicht!

 

Dann war es schließlich so weit: Die goldene Kuppel war das Erste, was sie am Horizont ausmachten. Sie reflektierte das Licht der tief stehenden Sonne derart hell, dass man glauben konnte, einen doppelten Sonnenuntergang zu erleben. Zusammen mit einer Handvoll Nebenkuppeln krönte sie eine beeindruckende Befestigungsanlage, die von mehreren Mauerringen umgeben auf einem terrassenartig angelegten Hügel über einer weitläufigen Stadt thronte. Je näher sie kamen, desto mehr Details wurden erkennbar: Einige Gebäude überragten die anderen deutlich – Meyers glaubte, ein rundes Stadion oder Amphitheater zu erkennen; auch ein kathedralenähnlicher Bau mit hoch aufragendem Turm war zu sehen. Große Ausfallstraßen teilten das Häusermeer, weiteten sich zu gepflasterten Plätzen oder verästelten sich zu immer engeren Gassen. Kutschen und Karren wuselten dort geschäftig hin und her. Von oben betrachtet ging es zu wie in einem Ameisenhaufen.

Dex, der ebenfalls die Aussicht genoss, pfiff anerkennend durch die Zähne. Der Captain lachte und klopfte dem jungen Offizier auf die Schulter. »Braucht sich hinter dem historischen Rom nicht zu verstecken, was, Lieutenant?«

»Ich weiß nicht, Sir«, antwortete dieser. »Ich war noch nie auf der Erde.«

»Sollten Sie dringend nachholen, ist immer eine Reise wert.«

»Mache ich sofort, wenn ich endlich mal meinen Urlaub bewilligt bekomme«, gab der Junge schnippisch zurück.

Tao und die Prinzessin hatten sich derweil zu Tara ins Cockpit gedrängt, um durch die Frontscheibe etwas sehen zu können. Die Pilotin ließ sie widerwillig gewähren.

»Drehen Sie eine Runde und suchen Sie einen geeigneten Landeplatz«, wies Meyers sie mündlich an – es gab keinen Grund, dass ihre Gäste das nicht mitbekommen sollten – und fügte hinzu: »Am besten ein wenig außerhalb. Wir wollen so unbedrohlich wie möglich erscheinen.«

Die Raumfähre hatte etwas an Höhe gewonnen und flog nun einen weiten Bogen über die Außenbezirke der Stadt. Das orange Licht der untergehenden Sonne floss um ihren silbrigen Rumpf und ließ sie fast wie in Feuer gehüllt erscheinen. Wenn Meyers mit den Außenkameras hinunter in die Straßen zoomte, konnte er erkennen, dass die Menschen überall in ihrem Tun innegehalten hatten und zum Himmel starrten. Man hatte sie bemerkt.

»Wir können im Palasthof landen«, schlug Lissina vor. »Eltera und Keldor sind treue Verbündete, die werden schon nicht über uns herfallen. Und wir müssen dringend mit König Regaland reden und ihn vor der Gefahr aus dem Norden warnen. Je eher, desto besser.«

»Genug Platz wäre vorhanden«, befand Tara. »Jede Menge Grünflächen.«

Nachdenklich kratzte Meyers sich am Hinterkopf. »Also gut«, entschied er. »Wir probieren es. Falls sie auf uns schießen, drehen wir sofort ab.«

Gesagt, getan: Die Fähre wurde langsamer und sank tiefer. Die Mantelrotoren ermöglichten es ihr, senkrecht und punktgenau auf einem Stück Rasen innerhalb der Palastanlage aufzusetzen. Sofort eilten mit Spießen und Bögen bewaffnete Wachen aus allen Richtungen herbei. Erleichtert stellte der alte Captain fest, dass sie nicht schossen und respektvollen Abstand hielten. Nun konnte der aufregende Teil beginnen.

 

Ein paar Minuten warteten sie ab. Lange genug, dass die Nachricht von ihrer Ankunft die wichtigen Entscheidungsträger erreichen konnte. Da sie währenddessen weder von Pfeilen gespickt noch mit brennendem Öl übergossen wurden, hielt Meyers den Zeitpunkt für gekommen, sich zu zeigen. Er und die Prinzessin würden allein nach draußen gehen, die anderen würden in der Fähre bleiben und die Lage überwachen. Die Soldaten waren nervös, das war ihnen deutlich anzusehen, also wollten sie diese nicht noch zusätzlich reizen.

»Wird man dich denn in diesem Aufzug erkennen?«, fragte er die junge Frau, als die Heckklappe langsam aufschwang. Sie sieht nicht besonders königlich aus im Moment, dachte er. Die helle Tunika, die sie trug, genau wie die dazugehörigen Beinkleider, waren eher die Kleidung der einfachen Bevölkerung und ihr Haar war zerzaust, als hätte sie letzte Nacht im Heu geschlafen. Ihm fiel ein, dass er vielleicht selbst ein wenig respektvoller mit ihr reden sollte, und fügte schlechten Gewissens an: »Eure Hoheit.«

Sie sah ihn verwundert an, als wäre ihr der Gedanke noch gar nicht gekommen. »Keine Ahnung, ich hoffe es«, antwortete sie verlegen. »Ich war noch nie hier.«

Ein Seufzen entwich ihm.

»Aber Regaland war schon einmal in Keld«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Damals war er noch nicht König, aber Konsul oder Botschafter oder irgend so etwas, auf jeden Fall wurde ich ihm vorgestellt. Ach ja, und Hoheit ist nicht nötig, Lissina reicht völlig.« Sie lächelte aufmunternd.

»Hm«, machte der Captain. »Wie alt warst du damals, Lissina?«

Die Prinzessin überlegte kurz. »Sechs oder sieben Jahre?«

Meyers schüttelte den Kopf. Es war ohnehin zu spät, es sich anders zu überlegen. Die Klappe stand offen und nun mussten sie sich zeigen. Er überlegte, seinen Helm zu aktivieren – sein leichter Kampfanzug mochte ihn vor Pfeilen schützen, ein Bolzen in den Kopf war für ihn indes genauso tödlich wie für jeden anderen – doch er entschied sich dagegen. Das schwarze Synthoflex mit den Komposit-Verschalungen an Brust, Unterarmen, Knien und weiteren Körperstellen dürfte auch so schon befremdlich genug auf die Einheimischen wirken. Es ging darum, Vertrauen aufzubauen, weshalb er auch auf seine Waffe verzichtete.

Sie traten hinaus, und wie zuvor abgesprochen, überließ er der Prinzessin das Reden: »Ich bin Lissina Leongart, Tochter von Garin Leongart«, rief sie den Wachen entgegen, »Prinzessin von Keldor! Ich komme mit einer dringenden Botschaft für König Regaland den Vierten!«

Einen Augenblick lang geschah nichts. Man konnte die Anspannung in der Luft beinahe fühlen. In Meyers Richtung flüsterte sie leise: »Ich hoffe, es ist der Vierte, und nicht doch schon der Fünfte. Ich habe mir nie besonders viel aus Politik gemacht …«

Der Captain rollte still mit den Augen und zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen. Da – plötzlich kam Bewegung in die Palastwachen, als sich eine kleine, fast unscheinbar wirkende Frau durch die Reihen nach vorne schob. Unscheinbar bis auf die violette Robe, die sie trug, und die ihn vom Schnitt her unangenehm an die der Drachenreiter erinnerte, die ihr Triebwerk auf dem Gewissen hatten. Fünfzehn Meter vor der Fähre blieb sie stehen und musterte die Neuankömmlinge interessiert, aber ohne Furcht, bevor sie die Stimme hob: »Der König erwartet Euch bereits. Folgt mir bitte.«

Meyers hob verdutzt die Augenbrauen. Dass es so schnell ging, hatte er nicht erwartet.

 

Einige Zeit später inmitten des riesigen Thronsaales staunte der alte Raumschiffkommandant immer noch. Über den zur Schau gestellten Luxus im Allgemeinen und über die juwelenbesetzte Nachbildung des Sternenhimmels über ihm im Besonderen. Er fragte sich, ob einer dieser glitzernden Punkte die Sonne der Erde darstellte, aber ohne den Himmel über Eddor zu kennen, ließ sich das nicht so ohne Weiteres feststellen.

Die Wachen hatten darauf bestanden, dass nur Lissina, er selbst sowie einer seiner Leute zum König vorgelassen werden durften. Unbewaffnet natürlich. Falls man sie tatsächlich erwartet hatte, wie von der mysteriösen Frau angedeutet, so ging man trotzdem auf Nummer sicher. Er hatte entschieden, dass Dex sie begleiten würde. Divone hatte solange das Kommando, Tara hielt sich startbereit und Ivan war der Mann, der sie zur Not raushauen musste, sollte etwas schief gehen. Über die integrierte Kamera seines Headsets, das halbkreisförmig seinen Hinterkopf umschloss und mit dem hohen Kragen seines Kampfanzuges verbunden war, bekam seine Crew alles mit und würde sofort reagieren können. Er ging eben auch gerne auf Nummer sicher.

Wie sich herausgestellt hatte, war ein Botenreiter aus Keldor vor Kurzem in Ganthalas eingetroffen, der Lissinas Identität zweifelsfrei bestätigen konnte, zumindest diese Sorge hatte sich also erübrigt …

Nun standen sie dem König gegenüber, der sie von seinem Thron herab aufmerksam musterte. Der Mann mochte siebzig sein und damit etwa in seinem Alter, auch wenn Meyers durch die Segnungen der modernen Medizin gut zwanzig Jahre jünger wirkte. Es wurden nur wenige Höflichkeiten ausgetauscht – die Prinzessin kam gleich zur Sache und schilderte die Lage: Das ehemals stolze Königreich von Keldor war von den barbarischen Norkai im Handstreich besiegt worden. Diese hatten nicht nur mehr Soldaten aufgeboten, sondern waren auch besser organisiert gewesen, als man je für möglich gehalten hatte. Hinzu kamen ihre abgerichteten Bestien, groteske Mischwesen aus Mensch und Wolf, mit denen Meyers ebenfalls schon unliebsame Bekanntschaft gemacht hatte. Er schauderte bei dem Gedanken, wie es sein musste, Hunderten dieser Kreaturen gegenüberzustehen und das mit nichts weiter als einfachen Handwaffen, so wie es den Truppen Keldors widerfahren war. Er schauderte noch mehr, als er die Berichte von verbrannten Dörfern und hingerichteten Gefangenen hörte. Krieg war nie schön, es gab immer Tote. Dennoch war es ein Unterschied, ob man einen Krieg gegen eine Armee oder gegen die Zivilbevölkerung führte.

Die junge Frau hatte eine Kurzfassung der Geschichte wiedergegeben, die sie Meyers bereits zuvor erzählt hatte. Viele Details hatte sie dabei ausgelassen, Taos Rolle in der Sache sogar komplett verschwiegen. Aufmerksam registrierte er die Reaktion der Berater des Königs, die im weiten Halbkreis links und rechts des Thrones saßen, als Lissina die sogenannten Verdammten als treibende Kraft hinter den Kriegshandlungen nannte. Es setzte regelrecht Tumult ein, und einige hielt es nicht mehr auf den Stühlen. Er kannte das Protokoll zwar nicht, aber war sich fast sicher, dass dies eine Verletzung desselben darstellte. Der König selbst jedoch, und die Frau in der violetten Robe, die sich stehend im Hintergrund hielt, wirkten nicht überrascht und tauschten im Gegenteil vielsagende Blicke. Ein älterer Mann mit einer federgeschmückten Filzhaube auf dem Kopf – Meyers hatte seinen Namen vergessen, aber er saß nahe beim König, musste also wichtig sein – rief indes laut in ihre Richtung: »Wir lassen uns doch von einem verängstigten Mädchen nicht zum Narren halten!«

Die Stirn ärgerlich in Falten gezogen, wollte Lissina gerade zu einer Entgegnung ansetzen, da trat zu Meyers Missfallen Dex einen Schritt vor und nahm sie in Schutz: »Hey, sie ist wesentlich mutiger, als ihr denkt!«

»Ruhig bleiben, Lieutenant«, wies Meyers seinen Mann lautlos über Visicom zurecht, da ihm nicht entgangen war, dass eine der Wachen die Spitze ihrer Hellebarde auf seinen Offizier gerichtet hatte.

Es bedurfte schließlich einiger strenger Worte des Regenten, um wieder Ruhe einkehren zu lassen: »Das Königreich von Eltera nimmt die Schilderungen Prinzessin Lissinas ausgesprochen ernst. Am morgigen Tage wird der Thronrat zusammentreten und Maßnahmen erörtern, wie der Gefahr aus dem Norden angemessen begegnet werden kann.«

Der König vergewisserte sich mit einem Blick in die Runde, dass jeder verstanden hatte, und fuhr dann fort: »Nun brennen wir alle darauf, zu erfahren, was es mit Euch auf sich hat, Captain Mey…«

Regaland stolperte ein wenig über den fremd klingenden Namen, also half ihm der Raumschiffkommandant rasch aus: »Meyers. John Meyers. Dies ist mein Navigator, Eric Dex. Es ist uns eine Ehre, an Ihrem Hof willkommen geheißen zu werden, Majestät …«

»Ja, ja«, unterbrach ihn der Monarch mit einem ungeduldigen Wink, »verschieben wir die Formalitäten auf später. Ich würde gerne als Erstes wissen, wie Ihr das mit Eurer Stimme macht. Ihr redet mit zwei Zungen gleichzeitig – das ist ausgesprochen irritierend.«

Meyers musste schmunzeln. Der alte Kerl hatte einen Sinn fürs Praktische, das machte ihn in seinen Augen sogleich sympathisch.

»Nur eine kleine technische Spielerei«, wiegelte er ab, während der Lautsprecher seine Worte übersetzte. Dabei entging ihm nicht das Getuschel in den Reihen der Berater. Er glaubte, das Wort Hexerei herauszuhören. »Ich beherrsche Ihre Sprache noch nicht, sonst würde ich Ihnen die Verwirrung gerne ersparen.«

Der König nickte abwägend. »Ich weiß nicht, was ich faszinierender finde. Diese Spielerei, wie Ihr es nennt, oder Eure absonderliche Flugmaschine. Die Stadtwache musste ausrücken, das Volk zu beruhigen, wie man mir berichtete. Die Menschen dachten, ein Drache habe den Palast angegriffen. Was kommandiert Ihr da? Eine Art fliegendes Schiff? So etwas hat man hier noch nicht gesehen. Von wo stammt Ihr?«

Meyers räusperte sich. »Ich kommandiere eine Fregatte der Raumflotte der Galaktischen Union.« Er tippte mit dem Finger auf das in den Oberarm seines Anzuges eingenähte Hoheitszeichen, das die galaktische Scheibe vor blauem Grund zeigte. »Das Gefährt draußen im Hof ist lediglich eine Art Beiboot. Mein Schiff schwimmt nicht auf dem Wasser und fliegt auch nicht einfach durch die Luft, sondern kreuzt am Himmel zwischen den Sternen, denn dort liegt unsere Heimat.«

Als er aufhörte, zu sprechen, herrschte absolute Ruhe im Saal. Er konnte beinahe sehen, wie es in den Gesichtern der Anwesenden arbeitete. Jetzt war es also raus. Diesmal waren wirklich alle überrascht, der König und die Robenträgerin eingeschlossen. Der Mann zur Rechten des Regenten fand als Erster die Sprache wieder. In seinem Aufzug erinnerte er den Captain irgendwie an einen christlichen Bischof, nur dass nirgendwo ein Kreuz zu erkennen war. Dafür gab es diese beiden konzentrischen Kreise, die er an anderer Stelle schon einmal gesehen hatte; möglicherweise ein Symbol von religiöser Bedeutung.

»Nur die Ewigen reisen zwischen den Sternen«, hauchte er. »Die Kinder Arns. Hat der Allmächtige Euch geschickt?«

Meyers schüttelte den Kopf. »Auch wenn ich das schon öfter gefragt worden bin. Nein, wir sind keine Ewigen oder dergleichen, und einen Arn kennen wir auch nicht. Wir würden uns aber freuen, mehr darüber zu erfahren und …«

»Blasphemie!«, heulte der Geistliche auf. »Er verleugnet unseren Schöpfer und Erlöser!«

»Kardinal Vaspar!«, fuhr der König ihm dazwischen. »Ich muss Euch nicht daran erinnern, dass es in Eltera kein Gesetz gibt, das einem Menschen vorschreibt, welchem Glauben er anzuhängen hat.«

Die Rüge wirkte, der Kardinal verstummte kleinlaut und Regaland wandte sich wieder an Meyers: »Ich bin neugierig: Wenn Arn Euch nicht geschickt hat, wer oder was führt Euch dann hierher? Seid Ihr gekommen, um uns im Kriege beizustehen, oder verfolgt Ihr …«, er machte eine nachdenkliche Pause, »… andere Absichten?«

Elteras Herrscher war nicht dumm, soviel war klar. Meyers konnte sich schon denken, worauf die Frage abzielte. Die Raumfähre hatte sehr wahrscheinlich nicht nur das einfache Volk eingeschüchtert. »Weder noch«, antwortete er schließlich. »Die Statuten der Union untersagen ausdrücklich die Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Nicht-Mitgliedern. Eigentlich sind wir nur hier, weil wir einige Reparaturen an unserem Beiboot vornehmen müssen, bevor wir mit ihm zu unserem eigentlichen Schiff zurückkehren. Für gewährte Hilfe, und sei es nur Unterkunft und Verpflegung, würden wir uns natürlich erkenntlich zeigen. Falls Sie darauf bestehen, können wir natürlich auch sofort wieder verschwinden …«

Er warf einen Blick in die Richtung des grimmig dreinblickenden Kardinals und zuckte vielsagend mit den Schultern.

Regaland der Vierte lachte amüsiert. »Aber nicht doch. Diese Bekanntschaft ist viel zu interessant, um sie jemand anderen machen zu lassen. Seid uns fürs Erste willkommen.«

3

Gehetzt blickte Cordian von rechts nach links. Er träumte, soviel wusste er, doch dieses Wissen nahm ihm nicht die Angst. Es war einer jener Träume, die sich zu echt, zu lebendig anfühlten, um sie einfach abzutun. Ihm war nur allzu bewusst, dass sich Visionen wie diese in der jüngsten Vergangenheit schon mehr als einmal auf unvorhergesehene Weise bewahrheitet hatten.

Er befand sich in einer Art Garten, einem weitläufigen Park, der von einer niedrigen Steinmauer umgeben war, aus der ein hoher eiserner Gitterzaun emporragte, der unüberwindlich wirkte. Jenseits dieser Grenzlinie schien die Welt aufzuhören und endete in einem dämmrigen Grau, das nahtlos in den ebenso trüben Himmel überging. Dort draußen warteten sie: schwarze, in weite Roben gehüllte Gestalten, die Gesichter unter tiefen Kapuzen verborgen. Falls sie überhaupt Gesichter hatten; er war sich dessen keineswegs sicher! Eine von ihnen stand zurzeit regungslos vor dem geschlossenen Eingangstor und beobachtete ihn durch die Gitterstäbe. Sie machte keine Anstalten, zu ihm hineinzugelangen, versperrte ihm jedoch durch ihre Präsenz den Weg nach draußen. Es war im Augenblick nur diese eine Erscheinung zu sehen, aber es gab noch mehr von ihnen. In welche Richtung Cordian sich auch wandte: An jedem Ausgang stieß er auf einen schwarzen Schemen. Manchmal sah er sie aus den Augenwinkeln den Zaun entlangschreiten, dann waren sie plötzlich wieder verschwunden, wenn er den Kopf drehte. Er wagte nicht den Versuch, hinüberzuklettern, zu groß war die Gefahr, einer dieser Gestalten dadurch geradewegs in die Arme zu laufen.

Stattdessen machte er kehrt und eilte fort von der Umfriedung, orientierte sich mehr zur Mitte des Gartens. Halbverfallene und von Efeu überwucherte Säulen und Mauern verwandelten das Gelände fast schon in ein Labyrinth. Er wusste nicht, wohin er sich noch wenden sollte, versuchte einfach, einen Ort zu finden, an dem er sich verstecken konnte, doch er hatte kein Glück. So verwinkelt das Terrain auch war, er schien von jedem Punkt des Parks eine Sichtlinie zum Zaun ziehen zu können, und jedes Mal erblickte er dort einen der Schwarzen.

Cordian hielt inne, als etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Allein auf weiter Flur reckte sich eine einzelne Rose aus dem niedrigen Gras. Ihre Blütenblätter waren schwarz wie die Nacht, dennoch war sie unfassbar schön. Für einen Augenblick vergaß er die drohende Gefahr um ihn herum und bückte sich zu der zierlichen Blume. Sanft bog er die Blüte in seine Richtung, um daran zu schnuppern, zog die Hand jedoch ruckartig zurück, als er einen stechenden Schmerz verspürte. Verflucht! Was war das für ein Traum, in dem man Schmerzen hatte?

Ein Blutstropfen zeigte sich auf seinem Zeigefinger; er hatte sich an den Dornen der Rose gestochen. Als sei der Zauber nun gebrochen, riss er seinen Blick los und sah sich um. Im Augenwinkel machte er eine der schwarzen Kutten aus und diesmal fuhr ihm der Schreck wirklich in die Glieder: Die Gestalt war verschwunden, bevor er sie mit Blicken zu fixieren vermochte, doch für einen kurzen Augenblick war er sicher gewesen, dass sie sich auf dieser Seite des Zaunes befunden hatte!

Cordian zwang sich zur Ruhe. Dies war nur ein Traum. Wenn diese Wesen ihn holen wollten, sollten sie doch kommen! Er war nur mäßig überrascht, dass er in seiner Rechten plötzlich ein goldenes Schwert hielt, dessen Klinge so intensiv strahlte, als bestünde sie aus reinem Licht. Was nun geschah, träumte er nicht zum ersten Mal: Ausgehend vom Griff der Waffe floss angenehm warmes flüssiges Gold seinen Arm hinauf und bildete nach kurzer Zeit einen schimmernden Panzer um seinen gesamten Körper. Er fühlte sich stark und kampfbereit und im gleichen Maße, in dem seine Angst wich, klarte der Himmel über ihm auf, sodass freundliche Sonnenstrahlen den Park durchfluteten. Er sah sich noch einmal um. Von den schwarzen Gestalten war weit und breit nichts mehr zu sehen, dafür befand sich ein offen stehendes Tor direkt in der Nähe, das endlich einen Ausweg verhieß. Ohne zu zögern, ging er hindurch. Zweifel und Sorgen hatte er hinter sich gelassen. Als Cordian hinauf zu dem steinernen Torbogen blickte, bemerkte er kurz vor dessen Durchschreiten noch, dass ein seltsames Zeichen in ihn eingemeißelt war: Eine Spirale, die von einem Dreieck umschlossen wurde, dessen Eckpunkte wiederum zu kleinen Kreisen ausgeformt waren. Er fragte sich, was dieses Symbol wohl bedeuten mochte …

 

***

 

Als der Prinz erwachte, klärte sich seine Sicht nur langsam. Die Helligkeit blendete ihn, also öffnete er die Augen ganz behutsam, eines nach dem anderen. Die befremdlichen Bilder aus seinem Traum verflüchtigten sich und wichen dem Eindruck eines geräumigen Zimmers. Er selbst lag weich gebettet auf weißen Laken in einem breiten Himmelbett. Die Wand gegenüber dem Fußende wurde vollständig von drei mannshohen Glasfenstern eingenommen. Eine ihm unbekannte Frau stand neben ihm und drückte ihm aus Gründen, die ihm nicht ersichtlich waren, einen kleinen Metallstift auf den nackten Unterarm. Ihr dunkles Haar wäre selbst für einen Mann kurz gehalten gewesen, und sie trug eng anliegende schwarze Kleidung zusammen mit einigen mattgrauen, äußerst fremdartig anmutenden Rüstungsteilen.

»Alle Vitalfunktionen normal«, verkündete sie und ließ den Stift in einer Tasche verschwinden. »Du bist kerngesund, junger Mann.«

Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln, während er sich darüber wunderte, warum er ihre Stimme zweimal hörte: einmal nur als Folge unverständlicher Laute und einmal in sauber artikuliertem, akzentfreiem Elteranisch.

Cordian stöhnte. Nun fiel es ihm wieder ein. Sie gehörte zu den Männern aus dem stählernen Drachen. Ihre knappe Flucht vor den abtrünnigen Kesenchai, sein Streit mit ihrem Anführer und sein Zusammenbruch – alles stand ihm wieder vor Augen. »Wo … wo sind wir?«, flüsterte er. Seine Kehle war ausgedörrt wie die araskische Wüste.

»In Ganthalas«, antwortete die Frau und reichte ihm einen Becher mit Wasser. Mühsam setzte er sich auf und ließ sich Zeit beim Trinken. Wie es aussah, war er mit ihr allein im Raum. Einen Moment lang überlegte er, wie wohl seine Chancen standen, sie zu überwältigen, wenn er sich jetzt auf sie stürzte. Soweit er erkennen konnte, war sie unbewaffnet, und besonders groß war sie nicht. Allerdings schien sie die Wahrheit gesprochen zu haben. Durch die Fenster konnte er eine der berühmten goldenen Kuppeln ausmachen, die den Palast von Ganthalas zierten. Vielleicht war er mit seinen Anschuldigungen doch etwas voreilig gewesen.

»Dann habt Ihr uns nicht entführt?«, fragte er vorsichtig. »Wo sind Tao und Lissina?«

Die andere schüttelte amüsiert den Kopf. »Der Captain sagte doch, dass wir keine bösen Absichten hegen. Deine Schwester spricht gerade vor einem Gremium, das Thronrat genannt wird, Tao war auf dem Weg zur Küche, als ich sie das letzte Mal gesehen habe.«

Der Prinz verdrehte die Augen. Das passte. Die zierliche junge Frau legte für gewöhnlich einen Hunger an den Tag, der jedem doppelt so schweren Mann zur Ehre gereicht hätte.

»Wie lange war ich weg? Was ist überhaupt passiert?«

»Kreislaufzusammenbruch. Du hast mit kleineren Unterbrechungen etwa zwanzig Stunden geschlafen. Wir sind gestern Abend gelandet, aber davon hast du vermutlich nichts mitbekommen.«

Cordian schüttelte den Kopf. Es war kaum vorstellbar: Sie hatten in ein paar Stunden halb Eltera durchquert! Mit der Erkenntnis ergriff Erleichterung von ihm Besitz; endlich, nach all den Gefahren, hatten sie ihr Ziel erreicht.

»Ich bin bei dir geblieben«, fuhr die Frau fort, »um sicherzugehen, dass es nicht doch etwas Ernsteres ist. Keine Sorge, abgesehen von ein paar kleinen Schrammen, um die ich mich gekümmert habe, fehlt dir nichts«, sie zwinkerte ihm aufmunternd zu, »lass es nur etwas ruhiger angehen die nächsten paar Tage.«

Cordian bedankte sich höflich. »Ich glaube, ich sollte mich für mein Verhalten entschuldigen. Bei Euch und natürlich auch bei Eurem Captain.« Er hielt inne, als ihm etwas an ihr auffiel. Dort, wo sich der hohe Kragen ihres Anzuges öffnete und den Blick auf ihren Hals freigab, erkannte er auf jeder Seite die Ansätze zweier schmaler, etwa fingerbreiter Wülste unter der Haut. Sie musste bemerkt haben, wo er hinstarrte, denn sie zog sich unwillkürlich den Kragen zurecht.

»Schon gut«, meinte sie, als er verlegen den Blick senkte. »Du brauchst nicht fragen: Ich bin Gaianerin. Ich trage einen Symbionten in meinem Körper.«

Ohne genau zu wissen, was das bedeutete, fragte der Prinz nur: »Und das tut nicht weh?«

Die Frau lachte hell. »Nein, keineswegs. Es ist ein wunderbares Gefühl. Ich bin übrigens Divone. Und was deine Entschuldigung angeht: Ich werde es dem Captain ausrichten. Aber nun ist da noch jemand, der dich gerne sehen würde …«

Der Prinz ergriff sie rasch beim Arm, als sie sich zur Tür wenden wollte. »Warte.« Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Ich würde ihn gerne persönlich sprechen, wenn das möglich ist.«

Divone nickte. »Natürlich. Ich sehe mal, wo er steckt, aber genieße ruhig erst einmal das Frühstück, wir bleiben wohl noch eine Weile hier …«

Cordian ließ es dabei bewenden und Divone verschwand durch die Tür. Welches Frühstück eigentlich?, dachte er gerade, als sich die Tür auch schon erneut öffnete und eine freudestrahlende Tao ins Zimmer stürmte.

»Cordian, du bist wach!«, rief sie glücklich und eilte an seine Seite. In den Händen hielt sie ein Tablett, beladen mit frisch gebackenem Brot, Eiern, Butter, Honig und Käse.

Er wusste gar nicht, worüber er sich mehr freuen sollte: Darüber, dass ihm das Frühstück von der Person gebracht wurde, nach deren Gesellschaft er sich jetzt gerade am meisten sehnte, oder darüber, dass sie ihm trotz ihres sagenhaften Appetits noch etwas übrig gelassen hatte.

 

Wenig später schritt der junge Prinz frisch angekleidet und gesättigt durch die langen Korridore des Palastes. Ohne den Diener, der ihm vorausging, hätte er sich sicher schon hoffnungslos verirrt. Der Palast, so hatte er den Eindruck, musste das größte Bauwerk sein, das Menschen je errichtet hatten, und ihm schwirrten obendrein viel zu viele Gedanken im Kopf herum, um auf den Weg zu achten.

Seine nachdenkliche Miene hellte sich erst auf, als ihm zufällig seine Schwester über den Weg lief.

»Conn«, rief sie ihn bei seinem ungeliebten Spitznamen und eilte heran, um ihn an sich zu drücken. »Arn sei Dank, dir geht es gut.«

Während der Diener in respektvollem Abstand wartete, hatten sie Gelegenheit, sich kurz auszutauschen. Cordian war erleichtert, aber auch ein wenig überrascht, als er erfuhr, wie souverän seine jüngere Schwester ihre aufsehenerregende Ankunft in Ganthalas erklärt und ihr Anliegen vorgebracht hatte. Gerade eben hatte ihre Anhörung vor dem Thronrat geendet, der nun eine Versammlungspause einberufen hatte. Lissina war sichtlich erschöpft, und nach eigenen Angaben pochte ihr der Schädel. Der Thronrat, so beklagte sie sich, war ein Haufen bornierter alter Männer, die ihr einfach nicht glauben wollten, in welcher Gefahr Eddor schwebte, und denen man alles zweimal erklären musste.

»Wo steckt Tao?«, erkundigte sie sich, nachdem sie ihrem Ärger Luft gemacht hatte.

»Vertilgt noch die Reste meines Frühstücks.«

»Natürlich, was sonst …?« Lissina lachte kopfschüttelnd.

Ihre Neugier war damit wohl fürs Erste befriedigt und sie erklärte, sich nun in das ihr zugeteilte Gemach zurückziehen zu wollen. Allerdings tat sie dies nicht, ohne sich zuvor noch über das fürchterliche Kleid auszulassen, das man ihr gegeben hatte. Ihren Worten zufolge war es ohne die Hilfe zweier Kammerzofen gar nicht anzuziehen und saß so eng, dass sie fortwährend zu ersticken drohte.

Als ihr Bruder konnte er ihr Leid durchaus nachempfinden. Nun ja, nicht so sehr die Sache mit dem Kleid – sein luftiges Hemd war sehr angenehm zu tragen, auch wenn die Rüschen an den Ärmeln etwas störten – wohl aber das Gefühl, von niemandem so recht für voll genommen zu werden. Er hoffte, dass sie sich besser fühlte, nachdem sie sich ausgeruht hatte. Er jedenfalls war stolz auf sie.

 

Der Diener führte ihn weiter. Schon bevor sie ihr Ziel erreichten, hörte Cordian Stimmen durch die hohen Gänge schallen. Der Captain der Fremden unterhielt sich mit dem König, so verriet man ihm. Es wäre wohl höflicher, zu warten, überlegte er, andererseits musste er beim Regenten Elteras ohnehin noch vorstellig werden. Und bevor dieser wieder für Stunden hinter den verschlossenen Türen der Ratssitzung verschwand, wollte der keldorische Prinz sich zumindest für die freundliche Aufnahme, die ihm und seiner Schwester zuteilwurde, bedanken.

»… er einte nicht nur die zerstrittenen elteranischen Provinzen und schuf die Grundzüge unseres politischen Systems, die bis heute Bestand haben«, erklärte eine der Stimmen, »er ließ sogar diesen Palast erbauen, in dem wir hier und heute stehen. Man sagt, er starb genau an jenem Tag, da die Hauptkuppel vollendet wurde.«

Der Diener, der ihn hergeführt hatte, bedeutete ihm, kurz zu warten, und verschwand durch einen Torbogen, vor dem zwei bewaffnete Palastwachen Spalier standen. Die Stimme hielt in ihren Ausführungen inne, kurz darauf kam der Diener zurück und Cordian wurde eingelassen.

Er betrat einen lang gezogenen Raum, an dessen Wänden zahlreiche Gemälde hingen, die, wie der Prinz erkannte, ohne Zweifel elteranische Könige vergangener Zeiten porträtierten. Vor jedem dieser Bilder stand zudem ein Podest aus poliertem Ebenholz, auf dem ein Gegenstand zur Schau gestellt wurde. Möglicherweise persönliche Dinge des entsprechenden Herrschers. Unter anderem sah er ein Schwert, einen Sextanten, Pergamente und verschiedene Schmuckstücke. Der amtierende König sowie Captain Meyers standen vor einem dieser Gemälde und warteten geduldig, bis er die Distanz zu ihnen überbrückt hatte.

»Prinz Cordian Leongart«, begrüßte Regaland ihn, während er sich vor seinem Gastgeber respektvoll verbeugte. Die Stimme, die er vorhin gehört hatte, war die seine. »Meine Güte, wie schnell Ihr erwachsen geworden seid.«

»Eure Majestät«, begann Cordian höflich, »lasst mich meinen Dank aussprechen für …«

»Nicht nötig«, wurde er vom König mit einem hellen Lachen unterbrochen. »Verschieben wir doch diese Förmlichkeiten auf später, wenn wir die offiziellen Begrüßungsfeierlichkeiten abhalten. Ich habe für den morgigen Abend einen Ball angesetzt; jeder, der in Ganthalas Rang und Namen hat, wird anwesend sein. Da wird sich sicher genug Gelegenheit finden, Höflichkeiten auszutauschen. In Anbetracht des langen Bandes der Freundschaft, das unsere beiden Reiche miteinander verbindet, ist es außerdem das Mindeste, Euch Obdach zu gewähren. Wie fühlt Ihr Euch?«

»Danke, es geht mir gut«, antwortete Cordian, etwas verdutzt angesichts der informellen Begrüßung.

»Unser geschätzter Captain hier«, fügte der Regent sogleich hinzu, »hat den Wunsch geäußert, ein wenig über die Geschichte und Kultur meines Landes zu erfahren, darum nutze ich die Besprechungspause und führe ihn durch die Ahnengalerie. Möchtet Ihr Euch anschließen?«

Es gab derzeit sicher tausend Dinge, die ihm wichtiger erschienen – die Rettung Eddors beispielsweise – dennoch bejahte er die Frage nach kurzem Zögern, da er seinen Gastgeber nicht gleich bei ihrer ersten Begegnung vor den Kopf stoßen wollte. Dann wandte er sich dem Captain zu, bevor die Gelegenheit verstrich: »Ich habe Euch falsch eingeschätzt«, entschuldigte er sich. »Ihr habt Wort gehalten und uns sicher nach Ganthalas gebracht. Auch Euch gilt mein Dank.«

»Schon vergessen«, winkte dieser gutmütig ab, »du hattest schließlich allen Grund, misstrauisch zu sein.«

Regaland nickte zustimmend: »Misstrauen wohnt jedem von uns inne. Der Mut, dieses Misstrauen zu überwinden, zeichnet einen großen Staatsmann aus.«

Er machte eine Geste in Richtung des Wandbildes, über das die beiden anderen sich bereits vorhin unterhalten haben mussten. »Regaland der Erste war so ein Mann. Nach dem Untergang von Istala beschuldigte jeder jeden, für den daraus resultierenden Zerfall des Reiches verantwortlich zu sein. Nach Jahrzehnten des Krieges und des Grolls gelang es meinem Namensvetter durch kluge Bündnispolitik und durch den Ausgleich von Interessen den Grundstein für ein neues, noch stärkeres Eltera zu legen.«

Cordian nickte gelangweilt. Er kannte die Geschichte des weisen Herrschers, doch Kompromissbereitschaft würde ihnen gegen die Verdammten nichts nutzen. Der Captain indes zeigte sich aufrichtig interessiert: »Die Tatsache, dass Ihr ein Wahlkönigtum pflegt, finde ich ausgesprochen faszinierend. Welche politische Macht hat der Thronrat, abgesehen davon, dass er den König wählt?«

»Oh, offiziell nicht besonders viel, bei allen wichtigen Beschlüssen hat der König das letzte Wort, aber den Einfluss der Fürsten, die ihm angehören, sollte man nicht unterschätzen. Das Reich mit ihnen zu regieren ist in jedem Fall einfacher als gegen sie. Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Thronrat den Regenten auch wieder absetzen, wenn er«, Regaland überlegte kurz, »sagen wir, wenn er zu krank wird, um das Land zu regieren. Das passiert allerdings nur sehr selten, die meisten Könige regieren auf Lebenszeit. Deshalb werden zumeist betagte Greise wie ich gewählt, dann dauert es nicht so lange …«

Beide Männer lachten. »Wie handhabt Ihr es in Eurer Union?«, fragte der Monarch zurück.

»Gar nicht so verschieden«, gab Meyers bereitwillig Auskunft. »Die Mitglieder entsenden ihre jeweiligen Vertreter in den Galaktischen Rat, wo dann …«

Cordian hörte nicht weiter hin; eines der Bilder hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als er seinen Blick gelangweilt hatte schweifen lassen. An dem abgebildeten Herrscher war im Grunde nichts Besonderes, außer dass er ein bisschen jünger aussah als die meisten seiner Vorgänger und Nachfolger und dass er ein seltsames Amulett um den Hals trug. Oder zumindest eine Hälfte davon, denn die wohl ursprünglich runde Scheibe war entlang einer gezackten Kante auseinandergebrochen. Trotzdem war zu erkennen, dass ein Symbol eingraviert war, das – wenn man es geistig vervollständigte – vermutlich ein Dreieck darstellte, welches eine Spirale umschloss.

Die Nackenhaare des Prinzen stellten sich auf, als er näher trat. Kein Zweifel: Genau dieses Zeichen hatte er zuvor in seinem Traum gesehen; es hatte auf dem Torbogen geprangt, unter dem er kurz vor dem Aufwachen hindurchgegangen war. Das musste etwas zu bedeuten haben! Sein Blick wanderte hinunter zu dem zugehörigen Podest, und tatsächlich, dort sah er das lädierte Kleinod liegen. Vorsichtig, sein Handeln mit dem eigenen Körper vor den beiden sich angeregt unterhaltenden Männern verbergend, berührte er das zerbrochene Amulett mit dem Zeigefinger. Es bestand aus hartem kühlem Stein. Die Eckpunkte des Dreiecks, von denen nur noch zwei zu sehen waren, wurden von winzigen mattblauen Edelsteinen gebildet. Eine Öse für eine Kette war seitlich in den Stein gebohrt worden und wirkte eher wie nachträglich angebracht.

»Was gibt es über diesen hier zu berichten?«, schaltete sich Cordian in die laufende Unterhaltung ein, als er sich wieder zu den beiden älteren Männern umdrehte.

Regaland horchte auf und warf dem Gemälde einen verdrießlichen Blick zu. »Dolmin der Verrückte. Er war einer dieser seltenen Fälle«, erklärte er fast entschuldigend. »Einer, der vom Thronrat abgewählt wurde, will ich damit sagen. Im Jahr Siebenhundert nach neuer Zeitrechnung, das in seine Regentschaft fiel, erschien zum letzten Mal der Schweif des Drachen. Er glaubte fest daran, dass sich die Prophezeiung erfüllen würde, und war besessen davon, jenen mystischen Ort zu finden, der in den alten Legenden Tirvaness genannt wird.« Der König zuckte ratlos mit den Schultern. »Nach seiner Überzeugung gebe es dort eine Waffe gegen das Zaihor.«

Tirvaness, hallte es in Cordian wieder. Ein Ort aus alten Legenden, fürwahr. Aus sehr alten. Die Ewigen sollen sich, so hieß es, dorthin zurückgezogen haben, als der Krieg der Götter seinen Höhepunkt erreichte und die Finsternis alles zu verschlingen drohte.

»Hat er diesen Ort gefunden?«, fragte Cordian mit pochendem Herzen.

»Natürlich nicht«, verneinte der König. »Tirvaness existiert nicht. Dolmin suchte überall danach. Am Ende glaubte er, am Grund des Garodinsees fündig zu werden und ließ Männer danach tauchen. Als diese nichts zutage förderten, traf er Vorbereitungen, den Draug umzuleiten. Dieses Unterfangen hätte die Krone ein Vermögen gekostet und vermutlich das gesamte Reich ruiniert. Der Thronrat musste eingreifen.«

Als die Männer bereits zum nächsten Bildnis weitergingen, rasten die Gedanken im Kopf des Prinzen. Konnte es sein? War Dolmin auf etwas gestoßen? Hatte er etwas gewusst? Es war zu verrückt, um wahr zu sein, aber irgendeinen Grund musste es geben, aus dem er von diesem Zeichen geträumt hatte. Es musste einfach! Hastig fasste er einen Entschluss: Sich vergewissernd, dass er für den Moment unbeobachtet war, steckte er das zerbrochene Amulett in seinen Hosenbund und drapierte sein Hemd so darüber, dass niemand es sehen konnte. Bei Arn, er bestahl gerade den König von Eltera!

 

Was Regaland anging, so hätte er seinen Gästen sicher liebend gern noch mehr Geschichtswissen mit auf den Weg gegeben, doch eine Glocke ertönte nur wenig später und der Monarch erklärte, dass die Versammlung nun fortgesetzt werde und seine Anwesenheit vonnöten sei. Sollten sie noch etwas brauchen, stehe ein Diener jederzeit zu ihrer Verfügung.

Für einen Moment waren Cordian und Meyers allein und niemand sagte etwas. Dann räusperte sich der Captain und meinte: »Deine Schwester hat dem König nichts von Tao erzählt. Nichts davon, was es mit ihr auf sich hat …«

»Je weniger Leute von dem Angral wissen, desto besser«, antwortete der Prinz nach kurzer Bedenkzeit. »Eine solche Macht weckt auch immer Begehrlichkeiten.«

Das war zumindest die Erfahrung, die er bisher gemacht hatte. Insgeheim fragte er sich, welche Begehrlichkeiten sie bei seinem Gegenüber bereits geweckt haben mochte.

»Wir werden sie mitnehmen müssen«, eröffnete der andere. Cordians Miene verfinsterte sich sofort.

»Du empfindest etwas für sie, habe ich recht?«, vermutete der Captain.

»Ich …« Verflucht, war das so offensichtlich? »Wir sind nur Freunde.«

Er versuchte, seine Antwort so überzeugend wie möglich klingen zu lassen, aber er wusste, dass er sich selbst etwas vormachte. Was er für Tao empfand, ging über Freundschaft weit hinaus. Wenn er nur wüsste, ob sie ebenso fühlte. Ob sie als das, was sie war, ebenso fühlen konnte 

Der Captain brummte. »Na hoffentlich, denn früher oder später muss sie mit uns gehen. Ich weiß nicht, was es mit diesem Ding auf sich hat, mit dieser Energiequelle, diesem Angral. Aber sie ist Angehörige der Raumflotte und in die Zerstörung unseres Stützpunktes verwickelt. Es wird eine Untersuchung geben, Menschen werden sich verantworten müssen, und vielleicht kann nur sie das Ganze aufklären.«

Cordian hatte trotzig die Arme vor der Brust verschränkt. »Ihr scheint mir ein aufrichtiger Mann zu sein, Captain«, entgegnete er. »Aber könnt Ihr für das bürgen, was Eure Leute mit ihr anstellen werden, wenn sie von dem Angral erfahren?«

Einen kurzen Moment sahen sie einander schweigend in die Augen. Hinter der Stirn des älteren Mannes schien es zu arbeiten. Sie brachen den Blickkontakt erst, als sich Schritte näherten und beide sich ertappt umwandten.

»Von welchem Angral ist hier die Rede?«, fragte eine Frauenstimme.

Die hallenden Korridore mussten ihre Worte weiter getragen haben als beabsichtigt. Es war eine Salas Kai, die sich unauffällig genähert hatte. Sie trug eine hauptsächlich in violett gehaltene Robe, ihr dunkles Haar war kurz und reichte ihr gerade bis zum Halsansatz hinab. Darüber hinaus schien sie noch recht jung zu sein, die typischen alterslosen Züge, die jene ihres Ordens auszeichneten, zeigten sich in ihrem Antlitz jedenfalls noch nicht.

»Mokai war der Name, nicht war?«, begrüßte der Captain sie wenig zuvorkommend.

»Eigentlich nur Mo«, korrigierte sie ihn freundlich lächelnd, als sie ein paar Schritte vor ihnen stehen blieb. »Kai ist mein Titel, aber ich bestehe nicht unbedingt darauf.«

Sie misstrauisch im Auge behaltend, verbeugte Cordian sich knapp. »Kai …«, murmelte er dem Protokoll entsprechend, ertappte sich aber dabei, mit der Hand nach der Stelle zu tasten, an der normalerweise sein Schwert hing. Sie gehörte nicht zu den Abtrünnigen, auf die sie zuvor getroffen waren, jedoch konnte man nie wissen, wie weit der Einfluss des Zaihor tatsächlich reichte.

»Als wir gestern hier eintrafen, waren alle ziemlich überrascht«, äußerte Meyers mit kaum verhohlenem Misstrauen in der Stimme. »Mit einer Ausnahme: Sie. Wie kommt das?«

»Ich hatte Euer Gefährt und Eure Absicht, nach Ganthalas zu reisen, schon einige Stunden zuvor bemerkt. Ich bin eine Seherin«, erklärte die andere besonnen, ohne sich provozieren zu lassen.

»Ihr Kais seid also so etwas wie Hellseher

»Nur einige wenige. Die Salas Kai nutzen Sirain auf höchst vielfältige Weise …«

»Sirain?«, fragte der Captain ratlos.

»Die Urkraft der Schöpfung«, erläuterte Mo, leicht verwundert ob der Unwissenheit ihres Gegenübers. »Die Macht, die alles im Universum verbindet und unser Schicksal formt. Ihr müsst einen Namen dafür haben …«

»Wir nennen das metaphysischen Unsinn«, entgegnete der Ältere schroff. »Schicksal …«, er machte eine abfällige Geste, die unterstrich, wie wenig er von einem solchen Konzept hielt. »Es fällt mir, bei allem Respekt, auch schwer, zu glauben, dass ein Volk, das nicht einmal zu den Sternen reisen kann, besonders viel über das Universum wissen könnte.«

»Und mir fällt es schwer, zu glauben«, konterte die Salas Kai immer noch freundlich, »dass ein Volk, welches zu den Sternen reist, so wenig über das Universum weiß. Aber offensichtlich ist es so.«

»Ha!«

Meyers schien für einen Augenblick tatsächlich von der Schlagfertigkeit seiner Gesprächspartnerin amüsiert, dann verfinsterte sich seine Miene jedoch wieder. »Ich hatte gestern mit einer Handvoll von euch zu tun«, erwiderte der Captain gerade heraus, »die ein paar Dutzend Zivilisten in eine Kapelle gesperrt und diese dann angezündet haben. Sollte das etwa deren Schicksal gewesen sein? Lebendig zu verbrennen?«

Mo sog scharf die Luft ein und sah schnell von einem zum anderen.

»Ist das wahr?«

Es war Cordian, der antwortete, bevor der Captain sie noch mehr verärgern konnte. Eine Salas Kai sollte man besser nicht wütend machen, das wusste auf Eddor jedes Kind: »Abtrünnige Kesenchai. Ihre Anführerin heißt Alandrel. Sie waren hinter uns her und haben eine andere Salas Kai, die uns beistehen wollte, niedergeschlagen und fortgeschafft. Wer weiß, was sie mit ihr angestellt haben …«

»Alandrel!«, fauchte Mo und ballte kopfschüttelnd die Faust. »Ich weiß, ihr beide habt keinen Grund, mir zu trauen, aber ich habe mit dieser Frau nichts zu schaffen. Im Gegenteil: Sie und ihre Schergen halten einen Angehörigen meines Ordens, einen guten Freund von mir, just in diesem Moment gefangen. Sein Name ist Tennlor.«

»Tennlor!«, rief Cordian aus. Ein Stein fiel von seinem Herzen. Wenn diese Salas Kai eine Freundin Tennlors war, dann musste sie auf ihrer Seite stehen! Er trat einen Schritt auf sie zu. »Tennlor ist auch mein Freund. Wir hörten Alandrel seinen Namen erwähnen. Wisst Ihr, wo sie ihn hingebracht haben könnten? Wir müssen ihn befreien …«

Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, und er verstummte erst, als Mo ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte.

»Ja, es macht Sinn …«, sagte sie halb zu ihm, halb zu sich selbst. »Tennlor war oft in Keld. Er hat nie viel von seinen Reisen erzählt, aber er erwähnte einmal einen jungen Prinzen namens Conn, auf den er sehr große Stücke hielt. Ich nehme an, damit meinte er Euch, Hoheit.«

»Cordian, einfach Cordian«, insistierte er. »Keine Titel, keine Spitznamen. Freunde von Tennlor sind auch meine Freunde. Also, was unternehmen wir?«

Kurz überlegte sie. »Ich weiß, wo sie ihn festhalten, ich habe zumindest einen dringenden Verdacht. Aber bevor wir die nächsten Schritte planen, musst du mir alles erzählen. Warum war Alandrel hinter euch her?«

Und Cordian erzählte. Den mahnenden Einwand des Captains ignorierend, berichtete er von dem Angral, mit dem Tao verschmolzen war, und den zahlreichen Versuchen von Asmarels Häschern, ihrer habhaft zu werden. Er wusste nicht, ob Alandrel ebenfalls mit den Verdammten paktierte, oder ihre eigenen finsteren Ziele verfolgte, aber dass sie mit dem Zaihor im Bunde stand, daran hegte er keinerlei Zweifel.

Mo lauschte aufmerksam, fragte nur selten einmal dazwischen. Und was noch wichtiger war, sie glaubte ihm. Endlich stand er vor jemandem, der nicht erst von der Dringlichkeit der drohenden Gefahr überzeugt werden musste.

Als er mit seiner hastigen Erzählung fertig war, hakte die Salas Kai noch einmal nach: »Ich verstehe nur eines nicht: Warum seid ihr nicht in Richtung Madaras aufgebrochen? Den Saphirturm um Hilfe zu bitten, wäre die logische Entscheidung gewesen. Von Alandrels Verschwörung konntet ihr doch zu diesem Zeitpunkt noch nichts gewusst haben …«

Der Prinz überlegte einen Moment, wie er am besten antworten sollte, und entschied sich dann, bei der Wahrheit zu bleiben. »Es war ein Traum«, rang er sich schließlich durch, zu sagen. »Jemand erschien mir dort. Er sah aus wie ein Mann, den ich einmal sehr gut kannte, doch er behauptete, jemand anderes zu sein. Er oder sie – wer immer es war – sprach meist in Rätseln, aber zeigte mir auch den Weg, den ich gehen müsse, um Tao und mich zu retten.«

Er blickte Mo fast verlegen an, die ganze Zeit damit rechnend, nun doch von ihr für verrückt erklärt zu werden, doch nichts dergleichen geschah.

»Ich hatte einen ebensolchen Traum«, verriet sie nach einem Augenblick des Schweigens. »Nur deshalb bin ich nach Ganthalas gekommen …«

»Das gibt es doch nicht«, stöhnte Captain Meyers. Beide wandten sich ihm zu. »Es muss Zufall sein«, murmelte er kopfschüttelnd. Er machte einen Schritt nach links, drehte auf dem Absatz herum und machte einen weiteren nach rechts. »Es muss eine logische Erklärung geben …«

»Ich weiß, es ist schwer zu akzeptieren …«, begann Mo, doch der Captain ließ sie nicht ausreden: »Auch ich hatte einen derartigen Traum. Mein Besucher gab mir den entscheidenden Hinweis darauf, wo ich Tao und die anderen finden würde. Ohne diesen Traum hätten wir euch nicht vor diesen brandschatzenden Robenträgern retten können.«

»Drei Menschen«, fasste Mo zusammen, »träumen den gleichen Traum und stehen nun hier in diesem Raum voreinander. Glaubt Ihr noch immer nicht an das Schicksal, Captain?«

Meyers Antwort bestand aus einem unterdrückten Fluchen.

»Das war noch nicht alles«, verriet Cordian. »Ich hatte solche Träume nicht nur einmal. Und manchmal träume ich von Dingen, die dann auch geschehen. Zumindest im übertragenen Sinne …«

»Außerordentlich«, hauchte Mo fasziniert und fasste ihn an der Schulter. »Cordian, du musst mit mir kommen. Ich muss dein Schicksal ergründen. Aber das kann ich nicht hier. Wir müssen zu meiner Unterkunft am Stadtrand gehen.«

Meyers einen einladenden Blick schenkend, fügte sie hinzu: »Ihr dürft uns natürlich auch begleiten, Captain. Euer Schicksal erscheint mir kaum weniger interessant …«

Der ältere Mann schreckte zurück, als hätte man ihm einen stinkenden Fisch angeboten, und hob abwehrend die Hände. »Nein danke, nicht für mich. Ich würde auf der Straße wohl ohnehin zu viel unerwünschte Aufmerksamkeit erregen …«

***

 

Aufsehen erregten sie natürlich trotzdem. Mo hatte ihnen eine zweispännige Pferdekutsche besorgt, ein Gefährt ohne jegliche Verzierungen, wenn man von einem kleinen elteranischen Adler absah, und vermutlich das unauffälligste, das sich im Fuhrpark des Palastes hatte finden lassen. Doch sie hatten nicht mit Tao gerechnet, die wenig überraschend darauf bestanden hatte, ihn und Mo zu begleiten, als er ihr von seinem Vorhaben erzählt hatte. Fast die gesamte Fahrt über streckte sie den Kopf aus dem Fenster, starrte wie verzaubert auf das geschäftige Treiben und teilte ihnen immer wieder lautstark mit, wenn sie etwas Neues entdeckte. Ihr langes Haar wehte dabei offen im Wind, und selbst in einer Stadt wie Ganthalas, die vor buntem Volk aus aller Herren Länder aus den Nähten platzte, war eine junge Frau mit grünen Haaren kein alltäglicher Anblick.

»Cordian, sieh nur!«, rief sie und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Auslage eines Ladens. »Was sind das für Früchte?«

Gute Frage; der Prinz warf einen Blick aus dem Fenster und konnte es selbst nicht sagen. In Ganthalas schien es nichts zu geben, was man nicht kaufen konnte. Erzeugnisse araskischer Webkunst gab es hier gleich neben Pelzen aus Grimmland und oszisischen Töpferwaren. Ein tätowierter Karbane bot Schnitzereien aus seiner Heimat direkt gegenüber eines eskatilischen Weinlokals feil. Er hatte natürlich jede Menge Erzählungen über die Hauptstadt Elteras gehört, aber es selbst zu sehen, war doch noch einmal etwas ganz anderes. So langsam kam ihm zu Bewusstsein, wie klein seine eigene Heimatstadt Keld, die er immer für riesig gehalten hatte, in Wahrheit doch war.

»Ganthalas wird auch die Goldene genannt«, erklärte Mo ihnen während der Fahrt. »Bevor Regaland der Erste hier den Palast bauen ließ, war die Stadt ein verschlafenes Nest. Seitdem ist sie in alle Himmelsrichtungen gewachsen. Sie ist sogar so groß geworden, dass das Trinkwasser über steinerne Kanäle von weit her antransportiert werden muss.«

Auch Cordian war fasziniert. Das Einzige, was noch schöner war als die Stadt, war Tao selbst. Sie trug keines dieser aufgeplusterten Kleider, mit denen sich Lissina hatte herumärgern müssen, sondern einen schlichten knöchellangen Rock, der in Keldor durchaus noch als vornehm gegolten hätte, im Palast aber vermutlich nur von den Dienstmägden getragen wurde. Er musste bei Gelegenheit seine Schwester fragen, als was sie ihre Freundin eigentlich vorgestellt hatte – womöglich hielten sie das Mädchen für ihre Kammerzofe.

Wie dem auch sei: Sie hätte in Lumpen herumlaufen können und wäre für ihn immer noch die schönste Frau Eddors gewesen. Wenn sie so glücklich war wie jetzt, wenn sie bis über beide Ohren lächelte und ihre smaragdenen Augen strahlten, dann erst recht. Wenn nur nicht alles so kompliziert wäre …

Mehr, um sich auf andere Gedanken zu bringen, als aus echtem Interesse, fragte er Mo irgendwann, wohin genau sie eigentlich fuhren.

»Ein älteres Ehepaar hat mir kostenfrei eine Bleibe zur Verfügung gestellt«, antwortete die Salas Kai. »Nun ja, ich habe mich revanchiert, indem ich den verloren gegangenen Ehering des Gatten aufgespürt habe. Er war unter einen Schrank gerutscht. Für eine Wa’dur ist es ein Leichtes, ein Objekt zu finden, dessen Schicksal so eng mit dem eines anderen verbunden ist – ich musste im Grunde nur den Ring seiner Frau berühren und wusste, wo sich der andere befand. Trotzdem sind sie mir seitdem überaus dankbar.«

»Aber warum sind wir denn nicht einfach im Palast geblieben?«

Um diese Frage zu beantworten, musste sie weiter ausholen: »Als die Ewigen das Antlitz Eddors mit der Macht Sirains formten«, so sprach sie, »bildete sich in den Gebeinen der Welt an manchen Stellen ein sehr seltenes Mineral. Die Salas Kai nennen es Nihilit. Dort, wo große Mengen dicht unter der Oberfläche liegen, hat es eine störende Wirkung auf unsere Versuche, mit Sirain in Kontakt zu treten. Es ist vergleichbar mit der Technik, die die Salas Kai einsetzen können, um andere Salas Kai zu blockieren. Ob Regaland der Erste sich dessen nun bewusst war oder nicht: Er ließ seinen Palast genau über einem der größten Nihilitvorkommen errichten, die überhaupt existieren.« Mo seufzte bedauernd. »Kaum jemand weiß es, aber es ist mir und allen anderen Salas Kai unmöglich, im Palast oder der näheren Umgebung unsere Kräfte einzusetzen.«

»Das wusste ich ebenfalls nicht …«, staunte Cordian, der in der Tat nie von einem solchen Gestein gehört hatte.

»Der Saphirturm nutzte Nihilitgestein vor langer Zeit, um ein Gefängnis zu bauen, in dem abtrünnige Mitglieder des Ordens sicher verwahrt werden konnten. Dies ist der Ort, an dem unser Freund Tennlor festgehalten wird, und gleichzeitig auch einer der wenigen Orte, die ich mit meiner Gabe nicht sehen kann. Dennoch ist es ihm irgendwie gelungen, einen Boten zu mir zu schicken: einen kleinen Vogel, dessen Schicksal ich in die Vergangenheit verfolgen konnte, um zu sehen, welchen Weg er genommen hat. Ich habe keinen Zweifel, dass Tennlor dort ist. Gefangen und seiner Kräfte beraubt.«

»Dann müssen wir ihn dort herausholen!«, forderte Cordian vehement.

»Dies ist eine Angelegenheit der Salas Kai«, bremste ihn Mo. »Ich werde mich persönlich darum kümmern und Tennlor befreien, das verspreche ich. Aber zunächst müssen wir uns mit dem befassen, was direkt vor uns liegt. Mit dir.«

»Ich verstehe das nicht«, entgegnete er. »Jeder sagt mir, ich sei etwas Besonderes, aber niemand hält es für nötig, mir zu verraten, warum.«

Mo schmunzelte amüsiert, wurde aber sogleich wieder ernst. »Das Schicksal«, so behauptete sie, »ist ein kompliziertes Gebilde. Manche vergleichen es mit einem Fluss: Die meisten von uns lassen sich einfach treiben, einige stemmen sich gegen die Strömung und gehen irgendwann zwangsläufig unter, manche jedoch erzeugen selbst Strömungen und kleine Strudel. Sie beeinflussen das Geschick aller anderen um sich herum. Menschen, bei denen diese Eigenschaft besonders ausgeprägt ist, nennen wir Schicksalswender. Du bist möglicherweise einer davon, Cordian. Ich habe jedenfalls so ein Gefühl bei dir.«

Er wünschte, von sich sagen zu können, dass er nun schlauer war als zuvor, aber das wäre übertrieben gewesen. Er sollte das Schicksal von anderen Menschen beeinflussen? Was nutzte ihm das? Andererseits konnte das erklären, warum es ihm gelungen war, die teuflischen Pläne der Verdammten mehrmals zu durchkreuzen und sich mit Tao ihrem Zugriff zu entziehen.

»Ein solches Schicksal zu deuten, ist ausgesprochen schwer, da es im ständigen Wandel ist«, führte die Seherin weiter aus. »Selbst für die Salas Kai vergangener Zeiten war es das. Fangen wir damit an, indem wir versuchen, deine Träume zu verstehen. Erzähl mir alles über sie. Lasse nichts aus, auch das nicht, was dir vielleicht unwichtig erscheint.«

Der Prinz holte tief Luft. Das war viel verlangt. Aber wenn jemand endlich Licht ins Dunkel der Ungewissheiten bringen konnte, dann diese junge Seherin. Also begann er, zu berichten. Zögerlich zuerst, denn vieles, was er in seinen Träumen erlebt und gesehen hatte, ging ihm sehr nahe, doch je länger die Fahrt dauerte, desto leichter kam es ihm von den Lippen. Als sie schließlich ihr Ziel erreichten und die Kutsche hielt, war auch er mit seiner Geschichte am Ende angelangt.

 

Die letzten Meter mussten sie laufen. Das am Stadtrand gelegene Viertel, in dem sich Mos Unterkunft befand, war deutlich weniger imposant als das Zentrum. Die Häuser waren niedriger, die Fassaden schlichter und die Gassen schmutziger. Es wimmelte auch nicht mehr so von Menschen, auch wenn noch immer so viele unterwegs waren wie in anderen Städten nur am Markttag.

Um die vorübergehende Bleibe der Salas Kai zu erreichen, mussten sie einen Hinterhof durchqueren, der voller Gerümpel stand. Zwischen Eimern und zerbrochenen Wagenrädern lehnte ein Schild, das Passanten darauf hinwies, dass ein Zimmer angeboten wurde. Vermutlich wurde der Hinweis am Tor angebracht, sollte dieses gerade frei sein.

Nach lautem Klopfen wurden sie von zwei älteren Leuten – einem Mann und einer Frau – eingelassen, die sie freundlich begrüßten und Mo derart ehrerbietig willkommen hießen, dass es die junge Frau regelrecht in Verlegenheit brachte.

Das Zimmer der Seherin im Obergeschoss war klein, aber behaglich. Neben einem Bett gab es einen Kleiderschrank und eine kleine Kommode, auf der sich einige halb heruntergebrannte Kerzen und ein Zunderkästchen befanden. Das Fenster ging zur Straße hinaus. Über die Dächer der umliegenden Gebäude hinweg konnten sie die goldenen Kuppeln des Königspalastes glitzern sehen. Obwohl Cordian um die mystischen Kräfte der Salas Kai wusste, beobachtete er voll Staunen, wie Mo – das Zunderkästchen ignorierend – die Kerzen mit dem Zeigefinger am Docht berührte und sie damit entzündete. Sofort verbreitete sich ein angenehmer würziger Geruch im ganzen Raum. Dann legte ihre Gastgeberin drei Kissen im Kreis auf den Boden, ließ sich im Schneidersitz auf einem davon nieder und bedeutete ihnen, es ihr gleich zu tun.

»Auch wenn den Salas Kai der heutigen Tage der Blick in die Zukunft verwehrt ist«, begann sie, als alle saßen, »können durch das Studium der Vergangenheit und der Gegenwart Muster offenbart werden, die sich im Gefüge des Schicksals weiter fortsetzen. Sag mir, Cordian, wann bist du geboren?«

»Im Jahr Achthundertsechzig der neuen Zeitrechnung«, antwortete der Prinz zögerlich.

»Das Jahr Zweitausendneunhundertachtzig nach Zählung der Salas Kai«, murmelte die Seherin. »Vor zwanzig Jahren.« Sie hatte die Augen geschlossen und atmete nun tief und ruhig. »Um dein Schicksal zu erkennen, muss ich wissen, welche Ereignisse es geformt haben und welche Personen darin involviert sind. Erzähle mir von deinen Eltern. Wie lauten ihre Namen?«

»Mein Vater ist Garin Leongart«, erklärte Cordian, unsicher, wohin das alles führen würde. »Er hat sich den Norkai bei Dornthal entgegengestellt. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Meine Mutter hieß Elanora. Sie starb, als ich zehn war, an einer schweren Krankheit. Jedenfalls dachten wir das immer …«

Seine Gedanken wanderten zurück zu dem noch nicht lange zurückliegenden Tag, als Tao, seine Schwester und er aus ihrer Burg hatten fliehen müssen. Der verräterische Graf Mantredt hatte ihm, als der Prinz kurzzeitig sein Gefangener war, hämisch unter die Nase gerieben, dass in Wahrheit er es gewesen sei, der das Leben seiner Mutter durch ein Gift beendet habe. Damit hatte er verhindert, dass sie seinen dunklen Machenschaften auf die Spur gekommen war, die er von ihnen allen unbemerkt schon damals verfolgt hatte. Cordian spürte Wut in sich aufsteigen, als er das Gesicht des alten Grafen vor sich sah, zwang sich aber, seinen Atem wieder zu beruhigen. Wenn der Verräter nicht seinen schweren Verletzungen erlegen war, hatten ihn sicher seine dunklen Meister den Preis für sein Versagen zahlen lassen.

»Der Tod deiner Mutter könnte ein früher Schlüsselpunkt gewesen sein«, mutmaßte die Salas Kai, beide Augen immer noch geschlossen haltend. »Ein Ereignis, das deinen weiteren Weg in eine neue Richtung lenkte. Sind noch mehr Personen gewaltsam ums Leben gekommen, die dir nahestanden?«

»Mein Freund und Lehrmeister Ritter Dankon starb, als wir an der Nordgrenze von den Kriegern der Norkai angegriffen wurden. Das war unmittelbar, nachdem wir Tao in einem zerstörten Dorf gefunden hatten.«

»Ein Schlüsselpunkt, fürwahr. Du sagtest, kurz darauf haben deine Träume begonnen?«

Cordian bejahte die Frage.

»Das leuchtende Schwert, das du immer wieder siehst, sowie die goldene Rüstung …«, Mo öffnete die Augen. »Deine Beschreibung erinnert mich an eine alte Legende, die mir während meiner Novizenzeit im Saphirturm erzählt wurde. Sie handelte von Sildarett, der Schicksalsklinge. Eine Waffe, die von den Ewigen im Krieg der Götter geschaffen wurde. Sie war für den Amnon Kai bestimmt, den wahren Auserwählten, der das Zaihor damit vernichten sollte.«

»Eine Waffe, die in der Lage ist, das Zaihor zu vernichten?«, fragte Cordian ungläubig. Man konnte das Zaihor nicht vernichten, das war, als rede man davon, den Wind zu vernichten oder das Meer. Das Zaihor hatte keine Form, die zerstört werden konnte.

»Zumindest der Legende nach«, schränkte Mo ein. »Da Asmarel sich aber der Finsternis zuwandte, hat sie ihren Bestimmungszweck nie erfüllen können. Nachdem die Acht auf die andere Seite des Tores verbannt wurden, brachte man die Waffe nach Madaras. Es heißt weiter, dass eines Tages wie aus dem Nichts eine weiß gekleidete Frau erschien, um die Schicksalsklinge zurück nach Tirvaness zu bringen, wo sie einst geschmiedet wurde.«

Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich weiß nicht, ob irgendwas davon wahr ist.«

Cordian stöhnte. Eine weiß gekleidete Frau? Tirvaness? Das konnte wahrlich kein Zufall sein. »Als uns die Norkai in die Enge getrieben hatten, bekamen wir es mit Morglen zu tun, einer der Acht. Oder, um genau zu sein, einer Frau, die von dem Geist der Verdammten kontrolliert wurde«, er gestikulierte wild mit den Händen, während er sprach. »Ich dachte, das wäre das Ende, doch dann erschien eine Frau ganz in Weiß und stellte sich ihr entgegen. Beide schienen sich zu kennen. Nur durch ihr Eingreifen konnten wir fliehen. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich vermute, dass sie es auch war, die mir in Gestalt Dankons zuvor im Traum erschienen war.«

Aufregung ergriff von ihm Besitz und er konnte beinahe sehen, wie sie auch auf die Salas Kai übersprang. Die alten Legenden waren oft mehr als bloße Geschichten, das hatte er schon wiederholt feststellen müssen.

»Wenn das wahr ist«, verkündete Mo, »dann ist dein Schicksal mit dem von Sildarett irgendwie verbunden, mir will allerdings nicht einfallen, auf welche Weise oder wieso.«

Cordian sah ratsuchend zu Tao, die nur mit den Schultern zuckte, und zurück zur Salas Kai. Plötzlich hatte er einen Einfall: »Mo, du sagtest vorhin, du vermagst Gegenstände aufzuspüren, deren Schicksale verbunden sind, sofern du einen davon berühren kannst. Könntest du dieses Schwert über mich ausfindig machen, so wie diesen verschollenen Ehering?«

Die Angesprochene hob abwehrend die Hände. »Die besten Seher der vergangenen Zeitalter haben nach der Schicksalsklinge gesucht und nichts gefunden. Wenn sie nach Tirvaness gebracht wurde, ist es aussichtslos. Dieser Ort ist genauso unauffindbar. Es heißt, er existiere überall und nirgends zugleich. Nur einen Steinwurf entfernt und doch unerreichbar weit weg. Die meisten Gelehrten heutiger Tage bezweifeln seine Existenz.«

»König Dolmin hat sie nicht bezweifelt«, gab Cordian zu bedenken.

»Deshalb nannte man ihn ja auch den Verrückten, wenn ich mich nicht täusche …«

»Bitte, Mo, du musst es versuchen. Wenn es wirklich eine Waffe gibt, mit der die Verdammten aufgehalten werden können, dann müssen wir sie so schnell wie möglich finden!«

Die Salas Kai grübelte einen Moment und gab sich schließlich mit einem Nicken geschlagen. »Also gut, reich mir deine Hände.«

Er tat wie geheißen und die Seherin ergriff sie mit den ihren. Dann schloss sie erneut die Augen und sie alle warteten.

Auch wenn sie scheinbar nur ruhig dasaß, ab und zu den Kopf zur Seite wiegte und ruhig atmete, spürte Cordian, dass sie noch weit mehr tat. Wärme floss von ihren Händen in seinen Körper, dass ihm schon beinahe unangenehm heiß wurde. Auf ihrer Stirn zeigten sich bald Schweißperlen.

»Ich sehe nichts«, presste sie irgendwann leise zwischen den Zähnen hervor. »Nur Nebel, Nebel, Nebel …«

»Versuche es weiter«, bat er, und sie strengte sich an. Er vermochte nicht zu sagen, wie lange sie bereits so dagesessen hatten, als ihre Hände plötzlich verkrampften. »Ich muss weiter gehen«, murmelte die Seherin, »weiter weg, tiefer hinein in den Nebel. Noch tiefer …«

Cordian, dessen Hände unter dem festen Griff bereits zu schmerzen begannen, wurde es nun doch unheimlich. Was, wenn er die junge Frau zu Dingen trieb, die gefährlich für sie waren?

»Mo?«, flüsterte er. »Mo Kai? Vielleicht sollten wir aufhören. Es wird sicher eine andere Möglichkeit geben …«

»Ich sehe etwas«, keuchte die andere in diesem Moment und schlug die Augen auf. Cordian schreckte zurück, als diese von innen heraus weißblau glühten. »Ein großer Ring, darin Schwärze. Und davor du. Mit dem goldenen Schwert in der Hand.«

Hastig zog er seine Hände zurück. Das Leuchten verschwand aus den Augen der Seherin und ihr Blick wurde mit einem Schlag glasig. Cordian fing sie rechtzeitig auf, bevor sie zur Seite kippte, und legte sie mit Taos Hilfe flach auf den Boden. Es dauerte nicht lange, da flatterten ihre Lider und sie kam zu sich.

»Das Tor«, murmelte die Seherin benommen. »Ich habe das Tor gesehen, und es war offen! Du standest davor, mit der Schicksalsklinge. Aber das Tor kann nicht offen sein! Dann wären die Verdammten frei und die Finsternis bereits angebrochen …«

»Und die Waffe hatte ich auch noch nie in der Hand«, ergänzte Cordian, »jedenfalls nicht, wenn ich wach war.«

Die Salas Kai erstarrte mitten in der Bewegung. »Weil es noch nicht passiert ist …«, hauchte sie, das Unvorstellbare aussprechend. »Seit Jahrhunderten hat keine Wa’dur mehr in die Zukunft geblickt. Es ist nicht möglich …«

 

Mo brauchte eine ganze Weile, bis sie sich vollständig erholt hatte. Die Frau ihres Gastgebers brachte ihnen Getränke auf das Zimmer sowie ein paar Scheiben schmalzbestrichenes Brot.

Während sie nebeneinander auf dem Bett saßen, aßen und tranken, haderte die Seherin mit sich selbst. Sie beteuerte immer wieder, dass nicht sein konnte, was sie in ihrer Vision gesehen hatte, stellte aber genauso oft Vermutungen auf, was es denn bedeuten mochte. Zu Cordians Erstaunen war die junge Frau längst nicht so unnahbar und geheimniskrämerisch wie die anderen Salas Kai, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte. Das waren zugegebenermaßen nicht allzu viele, aber dennoch war er stillschweigend davon ausgegangen, dass sich alle so gebärdeten.

»Es tut mir leid, Cordian«, entschuldigte sie sich schließlich, »ich bin mir sicher, dass es eine Verbindung zwischen dir und der Schicksalsklinge gibt, aber ich kann dir nicht helfen. Ich kann sie nicht lokalisieren …«

Er nickte verstehend, griff dabei aber unter sein Hemd und holte das zerbrochene Amulett hervor, das er heimlich aus dem Palast entwendet hatte. »Könntest du stattdessen herausfinden, wo der Rest davon ist?«

Sichtlich verdutzt griff Mo nach dem steinernen Kleinod und hielt es ins Licht, um es genauer studieren zu können.

»Die Spirale und das Dreieck«, murmelte sie. »Das alte Symbol für Tirvaness. Woher hast du das?«

»Ich bin sozusagen zufällig darüber gestolpert«, antwortete er ausweichend. Er war nicht allzu erpicht darauf, ihr die genaueren Umstände zu erklären.

»Das war kein Zufall«, widersprach die Salas Kai bestimmt und schloss erneut die Augen. »Das war Schicksal.«

Wieder saß sie eine Weile einfach da und schwieg konzentriert, dann begann sie zu sprechen: »Ich sehe einen Ort aus Fels und Eis, wo Himmel und Erde sich berühren. Ein schroffer steiler Berg, geformt wie ein gewaltiger Reißzahn. Genau so wird er auch genannt: der Reißzahn – einer der höchsten Gipfel des Drachengrates. Einst lebten jene majestätischen Geschöpfe dort, frei und wild. Dort liegt verborgen, was du suchst.«

Sie schlug die Augen auf. »Dort befindet sich die andere Hälfte des Amulettes.«

»Was hat es damit auf sich?«, wollte Cordian wissen. »Handelt es sich um einen Sal’dir?«

»Das ist schwer zu sagen. Hätte ich beide Teile, könnte ich es womöglich feststellen, aber so nicht. Es könnte sich um eine Art Wegweiser nach Tirvaness handeln. Vielleicht ist es auch etwas ganz anderes.«

Also gut. Wie es aussah, blieb ihm nur eine Möglichkeit, es herauszufinden: Er musste aufbrechen und das andere Bruchstück beschaffen. Und zwar so schnell wie möglich.

»Mit einem guten Pferd könnte ich den Drachengrat binnen drei Wochen erreichen«, überlegte er. Das Gebirge befand sich westlich von Ganthalas, nahe der Grenze zu Karban, doch die elteranischen Straßen waren gut ausgebaut und sollten ein schnelles Vorankommen ermöglichen.

»Mag sein, aber ein solches Unterfangen bedarf sorgfältiger Planung«, bremste Mo seinen Enthusiasmus. »Wir sollten uns auf alle Eventualitäten vorbereiten.«

»Vermutlich …«, murmelte er. Immerhin versuchte sie nicht, ihm die Sache auszureden, wie er beinahe befürchtet hatte, doch er beabsichtigte auch nicht, längere Zeit mit Vorbereitungen zu verschwenden. Die Verdammten würden ihm nicht den Gefallen tun und solange Däumchen drehen!

Einen Blick aus dem Fenster werfend, erkannte er, dass die Sonne mittlerweile schon recht tief stand. Dieser ganze Ausflug hatte bereits länger gedauert, als ihm lieb war. Er merkte an, dass es nun wohl an der Zeit sei, zum Palast zurückzukehren.

Mo stimmte zu, verkündete aber, dass sie selbst die Nacht hier verbringen würde, um in Ruhe über ihre Visionen nachzudenken. Cordian und Tao wünschten ihr viel Erfolg dabei.

 

Zurück auf der Straße bemerkte er, dass sich das Stadtbild mit der Tageszeit verändert hatte. Wo zur Mittagsstunde hektische Betriebsamkeit geherrscht hatte und die Schreie der Marktfrauen durch die Straßen gehallt waren, flanierten nun die ersten herausgeputzten Nachtschwärmer über das Pflaster. Fröhliches Gelächter drang aus einer Taverne an ihr Ohr und in der Seitenstraße direkt neben dem Haus, das sie gerade verlassen hatten, drückte sich ein junges Liebespaar eng umschlungen in die Schatten.

»Was machen die beiden da?«, fragte Tao unschuldig, die seinem Blick gefolgt war.

»Nun, sie …«, stammelte Cordian ein wenig verlegen. »Sie küssen sich. Wenn sich zwei Menschen sehr, sehr mögen, dann … küssen sie sich.«

Das war zumindest die Version, die man zehnjährigen Kindern erzählte. Warum fiel es ihm eigentlich so schwer, mit Tao ganz offen über Gefühle zu reden? Es war doch im Grunde das Normalste von der Welt. Am besten probierte er es noch einmal von vorn.

»Was ich sagen wollte, ist …«

Weiter kam er nicht. Plötzlich spürte er, wie sich ihr Arm um seine Hüfte legte und sie ihn mit sanftem Druck zu sich herumdrehte. Dann berührten ihre Lippen die seinen, und es war, als würden tausend Sterne in ihm explodieren. Ihre grünen Augen funkelten unter halb geschlossenen Lidern hervor wie polierte Smaragde. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Instinktiv erwiderte er den Kuss, der nur einen kurzen, viel zu kurzen Augenblick andauerte. Schon löste sie sich mit einem strahlenden Lächeln von ihm und verkündete anschließend, als wäre nichts weiter geschehen: »Ich mag dich, Cordian. Ich möchte mit dir kommen, wenn du zum Drachengrat aufbrichst.«

»Ich … wenn ich …«, stammelte er. War das alles? Hatte sie ihm nur zeigen wollen, dass sie ihn mochte? Bedeutete der Kuss nichts weiter für sie? Er hatte Schwierigkeiten, seine aufwallende Leidenschaft im Zaum zu halten. Nichts auf der Welt hätte er jetzt lieber getan, als sie wieder an sich zu ziehen und erneut von diesen wundervollen Lippen zu kosten, aber er zwang sich, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Was, wenn sie nichts dergleichen für ihn empfand? Was hatte Meyers gesagt? Sie war kein Mensch. War sie überhaupt fähig, zu lieben?

»Ich hätte dich auch gerne dabei«, brachte er schließlich heraus. »Aber Captain Meyers wird das niemals zulassen …«

»Dann sagen wir ihm nichts«, schlug Tao spitzbübisch vor, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn die Straße hinunter, an deren Ende die Kutsche auf sie wartete.

 

Im Schatten der Seitengasse stieß die eben noch so leidenschaftlich wirkende Frau ihren Verehrer genervt von sich.

»Genug jetzt«, fauchte sie leise und der Mann gehorchte, obwohl er sie weiter aus liebestrunkenen Augen anstarrte. Gedämpft fluchend legte sie ihm zwei Finger auf die Stirn. »Du wirst jetzt nach Hause zu deiner Familie gehen«, befahl sie ihm, »und wenn du dort ankommst, wirst du vergessen haben, dass du heute hier warst und dass wir zwei uns je begegnet sind.«

»Ja, Herrin«, bestätigte er und trottete davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Die Frau zog ihr Kleid zurecht und richtete noch einmal ihr kunstvoll hochgestecktes seidig schwarzes Haar. Ihre leicht geschlitzten Augen, ein seltenes Merkmal in den östlichen Gefilden Eddors, blitzten zufrieden. Das Gespräch, das sie belauscht hatte, war äußerst aufschlussreich gewesen. Ihre Meisterin würde erfreut sein. Hoch erfreut …

4

Ein wenig Morgennebel hing noch in der Luft, doch schickte sich die Sonne bereits an, ihr Territorium zurückzuerobern und den Bewohnern der Hauptstadt einen goldenen Herbsttag zu bescheren. In Ganthalas waren die Nächte auch längst nicht so frisch wie in Keld zu dieser Jahreszeit, fand Prinzessin Lissina. Dass sie dennoch gleich in mehrere wärmende Decken gehüllt war, lag daran, dass diese nicht für sie bestimmt waren, sondern für Tao und ihren Bruder, die soeben in aller Heimlichkeit ihre Pferde sattelten.

»Ich finde immer noch, dass ich mitkommen sollte«, meinte sie vorwurfsvoll, als sie sich des dicken Stoffes entledigte und die Decken an Cordian übergab.

»Wir haben das doch schon besprochen«, entgegnete dieser mit Verständnis. »Jemand muss hierbleiben und diese uneinsichtigen Fürsten daran erinnern, dass im Norden Krieg herrscht und dieser Krieg auch bald nach Eltera kommen wird, ob sie nun wollen oder nicht.« Er zog die Riemen stramm, welche die Satteltaschen seines gefleckten Eskatiliers hielten, und ballte die Hände zu Fäusten. »Jemand muss unsere Sache in Ganthalas vertreten – die Sache Keldors.«

Er hatte recht: Jemand musste es tun. Der Thronrat hatte seine Entscheidung vertagt, da von insgesamt dreiunddreißig Mitgliedern nur achtzehn anwesend waren und man keine derart weitreichenden Beschlüsse über die Köpfe der anderen hinweg fällen wollte. Die einzige Sofortmaßnahme, zu der sich das Gremium auf Drängen des Königs durchringen konnte, war eine Verstärkung der Truppenpräsenz an der Nordgrenze, um die Norkai abzuschrecken. Selbst darüber hatte es hitzige Diskussionen gegeben, mussten die erforderlichen Soldaten doch aus dem Nordosten abkommandiert werden, wo ein aggressiv agierendes Königreich Fant gerade seinen Nachbarn Brascheer überfiel und womöglich bald weitere territoriale Ansprüche stellte. Ja, jemand musste ihnen Feuer unter ihren Hintern machen, doch Lissina sträubte sich dagegen, dass ausgerechnet sie diejenige sein sollte.

»Warum bleibst du nicht noch ein paar Tage und übernimmst das selbst? Ich bin sicher, Mo hat nicht gewollt, dass du dich Hals über Kopf in dieses Abenteuer stürzt …«

»Ich würde ja«, behauptete Cordian, »aber ich will verschwunden sein, bevor jemand merkt, dass dies hier fehlt.« Er hielt ihr das zerbrochene Amulett jenes früheren elteranischen Königs entgegen, der vergeblich versucht hatte, Tirvaness zu finden. »Das würde nur unnötige Fragen aufwerfen. Außerdem gönnen sich die Verdammten auch keine Ruhepause …«

»Dann erzähl dem König davon«, versuchte sie, ihn umzustimmen. »Er ist ein vernünftiger Mann, er könnte dir helfen, dir Soldaten mitschicken …«

»Man nannte König Dolmin nicht umsonst den Verrückten«, erinnerte er sie. »Tirvaness … Ich würde so etwas ja selbst nicht glauben, wenn ich an seiner Stelle wäre. Die Elteraner sind noch nicht bereit dafür. Noch nicht …«

»Ich bin so weit«, ließ Tao verlauten, die ihren Schimmel bereits hinausgeführt und sich in den Sattel geschwungen hatte. Sie trug nun eine praktische knöchellange Lederhose mit dazu passenden Stiefeln und ein eng anliegendes Hemd samt Weste ohne störende Schnörkel. Von allen Dingen, welche die Prinzessin seit gestern Abend organisiert hatte, war es am schwierigsten gewesen, Männerkleidung in Taos Größe zu finden. Doch sie wusste, wie ihre Freundin sich bewegen konnte, und wollte nicht, dass sie durch ein unpraktisches Kleid behindert wurde, wenn es – Arn behüte – zum Kampf kommen sollte. Da ihr Bruder überall herumerzählt hatte, er wolle mit Tao bloß einen kurzen Ausritt unternehmen, hatte sie sich einige verrückte Geschichten ausdenken müssen, um mit ihren sonderbaren Wünschen keinen Verdacht zu erregen.

»Hast du bekommen, um was ich dich noch gebeten hatte?«, erkundigte sich Cordian.

»Natürlich«, entgegnete sie Augen rollend und griff mit der Hand in ihr Dekolleté, um mehrere goldene Löffel daraus zum Vorschein zu bringen. »Wenn ihr die zum Pfandleiher bringt, solltet ihr einiges dafür bekommen. Genug, um ausreichend Vorräte zu kaufen.«

»Goldene Löffel?«

Cordian konnte es vermutlich genauso wenig glauben wie sie im ersten Moment. In Keld wäre ein solcher Luxus undenkbar gewesen.

»Die haben hier alles aus Gold. Vermutlich baden sie sogar darin …«

»Gutes Versteck übrigens.«

Ihr Bruder zwinkerte ihr schelmisch zu, als sie ihn verärgert anfunkelte. »Na, hör mal, dieses Kleid besteht zwar aus genug Stoff, um eine araskische Sippe einzukleiden, aber an Taschen hat dabei keiner gedacht!«

Oh, sie hasste die elteranische Mode. Die Frauen liefen herum wie Porzellanpüppchen und waren in diesen Kleidern vermutlich ähnlich steif, jedenfalls ging es ihr so. Noch mehr hasste sie es aber, wenn sich jemand über ihre missliche Lage lustig machte!

»Jetzt mach, dass du wegkommst, du ungehobelter Klotz. Und wenn du mich noch einmal für dich stehlen lässt, dann kannst du was erleben!«

Bei den Worten steckte sie Cordian einen der Löffel, mit dem sie vor ihm herumfuchtelte, beinahe bis in die Nase. Als er ihr das Essbesteck schließlich aus der Hand nahm, drückte er sie noch einmal an sich, und ihrer aufgebrachten Worte zum Trotz ließ sie es nicht nur geschehen, sondern erwiderte die Geste zudem aus vollem Herzen.

»Pass auf dich auf«, flüsterte sie in sein Ohr. »Und auf Tao. Ihr seid alles, was ich noch habe …«

»Wir sind bald zurück«, sprach er ihr Mut zu, »das verspreche ich.«

Sie begleitete ihn, als er sein Pferd nach draußen führte, und verabschiedete sich dort auch von Tao, die Cordians Versprechen wiederholte und sich nicht im Mindesten Sorgen zu machen schien, dass sie es womöglich nicht würde einhalten können. Ihr unverwüstlicher Optimismus zauberte ein flüchtiges Lächeln auf Lissinas Züge, das jedoch bald verflog, als die beiden schließlich davontrabten und sie ihnen nur noch nachwinken konnte. Jetzt war sie auf sich allein gestellt, musste als Frau die mächtigsten Adeligen des Landes davon überzeugen, ihrem Heimatland unverzüglich zu Hilfe zu eilen, den Kampf gegen die größte Bedrohung Eddors seit dreitausend Jahren aufzunehmen, und dabei verhindern, von ihrem eigenen Kleid erstickt zu werden. Wie sollte sie das alles schaffen?

 

Noch etwa eine Stunde wanderte Lissina ziellos durch den riesigen Palast und grübelte über das nach, was ihr bevorstand. Versunken in Gedanken stieß sie beinahe mit einer Dienstbotin zusammen, die eilig um eine Ecke bog. Sicher hätte sie diese Begegnung gleich im nächsten Moment wieder vergessen, wären da nicht die exotischen Schlitzaugen der jungen Frau gewesen. Sie musste aus dem fernen Reich Tinsai von weit jenseits des Scheidegebirges stammen. Ihr Schicksal hatte sie wahrlich weit weg von ihrem Zuhause verschlagen, aber immerhin hatte sie eine Heimat. Lissina hingegen war eine Prinzessin ohne Königreich, deren Volk auf der Flucht war. Ihr Bruder hatte sich auf eine gefährliche Suche begeben und ihr Vater war …

Die Ungewissheit über sein Schicksal nagte an ihr, aber – so wurde ihr plötzlich klar – falls er noch lebte, würde er sich sicher genauso große Sorgen machen. Kurz entschlossen suchte sie den Botenreiter auf, den der keldorische König bei Ausbruch des Krieges nach Eltera geschickt hatte; zu spät, um noch etwas am Ausgang desselbigen zu ändern. Der Mann war ein erfahrener Soldat und mehr als bereit, ihr zu Diensten zu stehen. Der Auftrag, den sie für ihn hatte, war gefährlich, das wusste er so gut wie sie, trotzdem zögerte er nicht, ihn anzunehmen: Er würde zurück nach Keldor reiten und ihren Vater suchen. Sollte es ihm gut gehen, würde er ihm berichten, dass seine Kinder wohlauf waren, sollte er gefallen sein …

Sie brachte es nicht fertig, weiterzusprechen, doch der Mann verstand. In diesem Fall würde er ihr und Cordian davon berichten, dann hätten sie wenigstens Gewissheit.

Zurück in dem ihr zugewiesenen Gemach stieß sie beim Eintreten beinahe mit einer Zofe zusammen, die Lissinas benutzte Bettwäsche ausgewechselt hatte. Das Mädchen musste noch ein paar Jahre jünger sein als sie und entschuldigte sich ängstlich, als sie die Prinzessin erkannte, so als hätte diese vorgehabt, ihr für die kleine Unachtsamkeit den Hintern mit dem Stock zu versohlen.

Lissina beruhigte die Dienerin schnell und fragte freundlich nach ihrem Namen.

»Martena, Herrin«, kam die zögerliche Antwort.

Die Prinzessin trat einen Schritt zurück und musterte das Mädchen von oben bis unten. Martena hatte große Augen und einen kleinen schmalen Mund, ihr dunkles Haar war zu einem Zopf geflochten. Besonders interessant erschien Lissina jedoch die augenscheinlich bequem sitzende Kleidung der anderen.

»Martena, du besorgst mir jetzt bitte genau so ein Kleid, wie du es gerade trägst. In meiner Größe. Es muss nicht unbedingt perfekt sitzen …«

»Aber Herrin«, verwahrte sich die Zofe überrascht, »das ist Arbeitskleidung!«

»Hör zu …«, die Prinzessin holte tief Luft, »in den letzten Tagen bin ich so oft nur knapp dem Tod entronnen, dass ich es schon nicht mehr zählen kann. Ein Dar’zai hat mir ein Schwert an die Kehle gehalten, ein Drache hat Feuer nach mir gespien und ein Mann, den ich im Nachhinein als meinen Freund bezeichnen würde, ist in meinen Armen verblutet. Meinetwegen kann es sich dabei auch um das Kostüm des Hofnarren handeln – bring es mir einfach.«

Nachdem die Zofe gehorcht und sich eilig von dannen gemacht hatte, schloss Lissina die Tür und begann damit, an ihrem Rücken das viel zu enge Korsett aufzuschnüren, da klopfte es plötzlich.

»Was ist denn noch?«, rief die Prinzessin und drückte die Klinke hinunter, in Erwartung, Martena auf dem Gang stehen zu sehen. Es war jedoch Mo, die Salas Kai, der sie sich gegenübersah!

»Guten Morgen, Lissina.«

Völlig verdattert deutete sie einen Knicks an und brachte eine stammelnde Begrüßung heraus.

»Ich konnte deinen Bruder nirgendwo finden«, eröffnete die Seherin. »Es gibt noch so viel zu besprechen und zu planen, wenn er sich wirklich auf die Suche nach Tirvaness begeben will, und ich werde Ganthalas schon bald wieder verlassen müssen. Weißt du, wo ich ihn finden kann?«

»Er … nun …«, stotterte Lissina. »Also, das ist kompliziert …«

 

***

 

Eiligen Schrittes durchmaß die junge schwarzhaarige Frau die dunklen Korridore des luxuriösen Anwesens am Stadtrand und blieb schließlich vor einer verschlossenen Tür aus Ebenholz stehen. Sie versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen, klopfte und wartete. Nichts geschah, also legte sie ihr Ohr an das Holz und lauschte. Ihre schlitzförmigen Augen verengten sich weiter: Kein Geräusch war zu hören, doch das konnte alles oder gar nichts bedeuten. Hinter ihrer Stirn rang ihr Verstand mit der Frage, ob sie ihre Meisterin mehr entzürnte, wenn sie sie jetzt störte oder wenn sie es nicht tat. Schließlich drückte sie die schwere Klinke herunter und trat ein.

Alles, was sie im gedämpften Licht erkannte, das durch die Ritzen der schweren samtenen Vorhänge fiel, war die Rückenlehne eines großen gepolsterten Sessels, platziert auf einem flachen Podest in der Mitte des Raumes. Dazu zwei alabasterfarbene nackte Arme, die reich behängt mit Reifen und anderem Schmuck zu beiden Seiten auf den Armstücken ruhten.

»Sisake«, wurde sie mit Namen von einer melodischen Frauenstimme begrüßt, die der Person auf dem Sessel gehörte, ohne dass diese sich hatte umdrehen müssen, um nachzusehen, wer hereingekommen war. »Ich sagte doch, ich möchte nicht gestört werden.«

Die Eingetretene schluckte. Die Stimme war ruhig, aber der Zorn der Meisterin war zu Recht gefürchtet. Auch die Tatsache, dass Sisake ihr fähigstes Talent war, eine Stellung, die schon in Tinsai permanent den Neid und die Missgunst der anderen Schülerinnen auf sie gezogen hatte, würde ihr Leben nicht retten, wenn sie den Bogen überspannte. Sie hoffte, dass heute nicht der Tag war.

»Verzeiht, Herrin«, entschuldigte sie sich mit einer tiefen Verbeugung. »Aber ich bringe wichtige Kunde …«

»Wichtiger als meine Unterredung mit Asmarel?«

Sisake schluckte erneut. Es war außer ihnen niemand im Raum, aber sie wusste, dass jemand mit den Kräften und dem Wissen der Herrin auch über große Entfernungen problemlos die eigenen Gedanken mit denen eines anderen verschmelzen konnte.

»Es geht um den Jungen und das Mädchen«, brachte sie hastig hervor. »Sie sind aufgebrochen. Wünscht meine Herrin, dass ich sie aufhalte?«

»Nein«, antwortete die Stimme mit einem zufriedenen Unterton. »Sie sind genau dort, wo ich sie haben will.«

Sisake hob verwundert eine Augenbraue. »Aber Asmarel verlangt doch ihre Ergreifung …«

»Asmarel braucht nicht alles zu wissen«, wurde sie von der Frau im Sessel warnend belehrt. »Ich werde nicht riskieren, dass seine Gefühle noch einmal alles verderben. Er wird seinen Willen bekommen, aber erst werden diese beiden etwas für mich erledigen. Folge ihnen, sodass sie dich nicht bemerken, und bringe dem Jungen dieses Geschenk.«

Sie streckte seitlich die Hand aus und hielt ein kleines Lederetui darin.

Sisake trat vor, nahm den Behälter entgegen, warf voller Ehrfurcht einen kurzen Blick hinein und entfernte sich dann auf leisen Sohlen. Was ihre Meisterin befahl, das würde sie tun, ohne Fragen zu stellen.

5

Bogensehnen schnellten zurück und eine ganze Ladung Pfeile sirrte durch die Luft. Die meisten trafen die in etwa einhundert Meter Abstand aufgestellten Zielscheiben, ein paar bohrten sich in das plattgetretene Gras dahinter. Ein Offizier brüllte ein Kommando und die Männer legten erneut an. Captain Meyers fragte sich, ob auf dem Übungsplatz des Palastes immer so viel Betrieb herrschte, oder ob die Soldaten extra wegen ihnen hatten antreten müssen. Das Klirren von Schwertern drang noch aus dem Nachbarhof an sein Ohr, auch dort war es äußerst geschäftig zugegangen. Ob die Waffen nicht schartig wurden, wenn die Soldaten das jeden Tag machten?

Seine Gedanken glitten ab, auch wenn Feldmarschall Donkar, der ihn und seinen Waffenoffizier herumführte, sich große Mühe gab, sie bei Laune zu halten. »Obwohl seit Jahren Frieden herrscht«, erklärte der zackige schnauzbärtige Mann, »hält das Königreich stets mehrere Zehntausend Mann unter Waffen. Bogenschützen bilden hierbei eines der zahlenstärksten Kontingente.«

Während er sprach, ließ er sich einen gespannten Bogen reichen, der fast so groß war wie er selbst. Er führte die anderen beiden Männer ein Stück weiter, wo er gegenüber einer Strohpuppe Aufstellung nahm, der man mehr schlecht als recht eine Brustrüstung umgeschürzt und einen verbeulten Helm aufgesetzt hatte.

»Der elteranische Langbogen«, fuhr er fort, »ist zu Recht auf allen Schlachtfeldern gefürchtet.« Er legte einen Pfeil auf und zog die Sehne zurück, was ihn sichtlich Kraft kostete. Als er losließ, wurde das Geschoss von der in den Bogenarmen gespeicherten Spannkraft mit enormer Geschwindigkeit nach vorne katapultiert und bohrte sich zielsicher bis zum Schaft in den Leib der gut fünfzig Meter entfernten Puppe. Die schützende Metallplatte wurde dabei glatt durchschlagen.

»Nur schwerste Rüstungen bieten Schutz auf diese Entfernung«, erklärte der mit seinem Treffer sichtlich zufriedene Schütze. »Alles, was dünner ist als ein Kavallerieharnisch, wird seinen Träger kaum vor dem Schlimmsten bewahren.«

Meyers nickte anerkennend. Weniger wegen der Wirkung der Waffe, sondern vielmehr wegen der Anstrengung, die es gekostet hatte, sie abzufeuern. Auch Ivan gab sich beeindruckt, obwohl es dem Hünen mittels seiner kybernetischen Muskelverstärker wahrscheinlich möglich gewesen wäre, den Bogen bis zum Auseinanderbrechen zu überspannen.

»Ich bin neugierig, Captain«, ließ der Feldmarschall verlauten. »Ihr erwähntet vorhin, dass Ihr ausschließlich Fernwaffen verwendet. Sie müssen sehr gut sein, wenn Ihr das Risiko eingeht, wehrlos dazustehen, sollte es doch einmal zum Nahkampf kommen. Ob Ihr wohl zu einer Demonstration bereit wäret?«

Meyers nickte. Das hatte er tatsächlich gesagt, aber nur, um den Teil mit den Schwertern schnell hinter sich zu bringen und nicht in die Verlegenheit zu geraten, einen Übungskampf ausfechten zu müssen. Nun gut, wenn ihr Gastgeber darauf bestand, dann sollte er seine Demonstration eben bekommen. Er selbst war unbewaffnet, aber Ivan hatte sich ein Impulsgewehr um die Schulter gehängt. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die Palastwache es lediglich für eine Art exotischen Knüppel gehalten hätte, denn sie hatte ihn widerspruchslos gewähren lassen.

Meyers gab seinem Waffenoffizier einen Wink: »Lieutenant Kasov, Sie haben den Mann gehört«.

Mit demonstrativer Gelassenheit nahm Ivan das Gewehr von der Schulter und legte auf die Strohpuppe an. Ein leiser Summton verriet, dass die Waffe entsichert wurde, doch der erfahrene Soldat ließ sich beim Zielen mehr Zeit, als er eigentlich brauchte. Als er schließlich abdrückte, geschah alles sehr schnell: Mit einem vernehmlichen Zischen schoss ein einzelner gleißender Partikelimpuls aus der Mündung und schlug, noch bevor das Auge die Bewegung registrierte, in der steinernen Begrenzung des Schießplatzes hinter dem Ziel ein, wo Splitter in alle Richtungen davon sprangen. Der Feldmarschall zuckte vor Schreck zusammen, mochte im ersten Moment vielleicht denken, der Hüne hätte sein Ziel verfehlt, doch in der Strohpuppe klaffte ein etwa zehn Zentimeter durchmessendes kreisrundes Loch. Die Ränder der Rüstung glühten rot und Qualm stieg auf, wo das trockene Füllmaterial noch vor sich hin kokelte. Jegliche Aktivität auf dem Schießplatz war zum Erliegen gekommen; alle sahen zu ihnen herüber.

»Das TGS-16-Partikelimpulsgewehr«, erläuterte Meyers trocken. »Auf diese Entfernung schützen nur mehrlagige thermoablative Fasern oder molekularverstärkte Panzerungen.«

Während der arme Donkar noch ungläubig mit offenem Mund geradeaus starrte und nicht wusste, was er sagen sollte, hörte Meyers hinter sich jemanden höflich, aber zurückhaltend applaudieren. Als er sich herumdrehte, erkannte er die schmale Silhouette der Salas Kai.

»Sehr beeindruckend. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass es sich bei euren Waffen um mächtige Sal’dire handeln muss.«

Als der Captain sie nur verständnislos anblickte, fügte Mo hinzu: »Artefakte, die mit der Macht Sirains erschaffen wurden«.

»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte Meyers kopfschüttelnd. »Unsere Technologie kommt ohne mystischen Hokuspokus oder irgendwelche unsichtbaren Kräfte aus.«

»Wie funktioniert sie dann, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Mo in abwartender Haltung.

»Ohne jetzt ins Detail zu gehen: Sie basiert in der Hauptsache auf dem Elektromagnetismus. Das ist eine physikalische Kraft, die gleichzeitig in Form von Wellen oder Teilchen auftreten kann, die für das bloße Auge unsichtbar sind …«

Er stockte, als er bemerkte, dass die Salas Kai immer brav nickte und ihn dabei spöttisch anlächelte.

»In Ordnung, ich sehe schon, worauf das hinausläuft«, gab er sich kopfschüttelnd geschlagen. »Aber das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ich rede von Wissenschaft und nicht …«

Seufzend ließ er den Satz unvollendet. Wie schaffte diese Frau es nur, dass er sich jedes Mal wie ein kompletter Trottel vorkam?

»Eigentlich bin ich wegen einer anderen Sache hier«, durchbrach sie das plötzlich herrschende Schweigen, bevor es allzu unangenehm wurde. »Ich fürchte, Cordian hat etwas sehr Übereiltes getan …«

In knappen Worten berichtete sie ihm von ihrem Gespräch mit Lissina. Als sie fertig war, starrte Meyers sie entgeistert an. »Sie haben die Stadt verlassen?«, rief er aus. »Weshalb? Und wo wollten sie hin?«

»Ich habe Cordian gestern sein Schicksal offenbart. Und die Suche, die auf ihn wartet. Ich hätte nur nicht gedacht, dass er sich Hals über Kopf in Gefahr begibt. Hätte ich doch nur …«

Meyers hörte schon nicht mehr zu, sondern kontaktierte seine Crew über Visicom: »Cordian hat sich mit der Alpha aus dem Staub gemacht. Wir treffen uns an der Fähre!«

Beim Feldmarschall entschuldigte er sich und Ivan eilig, Mo lud er ein, mit ihm zu kommen. Vielleicht wusste sie noch etwas, das ihnen nutzen konnte. Verflucht, er hatte schon befürchtet, dass der Junge irgendetwas Dummes tat, nur dass es so bald geschehen würde, das hatte er nicht erwartet. Sie mussten Tao so schnell wie möglich zurückholen, sie war einfach zu wichtig!

 

Als sie sich raschen Schrittes der Fähre näherten, hatte er seine Crew bereits über das wenige, das er wusste, informiert. Palastwachen hatten in respektvollem Abstand um das Gefährt Position bezogen, sowohl um Schaulustige auf Distanz zu halten als auch – so vermutete der Captain – ein Auge auf die Fremden zu werfen, denen es gehörte. König Regaland verhielt sich seinen Gästen gegenüber sehr zuvorkommend, er war jedoch nicht leichtsinnig. Nach der kleinen Demonstration auf dem Schießplatz würde es ihn nicht wundern, wenn hier heute Abend doppelt so viele Männer stünden – er selbst hätte es nicht anders gehandhabt.

Von der linken Tragfläche hingen einige optotronische Kabelstränge herab, Teile der äußeren Verkleidung lagen im Gras darunter. Seine Leute hatten den vergangenen Tag genutzt, um den Schaden zu begutachten und mit der Reparatur begonnen. Meyers fürchtete, dass der Raumgleiter gerade jetzt, wo sie ihn möglicherweise gebrauchen konnten, nicht einsatzbereit war.

Durch die geöffnete Heckklappe traten er und Ivan ein und grüßten knapp die versammelte Mannschaft. Mo folgte ihnen zögerlich und sah sich aufmerksam im Inneren des stählernen Fliegers um. Vermutlich gingen ihr die gleichen Fragen durch den Kopf wie den anderen beiden Planetenbewohnern auf ihrem Flug hierher, allen voran, wie sich so ein schweres Ungetüm in der Luft halten konnte. Andererseits: Drachen wirkten kaum weniger massig, und mit denen kannte sich die Salas Kai womöglich ganz gut aus.

»Also«, fragte der Captain in die Runde, »hat irgendjemand etwas gesehen oder gehört? Wissen wir, wann die beiden aufgebrochen sind, und in welche Richtung?«

»Tut mir leid, Sir«, entschuldigte sich Divone. »Ich wollte heute Früh noch einmal nach dem Jungen sehen, aber mir wurde gesagt, dass er einen Ausritt unternommen habe.«

»Und ich war die ganze Zeit hier und habe gearbeitet«, vermeldete Dex. »Seit gestern Morgen.«

»Haben Sie denn zwischendurch mal geschlafen, Lieutenant?«, erkundigte sich Meyers.

»Bis jetzt noch nicht«, räumte der junge Mann ein, »wollte gleich ein Nickerchen machen, aber erst mal den Schaden bewerten. Wussten Sie übrigens, dass es auf dieser Welt keinen Kaffee gibt? Ein Wort dafür existiert nicht in der Datenbank. Ich habe nachgefragt und das Getränk beschrieben, aber bloß eine heiße Schokolade bekommen. Kein Wunder, dass die noch im Mittelalter feststecken.«

»Irgendwelche Ideen, wie wir sie nun jemals wiederfinden sollen?«, wollte Meyers wissen, die Beschwerden seines Offiziers wohlweislich ignorierend.

»Wir sollten sie einfach kontaktieren«, schlug Divone vor. »Falls Tao ihren Kommunikator mitgenommen hat, können wir sie vielleicht zur Umkehr bewegen.«

Das war einen Versuch wert. Er nahm sich einen Moment, um Mo zu erklären, was sie vorhatten und versicherte sich der Unterstützung der Salas Kai. Auch sie hätte die beiden gerne wohlbehalten zurück in Ganthalas gewusst. Damit die junge Frau mitbekam, was vor sich ging, stellte er die Verbindung zu Tao nicht über seine Biotronik her, sondern direkt über seinen Armbandkommunikator. Quälende Sekunden lang geschah gar nichts. Er war sich schon fast sicher, dass die Alpha sich ihres Gerätes entledigt hatte, dann jedoch erschien ihr Gesicht in dem holografischen Display über seinem Handgelenk, wie es von einer kleinen Kameralinse an dem ihren aufgezeichnet wurde.

»Captain Meyers!«, rief sie überrascht und fuchtelte mit der Hand vor der Kamera herum, als wolle sie das Hologramm auf ihrer Seite mit den Fingern berühren.

»Tao, wo bist du? Ist Cordian bei dir?«

»Er ist hier«, bejahte Tao fröhlich und schwenkte ihren Kommunikator, sodass der junge Prinz ins Bild kam. Sie schienen beide auf dem Rücken von Pferden zu sitzen.

»Wir machen uns Sorgen«, verkündete Meyers wahrheitsgemäß. »Ihr solltet schnellstmöglich umkehren und in die Stadt zurückkommen.«

»Nein, das geht nicht«, behauptete Tao immer noch gut gelaunt. »Wir suchen eine mächtige Waffe. Das ist Cordians Schicksal.«

»Aber nicht das deine«, probierte es der Captain stirnrunzelnd.

»Ich gehe mit ihm«, erklärte Tao stolz. »Wir mögen uns sehr. Wir haben uns geküsst.«

Das darf doch nicht wahr sein, dachte Meyers. Am liebsten hätte er jetzt beide Hände vors Gesicht geschlagen. Warum musste bloß alles immer so kompliziert sein?

»Tao, hier ist jemand, der Cordian gerne sprechen möchte«, zwang er sich so gelassen und verständnisvoll wie möglich zu sagen. »Kannst du ihn bitten, etwas näher zu kommen?«

Er winkte Mo zu sich herüber, die der Szene bisher mit kaum verhohlenem Erstaunen beigewohnt hatte. Unsicher vergewisserte sie sich, ob sie tatsächlich einfach in den Kommunikator sprechen musste. Auf sein Nicken hin merkte sie noch an: »Euer Elektromagnetismus ist wahrlich eine wundersame Kraft …«

Im holografischen Display erschien nun das argwöhnisch dreinblickende Gesicht des Prinzen, das sich sogleich ein wenig aufhellte, als er die Salas Kai erkannte.

»Mo, es tut mir leid, dass ich aufgebrochen bin, ohne mich vorher zu verabschieden …«

»Cordian«, sprach die junge Frau, »ich habe die ganze Nacht über meine Vision nachgedacht. Ich bin mir nun fast sicher, dass du derjenige bist, von dem die Prophezeiung spricht. Derjenige, der die Waffe finden und das Schicksal Eddors entscheiden wird. Das heißt aber auch, dass all unsere Hoffnung auf dir ruht. Es wäre besser, du kämest zurück«, beschwor sie ihn, »und gibst uns Zeit, diese gefährliche Unternehmung mit aller nötigen Sorgfalt zu planen. Ich könnte versuchen, mit meiner Gabe noch mehr herauszufinden, der König könnte dir Männer zur Verfügung stellen …«

Der Junge schüttelte den Kopf: »Planung und Vorbereitung hat uns bisher nichts weiter gebracht als Tod und Leid. Die Verdammten hatten Jahre Zeit, ihre Pläne auszuhecken und jede mögliche Wendung zu berücksichtigen. Wenn wir diesen Vorsprung aufholen wollen, müssen wir sie überraschen. Und wenn es eine Waffe gibt, die sie vernichten kann, dann werde ich nichts unversucht lassen, sie zu beschaffen, sei es nun so prophezeit oder nicht.«

Mo dachte kurz nach, bevor sie antwortete: »Da gibt es noch etwas, das ich dir gestern nicht gesagt habe. Als sich mir vor zwei Tagen eure Ankunft offenbarte, da sah ich auch …«, sie schluckte, »… den Dunklen.«

Cordian sog die Luft ein. Offenbar wusste er, wen die Salas Kai meinte, oder ahnte es zumindest. Meyers beantwortete die fragenden Blicke seiner Crew mit einem Schulterzucken.

»Du hast Asmarel gesehen?«, vergewisserte sich Cordian.

»Ich bin nicht sicher, ob er es war«, räumte Mo ein, »aber ich vermute es. Er hat etwas erschaffen. Einen Dar’zai, aber keinen von der Art, der du begegnet bist. Es ist ein Jäger, eine Art Spürhund und er folgt deiner Fährte. Er ist mächtig, Cordian.«

Der Blick des Prinzen wurde hart. »Dann sollten wir uns erst recht beeilen.«

»Aber in Ganthalas wärest du sicher«, appellierte die Salas Kai an seine Adresse. »Das Nihilit verhindert, dass er oder die Acht ihre Kräfte gegen dich oder Tao einsetzen können, solange ihr den Palast nicht verlasst.«

»Dann werden sie andere Wege finden«, widersprach Cordian. »Mo, ich kann jetzt nicht länger mit dir reden. Sorge dafür, dass Tennlor wieder auf freien Fuß kommt und Alandrel ihre verdiente Strafe erhält. Ich reite zum Reißzahn!«

Dies gesagt, ließ er die Zügel knallen und verschwand aus dem Bild. Kurz darauf sah man Taos Finger dicht über der Linse, und die Übertragung erlosch gänzlich.

Das hieß dann wohl … Moment mal! Sie hatte ihren Kommunikator lediglich stumm geschaltet; der Kanal war noch offen. Schnell tat Meyers es ihr gleich und setzte die anderen über den Umstand in Kenntnis.

»Weiß sie, dass wir sie damit orten können?«, fragte Dex aufgeregt.

»Vermutlich nicht«, mutmaßte der Captain und legte die offene Verbindung von seinem Armband auf das Terminal im Cockpit. Sein Navigator hatte recht: Bei den vielen Satelliten, welche die Aegis-Division im Orbit des Planeten installiert hatte, wäre es ein Kinderspiel, den Ursprung des Signals zu triangulieren. Es blieb nur die Frage offen, was sie mit dieser Information anfangen würden.

»Ist die Fähre flugfähig?«, wollte der Captain wissen.

Tara schüttelte energisch den Kopf: »Keine Chance, wir mussten den Backbordrotor komplett ausbauen und dazu einige Leitungen kappen. Alles wieder zusammenzuflicken wird Tage benötigen, und dann haben wir immer noch nicht das Triebwerk repariert.«

»Verdammt, wir müssen sie irgendwie einholen«, knurrte Meyers.

Es war Ivan, der sich nun vernehmlich räusperte. »Sir, geben Sie mir ein Pferd und ich bringe sie zurück.«

Dex horchte auf. »Du allein?«, fragte er zweifelnd.

»Oder kann sonst noch jemand von uns reiten?«

Nein, über diese im sechsundzwanzigsten Jahrhundert ausgesprochen seltene Fähigkeit verfügte sonst natürlich niemand, dennoch hatte Meyers Bedenken, den Waffenoffizier ohne Begleitung loszuschicken und äußerte sich dementsprechend.

»Hören Sie, Sir«, versuchte der Hüne ihn umzustimmen, »ich habe als Kind oft tagelange Ausritte im Outback von Shennong unternommen und mich selbst versorgt. Und dort gab es auf tausend Meilen nichts außer dem Gras, das sie angepflanzt haben, um die Bildung einer Sauerstoffatmosphäre zu beschleunigen. Und falls die beiden Ärger machen: Ich war bei den Marines …«

Nun gut, viele Möglichkeiten blieben ihnen nicht, gestand sich der Captain schließlich ein, und erklärte sich nach langem Zögern einverstanden. »Packen Sie ein, was Sie brauchen, Lieutenant Kasov. Und halten Sie uns über Ihren Status permanent auf dem Laufenden.«

Er selbst vergaß nicht, sich bei Mo für ihre Hilfe zu bedanken, auch wenn diese letztendlich vergeblich gewesen war, und verabschiedete sich dann, um beim König ein Pferd für seinen Offizier zu erbitten. Kaum zu glauben, dass sie als Raumfahrer keine andere Möglichkeit hatten, als auf ein solch vorsintflutliches Transportmittel zurückzugreifen.

»Captain!«, ließ ihn die Salas Kai noch einmal innehalten, als er gerade die Rampe erreicht hatte. »Vielleicht ist es tatsächlich das Schicksal der beiden, zu dieser Suche aufzubrechen.«

»Ich überlasse nichts dem Schicksal«, entgegnete er mit Bestimmtheit und marschierte davon.

 

Später am Tag – die Sonne hatte ihren höchsten Stand längst überschritten – lehnte der alte Captain nachdenklich an einer Mauerbrüstung und sah einigen Wachen auf der Terrasse unter ihm beim Würfelspiel zu.

Er bemerkte zunächst nicht, dass die Salas Kai neben ihn getreten war; derart gedankenverloren war er. Erst als ihre violette Robe im milden Herbstwind raschelte, wandte er sich ihr zu.

»Ihr glaubt noch immer nicht an das Schicksal, Captain?«

Er schüttelte den Kopf. »Jeder Mensch schmiedet sich sein eigenes Schicksal. Es gibt keine ordnende Hand, die uns durchs Leben führt. Jeder Tag ist voller Entscheidungen, für die nur wir allein verantwortlich sind.«

Er schwieg kurz und fügte dann in versöhnlichem Ton hinzu: »Mein Name ist übrigens John.«

Damit reichte er ihr die Hand, die sie dankbar ergriff.

»Jeden Tag sehen wir Zeichen, John«, nahm sie den Faden wieder auf. »Es wundert mich, dass du sie nicht bemerkst. Es wurde vor langer Zeit prophezeit, dass die Verdammten zurückkehren werden, wenn sich der Schweif des Drachen am Himmel zeigt. Nun hat er sich gezeigt, und sie kehren tatsächlich zurück. Kann das Zufall sein?«

Meyers zuckte mit den Schultern. »Was ist das für ein Ding, dieser Schweif?«

»Es ist ein Komet, der alle vierhundert Jahre das Sternbild des Drachen durchquert. Dieses Mal jedoch kam er etwas vor seiner Zeit.«

Meyers runzelte verwundert die Stirn. Er hatte nichts dergleichen bemerkt. Darauf angesprochen, räumte die Salas Kai auch ein, dass das Himmelszeichen nur sehr kurz erschienen war, was die Kometentheorie im Grunde bereits widerlegte. Diese kosmischen Wanderer umkreisten ihren Stern auf einer elliptischen Umlaufbahn. Kamen sie in Sonnennähe, blies der Sonnenwind Eis und Staub von ihrer Oberfläche, was den Schweif entstehen ließ. Als Gefangene der Schwerkraft konnten sie nicht einfach auftauchen und verschwinden, wann sie wollten.

Er beschloss, dieser Frage später nachzugehen, und erkundigte sich stattdessen nach den Verdammten. Ihm war nicht entgangen, dass die Angst vor ihnen unter den Planetenbewohnern weit verbreitet war, dennoch konnte er sich nicht so recht vorstellen, wer oder was diese Leute sein sollten.

»Einst waren sie Salas Kai«, berichtete Mo. »Erwählte Schüler der Ewigen. Vor Jahrtausenden, als das Zaihor zum ersten Mal nach unserer Welt griff und der Krieg der Götter tobte – auf Eddor wie auch zwischen den Sternen – bekämpften sie es mit all ihrer Kraft und all ihrer Entschlossenheit. Doch später dann, als das Zaihor zurückgeschlagen und die Ewigen die Menschen allein gelassen hatten, versuchten sie, es erneut zu entfesseln.«

Beinahe schuldbewusst sah sie zu Boden. »Sie waren die fähigsten von uns, und doch erlagen sie den Verlockungen des dunklen Pfades.«

»Ist das Zaihor denn mächtiger als dieses andere … äh, als Sirain?«

Die Seherin schüttelte den Kopf. »Nicht mächtiger, aber schneller zu meistern. Es braucht weniger Geduld, weniger Sorgfalt und weniger Rücksicht. Das Zaihor ist von Natur aus destruktiv, und es ist immer leichter, etwas zu zerstören, als etwas zu erschaffen. Wie dem auch sei: Glücklicherweise gelang es den übrigen Salas Kai, die Pläne der Verdammten zu vereiteln und sie auf die andere Seite des Tores zu verbannen«.

Meyers hörte aufmerksam zu. Waren das bloß Legenden oder historische Überlieferungen? Hatte eine außerirdische Zivilisation in dieser Galaxis Krieg geführt, lange bevor die Menschen selbst zu den Sternen aufgebrochen waren? Wenn ja, was war mit ihnen geschehen? Wohin waren sie gegangen? Er dachte an die Grabwelten – jene Planeten, die einst selbst Leben beherbergt haben mussten, nun aber nackt durchs All trieben und hervorragende Bedingungen für eine menschliche Besiedlung boten. Waren sie in jenem Krieg der Götter verwüstet und ihrer gesamten Biosphäre beraubt worden? Die Aegis-Division hatte in jenem ominösen Artefakt, das man hier das Tor nannte, eine Waffe vermutet. Was, wenn der ungeliebte Geheimdienst am Ende recht hatte?

»Wohin führt dieses Tor? Was ist auf der anderen Seite?«, versuchte er Klarheit zu erlangen.

»Der Ursprung. Sirain. Aber auch das Zaihor. Es lauert dort, bereit, sich erneut in unsere Welt zu ergießen, sollte die Zeit kommen.«

Der Captain hob abwehrend die Hände. »Bitte keine weiteren Rätsel. Für was konkret wurde dieses Ding gebaut?«

»Wenn wir Salas Kai nach Sirain greifen, dann ist das, als schöpften wir mit der Hand ein wenig Wasser aus einem See«, erklärte sie nach kurzem Überlegen. »Eine Handvoll Wasser kann zwar einiges bewirken, zum Beispiel einen Samen zum Keimen bringen, aber uns sind Grenzen gesetzt. Öffnet man das Tor, ist das, als öffne man einen Damm. Ein Fluss ergießt sich dann auf unsere Seite, ein Fluss, dessen Kraft die Ewigen auf vielfältige Weise zu nutzen wussten.«

Die Worte des unter Arrest gestellten Divisionsagenten kamen ihm plötzlich ins Gedächtnis: Unsterblichkeit, unbegrenzte Energie, die Möglichkeit, ganze Welten zu erschaffen – oder zu vernichten. Er hatte das für Spinnerei oder zumindest maßlose Übertreibung gehalten, doch möglicherweise hatte er ja zumindest in diesem Punkt die Wahrheit gesagt.

Auf Mos Stirn zeigten sich Sorgenfalten, als sie fortfuhr: »Nun scheint das Tor nicht mehr völlig geschlossen zu sein, und die Verdammten sind zurück. Zu unserem Glück noch nicht körperlich. Cordian berichtete, dass sie andere Menschen ihrem Willen unterwerfen und sie zu ihren Werkzeugen machen. Ich glaube ihm. Es passt zu dem, was ich in meiner Vision gesehen habe«, murmelte Mo, mit den Gedanken bereits einen Schritt weiter. »Ich werde mich nun bald meinem eigenen Schicksal stellen müssen.«

Meyers horchte auf, als die Frau weitersprach: »Du erinnerst dich an die abtrünnigen Kesenchai? Die Drachenreiter in den schwarzen Roben?«

Natürlich tat er das. Diese Schlächter würde er so schnell nicht vergessen. Zivilisten einsperren und dann Feuer legen … Er ballte die Hand zur Faust.

»Wie ich bereits erwähnte, ist ein guter Freund von mir ihr Gefangener. Ich fürchte, er hat nicht mehr allzu viel Zeit, weshalb ich morgen aufbrechen und versuchen werde, ihn zu befreien. Zusammen wird es uns hoffentlich gelingen, diese Verschwörung aufzudecken und Alandrel zur Rechenschaft zu ziehen. Er dürfte nicht besonders schwer bewacht sein, doch ich muss an einen Ort gehen, an dem ich – genau wie hier – meine Kräfte nicht werde einsetzen können.«

Sie sah ihm nun direkt in die Augen. »Ich bitte nicht gerne jemanden um Hilfe, aber eine eurer elektromagnetischen Waffen könnte meine Erfolgsaussichten stark verbessern.«

Meyers fiel es schwer, dem Blick standzuhalten, denn eigentlich war er mit dem Herzen aufseiten der jungen Frau. Dennoch musste er ihre Bitte zurückweisen. Die Vorschriften der Flotte waren in diesem Punkt eindeutig: »Ich kann keine Waffen herausgeben. Es tut mir wirklich leid, aber es existieren Regeln, die ich befolgen muss, und ich habe mir bereits viele Freiheiten herausgenommen. Wenn es etwas anderes gibt, das ich tun kann …«

Die Seherin hatte ihren Blick erneut gesenkt. »Ich verstehe. Das Schicksal lässt sich eben nicht ändern …«

Beide standen eine Weile schweigend nebeneinander und blickten in die Ferne. Um die Stille nicht zu unangenehm werden zu lassen, fragte er höflich: »Sehen wir uns heute Abend auf dem Ball?«

Es war seltsam, aber er musste sich eingestehen, dass er die Gesellschaft der jungen Frau tatsächlich begrüßen würde. Sie war ganz anders, als er sie bei ihrem ersten Zusammentreffen eingeschätzt hatte.

Zu seinem Bedauern schüttelte sie jedoch den Kopf. »Ich werde den Abend nutzen, um Reisevorbereitungen zu treffen. Zwar werde ich nicht lange unterwegs sein, aber für bestimmte Dinge muss dennoch Sorge getragen werden.«

Wieder schwiegen beide. Es war, als verstanden sie einander, ohne dass Worte nötig wären.

»Ich sollte nun gehen«, entschied Mo letztendlich. »Lebe wohl, John. Und möge Sirain stets deinen Weg erleuchten.«

Captain Meyers sah der Salas Kai nach, bis sie um eine Ecke verschwand. Dann drehte er sich wieder zur Brüstung und sah zu den würfelnden Wachen hinunter. Verdammt, warum gab es keinen anderen Weg? Sein Blick blieb, ohne dass er sich dessen zunächst bewusst war, an einer bauchigen Flasche Wein hängen, welche die Männer unten herumgehen ließen. Das alkoholische Getränk weckte sofort eine gewisse Sehnsucht in ihm, und er ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, hinunterzugehen und sich der geselligen Runde anzuschließen. All die Sorgen und Nöte einfach für eine Weile zu vergessen …

Nein, du bist immer noch im Dienst, John!, schalt er sich und ging trotzig in die andere Richtung davon.

6

Der durch die Pilotenkanzel einfallende Schein der goldenen Abendsonne reichte gerade noch aus, um genug zu erkennen. Dex hatte bisher darauf verzichtet, die Beleuchtung einzuschalten – zwar sollten die Potenzialzellen der Fähre über ausreichende Reserven verfügen, aber man konnte schließlich nie wissen, wofür diese vielleicht noch gebraucht wurden. Den Mittag über hatte er sich ein paar Stunden dringend benötigten Schlaf gegönnt. Der König hatte ihnen luxuriöse Quartiere zugeteilt, von denen jedes für sich größer war als die gesamte Zwei-Zimmer-Wohneinheit, in der er aufgewachsen war – und die war für einen Asteroiden schon gehobener Standard gewesen. Nun war er wieder ausgeruht und mit voller Konzentration bei der Arbeit, was seinen Kameraden die Gelegenheit gab, ihrerseits eine Auszeit zu nehmen.

Vorsichtig prüfte er einige freigelegte optotronische Leitungen, während seine Biotronik das geöffnete Panel mit einem virtuellen Schaltplan überlagerte. Er stand außerdem über Visicom in Verbindung mit Ron Digger an Bord der Ikarus, der das Geschehen über Dex’ Headsetkamera beobachtete und ihm Anweisungen gab. Der junge Navigator war halbwegs talentiert im Umgang mit Software, aber wenn es darum ging, an irgendwelchen Dingen herumzuschrauben, verließ er sich im Zweifel lieber auf die Expertise des dunkelhäutigen Ingenieurs.

»Sieht gut aus«, ermutigte ihn dieser, als Dex die Werte durchgab, »jetzt noch die Nebenverbindungen.« Seine Biotronik hob die entsprechenden Elemente hervor.

»Ein Drache hat das angerichtet, ja?«, fragte Ron in seinem Kopf, obwohl er die Antwort bereits kannte. »Hab auch mal einen getroffen, war sogar zwei Jahre mit ihm verheiratet.« Er lachte. »Wie sind die Frauen bei euch da unten?«

»Keine Ahnung«, antwortete Dex auf gleiche Art, »habe noch nicht allzu viele kennengelernt.«

»Das hört sich so gar nicht nach dem Dex an, den ich kenne«, scherzte Ron. »Ist es wegen Tara? Du solltest sie dir aus dem Kopf schlagen, sie spielt in einer höheren Liga. Andere Mütter haben auch schöne Töchter.«

»Ich war bloß sehr beschäftigt«, wiegelte der Navigator ab. »Der Vogel repariert sich nicht von allein, und ich mag es nicht, irgendwo festzusitzen …«

»Festsitzen?«, gab sich der Ingenieur erstaunt. »Wir reden hier von einer atembaren Atmosphäre, milden Temperaturen, angenehmer Schwerkraft … Es herrscht sogar ein annähernder Vierundzwanzig-Stunden-Tag. Der Planet ist eine zweite Erde, bloß mit sauberen Meeren und intaktem Klima. Ich wette, der Himmel hat ein perfektes sattes Blau, wie man es nur aus alten Filmen kennt. Ich würde jetzt gerne mit dir tauschen.«

Womöglich hatte er recht. Dex war von klein auf an Enge und eine künstliche Umwelt gewöhnt und hatte nie ein gesteigertes Bedürfnis nach freiem Himmel verspürt. Das, was er bis jetzt von Eddor gesehen hatte, war allerdings sehr aufregend gewesen. Keine der virtuellen Welten, in denen er so häufig seine Freizeit verbrachte, konnte da auch nur im Ansatz mithalten.

Das Tappen von sich nähernden Schritten und ein vorsichtiges Klopfen ließen ihn in seiner Arbeit innehalten. Jemand hatte den Raumgleiter über die offen stehende Heckklappe betreten. Als er sich herumdrehte, war er freudig überrascht, Prinzessin Lissina zu erblicken. Sie hatte das einfache Leinengewand, das sie getragen hatte, als sie einander begegnet waren, gegen ein schlichtes, aber hübsches Kleid getauscht. Ihr nun gekämmtes blondes Haar fiel in sanften Locken über ihre Schultern herab und glänzte im schwindenden Sonnenschein wie ein Strahlenkranz. Sie hatte dezent Schminke aufgetragen, wie er bemerkte. Die kleinen Sommersprossen um ihre Stupsnase gaben ihr etwas Freches, Vorwitziges.

»Darf ich eintreten?«, fragte sie zögerlich.

»Natürlich«, antwortete er verträumt. Dann wurde ihm bewusst, dass er sie anstarrte, und er blickte verlegen zur Seite.

Ron, der immer noch über die Kamera zugeschaltet war, kommentierte das Geschehen amüsiert: »Na, wenn heute nicht dein Glückstag ist, Kumpel …«

Dex kappte die Verbindung.

 

Als die junge Frau näher kam, beschloss er, dass die Gelegenheit günstig war, die königliche Besucherin ein wenig zu beeindrucken. Zwar hatte er die letzten Stunden schlafend verbracht, was aber nicht hieß, dass er während dieser Zeit untätig gewesen war!

Mutig deaktivierte er die Übersetzungshilfe seiner Biotronik und wechselte in ihre Sprache: »Was führt dich her?«

»Ich … ich wollte eigentlich nur«, begann sie verlegen. Dann erst fiel es ihr auf: »Huch, du sprichst ja elteranisch!«

»Ein wenig«, gab er sich bescheiden. »Ich lerne. In zwei, drei Tagen werde ich dieses Ding nicht mehr brauchen.« Bei den Worten klopfte er mit der Handfläche auf den Lautsprecher seines Anzuges.

Lissina schüttelte ungläubig den Kopf. »In drei Tagen schon? Wie ist das möglich?«

Der Navigator grinste gewinnbringend. »Neurale Prägung«, erklärte er, jetzt sicherheitshalber doch wieder die technische Hilfe in Anspruch nehmend. »Das Implantat«, er tippte mit dem Finger an sein Schläfenkontaktpad, »füttert das Gehirn im Schlaf mit Informationen. Nach dem Aufwachen sind sie abrufbar. Der Captain meint, wir sollten an einer besseren Verständigung arbeiten, jetzt, wo klar ist, dass wir eine Weile hierbleiben.«

»Das ist ja unglaublich!«, fand seine Gesprächspartnerin. »Ist das denn mit jeder Sprache möglich?«

»Nicht nur mit Sprachen. Im Prinzip mit allem. Aber das aufgeprägte Wissen verflüchtigt sich sehr schnell, wenn man es nicht regelmäßig abruft. Das heißt, ich sollte fleißig üben …«

Freundlich lächelnd ließ er sich auf einer der Bänke nieder und wartete, bis die Prinzessin neben ihm Platz genommen hatte. Dann fragte er sie noch einmal nach dem Grund ihres Besuches.

»Ich wollte mich im Grunde nur bei dir bedanken«, ließ sie ihn wissen. »Ich dachte einen Moment lang, es wäre vorbei, als der Drache uns angriff und ich den Halt verlor. Aber du hast mich festgehalten und wieder an Bord gezogen …«

»Mit der Hilfe von Ivan«, schränkte Dex ein, der natürlich trotzdem mehr als nur ein bisschen stolz auf seine Heldentat war.

»Und dass du im Thronsaal Partei für mich ergriffen hast, war ebenfalls sehr mutig …«

»Das hätte doch jeder getan«, gab er sich zu seiner eigenen Verwunderung erneut bescheiden. Was war eigentlich los mit ihm? Normalerweise war er doch der Letzte, der seine eigenen Verdienste kleinredete.

»Und bei der Gelegenheit wollte ich auch fragen, ob …«, fuhr Lissina verlegen fort, als ihr offenbar etwas an ihm auffiel: »Deine Tätowierung – ich könnte schwören, sie sah gestern noch anders aus …« Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Aber das kann ja nicht sein.«

Dex strich sich über den kahlen Schädel, auf dem ein verschlungenes Linienmuster zu sehen war, dass von programmierbaren Pigmentpartikeln erzeugt wurde, und grinste breit. »Doch, doch, das ist so gedacht. Echt abgefahren, oder? Ist auf der Erde der letzte Schrei.«

Lissina warf ihm einen zweifelnden Blick zu, als wüsste sie nicht, was sie davon halten sollte. »Also mir gefallen Haare irgendwie besser …«

»Ja, mir auch«, beeilte sich Dex, ihr zu versichern. »Dieser Typ, von dem ich das habe, hat mich völlig falsch beraten. Ich denke, ich lasse das wieder entfernen«.

Innerlich ohrfeigte er sich für die Dummheit, mit dieser kindischen Tätowierung vor ihr angegeben zu haben.

Beide lachten verlegen und die Stimmung lockerte sich glücklicherweise ein wenig. Dann unternahm Lissina einen neuen Anlauf: »Ich habe mich nur gefragt, ob du heute Abend zum Ball gehst. Denn falls ja, könnten wir doch …«, ein Hauch von Röte schoss ihr in die Wangen, »… zusammen dorthin gehen.«

Seine Kinnlade musste wohl gerade bis zum Boden der Fähre hinuntergeklappt sein. War er, Eric Dex, gerade von einer waschechten Prinzessin auf einen Ball eingeladen worden?

»Ich meine«, stammelte sie hastig, sein Schweigen völlig falsch interpretierend, »nun, da Cordian und Tao weg sind, kenne ich hier doch niemanden mehr, und da dachte ich …«

»Aber was ist denn mit den ganzen Fürsten und all den Adeligen und …«, fragte er noch immer völlig perplex.

»Ach«, äußerte sich die Prinzessin abfällig, »die kann ich nicht ausstehen. Die halten mich für eine Wilde, die in einer Höhle aufgewachsen ist, bloß, weil ich mich nicht so anziehe wie sie und nicht so geschwollen daherrede. Du hättest den Thronrat erleben sollen … Außerdem sind diese Kerle alle todsterbenslangweilig.«

Das Herz des Navigators schlug höher. Das hieß dann im Umkehrschluss, er war interessant. Nicht, dass er es nicht schon immer gewusst hatte, bloß schien sich das nie bis zu den Frauen herumgesprochen zu haben … Vielleicht hatte seine Pechsträhne ja nun endlich ein Ende: Er ging zu einem Ball! Mit einer Prinzessin! Am liebsten wollte er sich kneifen, um sicherzugehen, dass er nicht träumte.

»Ich komme gern«, platzte es aus ihm heraus. »Das heißt, falls der Captain sein Einverständnis gibt. Aber ich denke, das wird er! Wann treffen wir uns?«

 

***

 

Sie gehörten zu den Ersten, die sich einfanden, doch der riesige Ballsaal füllte sich rasch. Dex hatte Tara überreden müssen, an seiner Stelle auf die Fähre aufzupassen. Die Pilotin hatte ihm zähneknirschend zu verstehen gegeben, dass er ihr dafür einen Gefallen schuldig war – die Sache war es ihm allerdings wert.

Lissina hatte sich noch einmal umgezogen und trug ein knöchellanges himmelblaues Gewand, das wie Wasser an ihrem schlanken Körper herabzufließen schien. Elegant, aber keineswegs verspielt, brach es die Konventionen der herrschenden Mode und zog schon deshalb eine Menge neugierige Blicke auf sich. Ihr Haar hatte sie mit einer silbernen Nadel hochgesteckt. Die anderen mochten denken, was sie wollten, auf Dex wirkte sie zweifellos königlich.

Er ermahnte sich selbst, nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Auch wenn der Gedanke aufregend war, so hatte ihn die Prinzessin vermutlich nicht eingeladen, weil sie auf ihn stand, sondern einfach, weil sie ein vertrautes Gesicht um sich haben wollte. Oder was einem solchen am nächsten kam. Sie hatte immerhin einiges durchgemacht …

Wenn er ehrlich war, dann war sie auch nicht sein Typ: keine vergrößerten Brüste, keine genetisch auf Attraktivität optimierten Gesichtszüge … Nun ja, irgendwie war sie trotzdem hübsch, auf eine andere, ganz natürliche Art und Weise, und wer wusste schon, was sich aus Freundschaft alles entwickeln mochte … Schluss jetzt! Er würde den Abend einfach genießen und morgen ging dann alles wieder seinen gewohnten Gang.

Zunächst aber wurde seine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Jeder Prominente, der den Saal betrat, wurde namentlich ausgerufen und von einem Diener an seinen Platz an der langen weißgedeckten Festtafel geleitet. Dabei schien es klare Regeln zu geben, wer wen grüßte und wer sich vor wem zu verbeugen hatte, doch wie diese genau aussahen, ließ sich nur mutmaßen. Die meisten Gäste kamen in Begleitung, einige auch allein. Kardinal Vaspar zum Beispiel, der Dex mit seiner schlechten Laune schon bei ihrer Ankunft unangenehm aufgefallen war. Es schien außerdem, als versuchten sämtliche Anwesenden, sich in Sachen ausgefallener Mode und teurem Schmuck gegenseitig auszustechen. Der Navigator kam sich in seinem leichten Kampfanzug daher ein wenig deplatziert vor, doch Meyers, der nur zwei Plätze weiter saß, hatte sich in dieser Hinsicht unmissverständlich geäußert: Sie waren immer noch im Einsatz.

Um sich später beim zwangsläufig folgenden Small Talk nicht zu blamieren, speicherte er Bilder und Namen der Neuankömmlinge in seiner Biotronik. Darunter waren, neben vielen anderen, der steife Feldmarschall Donkar Travas und der übergewichtige Fürst Karsabas Gotlin, der eine viel zu junge und viel zu schöne Frau an seiner Seite hatte, als dass sie an etwas anderem als seinem Geld interessiert sein konnte.

Die Elteraner, so hatte Lissina ihm verraten, besaßen alle einen Vor- und einen Nachnamen, anders als in anderen Ländern des Kontinents, wo Familiennamen meist nur von Adeligen geführt wurden. Während es hier die Bürgerlichen als höflich empfanden, mit ihrem Nachnamen angesprochen zu werden, sprach man jene von edlem Blut in der Regel mit Titel und Vornamen an, es sei denn, die Nennung der Familie war aus irgendeinem Grund erforderlich. Nun ja, man würde es ihm hoffentlich nachsehen, sollte er etwas durcheinanderbringen, er kam schließlich im wahrsten Sinne des Wortes von einem anderen Stern.

Während Dex krampfhaft versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob man in Eltera wegen versehentlicher Majestätsbeleidigung wohl in den Kerker geworfen oder gleich erhängt wurde, stellte er überrascht fest, dass die junge Prinzessin offensichtlich nicht die Einzige war, die sich der herrschenden Mode widersetzte: Einer der später eintreffenden Gäste zog sofort alle Blicke auf sich, den seinen eingeschlossen. Es handelte sich um eine Frau – und was für eine! Ihr tief ausgeschnittenes schwarzes Gewand zeigte mehr Haut als die Garderobe der anderen Anwesenden zusammengenommen, ein ebenso schwarzer Schleier verbarg ihre Augenpartie und ließ nur ihre dunklen verheißungsvollen Lippen unbedeckt. Ihr Haar war ebenfalls schwarz, genau wie eine dazu passende Perlenkette und eine kunstvolle Brosche in Form einer Rosenblüte, zwei kostbare Ohrringe schillerten golden. Auch wenn für Dex freizügige Abendkleider kein gänzlich unbekannter Anblick waren, so steckte doch selten jemand darin, der dem Idealbild von klassischer Schönheit derart nahe kam. Nachdem der Ausrufer sie als Fürstin Tarisa Gesser vorgestellt hatte, musste er sich regelrecht zwingen, den Blick abzuwenden und sie nicht fortwährend anzugaffen.

So viel zum Thema Frauen, Ron, dachte Dex und hielt gleichzeitig einen vorbeieilenden Diener an.

»Warum trägt sie einen Schleier?«, erkundigte sich der Navigator. Er konnte sich nicht vorstellen, warum eine so umwerfende Frau bei einem Anlass wie diesem ihr Gesicht verbarg.

»Ihr Gemahl, Fürst Winhald Gesser, ist im vergangenen Winter verstorben, Herr. Seitdem trägt sie Trauer«, wurde er aufgeklärt.

Dex schüttelte ungläubig den Kopf. Die trauernde Witwe nahm er ihr nicht ab.

Immerhin, so bemerkte er mit einer gewissen Genugtuung, war er nicht der Einzige, den die geheimnisvolle Schönheit in ihren Bann zog: Gespräche verstummten kurzzeitig, wenn die Fürstin vorüberschritt, weil sich alle Hälse nach ihr umdrehten. Die Männer waren wie verzaubert, die Frauen rümpften pikiert die Nase.

Erst, als sie schon fast bei ihm war, bemerkte er, dass sie in seine Richtung kam. Zunächst jedoch blieb sie stehen, um mit dem Captain ein paar Worte zu wechseln. Die herrschende Geräuschkulisse war bereits so laut, dass er nicht mitbekam, was gesprochen wurde, doch falls sie die gleiche Wirkung auf seinen Vorgesetzten hatte wie auf ihn, so ließ er sich davon erstaunlich wenig anmerken, wie Dex anerkennen musste.

Nun ging die Fürstin weiter, passierte den noch leeren Platz, den König Regaland einnehmen würde, und wandte sich an Lissina. Da die Prinzessin direkt neben ihm saß, hörte er diesmal mit: »Hoheit, es ist mir ein Vergnügen, Eure Bekanntschaft zu machen.« Ihre Stimme war wie ein samtenes Säuseln. »Ich habe schon viel von Euch gehört. Schade, dass Euer Bruder bereits abgereist ist, ich hätte ihn so gerne persönlich kennengelernt.«

Was Lissina antwortete, bekam er nicht mit. Er geriet ins Schwitzen. Gleich würde sie bei ihm sein. Was würde er sagen? Würde er überhaupt ein vernünftiges Wort herausbringen? Zu seinem Bedauern – aber womöglich auch zu seinem Glück – ging sie einfach vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen; süßer Rosenduft umspielte dabei seine Nase.

Dex, reiß dich zusammen. Du bist nicht allein hier!, rief er sich zur Ordnung. Lissina sah ihn bereits komisch an. Ahnte sie etwa, an was er gerade dachte? Mit einem Mal wurde ihm klar, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte und auf eine Antwort wartete. Verlegen musste er sie bitten, diese zu wiederholen – er hatte überhaupt nicht zugehört!

»Na, diese Fürstin«, meinte Lissina zweifelnd. »Wenn die wirklich trauert, dann bin ich die Raschtuma von Sulzur …«

 

Im weiteren Verlauf des Abends gelang es dem Navigator erfolgreich, seine Gedanken mit anderen Dingen zu beschäftigen. Er war nun einmal jung, und seit Wochen kaum von Bord der Ikarus gekommen – wer konnte ihm da nachtragen, dass seine Hormone ein wenig verrücktspielten?

Als der König endlich erschien, richtete er eine kurze Ansprache an die versammelte Gesellschaft, in der er die Prinzessin von Keldor und Captain Meyers als seine heutigen Ehrengäste vorstellte und willkommen hieß. »Ich weiß, dass viele von euch beunruhigt sind ob der vielen Gerüchte aus dem Norden«, schloss er seine Rede. »Doch heute sind wir zusammengekommen, um alte Freundschaften zu ehren«, er hob seinen Kelch in Richtung Lissina, »und neue zu schließen«, er machte eine entsprechende Geste in Richtung des Captains. »Lang lebe Eltera!«

Damit war das Bankett eröffnet. Dex staunte nicht schlecht, welche Vielfalt an köstlichen Speisen aufgetischt wurde, und ließ sich nicht lange bitten, von allem zu kosten. Echtes Fleisch war auf den meisten Welten verdammt teuer, auch frisches Obst bekam man auf langen Raumflügen selten zu Gesicht, da die Nahrung unterwegs zum größten Teil von Protein-Assemblern synthetisiert wurde. Entgegen seiner insgeheim gehegten Befürchtung aß man sogar mit Messer und Gabel. Mit dem Wein war der Navigator hingegen vorsichtig, schon aus Rücksicht auf den Captain, der seinen Kelch missmutig anstarrte und eisern der Versuchung widerstand, daran zu nippen. Dex wusste, dass sein Vorgesetzter seit dem Helas-Zwischenfall ein schwieriges Verhältnis zum Alkohol hatte.

Nach einer Weile spielten Musikanten auf, und als sich die Teller zunehmend geleert hatten, versammelte sich der Hofstaat zum Tanzen. Nicht jeder beteiligte sich – der dicke Fürst Karsabas zum Beispiel nicht, und auch der König nur zum Eröffnungstanz.

Dex, der in dieser Hinsicht zwei linke Füße besaß, wollte sich das Ganze ebenfalls lieber aus der Distanz ansehen, doch als Lissina ihn freundlich drängte, gab er nach und stellte sich zu seiner eigenen Überraschung gar nicht mal so tollpatschig an.

Mit fortschreitender Zeit wurde das Protokoll zunehmend weniger streng eingehalten und es bildeten sich viele wechselnde Grüppchen, die angeregte Unterhaltungen führten. Auch er selbst fand sich unversehens im Zentrum der Aufmerksamkeit einiger Umstehenden wieder, die ihn mit neugierigen Fragen löcherten. Selten um Worte verlegen, erzählte er ihnen von seinem Dienst an Bord der Ikarus und trug dafür Sorge, dass seine Wichtigkeit als Navigator nicht unterschätzt wurde. Schon mit den einfachsten Tatsachen konnte er seine Zuhörer dabei in Staunen versetzen; mit der Schwerelosigkeit zum Beispiel: »Wenn ich auf Eddor einen Apfel in die Luft werfe«, so sprach er und griff sich eine Frucht aus einer der Obstschalen, um das Gesagte in die Tat umzusetzen, »dann fällt er immer nach unten«, geschickt fing er sein Demonstrationsobjekt wieder auf. »Im Weltraum dagegen gibt es kein Oben und kein Unten – der Apfel bewegt sich weiter, bis er auf ein Hindernis stößt – Isaac Newtons erstes Gesetz.« Er hörte ein paar ungläubige Ohs und Ahs aus den Reihen der Zuhörer. »Das macht es schwierig, sich ohne technische Hilfe an Bord eines Schiffes fortzubewegen, denn sobald man einen Schritt tut, verliert man die Bodenhaftung und schlingert durch die Luft bis zur nächsten Wand.«

Er zuckte ein wenig zusammen, als sich von hinten ein schlanker Arm um ihn legte, doch es war bei Weitem keine unangenehme Berührung. »Was machen dann Mann und Frau, wenn sie … sich die Zeit vertreiben wollen?«, fragte eine offensichtlich angetrunkene junge Frau, die sich aufreizend an seine Schulter schmiegte. »Ich wette, man muss sich sehr eng umklammern, um nicht, wie sagtet Ihr – davonzuschweben?«

»Ähm …«, er sah sich nach Lissina um und entdeckte die Prinzessin ein paar Meter abseits, wie sie ihn finster anstarrte. »Davon erzähle ich ein andermal.«

Sanft, aber bestimmt, löste er sich aus der Umarmung, ließ seine Zuhörer stehen und ging zu ihr hinüber.

»Hey, was ist denn los?«, wollte er wissen, ihre offensichtlich schlechte Laune ansprechend.

Sie seufzte tief und starrte einen Augenblick missmutig in die Runde, bevor sie antwortete: »Alle hier sind fröhlich und amüsieren sich. Aber nur ein paar Hundert Meilen nordwestlich von hier wird mein Volk aus seiner Heimat vertrieben. Ich habe versucht, mit den Fürsten über den Krieg in Keldor und die Bedrohung durch die Verdammten ins Gespräch zu kommen, doch keiner schenkt mir Gehör. Das seien nichts als Legenden, sagen sie. Mit ein paar Barbaren würden sie schon fertig. Ich sei schließlich nur ein verängstigtes Mädchen. Es ist frustrierend …«

Dex nickte nachdenklich. Die ganze Zeit hatte er nur daran gedacht, Spaß zu haben, und war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass alle anderen es genauso hielten. Aber hier stand vor ihm eine junge Frau, die ihre Heimat verloren hatte und den Anlass nutzte, um Hilfe zu erbitten. Plötzlich fühlte er sich mies.

»Ich würde ja gerne helfen«, meinte er, keine wirklich angemessenen Worte findend, »aber ich bin bloß …«

Er unterbrach sich. Was war er? Nur ein Navigator? Ein kleines Rädchen im Getriebe? Nun, im Moment war er immerhin der zweithöchste anwesende Vertreter der Galaktischen Union und die Leute schenkten im Gehör.

»Was soll‘s«, entschied er. »Mit wem reden wir zuerst?«

 

Die größte Gruppe von Menschen hatte sich um Meyers und den König versammelt, die ein angeregtes Gespräch führten. Auch Fürstin Tarisa war darunter, die natürlich ihrerseits eine Menge Aufmerksamkeit auf sich zog. Dort hatten sie vermutlich wenig Chancen, überhaupt Beachtung zu finden, doch es gab im geräumigen Ballsaal viele Möglichkeiten, Fürsten und Entscheidungsträger in kleinerer Runde abzupassen.

Hätte das Fest seinen geplanten Fortgang genommen, hätten sich für Dex sicher genug Gelegenheiten ergeben, sich für Lissina wichtig zu machen, doch es kam dummerweise anders: Bevor sie zur Tat schreiten konnten, manifestierte sich mitten im Saal die schwarzgewandete Gestalt eines Mannes aus dem Nichts!

Sie schien dort für ein paar Sekunden bewegungslos über der Tafel zu schweben – Zeit, die ausreichte, alle Gespräche jäh ersterben zu lassen. Die an den Saalwänden postierten Wachen zogen überrascht ihre Schwerter. Als Ruhe herrschte, breitete die Erscheinung die Arme aus und begann laut zu sprechen: »Fürsten von Eltera! Ihr habt Gerüchte über meine Rückkehr vernommen. Sie sind wahr: Hört, was ich, Asmarel, euch nun verkünde!«

Etwas stimmte nicht mit dem Mann. Seine Form war blass, beinahe durchsichtig und flackerte hin und wieder ein wenig. Jeder im Saal bemerkte es, aber nicht alle interpretierten es gleich. »Der Fürst der Lügen greift uns an!«, rief jemand aus, »der Geist des Verräters!«, ein anderer. »Ein Dämon sucht uns heim!«, war sich ein Dritter sicher.

Es war Captain Meyers, der Dex in dem einsetzenden Tumult über Visicom kontaktierte und aussprach, was dieser natürlich ebenfalls sofort erkannt hatte: »Ein Hologramm!«

»Eure Angst ist verständlich«, fuhr die Projektion ungerührt fort, »jedoch unnötig. Euch wurden viele Lügen über mich und meine Absichten erzählt, doch ich bin nicht das Monster, für das ihr mich haltet …«

»Lieutenant«, wies Meyers ihn an, »finden Sie den Projektor und schalten Sie das ab. Sofort!«

Der Captain selbst war, wie dem Navigator klar wurde, zusammen mit dem König in einer Menschentraube gefangen, die von den Wachen von dem geisterhaften Eindringling weggeschoben wurde, und konnte nur mit der Masse mitschwimmen. Dex stand günstiger. Ein Hologramm in Lebensgröße konnte bereits von einem handtellergroßen Einzelprojektor direkt an Ort und Stelle erzeugt werden, oder aber von einem Arrangement verteilter Projektoren über größere Distanz. Am besten hielt er sich an den Ursprung der Stimme, die aus der Richtung des Hologramms selbst zu kommen schien. Geschickt wand er sich zwischen den zurückweichenden Gästen hindurch, wurde dabei allerdings von Lissina getrennt.

»Keine Angst!«, rief er ihr zu, als sie von der Menge davongetragen wurde. »Ich regele das!«

Nun hieß es, keine Zeit zu verlieren! Während er unter den Armen der Wachen hindurchtauchte und in Richtung der Festtafel eilte, sprach Asmarel weiter: »Diese Welt ist ungerecht und unvollkommen. Ich werde sie verändern und eine neue, bessere Welt erschaffen! Wer sich mir dabei in den Weg stellt, wird untergehen, wer mir jedoch zu Diensten steht, den werde ich großzügig belohnen …«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739456829
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Helden Weltraum Abenteuer Drachen Science-Fantasy Originelle Fantasy Space Fantasy Genre Mix Fantasywelt Raumschiff Space Opera

Autor

  • Patrick Arbogast (Autor:in)

Patrick Arbogast studierte Biologie und schreibt hauptberuflich PR-Texte, war aber auch schon freiberuflich für die Lokalzeitung unterwegs. Seine erste selbstveröffentlichte Romanreihe, die dreiteilige Torwelt-Saga, verwebt bekannte Fantasy- und Science-Fiction-Elemente zu einer spannenden Abenteuergeschichte. Sein neuestes Projekt »Sturmzorn« entführt die Leser in eine römisch angehauchte Welt voller Schwertkämpfe und Mystik.
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Titel: Kampf um die Torwelt