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Sturmzorn

Die pandrischen Chroniken

von Patrick Arbogast (Autor:in)
346 Seiten
Reihe: Die Pandrischen Chroniken, Band 1

Zusammenfassung

Es heißt, eine Klinge gleiche immer ihrem Träger

Einst kommandierte Odrin Weißhaupt die Legionen des pandrischen Kaisers. In Ungnade gefallen fristet er nun ein Leben als einfacher Nachtwächter. Als er einen Einbruch in den kaiserlichen Palast vereitelt, wird er reaktiviert und mit einer geheimen Mission betraut. Seine gefahrvolle Reise führt ihn in die entlegene Provinz Sintura, ein Land voller Mystik und fremdartiger Bräuche. Dort trifft er auf die junge Ilea, die den Wind beherrscht und verzweifelt für die Freiheit ihres Volkes kämpft.

Schwertkämpfe und Abenteuer in einer römisch geprägten Welt

Sturmzorn ist ein abgeschlossener Fantasyroman in Welt von Pandrien

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Sturmzorn

 

Patrick Arbogast

 

Roman

 

Klappentext

 

Es heißt, eine Klinge gleiche immer ihrem Träger

 

Einst kommandierte Odrin Weißhaupt die Legionen des pandrischen Kaisers. In Ungnade gefallen fristet er nun ein Leben als einfacher Nachtwächter. Als er einen Einbruch in den kaiserlichen Palast vereitelt, wird er reaktiviert und mit einer geheimen Mission betraut. Seine gefahrvolle Reise führt ihn in die entlegene Provinz Sintura, ein Land voller Mystik und fremdartiger Bräuche. Dort trifft er auf die junge Ilea, die den Wind beherrscht und verzweifelt für die Freiheit ihres Volkes kämpft.

 

Schwertkämpfe und Abenteuer in einer römisch geprägten Welt

 

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Prolog

Kloster der Daodin, Provinz Sintura – Jahr 298 der Republik

Der Wind heulte durch die Schlucht unter ihr. Er brach sich an scharfen Graten, verlor sich in dunklen Spalten und wirbelte bis zu dem Felsvorsprung empor, auf dem sie sich mit überkreuzten Beinen niedergelassen hatte. Seiner Wucht beraubt zupfte er beinahe zärtlich am Stoff ihres Saris, so als scheue er davor zurück, ihre Meditation zu stören. Hinter ihr brachte er die herabhängenden Nadeln einer zwergwüchsigen Tränenkiefer zum Rascheln, die zwischen Klostermauer und Felskante der Witterung trotzte. Nicht weit entfernt erklang ein hölzernes Glockenspiel sanft im Takt des Luftzugs. Die Brise verfing sich in den mit Gebetsfahnen behängten Leinen, die sich bis zur Turmspitze hinauf spannten, und brauste mit neu erwachter Kraft daran empor. Hoch oben vereinte sie sich zu guter Letzt mit den mächtigen Böen, welche die benachbarten Gipfel umtosten.

Es war eine Symphonie der Luft und Ilea nahm jeden Ton davon wahr. Mit ausgebreiteten Armen im Lotussitz ausharrend atmete sie im Rhythmus des Windes und stimmte sich so auf ihr Element ein. Vor sich in der Schlucht sah sie die nebelhaften Leiber der Sylfane, der dort hausenden Naturgeister, die in den Aufwinden tollten. Neugierig kamen sie näher, angelockt von dem mächtigen Prana, das sie in ihrem Inneren sammelte. Sie bot es den Geistwesen großzügig dar. Dankbar huschten sie durch die Falten und Maschen ihres Saris und naschten nur allzu bereitwillig davon. Sanft streichelten sie ihre glatte sonnengebräunte Haut und spielten mit den langen Strähnen ihres schlohweißen Haares, das so gar nicht zu einer bald Siebzehnjährigen passen wollte.

Ilea erhob sich und lockerte ihre schlanken Glieder. Der Fels fühlte sich hart und kalt unter ihren nackten Füßen an. Leicht ging sie in die Knie, verlagerte behutsam das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Die Arme ausgebreitet, drehte sich um die eigene Achse und führte die Hände vor der Brust wieder zusammen. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie hundert Meter in die Tiefe stürzen würde, falls sie bei ihrem langsamen Tanz das Gleichgewicht verlöre. Körper und Seele waren in perfekter Balance, die wärmende Kraft ihres Pranas durchströmte sie.

Mit jeder vollführten Bewegung, mit jedem Atemzug versammelten sich mehr der kleinen Luftgeister um sie. Der Wind hatte seine Melodie geändert und sein Lied handelte nun von ihr allein. Ileas Blick wanderte nach Norden, wo in der Ferne die wolkenverhangenen Gipfel der Himmelspfeiler aufragten – so hoch, dass die umliegenden Berge dagegen wie Ameisenhügel wirkten. Es hieß, dass Wahischna, die göttliche Schlange, dort thronte. Wenn sie einatmete, kam der Wind von der See und brachte den jährlichen Regen, der die Wasser des Sintu anschwellen ließ und den Bauern an seinen Ufern reiche Ernten einbrachte. Wenn sie ausatmete, wehte der Wind von den Bergen herab und die Trockenzeit begann.

Ilea wünschte, ihr eigener Atem hätte auch nur annähernd diese Macht. Dann würde sie die Pandrier, die ihre Heimat besetzt hielten, zurück über das Trianische Meer blasen, von wo sie gekommen waren!

Ihre Bewegungen wurden fahriger, sie drohte aus dem Takt zu geraten. Tief durchatmend verbannte sie die störenden Gedanken und konzentrierte sich wieder voll auf ihren Tanz. Erst da bemerkte sie, dass sie einen Zuschauer hatte: Lafo stand in seiner ockerfarbenen Mönchskutte ein paar Meter entfernt auf dem Pfad, der zu ihrem Vorsprung führte und beobachtete beeindruckt, wie der Wind Ilea umtoste. Lafo war kein Mystiker, die Sylfane konnte er nicht sehen. Überhaupt beherrschte er sein Prana erstaunlich schlecht, bedachte man, dass er schon ebenso lang bei den Daodin lernte wie sie. Dafür verstand er sich recht gut auf die Heilkunst und war ein geschickter Handwerker. Der schlaksige junge Mönch mit dem kahlgeschorenen Schädel war vier Jahre älter als sie und immer so etwas wie ein großer Bruder für sie gewesen. Gemeinsam hatten sie ihre Jugend im Kloster verbracht und ihren Lehrmeistern so manchen dummen Streich gespielt. Stets hatte Lafo bereitwillig die Verantwortung und damit auch die Strafe auf sich genommen.

So gerne Ilea den stets fröhlichen Mönch sonst in ihrer Nähe wusste, jetzt gerade hätte sie auf seine Gesellschaft lieber verzichtet. Denn Lafo fehlte einfach das Gefühl dafür, wann es besser war, die Klappe zu halten …

»Unglaublich!«, rief er und klatschte in die Hände. »Wie ein richtiger Windrufer! Wenn dein Vater dich jetzt sehen könnte, wäre er bestimmt stolz auf dich!«

Ihr Vater …

Wie ein Dolch bohrte sich der schmerzhafte Gedanke in ihre Brust. Sie geriet ins Schwanken, ihr Atem stockte, das Prana verflüchtigte sich. Enttäuscht wandten sich die nebelhaften Geister ab und zogen ihrer Wege. Ilea brachte ihren Körper zurück ins Gleichgewicht, aber ihre innere Ruhe war dahin. Einen resignierenden Seufzer ausstoßend, raffte sie ihr Gewand, kletterte von dem Vorsprung hinunter und schlüpfte in ihre Sandalen. Die Sonne würde ohnehin bald hinter den Bergen versinken.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Lafo kleinlaut, als sie sich auf dem schmalen Pfad zurück ins Kloster wortlos an ihm vorbeischob. »Ich gehe sofort wieder, wenn ich störe.«

»Es liegt nicht an dir.«

»Was ist es dann?« Lafo eilte ihr eifrig gestikulierend hinterher. »Als Meister Gisatra und ich dich damals fanden – halb tot und im Fieber – da spürte ich bereits, dass du eine spezielle Verbindung zu den Geistern hast. Wie, außer durch ihren Schutz, hättest du überleben können? Wenn der Meister sieht, wie weit du schon bist, schenkt er dir bestimmt ein wohlwollendes Nicken. Vielleicht sogar ein Lob. Weißt du, wie lange es her ist, dass er mich für etwas gelobt hat?«

Als von Ilea keine Antwort kam, meinte er schließlich: »Siehst du? Ich auch nicht.«

Wütend blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. »Das Ganze ist doch sinnlose Zeitverschwendung!«

Verwirrt hob Lafo die Hände. »Was meinst du denn damit?«

»Na einfach alles. Die Meditation, die Atemübungen, die ständige Zwiesprache mit den Luftgeistern!«

»Aber«, entgegnete ihr Freund bestürzt, »dein Vater war auch ein Windrufer. Nach deiner Ausbildung könntest du seinen Platz einnehmen. Das Volk würde sich hinter dir versammeln.«

»Was bitte hat ihm das genutzt?«, zischte sie. »Ich werde Sintura nicht mit einem Windstoß von den Pandriern befreien! Sie haben Legionen, Schwerter, Ballisten, Onager und …«

»Den Todesnebel«, vervollständigte Lafo die Aufzählung mit einem ängstlichen Flüstern. Behutsam nahm er eine Strähne ihres weißen Haares zwischen die Finger, bevor er die Hand gleich darauf wie ertappt wieder zurückzog.

Entschlossen starrte Ilea ihn an. »Ich habe mich lange genug hinter Klostermauern versteckt. Morgen werde ich fortgehen und mich Marek anschließen. Ich bin bereit.«

Der Entschluss war lange in ihr gereift. Meister Gisatra würde nie zufrieden mit ihr sein, egal wie geduldig sie war. Sie wollte Pandrier bekämpfen, und Marek bot ihr die Chance, genau das zu tun! Mit einem wohligen Schauer erinnerte sie sich daran, wie er vor dem versammelten Kloster gesprochen und um Unterstützung geworben hatte. Seine Worte hatten sich an alle gerichtet, seine tiefen dunklen Augen jedoch schienen einzig Ilea dabei angesehen zu haben.

»Marek? Dieser aufgeblasene Angeber?« Lafo konnte es nicht fassen. »Der kann mit seiner kleinen Schar doch nichts gegen die Besatzer ausrichten.«

»Er unternimmt wenigstens etwas!«, brüllte Ilea in den Wind hinaus und ließ ihn stehen. Ein klagendes Heulen aus der Schlucht antwortete ihr.

 

1

Reichshauptstadt Pandris, Provinz Lantisa – ein Jahr später

Die Gespräche verstummten augenblicklich, als Odrin mit seiner Patrouille die Schenke betrat. Mit geübtem Auge erfasste er die Situation: An fünf Tischen saßen einfache Bürger, gekleidet in schlichte Tuniken aus grobem Leinen. Handwerker oder Ladenbesitzer, die einen langen Arbeitstag bei einer Schale Hühnersuppe und einem Krug Wein ausklingen ließen. Keiner von ihnen war auf Ärger aus. Am sechsten Tisch hockten zwei Patrizier. Ihr glasiger Blick ließ darauf schließen, dass dies nicht die erste Taverne war, die sie am heutigen Abend beehrten. Die Straße der Republik war berühmt für ihre vielen Weinlokale. An ihrem Ende lag eines der besseren Bordelle der Hauptstadt. Unter den jungen Adeligen von Pandris war es in letzter Zeit in Mode gekommen, lange Sauftouren die Straße hinunter zu unternehmen und zum Abschluss die dortigen Huren zu besteigen. Die Republik retten, nannten sie diesen zweifelhaften Zeitvertreib.

Ein Stuhl am Patriziertisch war leer. Der dritte der Runde, ein Bursche von vielleicht zwanzig Jahren, stand an der Theke und befingerte dort die Schankmaid. Offenbar hatte er es nicht mehr bis zum Bordell ausgehalten. Verzweifelt versuchte die junge Frau, sich aus der Umklammerung des Mannes zu winden, während die drei Leibwächter der Trunkenbolde, alles stämmige Sklaven bewaffnet mit Kurzschwertern, den Wirt davon abhielten, der Bedrängten zur Hilfe zu eilen.

Odrin legte verärgert die Stirn in Falten. Zu oft schon hatte er Szenen wie diese miterlebt. Fast immer waren es die Reichen und Privilegierten, die jeden Anstand vermissen ließen. Zu oft kamen sie damit durch. Diesmal nicht! Nicht, wenn er auf Streife war!

»Zier dich nicht so«, lallte der übergriffige Patrizier, der nur Augen für die Schankmaid hatte. »Du willst es doch auch.« Seine Toga schleifte bereits halb abgewickelt am Boden, die Tunika, die er darunter trug, war verschwitzt.

Eilig erhob sich einer seiner Kumpane und rüttelte ihn an der Schulter. »Die Vigilanten sind da«, zischte er.

Der Angesprochene drehte den Kopf und musterte Odrin und die neun Männer unter seinem Kommando überrascht, machte jedoch keine Anstalten von der Maid abzulassen. »Na und?«, grunzte er missbilligend und rümpfte seine Adlernase, als störe er sich an einem üblen Geruch. »Ich bin Luzius Sikitus, was scheren mich diese Nachtwächter. Die sollen sich davonmachen und nachschauen, ob nicht irgendwo ein Feuer zu löschen ist.«

Der Name Sikitus gehörte einer einflussreichen Familie. Odrin konnte spüren, wie Unsicherheit von seinen Männern Besitz ergriff. Er bedeutete ihnen zurückzubleiben und ging allein auf den Patrizier zu. Dabei zog er die Kapuze seines blauen Umhangs zurück, sodass sein schlohweißes Haar im Licht der Öllampen zum Vorschein kam.

»Lass sie in Ruhe, trink aus und geh«, forderte er den Unruhestifter in ruhigem aber bestimmten Tonfall auf.

Luzius stieß die Frau tatsächlich von sich, dachte jedoch nicht daran, der Anordnung Folge zu leisten. Stattdessen richtete er seine Toga und machte drohend einen Schritt auf Odrin zu. »Hast du etwa nicht gehört, wer ich bin, Großväterchen?«

»Interessiert mich nicht«, erwiderte Odrin und reckte sein Kinn vor, das er vor drei Tagen zum letzten Mal rasiert hatte. »Vor dem Gesetz sind alle pandrischen Bürger gleich. Und ich vertrete hier das Gesetz.«

Sein Freund erkannte offenbar, dass Luzius im Begriff war eine Dummheit zu begehen und versuchte ihn zurückzuhalten. »Das ist Odrin Weißhaupt«, flüsterte er ihm zu. »Mit dem ist nicht zu spaßen.«

»Wer soll der alte Trottel sein?«, knurrte der aufgebrachte Adelige.

»Odrin Weißhaupt. Er war Primus des Kaisers und Kommandant der Roten Garde. Er führte elf Legionen über das Trianische Meer und eroberte Sintura.«

»Blödsinn! Das ist ein einfacher Vigilant, der nicht weiß, wem er Respekt zu zollen hat«, erwiderte Luzius. Er gab seinem Leibwächter einen Wink und ließ sich von ihm ein Kurzschwert reichen. Drohend fuchtelte er damit vor Odrin herum. »Mein Vater ist Senator – ich könnte dich hier und jetzt aufschlitzen und niemanden würde es interessieren.«

Odrin zog sein eigenes Schwert. Tatsächlich war es abgebrochene Stumpf einer ursprünglich viel längeren Klinge, dieser war jedoch kaum kürzer als die Waffe des Patriziers.

»Und wenn ich dich hier und jetzt aufschlitze«, entgegnete er kühl, »würde das eine Menge Leute freuen.«

»Das ist der Stumpf einer Meteoreisenklinge«, warnte Luzius’ Begleiter. »Ein Geschenk von Kaiser Kasestian persönlich. Lass es gut sein.«

»Ich lasse mir von einem alten Narren mit einem zerbrochenen Schwert doch nicht meine Ehre beflecken!«, tobte Luzius und holte zu einem ungelenken Hieb aus.

Odrin schlug mit seiner eigenen Klinge so heftig gegen die des Betrunkenen, dass sie diesem in hohem Bogen aus der Hand geschleudert wurde.

Der Leibwächter des Patriziers erkannte, dass sein Herr in Gefahr schwebte, und stürzte sich todesmutig auf Odrin. Der ging in die Hocke, rammte dem kräftig gebauten Sklaven die Schulter in den Magen und warf ihn hintenüber. Mit einem Krachen landete der Mann auf dem Tisch der Patrizier. Das hölzerne Möbelstück gab nach und der dritte Saufkumpan, der noch auf seinem Platz gesessen hatte, brachte sich mit einem hastigen Sprung in Sicherheit.

Odrin steckte sein Schwert ein und gab seinen Männern ein Zeichen, die beiden übrigen Leibwächter in Schach zu halten, sollten sie sich einmischen.

»Dafür wirst du büßen!«, geiferte Luzius. »Mein Vater ist …«

Grob packte Odrin ihn an der Schulter, drehte ihm den Arm auf den Rücken und hämmerte sein Gesicht so hart auf den Tresen, dass Blut aus seiner Nase tropfte.

»Fesseln!«, wies er seine Leute an, von denen einer sofort mit festen Lederriemen zur Stelle war. »Und abführen.«

Dann wandte er sich den anderen beiden Patriziern zu. »Ihr zahlt jetzt besser eure Zeche und geht nach Hause. Das war ausreichend Wein für einen Abend. Und merkt euch gut, was hier passiert ist.«

Die beiden jungen Adeligen konnten die Anweisung gar nicht schnell genug befolgen. Als sie gegangen waren und Odrins Männer Luzius nach draußen geführt hatten, brandete spontaner Beifall unter den Gästen auf. Der Wirt fiel vor ihm auf die Knie und bedankte sich überschwänglich, die Namen aller wichtigen Götter anrufend.

»Er war drauf und dran, meine Tochter zu schänden und ich konnte nichts dagegen tun! Sie hat die hohen Herren gut bedient, aber mir war klar, dass ihnen das nicht genügen würde, darum habe ich meinen Sohn losgeschickt die Vigilanten zu rufen. Ich hätte bloß nicht zu hoffen gewagt, dass Ihr rechtzeitig eintrefft, Herr.«

»Nenn mich nicht Herr«, gab Odrin sich bescheiden und half ihm auf. »Ich bin ein Sohn dieser Stadt, genau wie du. Unbescholtene Bürger vor Gefahren zu schützen ist die Pflicht jedes Vigilanten.«

Er sah sich nach dem kleinen Jungen um, der seine Patrouille hergeführt hatte und tätschelte ihm den Kopf. »Das war sehr mutig von dir.«

Mit stolzgeschwellter Brust blickte der Knabe zu ihm auf. »Wenn ich groß bin, werde ich auch einmal Vigilant!«

»Überleg dir das lieber gut«, meinte Odrin schmunzelnd und begab sich zu seinen Männern nach draußen. Die Sonne war gerade erst untergegangen, die gepflasterten Straßen leerten sich nur langsam. Es lag noch eine lange Nacht vor ihm.

Bintus, ein junger vielversprechender Rekrut, trat vor ihn und verbeugte sich kurz. »Wenn die Bemerkung erlaubt ist: Das war ganze Arbeit, Kommandant.«

»Nicht schlecht für einen alten Mann, was?«, scherzte Odrin.

»Ich weiß, dass Ihr nicht so alt sein könnt, wie es auf den ersten Blick scheint. Ganz gewiss seid Ihr kein gebrechlicher Greis. Ist es wahr, was man sich erzählt? Dass Ihr einst die Rote Garde befehligt habt?«

»Das ist lange her. Heute bin ich nur ein einfacher Nachtwächter. Sehen wir zu, dass wir den da«, Odrin deutete auf Luzius, »nach Hause bringen und unsere Patrouille wieder aufnehmen.«

»Sollten wir ihn nicht in eine Zelle verfrachten?«, fragte Bintus irritiert.

Odrin schüttelte den Kopf. »Verdient hätte er es, aber wir haben nichts in der Hand. Sein Vater ist Senator. Keiner der Zeugen würde vor einem Richter gegen ihn aussagen. Die eine Hälfte würde er mit Geld zum Schweigen bringen, die andere mit Gewalt.«

Bintus nickte resignierend. »Es ist eine verdammte Ungerechtigkeit. Und ich dachte, unter Kaiser Kasestian wird alles besser.«

Odrin schnaubte vernehmlich. »Das dachte ich auch einmal …«

 

Auf dem Weg zum Anwesen des Senators überlegte Odrin, ab wann sich die Dinge zum Schlechteren entwickelt hatten. Im pandrischen Bürgerkrieg hatte er für Kasestian gekämpft, weil er an ihn geglaubt hatte. Und tatsächlich hatte Kasestian nach dem Sieg über seine Rivalen die Republik wiederhergestellt, aber er hatte sich vom Senat auch kaiserliche Sondervollmachten übertragen lassen. Zunächst nur für ein Jahr, bis das Land zur Ruhe gekommen wäre, doch dann ließ der Kaiser diese Privilegien ein ums andere Mal verlängern. Stets hatte Kasestian gute Gründe dafür vorgebracht. Und warum, so hatte Odrin damals gedacht, sollte Pandrien nicht noch ein wenig länger unter seiner weisen und gerechten Herrschaft erblühen? Inzwischen wusste er, dass er viel früher hätte misstrauisch werden müssen.

Während der verhaftete Patrizier die blutende Nase in seine Toga drückte, blickte Odrin sich um. Es war ein lauer Sommerabend. Die Geschäfte waren inzwischen alle geschlossen, ihre Besitzer hatten die Auslagen eingeräumt und senkrecht stehende Bretter vor die offenen Fronten geschoben, die von innen mit Eisenstangen zusammengehalten wurden. Die meisten Schenken hingegen hatten geöffnet, das Licht ihrer Laternen lockte zahlreiche Nachtschwärmer an. Einige Sklaven huschten durch die Gassen und erledigten letzte Botengänge. Mit Körben beladene Bürger beeilten sich, ihre Einkäufe nach Hause zu bringen, bevor es vollständig dunkel wurde und sie riskieren mussten, lichtscheuem Gesindel in die Arme zu laufen.

Pandris war ein Schmelztiegel der Kulturen. Menschen aus drei Kontinenten tummelten sich auf den Straßen der Hauptstadt, dunkelhäutige Neburer genau wie hochgewachsene rothaarige Gileaner. Für den gebildeten pykratischen Lehrer gab es hier ebenso Arbeit wie für den einfachen darpartischen Tagelöhner. Es ging den Pandriern nicht schlechter als vor dem Bürgerkrieg – allerdings auch nicht besser. Was war aus der Welt geworden, für die er gekämpft hatte?

In der Politik musste man manchmal Kompromisse eingehen, hatte Kasestian einmal zu Odrin gesagt. Lange Zeit hatte er geglaubt, dass dies der Grund sei, aus dem sich nichts änderte: Äußere Zwänge, denen auch sein geliebter Souverän ausgeliefert war. Hunger und Missernten hatten Lantisa, das Kernland des pandrischen Reiches einige Jahre nach dem Bürgerkrieg heimgesucht. Um die Hauptstadt trotzdem ernähren zu können, wurde Weizen, Gerste und Hafer aus den übrigen Provinzen herangekarrt.

Aber dann, als auch das nicht mehr reichte, befahl der Kaiser, das fruchtbare Sintu-Tal zu erobern. Pandrien hatte zu dem Zeitpunkt bereits große Teile der bekannten Welt unterworfen, doch nie zuvor hatten die Legionäre des Kaisers einen Fuß auf den maristanischen Subkontinent gesetzt. Unter dem Befehl Odrins, der damals noch den Beinamen Rotmähne führte, war die größte Flotte seit Menschengedenken ostwärts gesegelt und hatte sie zu Tausenden über das Trianische Meer gebracht. Spätestens da hätte er erkennen müssen, dass es Kasestian nicht mehr bloß um die Wiederherstellung der Ordnung innerhalb der pandrischen Grenzen ging. Dennoch hätte er niemals ahnen können, wie weit sein Idol zu gehen bereit war …

Sie hatten das Anwesen der Familie Sikitus erreicht. Odrin hämmerte den Türklopfer gegen das zweiflügelige Eingangstor, bis ein mürrischer Wächter öffnete. Er erklärte dem Mann in knappen Worten, was vorgefallen war, und übergab dann Luzius, dem Bintus zuvor die Fesseln gelöst hatte, in seine Obhut. Der junge Patrizier funkelte ihn noch einmal wütend an, verkniff sich aber jeden giftigen Kommentar und verschwand im Haus. Gut möglich, dass er ihm in Zukunft Schwierigkeiten bereiten würde, doch normalerweise vermieden die großen Familien es, Aufsehen zu erregen, wenn einer ihrer Sprösslinge Ärger mit dem Gesetz hatte.

Die Villa lag der Stellung des Hausherrn entsprechend in der Nähe des Kaiserpalastes, der auf einem flachen Hügel über der Stadt thronte. Es war spät geworden. Odrin beschloss, die übliche Patrouillenroute abzukürzen und an der Palastmauer entlang zum Tempelbezirk zu gehen.

Abgesehen vom Licht ihrer eigenen Fackeln erhellte nur der Schein des Halbmondes ihren Weg. Die Domizile der Patrizier standen weiter auseinander als die Häuser des einfachen Volkes. Ginster und spitz aufragende Zypressen säumten die Straße. Für die Vigilanten gab es in diesem Viertel normalerweise nicht viel zu tun. Die Adeligen verfügten über ihre privaten Wachen und der Kaiserpalast fiel ohnehin nicht in ihre Zuständigkeit. Umso überraschter war Odrin, als er um eine Ecke bog und zwei dunkle Gestalten ausmachte, die an der Palastmauer herumlungerten. Sofort ließ er die Patrouille per Handzeichen anhalten. Als die verdächtigen Personen die Vigilanten bemerkten, suchten sie Deckung in den Büschen, doch es war zu spät: Odrin schnappte sich die Fackel von dem Mann hinter ihm, trat ein paar Schritte auf das Gebüsch zu und forderte sie in strengem Ton auf, herauszukommen.

Ein kurzer Blick nach oben ließ ihn stocken. Dicht unter der Krone der Palastmauer machte er eine dritte Gestalt aus, die augenscheinlich an einem Seil hing. Bevor er reagieren konnte, warf diese ihm etwas vor die Füße, dass mit einem tönernen Klirren zerbrach. Dunkler Qualm stieg auf, raubte ihm die Sicht und ließ ihn husten. Odrin verbarg Mund und Nase in seinem Umhang und sah gerade noch, wie der Kletterer herabsprang, sich gekonnt abfederte und mit seinen beiden Kumpanen davonrannte.

»Ihnen nach!«, brüllte er und nahm mit seinen Männern die Verfolgung auf. An der ersten Abzweigung teilten die Einbrecher sich auf: Einer lief weiter geradeaus, die anderen bogen Richtung Innenstadt ab. Odrin schickte Bintus und zwei weitere Männer dem einzelnen hinterher und blieb mit dem Rest seiner Patrouille den übrigen auf den Fersen. Sie waren schnell und bewegten sich in der Dunkelheit erstaunlich sicher. An der nächsten Querstraße teilten sie sich erneut auf. Er heftete sich mit zwei Vigilanten an denjenigen, der am Seil gehangen hatte. Zwar trugen sie alle die gleichen schwarzen Tuniken und Beinkleider, doch dieser wirkte etwas kleiner und zierlicher als seine Komplizen.

Hinter der übernächsten Biegung verloren sie ihn aus den Augen. Fünfstöckige, aus Backsteinen errichtete Mietskasernen umgaben sie. Sie hatten alle einen quadratischen Grundriss mit einem Innenhof in der Mitte. Das Tor zu einem dieser Höfe stand offen, Passanten waren keine mehr auf den Straßen.

Odrin legte den Finger auf die Lippen und bedeutete seinen Männern an Ort und Stelle zu warten. Dann zog er sein zerbrochenes Schwert und betrat leise den Innenhof. Kisten, Fässer und Körbe stapelten sich hier in völliger Missachtung der Brandschutzvorschriften und boten jede Menge Verstecke. Er würde sich morgen den Vermieter vorknöpfen müssen; ein Feuer in diesen Bettenburgen konnte leicht zu einer Katastrophe führen. Ganze Stadtviertel waren so schon abgebrannt.

Vorsichtig leuchtete er mit der Fackel am ausgestreckten Arm in die dunklen Ecken. Den Angreifer bemerkte er trotzdem beinahe zu spät. In letzter Sekunde riss er die Waffe hoch, um die kurze gebogene Klinge des Schwarzgewandeten zu parieren, die auf seinen Hals gezielt hatte. Instinktiv schwang er seine Fackel in die Richtung, in der er ihn vermutete, schlug aber nur Löcher in die Luft. Dafür hörte er leise Schritte, die sich rasch entfernten. Im ersten Moment dachte Odrin, der Gesuchte würde wie geplant den Männern in die Arme laufen, die er auf der Straße postiert hatte. Stattdessen erklomm er mit katzengleicher Anmut einen Kistenstapel und hangelte sich auf einen Balkon im ersten Obergeschoss. Kurz sah der Akrobat zu ihm herunter. Sein Gesicht war unter einer Kapuze verborgen und er hatte ein Tuch vor Mund und Nase gebunden. Und doch glaubte Odrin trotz der Dunkelheit ein spöttisches Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Dann trat der Vermummte mit einer kraftvollen Bewegung die Balkontür ein, die ins Innere des Mietshauses führte, und verschwand.

»Ich werde langsam zu alt für diesen Mist«, knurrte Odrin, steckte sein Schwert zurück in die Scheide, warf die Fackel in den Staub und machte sich daran, dem Gesuchten auf gleichem Weg, wenn auch weit weniger elegant, zu folgen.

Die Familie, die sich hier zu fünft zwei spärlich eingerichtete Zimmer teilte, schrie, als nach dem ersten Eindringling plötzlich ein zweiter in ihrer Wohnung stand.

»Ich bin Vigilant«, beruhigte er sie. »Wo ist er hin?«

Der Vater deutete auf die offenstehende Wohnungstür. »Die Treppe hinauf, glaube ich.«

Mit einem Seufzen machte sich Odrin an die Verfolgung. Was versprach sich der Flüchtende davon, weiter nach oben zu laufen? Es gab keine andere Treppe, über die er wieder nach unten gelangen könnte.

»Halt, im Namen Pandriens!«, rief er durchs stockdunkle Treppenhaus. Knarrende Stufen waren die einzige Antwort, die er bekam. Odrin hastete hinterher. Auf Höhe des vierten Stockes vernahm er, wie der Einbrecher sich an der Tür zum Dach zu schaffen machte. Anscheinend klemmte der Riegel; nicht ungewöhnlich in diesen heruntergekommenen Mietskasernen. Vielleicht gab ihm das endlich die Gelegenheit aufzuschließen. Gerade als er Hoffnung schöpfte, hörte er ein Geräusch, als ob mehrere kleine Objekte die Stufen herunterkullerten. Etwas Metallisches blitzte kurz vor ihm auf – Krähenfüße!

Odrin stoppte aus vollem Lauf. Seine Augen hatten sich inzwischen etwas an die Finsternis gewöhnt und tatsächlich machte er dort, wo ein bisschen Mondlicht durch die schmalen Fenster fiel, mehrere dornenbewehrte Metallkugeln aus. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Wenn er auf eines dieser kleinen Biester trat, würde er eine Woche lang nicht mehr laufen können. Seine dünnen Sandalen boten keinerlei Schutz, da machte er sich nichts vor. Was waren das bloß für Einbrecher? In nun beinahe zehn Jahren bei den Vigilanten war ihm so etwas noch nicht untergekommen …

Da! Mit einem Quietschen schwang die Tür zum Dach auf. Ein Stoßgebet an die Götter richtend, nahm Odrin die letzten Stufen mit drei entschlossenen Sprüngen und folgte dem Flüchtenden hinaus. Die dunkle Gestalt rannte in vollem Tempo über die flach geneigte Dachfläche davon. Odrin hatte ihm noch keine drei Schritte nachgesetzt, da löste sich ein Tonziegel unter seinem Fuß und ließ ihn der Länge nach stürzen. Hilflos mit den Armen rudernd, drohte er, über die Dachkante zu rutschen. Im letzten Moment kam er mit abgespreizten Gliedern zum Liegen. Zwei Tauben, die er aus dem Schlaf gerissen hatte, flatterten aufgeregt davon.

Odrin rappelte sich auf und erspähte den Schurken auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes. Ungläubig eilte er ihm so weit nach, wie das Terrain es zuließ. Der Abgrund zwischen ihnen war knapp sechs Meter breit. Unmöglich, dass jemand einfach so dort hinübersprang!

Für einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber. Eine lange rabenschwarze Haarsträhne hatte sich unter der Kapuze der vermummten Gestalt gelöst und wehte im Wind. Jetzt, wo Odrin Gelegenheit hatte, sie in Ruhe zu mustern, war er sich auf einmal fast sicher, einer Frau gegenüberzustehen.

Die Unbekannte nickte ihm anerkennend zu, machte einen Schritt zur Dachkante und sprang dann, ohne sich noch einmal umzusehen, in die Tiefe. Erschrocken spähte Odrin nach unten, fürchtete schon, ihren zerschmetterten Leib auf dem Pflaster liegen zu sehen, doch sie schwang sich gekonnt von einem Balkon zum anderen nach unten.

Zähneknirschend fand er sich damit ab, dass sie entkommen war.

 

Es dauerte fast eine Stunde die Patrouille wieder zu versammeln. Die Männer hatten die Vermummten durch die halbe Stadt verfolgt, aber wenig überraschend keinen von ihnen zu fassen bekommen. Bintus blutete aus einer leichten Wunde an der Schulter und zeigte Odrin das Wurfgeschoss, das sie verursacht hatte. Es war ein kleiner stählerner Stern mit vier Zacken.

»So etwas Merkwürdiges habe ich noch nie gesehen«, knurrte er.

»Ich schon«, murmelte Odrin. »Ist eine Weile her.«

»Kommandant?«, erkundigte sich Bintus erstaunt. »Wisst Ihr etwa, was das für Leute waren?«

»Ist bloß ein Verdacht«, dämpfte er die Hoffnung. »Wir kehren zur Garnison zurück und instruieren die anderen. Ich will heute Nacht verstärkte Patrouillen auf den Straßen, vor allem in der Nähe des Palastes. Morgen verständige ich die Rote Garde, die sollte besser ebenfalls auf der Hut sein.«

Bintus sah ihn skeptisch an. »Meint Ihr, die werden es wieder versuchen?«

»Vermutlich nicht sofort, aber früher oder später schon. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, geben die nicht so schnell auf …«

 

2

Reichshauptstadt Pandris, Provinz Lantisa

Lange nach Ende seiner Schicht, kam Odrin erschöpft nach Hause. Sein Heim war eine kleine Wohnung im dritten Stock eines der großen Mietshäuser, ganz ähnlich dem, durch das er die mysteriöse Einbrecherin gejagt hatte. Leise, darauf bedacht seine Tochter nicht zu wecken, die im Nebenraum schlief, legte er Umhang und Sandalen ab und ließ sich müde aufs Bett sinken.

Es war nicht leicht gewesen, den Oberbefehlshaber der Vigilanten von der Notwendigkeit zusätzlicher Patrouillen zu überzeugen. Ematedes, wie der kultivierte Pykratier hieß, war kein Mann der Tat, sondern ein Buchhalter, der sich vor Entscheidungen drückte, wann immer er konnte. Viele aus der Truppe waren der Meinung, dass Odrin der geeignetere Anführer wäre, doch der oberste Kommandant der Vigilanten wurde nun mal vom Senat ernannt. Wenn er je Chancen auf diesen Posten haben wollte, sollte er dringend damit aufhören, Senatorensöhne zu verhaften.

Nein, seine Zeiten als Befehlshaber waren lange vorbei, auch wenn die jüngsten Ereignisse viele alte Erinnerungen geweckt hatten. Erinnerungen, die aus den dunklen Tiefen seines Gedächtnisses hervorbrachen, wie Schiffe aus dem Nebel …

 

***

 

Es war das Jahr 289 der Republik und die pandrische Invasion Sinturas war nach anfänglichen Erfolgen fast gänzlich zum Stillstand gekommen. Odrin stand in seinem Zelt am Kartentisch und brütete über die verzwickte Lage. Ein Schweißtropfen fiel von seiner Stirn auf das ausgebreitete Pergament, welches das Land von der Küste bis zu den Himmelspfeilern abbildete. Es war drückend schwül unter den Stoffplanen; draußen war es nicht viel besser. Vor drei Wochen hatte die Regenzeit eingesetzt und die Pegel des Sintu und seiner Nebenflüsse anschwellen lassen. Furten, die sie hatten nehmen wollen, waren inzwischen unpassierbar und die meisten Brücken waren durch Sabotage zerstört worden. Ihr Nachschub blieb im Schlamm stecken und die Moral der Legionäre hatte einen Tiefpunkt erreicht.

»Mein Feldherr.«

Ein junger Offizier stand am Zelteingang und salutierte vor Odrin. Der erwiderte den Gruß und erlaubte ihm einzutreten.

»Was gibt es zu vermelden, Zenturio?«

Der Mann nahm seinen Helm ab und betrat das Zelt. Er schwitzte noch mehr als Odrin, darum bot dieser ihm einen Trinkschlauch an, den sein Untergebener mit gierigen Zügen leerte.

»Es gab schon wieder einen Hinterhalt auf eine unserer Patrouillen«, berichtete der Offizier, nachdem er sich erfrischt hatte. »Wir konnten die Angreifer zurückschlagen, aber drei Mann sind tot, fünf weitere verwundet und wir haben keinen von ihnen erwischt. Haben sich buchstäblich in Luft aufgelöst.«

»Schattenläufer?«

Der Zenturio nickte und reichte ihm einen blutbefleckten Wurfstern als Beweis. »Die Männer fürchten keine Schlacht, aber es ist etwas völlig anderes, gegen Geister zu kämpfen.«

»Es sind keine Geister«, stellte Odrin klar. »Und wir werden sie schon bald bluten lassen. Das war gute Arbeit Zenturio. Wegtreten.«

Als der Offizier gegangen war, wandte sich Odrin wieder der Karte zu. Im Felde war die pandrische Armee noch immer unbesiegt. Die Metropole Ralingara im Sintu-Delta hatten sie im Handstreich erobert, die anderen Städte am Unterlauf des Flusses waren in schneller Folge gefallen. Jetzt stand nur noch Wahisazu zwischen ihnen und der vollständigen Kontrolle über Sintura, doch die Einnahme der Stadt mochte sich als weit schwieriger erweisen als gedacht.

Das Gelände war unwegsam – gepflasterte Straßen wie in Lantisa, oder den übrigen auf dem Kontinent Euparos gelegenen Provinzen, gab es nicht. Der Sintu war selbst zur Trockenzeit nur eingeschränkt schiffbar; nicht umsonst nannte man ihn den Strom der tausend Wasserfälle. Elf Legionen durch dieses Land zu bewegen war eine gewaltige Aufgabe und die Schattenläufer machten sie zu einem wahren Albtraum.

Kaum ein Versorgungskonvoi, der nicht überfallen wurde, kaum ein Bote, der unbehelligt die anderen Heeresteile erreichte. Die Hälfte der Invasionsarmee war inzwischen dazu abgestellt, die Nachschubwege zu bewachen. Auf der Karte waren die Orte aller Zwischenfälle mit Kupferassen markiert, die zusammengezählt bereits dem Monatssold eines gewöhnlichen Legionärs entsprachen.

Doch so ungeordnet der Münzhaufen auf den ersten Blick wirkte, Odrin erkannte darin ein Muster. Tatsächlich war er sich nahezu sicher die Operationsbasis der Schattenläufer auf eine kleine Bergregion eingegrenzt zu haben. Drei Dörfer gab es dort und mindestens eines gewährte ihnen Unterschlupf. Es waren Menschen, keine Geister, sie mussten irgendetwas essen. Und wer den ganzen Tag im Hinterhalt lag, konnte nicht selbst das Feld bestellen.

Als es draußen laut wurde, begab Odrin sich zum Zelteingang und spähte hinaus. Links von ihm steckte die Legionsstandarte im Boden, die von einem goldenen Greifen – einem Löwen mit einem Adlerkopf und Adlerflügeln – gekrönt war. Ringsherum waren die Zelte der Soldaten in sauberen Reihen aufgeschlagen. Auf einem der schnurgeraden Wege dazwischen näherte sich eine Gruppe Legionäre. Obwohl einige von ihnen blutige Verbände trugen, schienen sie guter Dinge zu sein.

Odrin schirmte die Augen vor der Sonne ab und erkannte, dass es sich um seinen Primus Drassus handelte, der mit der Zenturie unter seinem Kommando gerade aus dem Dschungel zurückgekehrt war. Die Nummer zwei der Befehlshierarchie reckte in einer Siegespose die Faust die Höhe. »Beim Arsch der Aquina, denen haben wir’s gezeigt!«, pries er auf unflätige Weise die Götter und die etwa hundert Männer, die ihm folgten, stimmten in den Jubel mit ein.

Achtlos warf Drassus seinen Helm zu Boden, befreite sich von seinem Schienenpanzer sowie der Tunika, die er darunter trug und kippte sich einen Eimer Wasser über den nackten Oberkörper. Dann erst trat er vor seinen Feldherrn und salutierte mit einem triumphierenden Grinsen. Das schmale Gesicht mit der ausgeprägten Hakennase erinnerte Odrin immer an einen Raubfisch. Die zahlreichen Narben, die den Körper des Mannes zierten, unterstrichen den Eindruck von Gefährlichkeit noch. Sein langes Haupthaar und sein buschiger Schnurrbart, waren triefnass. Drassus mochte ein furchterregender Kämpfer sein, aber er bot ein denkbar schlechtes Vorbild für die Legionäre.

»Wir haben einen von diesen Hurensöhnen gefangen genommen, Kommandant«, vermeldete er stolz.

Odrin musterte ihn streng. »Lass dich nicht so gehen. Trockne dich ab und dann erstatte mir drinnen Bericht.«

Wenig später in seinem Zelt schilderte Drassus – nun vorschriftsmäßig gerüstet und die Haare zurückgebunden – was sich ereignet hatte. Odrin hatte seinen ranghöchsten Offizier mit einem Nachschubkonvoi losgeschickt, nur das unter den Planen der Ochsenkarren keine Vorräte, sondern kampfbereite Legionäre gelegen hatten. Wie erwartet hatten die Schattenläufer dem Wagenzug aufgelauert, doch diesmal waren sie es, die in den Hinterhalt getappt waren. Es war nicht so gut gelaufen, wie erhofft, denn die Angreifer hatten sofort Reißaus genommen, als die Falle zugeschnappt war. Einen hatten sie zwar erwischt, doch Odrin hatte auf mehr Gefangene gehofft.

»Hast du schon etwas aus ihm herausbekommen?«, erkundigte er sich.

»Klar.« Drassus säuberte sich die Fingernägel mit einem langen Messer. »Das Dorf heißt Jalagat.«

»Bist du sicher, dass er die Wahrheit spricht?«

»Ich habe ihm drei Finger und ein Ohr abgeschnitten«, verriet Drassus beiläufig. »Also ja, ich bin relativ sicher. Wenn du mich fragst, sollten wir trotzdem auch die übrigen Dörfer schleifen. Diese Reisfresser stecken doch alle unter einer Decke.«

Missbilligend legte Odrin die Stirn in Falten. Manchmal fragte er sich, wie Drassus es in der kaiserlichen Armee so weit hatte bringen können. Er stammte aus der Provinz Darpartien, die für ihren rauen Menschenschlag bekannt war. Im pandrischen Bürgerkrieg hatte er als Söldner gekämpft und sich einen Namen gemacht. Um den Frieden im Land zu wahren, hatte Kasestian nach seinem Sieg so viele dieser vagabundierenden Kämpfer wie möglich in die Streitkräfte eingebunden. Altgediente Befehlshaber wie Odrin mussten wohl oder übel damit leben.

»Der Kaiser möchte diese Region erobern, nicht verwüsten. Wenn wir alle Dörfer niederbrennen, wer bringt dann die Ernte ein?«

Drassus zuckte unbeteiligt mit den Schultern.

»Lebt der Gefangene noch?«, erkundigte sich Odrin.

Sein Primus nickte. »Ich wollte später noch ein bisschen Spaß mit ihm haben.«

»Halte dich im Zaum, er ist uns lebend nützlicher als tot.«

 

Odrin entschied, dass es besser war, den Schattenläufer selbst noch einmal zu befragen, und begab sich zu ihm, kaum da er Drassus hatte wegtreten lassen. Er war in einem Zelt untergebracht, das gut bewacht wurde. Nicht nur, um etwaige Fluchtversuche zu verhindern. Sondern auch, um ihn vor Racheakten übereifriger Legionäre zu schützen, denn Drassus war leider nicht der Einzige in der Truppe, der es an Disziplin vermissen ließ.

Als Odrin eintrat, blickte der Gefangene auf. Er trug luftige schwarze Beinkleider und darüber eine dunkelgrüne Tunika. Man hatte ihn zum Stehen gezwungen, indem man seine ausgestreckten Arme an einen Querbalken gefesselt hatte. Sein Kopf und seine blutende Hand waren nur notdürftig verbunden.

»Du bist also der, den sie Rotmähne nennen«, bemerkte er nach einem Blick auf Odrins auffälliges Haar und seinen roten Feldherrnumhang, den er um die Schultern trug. Er sprach in fehlerfreiem Lantisisch, der Amtssprache Pandriens, wenn auch mit hörbarem Akzent.

»Und du bist ein Geist, wenn man meinen Männern Glauben schenkt.« Er musterte den Festgebundenen prüfend. »Siehst aber nicht aus wie einer.« Als keine Antwort kam, fuhr er fort: »Ihr habt uns eine Menge Schwierigkeiten bereitet. Mein Primus, den du bereits kennengelernt hast«, Odrin machte eine Geste in Richtung der fehlenden Finger, »wird gleich morgen eine Strafexpedition nach Jalagat führen. Er wird keine Gnade walten lassen.«

Der Schattenläufer starrte ihn ausdruckslos an. Es ließ sich schwer zu sagen, was gerade in ihm vorging. Odrin beschloss, ein wenig tiefer zu bohren: »Um ein deutliches Exempel zu statuieren, habe ich ihm befohlen, danach Fengha zu schleifen.«

Fengha war das zweite der drei infrage kommenden Dörfer – wieder blieb der Gefesselte ruhig.

»Und anschließend Raischu.«

Die Muskeln des Gefangenen spannten sich unmerklich bei der Erwähnung des dritten Dorfes.

»Raischu also«, schloss Odrin zufrieden und wandte sich zum Gehen.

Der Schattenläufer stieß einen markerschütternden Schrei aus. Einen Blick über die Schulter werfend, registrierte er voller Unglauben, wie der drahtige, nicht sonderlich kräftig wirkende Mann sich mit schier übermenschlicher Stärke losriss. Odrin reagierte instinktiv, zog die Meteroreisenklinge und führte einen schnellen Stoß unter der Armbeuge hindurch nach hinten. Die Spitze seines Langschwertes bohrte sich in den Unterleib des Schattenläufers, als dieser gerade im Begriff war sich auf ihn zu stürzen.

»Verflucht seist du, Rotmähne«, röchelte er, die Klinge mit blutigen Fingern umklammernd. Kurz darauf erlosch sein Augenlicht und sein Körper erschlaffte.

 

***

 

Unruhig wälzte sich Odrin im Bett hin und her. Zehn Jahre war es nun her, aber die Erinnerungen ließen ihm keine Ruhe. Bald würde die Sonne aufgehen und vor ihm lag ein arbeitsreicher Tag. Er musste dringend etwas Schlaf finden. Sein tastender Arm bekam eine Amphore aus Ton zu fassen, die neben dem Bett stand. Prüfend schüttelte er sie und erkannte, dass sie fast leer war. Seufzend öffnete er den Korken und leerte sie mit einem Zug. Der Inhalt schmeckte wie wässriger Wein und war doch so viel wohltuender. Eine Viertelstunde später fielen ihm die Augen zu.

 

3

Reichshauptstadt Pandris, Provinz Lantisa

Lärm und laute Stimmen weckten ihn. Für ein paar Sekunden, im Dämmerzustand zwischen Traum und Wachsein, glaubte Odrin, das Feldlager werde angegriffen. Dann klärte sich der Nebel um seinen Verstand und er erkannte, dass es bloß zwei Passanten waren, die sich draußen auf der Straße stritten. Er setzte sich auf, spähte aus dem Fenster über dem Bett und beobachte von oben, wie die beiden Männer sich schimpfend voneinander entfernten und in der Menschenmenge verschwanden. Nichts Ungewöhnliches – auf den überfüllten Straßen von Pandris kam es um die Mittagsstunde häufig zu Streit.

Odrin hatte lange geschlafen und fühlte sich entsprechend ausgeruht. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und bescherte der Stadt einen wunderschönen Sommertag. Das glitzernde Band des Equir funkelte in der Entfernung zwischen den anderen Häusern hindurch. Sein Magen knurrte. Er ließ den Blick durch sein bescheidenes Heim wandern und blieb am Esstisch hängen, wo ein Korb mit frischem Fladenbrot auf ihn wartete.

Zufrieden stand er auf, streckte seine müden Glieder und ging er zur offenen Tür des Nebenraumes. Drinnen stand Sestia, seine sechzehnjährige Tochter, vor dem kleinen Bronzespiegel auf ihrer Kommode und schwärzte sich mit einem Kohlestäbchen die Wimpern.

»Endlich aufgewacht?«, fragte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Du hast geschlafen wie ein Stein.«

Sie trug ein knöchellanges grünes Gewand, das der pandrischen Mode entsprechend von zwei Gürteln gehalten wurde: einem um ihre Taille und einem zweiten, direkt unter ihrem Busen. Es brachte ihre weiblichen Formen gut zur Geltung, ohne dabei zu freizügig zu sein. Mit einer Mischung aus Stolz und Unbehagen, machte sich Odrin nicht zum ersten Mal bewusst, dass aus seinem kleinen Täubchen inzwischen eine junge Frau geworden war.

»War eine anstrengende Nacht«, meinte er. »Du warst schon einkaufen?«

»Nein, ich habe einen unserer vielen Sklaven geschickt«, bemerkte sie sarkastisch. Zufrieden mit ihren Wimpern begann sie nun mit einem Kamm aus Elfenbein ihre roten Locken zu bändigen. Das Kleinod war ein Erbstück ihrer Mutter. Ein Zinken war bereits abgebrochen, doch sie hing an ihm – wie an allem aus jener Zeit.

Mit einem stillen Seufzer ließ Odrin sie allein, setzte sich an den Tisch, brach ein Stück Brot ab und träufelte ein wenig Honig aus dem bereitstehenden Tontopf darauf. Nach ein paar Bissen merkte er, dass etwas fehlte, und rief: »Gibt’s keine Milch?«

»Milch kostet jetzt vier Kupferasse«, kam die Antwort aus dem Nebenzimmer. »Wenn du Milch zum Frühstück willst, musst du mir mehr Geld auslegen.«

Odrin brummte verdrießlich. Mittlerweile war er es gewohnt: Der Monat ging zu Ende und er war pleite. Das Leben in Pandris wurde einfach immer teurer. Er wusste von einigen Vigilanten, die es sich ziemlich gut gehen ließen, aber die nahmen auch Schmiergelder an, was für ihn nie infrage gekommen war.

»Übermorgen erhalte ich meinen Sold«, stellte er Sestia in Aussicht. »Dann habe ich wieder etwas.«

»Sehr gut. Der Zinnober für meine Lippen ist nämlich auch fast leer.«

Kopfschüttelnd nahm Odrin einen weiteren Bissen von seinem Brot. »Die ganze Schminke brauchst du doch gar nicht!«, rief er ihr zu. »Du siehst wunderschön aus, wie du bist.«

»Na und ob ich die brauche!«, echauffierte sich seine Tochter lauthals.

Es war sinnlos, mit ihr über dieses Thema zu diskutieren, das wusste er nur zu gut. Ihre Schönheit mochte sie von ihrer Mutter geerbt haben, ihre Sturheit aber kam – genau wie ihre roten Haare – mit Sicherheit von ihm. Seiner Familie wurde nachgesagt, dass gileanisches Blut durch ihre Adern floss und wie der Volksmund sagte, war es aussichtsreicher mit einem Esel zu streiten, als mit einem Gileaner.

Er hatte sein Frühstück noch nicht beendet, da klopfte es an die Tür.

Sofort eilte Sestia aus ihrem Zimmer. »Ich gehe schon«, kam sie ihm zuvor und öffnete.

Ein Bär von einem Mann stand auf der Schwelle. Er musste sich bücken, um unter dem Querbalken hindurchzupassen. Ein dunkler Vollbart, der erste graue Strähnen aufwies, umrahmte sein Gesicht, die Toga trug er locker über die breite Schulter geschwungen, in einer Hand hielt er einen geflochtenen Einkaufskorb.

»Marcus!«, begrüßte Sestia den Besucher erfreut.

»Nein«, brummelte der Riese. »Ich bin ein Räuber und habe ein Messer.« Grinsend zog er eine grüne Gurke aus dem Korb und tat so, als wolle er damit auf Sestia einstechen. Die verdrehte ihm die Hand, wie Odrin es ihr beigebracht hatte, entwand ihm das Gemüse und pikste ihm damit in die Wampe.

»Nimm das!«, rief sie lachend, woraufhin Marcus theatralisch die Hand auf die imaginäre Wunde presste.

»Du hast mich erwischt«, gab er sich wimmernd geschlagen. Dann bemerkte er Odrin und seine Miene hellte sich auf. »Weißhaupt, gut dass ich dich noch antreffe.«

»Marcus, komm rein«, begrüßte er seinen alten Freund. Sie kannten sich noch aus Tagen, da Odrin ein einfacher Zenturio gewesen war. Inzwischen hatte Marcus seine Dienstzeit abgeleistet und sich selbstständig gemacht. »Wie läuft deine Gladiatorenschule?«

»Kann nicht klagen«, antwortete der Hüne, eine vage Handbewegung vollführend. »Wir suchen immer neue Kämpfer. Sestia könnte bei uns anfangen, wenn sie will. Sie scheint ein Naturtalent zu sein.«

Odrin hob zweifelnd eine Augenbraue. »Bist du auf den Kopf gefallen? Sie ist eine Frau.«

Marcus grinste verschwörerisch. »Letzten Monat haben wir zwei garmenische Sklavinnen gegeneinander antreten lassen«, verriet er. »Die wussten durchaus mit dem Schwert umzugehen. Tja, und es stellte sich heraus, dass sie zu verfeindeten Stämmen gehörten; die haben sich wirklich gehasst. Die Zuschauer jedenfalls waren begeistert und nun sucht jede Schule verzweifelt nach fähigen Kämpferinnen.«

Odrin schüttelte den Kopf. Das verwöhnte pandrische Publikum gierte stets nach neuen Sensationen. Er hingegen machte sich bis heute nichts aus den blutigen Spektakeln der Arena, hatte er doch selbst mehr als genug Blut vergossen.

»Meine Tochter wird kein Gladiator«, stellte er unmissverständlich klar.

»Du erlaubst mir ja sowieso nichts!«, warf Sestia ihm vor und verschwand beleidigt in ihrem Zimmer. Die Zwischentür knallte kurz darauf lautstark ins Schloss.

Marcus schenkte ihm einen mitleidigen Blick. »Sind schwierig in diesem Alter, was?«

»Sie sind in jedem Alter schwierig.«

Sein Kamerad nickte wissend und kam endlich zum wahren Grund seines Besuchs: »Ich muss dich warnen, Weißhaupt. So ein milchgesichtiger Patrizier hat heute Morgen an meine Tür geklopft und gefragt, ob er ein paar meiner Kämpfer anheuern könne. Um einem – wie er sich ausdrückte – übereifrigen Vigilanten eine kleine Abreibung zu verpassen. Steckst du etwa wieder in Schwierigkeiten?«

»Nicht mehr als sonst. Was hast du geantwortet?«

»Dass er sich in den Tarus scheren soll.« Marcus lachte. »Die Gesundheit meiner Gladiatoren liegt mir schließlich am Herzen.« Er wurde wieder ernst und senkte die Stimme. »Aber gut möglich, dass er anderswo fündig wird. Du solltest dich ein wenig zurückhalten. Auch ihretwegen.« Er neigte den Kopf in Richtung von Sestias Zimmer. »Ich weiß, du hast ihr Einiges gezeigt, aber wenn ihr zwei große Kerle in einer dunklen Gasse auflauern, wird das nicht reichen. Und die sind dann nicht nur mit Gurken bewaffnet.«

Odrin senkte schuldbewusst den Blick. Schon oft hatte er sich genau das selbst vorgenommen. Er konnte bloß einfach nicht wegsehen, wenn anderen Unrecht geschah. »Du hast recht«, gestand er schließlich ein. »Und danke für die Warnung.«

»Nichts zu danken, Weißhaupt. Ich schulde dir mein Leben. Mehrmals. Ach, und ehe ich es vergesse: Der ist für euch.«

Er stellte den Korb auf den Tisch, der neben Gurken auch Zwiebeln, Knoblauch und anderes Gemüse enthielt.

Odrin machte eine abwehrende Geste. »Das ist nett von dir, aber …«

»Jetzt schluck deinen Stolz mal für einen Moment hinunter. Bei uns bleibt immer etwas übrig und ich weiß ja, wie miserabel man euch Vigilanten entlohnt.«

Als Marcus sich verabschiedete, kam Sestia aus ihrem Zimmer, um ihn noch einmal fest zu drücken. Ihre Laune hatte sich offenbar wieder gebessert.

Der Besucher war gerade zur Tür hinaus, da setzte sie sich zu Odrin an den Tisch und musterte eine Weile ihre Fingernägel. Er las sofort an ihrem Gesicht, dass ihr etwas auf dem Herzen lag.

»Ich habe gestern mit Tante Velenis gesprochen«, offenbarte sie nach einer Weile betont beiläufig. »Sie sagte, ich könne immer noch eine Aquina-Priesterin werden. Normalerweise nehmen sie jüngere Mädchen, aber für mich könnte sie eine Ausnahme machen.«

Odrin schüttelte den Kopf. »Ich dachte, mit diesem Thema wären wir durch. Ich will nicht, dass du dein Leben vergeudest, indem du es dem Tempel widmest. Es mag dir jetzt noch egal sein, aber in ein paar Jahren, möchtest du vielleicht eine eigene Familie haben. Das geht nicht mehr, wenn du Priesterin bist.«

»Eine eigene Familie?«, seufzte sie bitter. »Wer will mich denn zur Frau? Die Tochter von Odrin Weißhaupt? Kein Mann von Rang und Namen würde es riskieren, mit einer solchen Hochzeit den Zorn des Kaisers auf sich zu ziehen. Falls er es nicht sowieso für unter seiner Würde hält.«

»Was ist mit Despan?«, führte er an. »Der macht einen anständigen Eindruck und ihr scheint euch gut zu verstehen.« Für Odrins Geschmack fast schon ein wenig zu gut, aber er musste sich damit abfinden, dass seine Tochter langsam in das Alter kam, in dem man über mögliche Verlobungen nachdenken sollte.

»Despan? Der Sohn des Schlachters?« Sestia rollte mit den Augen. »Ich bin nett zu ihm, weil er mir ab und zu ein bisschen Wurst zusteckt. Die könnten wir uns sonst nämlich auch nicht mehr leisten. Ich möchte ihm aber nicht den Rest meines Lebens dabei helfen, Schweinehälften auseinanderzunehmen.«

»Was erwartest du dann vom Leben?«

»Was ich erwarte?«, redete Sestia sich in Rage. »Dass ich in einem großen Haus wohne, wo das Wasser aus einem Aquädukt kommt und nicht in den dritten Stock geschleppt werden muss! Dass mir Sklaven jeden Wunsch von den Lippen ablesen und ich abends an Banketten teilnehme! Ich möchte respektiert werden! So wie früher, als Mutter noch gelebt hat! Meine Freundinnen von damals behandeln mich heute wie eine Aussätzige und das alles nur wegen deines törichten Stolzes. Weil du dich ja unbedingt gegen den Kaiser stellen musstest!«

Odrins Brust krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er wollte mit der Hand auf den Tisch hauen, sie anschreien, dass er den Tod von tausenden Unschuldigen nicht einfach hatte hinnehmen können, und dass er ihre Mutter genauso vermisste wie sie. Er war zu nichts davon imstande. »Tut mir leid«, brachte er lediglich hervor und schluckte dabei schwer.

»Mir auch«, schloss Sestia bissig und erhob sich. Wortlos drapierte sie ein fransenbesticktes Stofftuch als Sonnenschutz auf ihrem Haupt und ging zu Tür.

»Ich bin beim Aquina-Tempel«, sagte sie zum Abschied. »Ich werde Tante Velenis deine Entscheidung mitteilen.«

 

Wenig später war Odrin ebenfalls auf der Straße unterwegs. Verdrießlich stapfte er durch das Menschenmeer, die Auseinandersetzung mit seiner Tochter ging ihm nach und er achtete kaum darauf, ob er jemanden anrempelte. Sein blauer Vigilantenumhang sorgte dafür, dass niemand deshalb Streit mit ihm anfing.

Mehr als eine Million Menschen lebten in Pandris und der einzige, von ihnen, der ihm wirklich etwas bedeutete, hasste ihn nun.

Drei Hügel bestimmten das Stadtbild: Auf dem einen befand sich der Kaiserpalast, auf dem zweiten der Aquina-Tempel und die heilige Quelle, umgeben von terrassenartig angelegten Gärten. Auf dem dritten hatten hauptsächlich wohlhabende Kaufleute ihre Häuser errichtet. Als Faustregel galt: Je tiefer gelegen man wohnte, desto ärmer war man und desto niedriger war der gesellschaftliche Rang. Odrin war sich schmerzlich bewusst, dass das Haus, in dem er zur Miete lebte, nur wenige Querstraßen vom Flussufer entfernt lag. Welches Leben konnte er seiner Tochter angesichts dessen schon bieten?

Inzwischen hatte er das Tor zum Palast erreicht. Er teilte den Wachen mit, dass er in dringender Angelegenheit den diensthabenden Kommandanten der Roten Garde zu sprechen ersuchte. Dieser Eliteeinheit, erkennbar an ihren roten Helmbüschen, oblag der Schutz des Kaisers und seiner Residenz. Sie waren gut ausgebildet und fähig, doch sie hatten keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten. Besser, er warnte sie, damit sie auf weitere Einbruchsversuche vorbereitet waren.

Eine halbe Stunde musste er vor dem Tor in der prallen Sonne warten, bis man ihn endlich einließ. Der Kommandant, ein Kehsete mit kahlgeschorenem Schädel und beeindruckender Physis, trat im Hof auf ihn zu. An der Seite trug er ein Sichelschwert, die traditionelle Waffe seines wüstenbewohnenden Volkes, die Arme hatte er vor Brust verschränkt.

»Odrin Weißhaupt, du bist hier nicht willkommen. Trage dein Anliegen vor und dann verschwinde wieder.«

»Gestern Nacht haben meine Männer und ich einen Einbruchsversuch in den Palast vereitelt, aber die Täter sind entkommen. Es ist meine Pflicht, Euch zu warnen. Sie könnten es erneut versuchen, Kommandant.«

Der Kehsete lachte laut auf. »Wer so dumm ist, unbefugt einen Fuß über diese Mauern zu setzen, wird bei den Löwen in der Arena enden. Aber nicht, bevor ich ihn mir persönlich zur Brust genommen habe.« Er ließ demonstrativ die Knöchel knacken. »Das garantiere ich, so wahr ich Mechnon Knochenbrecher heiße.«

Frustriert sah Odrin sich um. Mechnons Überheblichkeit war fehl am Platz. Der Hof war dem pykratischen Stil entsprechend von weiten Säulengängen gesäumt. Springbrunnen und Götterstatuen ragten zwischen sorgfältig getrimmten Büschen und Hecken auf. Jede Menge Verstecke gab es hier und Odrin wusste von früher, dass es sich innerhalb der verwinkelten Gebäude ähnlich verhielt. Nur weil es bisher noch niemand gewagt hatte hier einzudringen, hieß das nicht, dass es unmöglich war. Ganz im Gegenteil.

»Mein Rat wäre trotzdem, die Wachen zu verdoppeln, insbesondere in unmittelbarer Nähe des Kaisers.« Odrin zog den Wurfstern aus der Tasche, den Bintus ihm gegeben hatte. »Ich vermute, dass es sich bei den Eindringlingen um sinturanische Schattenläufer handelt. Achtet darauf, die Höfe nachts gut auszuleuchten.«

Mechnon würdigte das Wurfgeschoss keines Blickes. »Schattenläufer«, schnaubte er abfällig. »In Pandris? Hah! Das waren bloß ein paar dreiste Halunken, die drauf und dran waren, Selbstmord zu begehen. Die Rote Garde hat die Sicherheit des Kaisers bestens im Griff. Wir brauchen keine Ratschläge von einem abgehalfterten Nachtwächter, der sich wichtig machen will. Verschwinde, Weißhaupt, bevor ich dich rauswerfen lasse. Und wenn du meinen Rat hören willst: Besuche mal wieder die Thermen. Du stinkst.«

Odrin zuckte resignierend mit den Schultern und machte auf dem Absatz kehrt. Seine Schuldigkeit hatte er getan, mehr würde er nicht erreichen, aber es war tatsächlich eine gute Gelegenheit, die Thermen aufzusuchen. Nicht weil der arrogante Kehsete ihn dazu aufgefordert hatte, sondern weil ein heißes Dampfbad das beste Rezept war, um einen klaren Kopf zu bekommen. Und einen solchen brauchte er, wenn er in der Sache weiterkommen wollte.

 

***

 

Freier Eintritt in die Badeanstalten der Hauptstadt war eines der wenigen Privilegien, die man als Vigilant genoss und Odrin nahm es regelmäßig wahr. In den Nachmittagsstunden waren die Thermen besonders gut besucht. Auf den zugehörigen Sportplätzen übten sich Männer im Ringkampf, während Frauen fröhlichen Ballspielen nachgingen. Manchmal auch andersherum. Odrin steckte die gestrige Nacht noch in den Knochen weshalb er auf Leibesübungen verzichtete und direkt das Badehaus ansteuerte.

In der Umkleidekabine tauschte er seine Straßenkleidung gegen einen einfachen Lendenwickel. Seinen einzigen wertvollen Besitz, den Stumpf der Meteoreisenklinge, wickelte er sorgfältig in den Umhang, damit er keine neugierigen Blicke auf sich zog. Dann zahlte er dem bereitstehenden Sklaven ein Kupferass, damit dieser auf seine Sachen aufpasste.

Die Eingangshalle war angenehm temperiert für ein ausladendes Steingewölbe. Durch die hohen Buntglasfenster fiel reichlich Sonnenlicht ein, aber hauptsächlich kam die Wärme von Kohlefeuern, die im Kellergeschoss unentwegt brannten. Von hier aus ging Odrin zu einem der zahlreichen kleineren Dampfbäder, jedes einzelne größer als seine Wohnung, in denen Männer auf Marmorbänken um heiße Wasserbecken herumsaßen. Die Luft war dampfgeschwängert. Manche trauten sich ins Wasser, aber in der Regel nicht länger als ein paar Minuten.

Odrin setzte sich auf eine freie Bank, schloss die Augen und dachte nach. Was machten Schattenläufer in Pandris? Planten sie, den Kaiser zu ermorden? Vielleicht einen anderen hochrangigen Beamten am Hof? Wollten sie jemanden entführen? Etwas stehlen womöglich? Seit dem Krieg hatte man nichts mehr von diesen geheimnisvollen Kämpfern gehört. Odrin wusste, dass er damals nicht alle von ihnen ausgelöscht hatte. Über das ganze Land verteilt hatte es unterschiedliche Banden gegeben – sie selbst nannten sich Clans. Nach dem Fall von Wahisazu waren sie weitestgehend untergetaucht, nur gelegentlich hörte man noch von Vorfällen aus dem Hinterland Sinturas, die ihnen zugeschrieben wurden. Wenn sie nun plötzlich mitten in der Hauptstadt auftauchten, musste sich etwas grundlegend geändert haben. Was immer sie hergeführt hatte, war von großer Bedeutung für sie.

Er spürte, dass sich ihm jemand näherte, und öffnete die Augen. Vor ihm stand eine Frau, die er gut kannte. Sie ging bereits auf die vierzig zu und war immer noch eine Schönheit. Ihr Lendenwickel und das knappe Stück Stoff vor der Brust überließen wenig der Fantasie, ihr langes schwarzes Haar hatte sie zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt.

»Velenis«, stellte er nur mäßig überrascht fest. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist dieser Teil der Thermen den Männern vorbehalten.«

»Sehe ich so aus, als ob mich das stört?«, fragte die ungebetene Besucherin und drehte sich zu den anderen Anwesenden um, die ihr bereits empörte Blicke zuwarfen. »Ihr da, lasst uns für einen Moment allein!«, befahl sie. Als einige Badegäste der Aufforderung nicht schnell genug nachkamen, stampfte sie ungeduldig mit dem Fuß auf. »Na wird’s bald?«

Odrin konnte sich denken, über was sie mit ihm reden wollte. »Geht es um Sestia?«, erkundigte er sich, als sie unter vier Augen waren.

»Um wen sonst?«, fragte sie zurück. »Ich kann nicht tatenlos dabei zuschauen, wie du meiner Nichte die Zukunft verbaust. Wenn du dich selbst bestrafen willst, indem du das Leben eines Nachtwächters führst, ist das deine Sache, aber lass sie nicht darunter leiden. Nicht noch mehr jedenfalls.«

»Wie soll das funktionieren?«, fragte er zurück, wohlwissend, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. »Aquina-Priesterinnen werden im Alter von dreizehn, höchstens vierzehn Jahren berufen. Sie ist schon sechzehn.«

»Falls es dir entgangen ist: Ich bin die Hohepriesterin Aquinas. Wenn ich sage, dass es geht, dann wird es so gemacht. Solange sie noch Jungfrau ist jedenfalls. Sie ist doch noch Jungfrau?«

»Natürlich«, versicherte Odrin. Aquina, die Göttin des Wassers, besaß der Sage nach den Körper eines jungen Mädchens mit einem Fischschwanz anstelle von Beinen, daher wurden von alters her ausschließlich Jungfrauen zu Aquina-Priesterinnen berufen. »Aber sie ist keine Mystikerin.«

»Was hat meine Schwester bloß für einen Hornochsen geheiratet?«, stöhnte Velenis. »Mögen die Götter dich doch endlich mit ein bisschen Weisheit segnen! Zum Mystiker wird man nicht geboren. Die Anima, die Lebenskraft, steckt in uns allen, selbst in dir. Die Kehseten nennen sie Ka, die Maristaner Prana. Gemeint ist immer dieselbe göttliche Essenz. Jeder kann lernen sie zu nutzen. Die nötige Hingabe und kundige Anleitung vorausgesetzt.«

Seine Schwägerin hatte recht, er schob Ausflüchte vor, die sie mit Leichtigkeit als solche erkannte. »Dir geht es doch gar nicht um Sestia«, ging Odrin deshalb zum Gegenangriff über. »Deine Berufung endet in ein paar Jahren – wenn du dann noch in der Politik mitmischen willst, wie du es gewohnt bist, brauchst du eine Nachfolgerin, die nach deiner Pfeife tanzt. Ich möchte nicht, dass du meine Tochter zu deiner Spielfigur machst.«

Priesterinnen dienten genau dreißig Jahre dem Tempel. Velenis hatte noch fünf davon vor sich.

»Dass du mir derartige Motive unterstellst, kränkt mich«, behauptete sie und zog dabei einen Schmollmund. »Habe ich mich nicht aufopfernd um Sestia gekümmert, als ihre Mutter starb und du in Sintura Krieg führtest? Aber nehmen wir mal an, du hättest recht. Würde das etwas an den Tatsachen ändern? Als Aquina-Priesterin wäre sie ein hoch angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Nicht einmal der Kaiser würde es wagen, Hand an sie zu legen. Wie sicher lebt sie als Tochter eines Vigilanten?«

Sie ließ ihre Worte einen Moment wirken und ergänzte: »Mein Angebot gilt. Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen, aber zögere die Entscheidung nicht zu lange hinaus. Auch mir sind Grenzen gesetzt.«

Sie wandte sich zum Gehen.

Kleinlaut hielt er sie zurück. »Velenis, eine Bitte noch.«

»Du brauchst wieder etwas von deinem Schlaftrunk«, vermutete sie richtig.

»Was immer du da zusammenmischst, es wirkt Wunder«, gestand Odrin widerwillig ein.

»Ich mische da nichts zusammen«, belehrte sie in. »Ich bitte die Geister der heiligen Quelle, den Wein im Namen der Göttin zu segnen, auf dass er Ruhe und Erholung verschaffe. Das gehört zu den grundlegenden Aufgaben einer Priesterin. Sestia könnte das auch lernen, wenn du sie lässt.«

»Ich denke darüber nach.«

»Gut, ich lasse eine Amphore zu dir nach Hause bringen.«

Als sie gegangen war, erhob sich Odrin ebenfalls. Es war an der Zeit, sich mit kaltem Wasser abzuwaschen und anschließend ein paar Extraschichten abzuleisten.

 

***

 

Bintus war gelinde gesagt überrascht, als sein Vorgesetzter plötzlich vor seiner Wohnungstür stand.

»Kommandant?«

»Was macht die Schulter?«, erkundigte Odrin sich. »Bist du imstande, heute zum Dienst anzutreten?«

Der junge Rekrut nickte. »Ist nur ein Kratzer. Da braucht es schon mehr, um mich ans Bett zu fesseln.«

»Dann schnapp dir dein Schwert und deinen Umhang. Es geht sofort los.«

»Meine Schicht fängt erst in drei Stunden an«, wunderte sich der jüngere Mann. »Hat Ematedes das angeordnet?«

»Nein, ist ein Spezialauftrag von mir. Du willst die Kerle von gestern doch schnappen, oder?«

»Natürlich, Kommandant.« Bintus machte sich daran, sein Kurzschwert zu gürten. »Haben wir denn eine Spur?«

»Ich denke schon.«

 

»Du stammst aus dem nördlichen Lantisa, habe ich recht?«, fragte Odrin seinen jungen Begleiter, als sie unterwegs waren.

»Ja«, bestätigte Bintus. »Meinem Vater gehört ein Landgut am Ufer des Equir, nur ein paar Tagesreisen von hier.«

»Was hat dich dann dazu bewogen, nach Pandris zu ziehen?«

»Nun, es läuft nicht mehr so gut«, gestand der junge Mann. »Seit die Alchemistengilde am Oberlauf des Flusses nach Meteoreisen schürft, ist das Wasser vergiftet. Mensch und Vieh werden krank, die Ernte verkümmert …«

»Vorsicht«, warnte Odrin, »diese Anschuldigungen könnten dir eine Menge Ärger einbringen.«

Der Rekrut machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jeder weiß es. Niemand nimmt mehr Wasser aus dem Fluss, wenn er nicht muss. Mögen es Kaiser und Senat auch noch so sehr leugnen. Meine Geschwister sind noch auf dem Hof, aber ich will mein Glück anderswo machen. In dieser Stadt hat man so viele Möglichkeiten.«

Odrin nickte und ersparte ihm die peinliche Frage, wieso er dann ausgerechnet Vigilant geworden war. Jeder nutzte die Chancen, die sich ihm boten, und Manchem bot sich eben keine andere.

Nachdem sie eine Weile durch die Straßen marschiert waren, erkundigte sich Bintus schließlich, wohin sie überhaupt gingen.

»Wenn du vorhättest, in den Kaiserpalast einzubrechen, wie würdest du dich darauf vorbereiten?«, fragte Odrin zurück.

Bintus überlegte kurz. »Ich würde versuchen, so viel wie möglich über das Ziel in Erfahrung zu bringen. Wie der Grundriss aussieht, wie viele Wachen es gibt, wo sie postiert sind … Ich würde tage- wenn nicht wochenlang ihre Patrouillenrouten beobachten, bevor ich es wagte, einen Fuß hinein zu setzen. Ich will schließlich nicht an die Löwen verfüttert werden.«

»Genau mein Gedanke«, pflichtete Odrin bei. »Aber der Palast ist von einer Mauer umgeben. Es gibt nur wenige Orte in Pandris, die einem erlauben, über sie hinwegzublicken. Welche fallen dir ein?«

Bintus kratzte sich nachdenklich am glattrasierten Kinn. »Vom Dach des Aquina-Tempels aus könnte es gehen, aber das wäre sehr auffällig. Ansonsten eigentlich nur …«

Der Blick des jungen Mannes folgte der sanft ansteigenden Straße. Sehr zum Ärger der ansässigen Kaufleute war auf dem dritten Hügel vor einigen Jahren ebenfalls ein fünfstöckiges Mietshaus errichtet worden. Von seinem Obergeschoss aus konnte man praktisch die gesamte Stadt überblicken.

»… von dort oben.«

»Ganz genau. Du hast das Zeug zu einem wahrhaft fähigen Vigilanten«, lobte Odrin. Die schnelle Auffassungsgabe des Rekruten beeindruckte ihn. »Fragen wir doch mal den Hausverwalter nach seinen Mietern.«

 

Der Verwalter, ein gebeugter alter Mann mit schütterem Haar, war zunächst wenig entgegenkommend, als sie an seine Tür klopften. »Wenn ihr Erkundigungen über die Mieter einholen wollt, fragt den Eigentümer, ich halte hier nur den Hof und das Treppenhaus sauber.«

»Ja, das wäre eine Möglichkeit«, meinte Odrin und stellte den Fuß in die Tür, bevor der Alte sie wieder zuknallen konnte. »Oder wir klären das unbürokratisch unter uns, dann sehen wir im Gegenzug über die zahlreichen Verstöße gegen die Brandschutzvorschriften hinweg, die ich allein hier draußen auf dem Hof bemerkt habe.«

»Wie bitte?«

»Na, ich sehe hier zum Beispiel nirgends Fässer mit Löschsand bereitstehen. Mindestens eines pro Etage ist laut kaiserlichem Dekret Pflicht. Bintus, schau doch mal kurz nach, wie es oben aussieht. Und wirf auch einen Blick in die Wohnungen, ob verbotene Holzöfen betrieben werden.«

»Jawohl Kommandant.« Bintus salutierte und wandte sich zum Gehen.

»Wartet«, hielt der Verwalter sie zurück. »Also schön, was wollt ihr wissen?«

»Wer wohnt alles im obersten Stockwerk oder hat in den vergangenen Wochen dort gewohnt?«, erkundigte sich Odrin. »Waren irgendwelche Sinturaner darunter?«

»Kann schon sein«, brummelte der Alte. »Eine Wohnung wurde ab letztem Monat von zwei Männern und einer Frau gemietet. Alles Maristaner. Könnten aus Sintura gekommen sein oder noch weiter aus dem Osten. Was weiß ich …«

»In welche Richtung ging diese Wohnung?«

»Nach Norden, mit Aussicht auf den Kaiserpalast, wieso?«

Odrin tauschte vielsagende Blicke mit Bintus.

»Wir brauchen eine Beschreibung der drei«, bat er. »So genau wie möglich.«

Der Hausverwalter zuckte hilflos mit den Schultern. »Ein Maristaner sieht doch aus wie der andere. Schwarze Haare, bei den Männern kurz, bei der Frau etwas länger, die Haut ein bisschen dunkler als unsereins. Nicht so dunkel wie bei den Neburern, eher so ein kehsetischer Teint.« Er überlegte, was ihm noch einfiel. »Die beiden Kerle haben nicht viel gesagt, aber die Kleine sprach fließend Lantisisch. Ach ja, sie hatte eine Narbe an der Oberlippe. Und eine Tätowierung auf dem rechten Arm. Von einem Insekt. So einer Art Fangschrecke glaube ich.«

»Eine Mantis?«

»Ja genau. Sind aber gestern bereits ausgezogen. Haben alles mitgenommen. Die meisten Mieter lassen ja irgendwelchen Müll zurück, die hingegen waren gründlich.«

»Du hast uns sehr geholfen«, bedankte sich Odrin und wandte sich mit Bintus zum Gehen. Über die Schulter rief er noch: »Nächste Woche stehen hier Löschfässer!«

»Was machen wir jetzt?«, wollte Bintus wissen, als sie außer Hörweite waren. »Wenn sie die Wohnung verlassen haben, wie sollen wir sie dann finden?«

»Wir wissen nun zumindest ungefähr wie sie aussehen. Wenn der Oberbefehlshaber mitspielt, können wir die Beschreibung an sämtliche Patrouillen herausgeben, die Schenken überprüfen, bei Händlern nachfragen und die Stadttore im Auge behalten. Vielleicht sind sie schon über alle Berge, aber falls nicht, haben wir womöglich Glück und sie machen einen Fehler.«

 

4

Reichshauptstadt Pandris, Provinz Lantisa

Die Garnison der Vigilanten befand sich direkt am Ufer des Equir. Früher waren hier Legionäre kaserniert gewesen, doch die waren bereits vor vielen Jahren an einen neuen Standort verlegt worden. Wo einst Soldaten geschlafen hatten, sperrte man jetzt Unruhestifter ein, bis sie vor den Richter geführt wurden. Das Gebäude war baufällig. Grundwasser drückte immer wieder in den Keller und unter dem Dach nisteten Tauben.

Nach dem letzten Großbrand hatte der Senat eigentlich beschlossen, die Vigilanten finanziell besser auszustatten, sowie den Bau eines neuen Hauptquartiers in Aussicht gestellt. Bei diesen Absichtserklärungen war es jedoch geblieben. Rund um die Uhr verrichteten Männer hier in wechselnden Schichten Dienst, richtig betriebsam wurde es aber erst in den Abendstunden, wenn sich die Ordnungshüter auf ihre nächtlichen Patrouillengänge vorbereiteten. Dann war auch der wuchtige Schreibtisch von Oberbefehlshaber Ematedes besetzt, dem Odrin nun gegenüberstand.

»Nein, nein, nein«, befand der hagere, grauhaarige Mann kopfschüttelnd und legte die Pergamentrolle, die der weißhaarige Veteran ihm überreicht hatte, auf einen Stapel gleichartiger Schriftstücke. »Wir können nicht noch mehr Zeit damit verschwenden, Gespenster zu jagen. Uns fehlen auch so schon zu viele Leute.«

»Es sind keine Gespenster«, protestierte Odrin. »Wir haben eine Personenbeschreibung. Die Patrouillen müssen nichts weiter tun, als die Augen nach drei Sinturanern offenzuhalten. Zwei Männern und einer Frau.«

»Wenn die wissen, was gut für sie ist, sind sie längst auf und davon«, war sich der alte Pykratier sicher. »Und falls nicht: Die Rote Garde ist informiert, unsere Pflicht damit erfüllt.« Er unterstrich mit einer entschiedenen Handbewegung, dass die Sache für ihn erledigt war und wechselte das Thema: »Zurzeit haben wir ganz andere Probleme: Gestern hat schon wieder jemand aufrührerische Parolen an die Westmauer des Gerichtsgebäudes geschmiert. Die dritte Nacht in Folge! Ich will, dass du dich mit deinen Männern auf die Lauer legst, und den Missetäter dingfest machst.«

Odrin starrte seinen Vorgesetzten ungläubig an. »Ich soll einen Schmierfinken verhaften?«

Ematedes nickte bekräftigend. »Wir können nicht zulassen, dass solche missratenen Individuen ungestraft die Republik zersetzen. Das hat Vorrang vor irgendwelchen Schattenwandlern.«

»Schattenläufern

»Was auch immer«, winkte der Oberbefehlshaber ab. »An die Arbeit.«

Odrin salutierte resigniert und verließ das Büro des Kommandanten. Es war sinnlos, mit ihm über Prioritäten zu diskutieren, er würde das nur als Angriff auf seine Autorität empfinden. Niedergeschlagen versammelte er seine Patrouille und machte sich auf den Weg. Es juckte ihn in den Fingern den Befehl zu missachten und auf eigene Faust weiter zu ermitteln, doch allein hätte er kaum eine Chance, die Schattenläufer aufzuspüren. Außerdem musste er an die bevorstehende Auszahlung seines Solds und an seine Tochter denken. Schwierigkeiten konnte er sich jetzt beim besten Willen nicht leisten, also legte er sich mit den Männern wie befohlen auf die Lauer.

Aus den Minuten des Wartens wurde bald eine Stunde, schließlich zwei, ohne dass etwas geschah. Die erzwungene Untätigkeit machte nicht nur ihm zu schaffen …

»Kommandant, sollten wir nicht wenigstens an der Palastmauer patrouillieren?«, fragte Bintus irgendwann frustriert.

»Ja, sollten wir«, stimmte er zu. »Aber dafür werden wir nicht bezahlt.«

Schweigsam harrten sie in der lauen Nacht aus, ohne mehr zu tun, als gelegentlich einen Weinschlauch herumgehen zu lassen. Die fernen Rufe der Eulen schienen sie zu verspotten. In einem der nahegelegenen Häuser erwachte irgendwann ein schreiender Säugling, der wenig später wieder verstummte, als seine Mutter ihn tröstete. Es waren die Geräusche der mondbeschienenen Hauptstadt, die schon so lange zu Odrins Welt gehörten, dass er längst vertraut mit ihnen war. Als sich doch mal einer der Schatten bewegte, war es bloß ein streunender Hund, der kurz in ihre Richtung schnüffelte und dann in einer Seitengasse verschwand. Wer immer das Gerichtsgebäude beschmiert, und dem Kaiser dort unzüchtigen Verkehr mit Schafen unterstellt hatte, ließ sich diese Nacht nicht blicken. Unverrichteter Dinge zogen sie am Ende ihrer Schicht ab.

Als Odrin endlich nach Hause kam, wurde es bereits langsam hell. Erleichtert stellte er fest, dass neben seinem Bett eine neue Amphore stand. Er nahm einen Schluck und legte sich hin. Der gesegnete Wein half ihm auch diesmal, all seine Probleme für den Moment zu vergessen und schnell einzuschlafen.

 

***

 

Odrins Frühstück bestand aus den trockenen Resten des Fladenbrotes vom Vortag; für mehr reichte sein Geld nicht. Wieder klopfte es an die Wohnungstür, als er zu Tisch saß.

»Ich mache auf!«, rief Sestia und eilte zur Tür.

Doch diesmal war es nicht Marcus, der sie besuchte und ihnen wie so oft eine Kleinigkeit vorbeibrachte. Zwei Soldaten, in Uniform und Schienenpanzer, traten ein. Ihre gefärbten Helmbüsche wiesen sie als Mitglieder der Roten Garde aus, sie trugen beide Kurzschwerter.

Erschrocken wich Sestia zurück und suchte den Blick ihres Vaters.

Odrin nickte ihr beruhigend zu und kaute gelassen weiter. Wenn die Männer vorgehabt hätten, ihm oder seiner Tochter Gewalt anzutun, dann wären sie nicht bloß zu zweit gekommen.

»Odrin Weißhaupt«, ergriff einer der Gardisten das Wort und trat einen Schritt vor. Sein Ton war kühl und distanziert. »Ich muss dich auffordern uns in den Palast zu begleiten. Der Kaiser wünscht deine Anwesenheit.«

Überrascht legte Odrin das angebissene Fladenbrot zur Seite.

Es hatte eine Zeit gegeben, da waren er und Kasestian beinahe wie Brüder gewesen, nicht umsonst hatte er seine Tochter nach ihm benannt. Doch das war eine Ewigkeit her. Seit er vor einem Jahrzehnt bei seinem Souverän in Ungnade gefallen war, hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Was hatte sich geändert? Was war vorgefallen?

Er ließ sich nicht anmerken, wie überrascht er war, stand in aller Ruhe auf, gürtete die Meteroreisenklinge und legte sich seinen blauen Vigilantenumhang um die Schultern.

Die Soldaten warteten schweigend.

Sestia sah immer wieder bang zwischen ihm und den Männern hin und her.

Er las die unausgesprochene Frage in ihren Augen und versprach: »Keine Sorge, ich komme bald zurück.«

Er betete zu den Göttern, dass er recht behalten würde.

 

Es war ein weiterer warmer Sommertag und die Straßen der Hauptstadt platzten wie üblich vor Menschen. Die Gardisten gingen voraus und bahnten sich rücksichtslos einen Weg durch die Menge. Lautstark verscheuchten sie Bettler und Straßenkünstler, die auf ein paar Kupferasse von den Passanten hofften. Wer nicht rechtzeitig Platz machte, musste damit rechnen, einen Knüppel in den Nacken zu bekommen.

Als sie sich dem Palast näherten, bemerkte Odrin, dass mehr Wachen als üblich auf den Wehrgängen patrouillierten. Hatte sich der hochnäsige Kommandant der Garde eines Besseren besonnen und seinen Rat angenommen? Oder hatte er das nicht getan und war seine Dummheit von den Schattenläufern ausgenutzt worden? Odrin war bereit, den Stumpf seiner Meteoreisenklinge auf Letzteres zu verwetten.

Seine Eskorte führte ihn durch das offenstehende Tor und den weitläufigen Hof, direkt hinein ins innerste Herz des Pandrischen Reiches. Der Palast war aus feinstem weißen Marmor errichtet, kunstvolle Mosaike zierten Boden und Wände. Sie zeigten Jagdszenen oder Motive aus der Mythologie, zum Beispiel wie die Brüder Pandrus und Perus, der Sage nach die Gründer der Stadt, von einer Priesterin mit Dreizack einen Kelch Wasser aus der heiligen Quelle empfingen. An jeder Ecke war ein Gardist postiert, zwischen ihnen eilten Sklaven hin und her, die beflissen ihrem Tagwerk nachgingen.

Durch eine zweiflüglige Tür betraten die Gardisten mit Odrin schließlich den Thronsaal. Sie blieben am Eingang stehen, während Odrin über einen roten Teppich zur Mitte des Raumes schritt.

Kasestian saß auf seinem Thron, einem wuchtigen Stuhl aus Elfenbein und Ebenholz, der auf einem Podest stand. Dahinter hing das rote Greifenbanner der Republik von der Decke. Ein goldener Lorbeerkranz krönte das Haupt des Regenten, sein mürrischer Gesichtsausdruck verriet, dass er bei schlechter Laune war. Zu seinen Füßen knieten Ematedes und Mechnon, der Kommandant der Roten Garde, der sich selbst Knochenbrecher nannte. Den Kontrast zwischen dem hageren Pykratier und der muskelbepackten Kehseten hätte Odrin zu jeder anderen Zeit sicher amüsant gefunden. Jetzt aber trat er auf alles gefast zwischen sie und sank ebenfalls auf die Knie.

Einen Moment lang verharrten sie alle in Schweigen.

»Odrin Weißhaupt«, begann der Kaiser. Seine tiefe Stimme donnerte regelrecht durch den Thronsaal. »Vor vielen Jahren entließ ich dich aus meinen Diensten, enthob dich deiner Ämter, entzog dir sämtliche Titel. Und doch hat es den Anschein, als seist du der Einzige in diesem Raum, der meine Sicherheit und die der Pandrischen Republik ernst nimmt!«

Die beiden Männer rechts und links von Odrin zuckten zusammen.

»Erhebe dich!«

Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass Odrin seinem Herrscher von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Kasestian war ein paar Jahre älter als er, sein Haar färbte sich allmählich grau. Dennoch bot er eine eindrucksvolle Erscheinung: breitschultrig, mit geradem Rücken und einem gepflegten Vollbart um das vorstehende Kinn.

»Ist es wahr«, fragte der Kaiser, »dass du einen Einbruch in meinen Palast vereitelt und meinen Primus«, er deutete auf Mechnon, »vor einem weiteren gewarnt hast?«

Odrin hielt dem strengen Blick seines Souveräns stand und wählte seine Worte mit Bedacht: »Ich wies den Kommandanten der Garde darauf hin, dass diese Möglichkeit bestehen könnte. Hat sich mein Verdacht bewahrheitet?«

»Allerdings«, grollte Kasestian. »Unbekannte drangen gestern Nacht hier ein, stahlen aus meiner Schatzkammer und entkamen unbemerkt. Fünf Wachen sind tot. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Die Leichen wurden erst heute Morgen gefunden. Und nun erfahre ich, dass die Vigilanten bereits wissen, wer für diese Tat verantwortlich ist.«

»Wir haben eine Spur«, bestätigte Odrin. »Leider haben wir versäumt, sie mit dem nötigen Nachdruck zu verfolgen.«

»Du brauchst diesen Jammerlappen zu meinen Füßen nicht in Schutz zu nehmen, Weißhaupt.« Kasestian machte eine verächtliche Geste in Ematedes’ Richtung. »Ich weiß, was in dieser Stadt vorgeht. Der Senat hat ihn ernannt, weil er brav und folgsam ist. Aber ich brauche keinen dressierten Hund. Ich brauche jemanden, der fähig ist. Ergreife die Schattenläufer, oder um wen auch immer es sich handelt, und bring mir zurück, was mir gehört. Ematedes wird dir jede Unterstützung gewähren, die du brauchst.«

»Sie haben etliche Stunden Vorsprung«, gab Odrin zu bedenken. »Wenn ich sie schnappen soll, muss ich als Erstes wissen, was sie gestohlen haben.«

Kasestian nickte abwägend, erhob sich schließlich vom Thron und raffte seine Toga. »Begleite mich«, forderte er ihn auf. »Ihr anderen geht mir aus den Augen.«

Sein früherer Freund führte Odrin durch eine Seitentür. Zwei Gardisten verließen stumm ihren Posten und folgten ihnen in respektvollem Abstand.

»Du trägst immer noch mein Geschenk«, stellte der Kaiser mit einem Blick auf die Meteoreisenklinge an Odrins Seite fest. »Gibt es in der Waffenkammer der Vigilanten keine unbeschädigten Schwerter?«

»Sie erfüllt ihren Zweck. Außerdem erinnert sie mich daran, dass nichts ewig währt.«

»Es heißt, eine Klinge gleiche immer ihrem Träger«, gab Kasestian ein altes Sprichwort wieder. »Vielleicht ist da etwas dran.«

Sie kamen an eine Tür, vor der zwei weitere Wachen postiert waren. Auf einen Wink des Kaisers hin, öffnete einer der Männer sie mit einem Schlüssel. Dort, wo die Soldaten standen, bemerkte Odrin dunkle Flecken in den Fugen zwischen den Marmorplatten. Reste von Blut?

Sie betraten den Trophäenraum, der Odrin von früher vertraut war. Die wichtigsten Beutestücke aus vergangenen Kriegen wurden hier aufbewahrt. Manche von hohem materiellem, die meisten aber vor allem von ideellem Wert: heilige Objekte unterworfener Völker, Kronen besiegter Herrscher, Ikonen eroberter Nationen. Sie stammten aus annähernd dreihundert Jahren pandrischer Expansionspolitik. Die meisten davon waren während des Bürgerkriegs in Kasestians Besitz übergegangen und hatten vorher seinen Rivalen gehört. Vergitterte Oberlichter erhellten die illustre Kollektion. Da der Stern des Vimas, ein faustgroßer Smaragd von unschätzbarem Wert, noch auf seinem Podest ruhte, schloss Odrin, dass es den Dieben nicht um Geld gegangen sein konnte.

Der Kaiser ging zu einer leeren Wandhalterung, die aussah, als habe sich dort eine mittelgroße Waffe befunden. »Das ist der einzige Gegenstand, den sie mitgenommen haben. Das Schwert mit dem Namen Sturmzorn. Du weißt, was es damit auf sich hat, nehme ich an?«

Odrin berührte mit der linken Hand unwillkürlich seinen rechten Oberarm, dort wo sich eine Narbe quer über seinen Bizeps zog. Oh ja, er kannte diese Waffe gut: ein maristanisches Krummschwert, sanft geschwungen, einseitig geschliffen und scharf genug, ein herabfallendes Blatt zu spalten, wenn man die Schneide nach oben hielt. Dicht über dem Heft war eine geflügelte Schlange in die Klinge graviert. Der Legende nach, war es von den Göttern selbst geschmiedet worden und ein mächtiger Luftgeist hauste darin.

Stumm nickte er.

»Dann weißt du auch, was es für die Sinturaner bedeutet. Die Provinz ist noch immer unruhig, separatistisches Denken ist weit verbreitet in der Bevölkerung. Sturmzorn ist ein machtvolles Symbol ihrer Unabhängigkeit. In den falschen Händen könnte es eine Rebellion entfachen.« Kasestian ließ seine Worte wirken, bevor er fortfuhr: »Nur eine Handvoll Personen weiß, was genau gestohlen wurde und das soll auch so bleiben. Meine Feinde im Senat wetzen bereits ihre Messer, deshalb müssen die Diebe so schnell wie möglich zur Strecke gebracht werden.«

Odrin senkte ergeben das schneeweiße Haupt. Kasestian mochte nicht der Kaiser geworden sein, den er sich erhofft hatte, aber es war seine Pflicht als Vigilant, die Republik zu schützen, wer auch immer sie regierte. Diese Pflicht würde er erfüllen. Er war ohnehin nicht in der Position sich dem Willen des Regenten zu widersetzen. Das hatte sich schon einmal als folgenschwerer Fehler erwiesen.

»Ich diene der Republik«, erklärte er sich einverstanden.

 

Ausgestattet mit der Autorität des Kaisers, ließ Odrin sämtliche Vigilanten zum Dienst antreten, die auffindbar waren, teilte sie Gruppen ein und wies ihnen ihre Aufgaben zu. Bis zum Nachmittag gelang es ihm, alle losen Enden des Falls zu verknüpfen. Sie fanden den Gastwirt, der den Schattenläufern Unterschlupf gewährt hatte, nachdem sie aus ihrer gemieteten Wohnung verschwunden waren, aber unplanmäßig eine Nacht länger in Pandris hatten verweilen müssen. Sie trieben auch den Sklaven auf, der ihnen Details über den inneren Aufbau des Palastes verraten hatte. Obendrein erhielten sie genauere Personenbeschreibungen, diesmal auch von den beiden Männern. Und schließlich erfuhren sie von einem Obdachlosen, der sich am Hafen herumtrieb, dass die Gesuchten die Stadt schon vor Tagesanbruch per Boot verlassen hatten.

Die Diebe waren also bereits auf und davon gewesen, bevor man ihn hinzugezogen hatte. Damit hatte er zwar gerechnet, dennoch ließ sich schwer abschätzen, wie Kasestian darauf reagieren würde.

Der Regent des pandrischen Reiches empfing ihn diesmal nicht im Thronsaal, sondern in einem Salon, der zur Westseite hin offen war und auf eine Veranda mündete. Mit ausgebreiteten Armen stand er in der Mitte des Raumes, während zwei Sklaven ihm einen Brustpanzer anlegten. Die Front bestand aus einer massiven Metallplatte mit nachgebildeten Bauchmuskeln, ein starres und – wie Odrin fand – eher unpraktisches Rüstungsstück.

»Passt wie angegossen«, äußerte sich Kasestian indes zufrieden. Das Lob galt einem dürren, älteren Mann mit kahlgeschorenem Schädel und Adlernase, der bei ihm stand. Seine dunkelblaue mit einem Pentagramm bestickte Robe wies ihn als Magus der Alchemistengilde aus.

»Sie besteht vollständig aus dem Eisen des Schakrat-Meteoriten«, erläuterte der Angesprochene. »Leicht wie Luft, hart wie Granit. Ihr werdet auf dem Schlachtfeld unverwundbar sein, Eure Hoheit.«

Odrin fiel vor seinem Kaiser auf die Knie. »Mein Gebieter«, erbat er seine Grüße und wartete darauf, zum Sprechen aufgefordert zu werden.

»Lasst uns für einen Moment alleine, Nerus«, schickte Kasestian ihn fort. »Ich lasse später nach dir rufen.«

Der Magus verbeugte sich ehrerbietig und verließ mit den Sklaven den Raum.

»Erhebe dich, Weißhaupt, und berichte«, forderte Kasestian ihn auf, als sie allein waren. Wahrheitsgetreu setzte Odrin ihn über das Ergebnis seiner Ermittlungen ins Bild. Der Kaiser wirkte nicht glücklich, nahm die schlechte Nachricht, dass die Diebe entkommen waren, jedoch gefasst auf.

Er trat ein paar Schritte auf die Veranda hinaus; Odrin folgte ihm in gemessenem Abstand.

»Wenn das so ist«, entschied Kasestian, »muss ich dich um einen weiteren Gefallen bitten. Du musst wissen, ich habe dich damals nicht gerne verstoßen. Du warst mein fähigster General, mein zuverlässigster Kampfgefährte, mein treuster Freund. Die Missachtung meines Befehls hätte ich dir verziehen. Schließlich war dein Feldzug wie immer von Erfolg gekrönt. Dass du dich aber offen gegen mich gestellt hast, konnte ich nicht tolerieren. Ein Kaiser darf vieles sein, aber niemals schwach! Ich herrsche nicht durch Geburtsrecht, sondern weil ich meine Autorität stets aufs Neue vor den mächtigen Familien, dem Senat, der Armee und nicht zuletzt dem pandrischen Volk behauptet habe. Opposition aus den eigenen Reihen würden sie als Schwäche auslegen. Und verdankte ich dir nicht mein Leben, wäre deine Strafe noch härter ausgefallen.«

»Mein Kaiser ist zu gütig«, antwortete Odrin, streng darauf achtend, nicht sarkastisch zu klingen.

Kasestian fuhr ungerührt fort: »Sollte Sintura wirklich aufbegehren, wegen eines Schwertes, das aus meinem persönlichen Besitz, direkt unter meinen Augen, gestohlen wurde, wäre das eine Katastrophe. Du kennst die Provinz wie kein Zweiter. Du weißt, wie diese Schattenläufer aussehen, wie sie arbeiten, und du hast dich als fähiger erwiesen, als all die anderen Narren, deren Pflicht es gewesen wäre, dieses Ärgernis zu verhindern. Finde die Diebe, jage sie bis in den hintersten Winkel Sinturas, wenn es sein muss, und bring mir Sturmzorn zurück. Zum Dank werde ich dich erneut zu meinem Primus ernennen.«

Odrin atmete geräuschvoll ein und aus, als er das Gehörte verarbeitete. »Primus?«, fragte er schließlich. »Was ist mit Mechnon Knochenbrecher?«

»Seine Inkompetenz hat die Löwen der Arena um eine Mahlzeit gebracht«, antwortete Kasestian kühl. »Nun wird er dafür aufkommen müssen.«

Odrin verstand. Er nahm sich einen Moment Zeit, um über das Angebot nachzudenken. Schattenläufer waren Meister darin unterzutauchen. Sie hatten genug Vorsprung, den Equir hinunter zu fahren und auf ein seetaugliches Schiff umzusteigen, bevor er sie einholte. Es ließ sich wohl nicht verhindern, dass sie Sintura erreichten und dort wären sie auf heimischem Boden. Zudem erschien ihm seine alte Stellung keineswegs so verlockend, wie Kasestian vielleicht glaubte. Er hatte aus gewichtigen Gründen mit seinem Kaiser gebrochen und diese bestanden fort. Dann jedoch dachte er an Sestia und das Leben, das sie sich wünschte: Ein Leben, in dem es ihr an nichts mangelte, in dem sie respektiert wurde und nicht länger die Tochter eines Ausgestoßenen war …

Die Entscheidung war gefallen. Er würde es tun. Er würde die legendäre Waffe nach Pandris zurückbringen – koste es, was es wolle.

»Wann breche ich auf?«, fragte er. »Und wie viele Männer bekomme ich?«

»Gleich morgen«, antwortete Kasestian. »Und du wirst allein reisen. Niemand darf von dieser Mission erfahren und davon, dass ich dich damit beauftrage. Meine Feinde haben ihre Augen und Ohren überall, selbst innerhalb der Roten Garde. Und die wenigen Menschen, denen ich vertraue, brauche ich hier an meinem Hof. Du erhältst ein versiegeltes Schreiben, das dich als meinen Sondergesandten ausweist und genug Gold, um alle Unkosten zu decken. Der Präfekt von Sintura wird dir vor Ort alles zur Verfügung stellen, was du benötigst.«

Odrin sah dem Regenten fest in die Augen. »Ich kann dort drüben ebenfalls niemandem trauen«, gab er zu bedenken. »Ich werde meinen zuverlässigsten Mann mitnehmen, damit er mir den Rücken deckt.«

»Einen Vigilanten?«

Odrin nickte und hielt dem Blick des Kaisers weiter stand.

»Dann sei es so«, gestand Kasestian ihm zu. »Falls er sich beweist, soll er erhalten, was immer er begehrt. Aber weihe ihn erst in die Details eurer Unternehmung ein, wenn ihr auf See seid.«

Odrin verbeugte sich und verließ wenig später mit einer versiegelten Pergamentrolle in der einen und einem Beutel Golddenare in der anderen Hand den Kaiserpalast. Die Sonne stand bereits tief und er hatte noch einiges zu regeln, bevor der Tag endete.

 

***

 

Zu Hause fiel ihm sofort seine Tochter um den Hals, als er über die Schwelle trat.

»Ich hatte solche Angst«, schluchzte sie. »Du warst so lange weg …«

»Es ist alles gut«, versicherte er und streichelte ihr beruhigend durch die roten Locken. »Aber ich muss für ein paar Monate verreisen.«

Da er ihr nicht verraten durfte, was die genauen Gründe waren, blieb er im Ungefähren und erzählte ihr nur, dass er sich im Auftrag des Kaisers nach Sintura begeben würde.

»Wenn ich zurückkehre«, schloss er, »macht er mich erneut zu seinem Primus und alles wird wieder sein wie früher.«

Sestias Miene hellte sich auf, nahm aber gleich darauf einen besorgten Ausdruck an. »Was, wenn du nicht zurückkehrst? Was immer du tust, ist doch bestimmt gefährlich …«

»Mach dir keine Sorgen«, redet er ihr zu. »Du wirst solange bei Marcus wohnen. Sollte mir etwas zustoßen oder ich bis Jahresende nicht wieder in Pandris sein, so hast du meine Erlaubnis Aquina-Priesterin zu werden. Ich rede mit deiner Tante, bevor ich aufbreche.«

Seine Tochter drückte sich noch fester an ihn. »Bitte, bitte«, flehte sie, »pass auf dich auf.«

 

Als Nächstes besuchte er Marcus, um ihn zu bitten, Sestia für die Dauer seiner Abwesenheit bei sich aufzunehmen. Wie erwartet hatte sein alter Freund nichts dagegen.

»Sie wird aber kein Gladiator!«, warnte Odrin ihn im Gehen.

»Bestimmt nicht«, versicherte der Hüne, »ich hüte sie wie meinen Augapfel.«

 

Anschließend begab sich Odrin zum Aquina-Tempel, um Velenis zu sprechen. Für die fantasievollen Wasserspiele und kunstfertig angelegten Parkanlagen hatte er heute kein Auge. Er übergab der Hohepriesterin einen Brief, in dem er sein Einverständnis erklärte, Sestia zur Priesterin ausbilden zu lassen, sollte er bis zum Jahreswechsel nicht zurückgekehrt sein und seine Entscheidung widerrufen.

Velenis, nun in ihre zeremonielle weiße Robe gekleidet, nahm diesen Entschluss mit einigem Interesse zur Kenntnis. Ihr gegenüber achtete er ganz besonders darauf, keine Einzelheiten preiszugeben, und sie bohrte auch nicht weiter nach. So gut vernetzt wie sie war, ahnte sie entweder schon, was vor sich ging, oder würde es bald auf anderem Weg herausfinden, da war er sich sicher. Was sie mit dem Wissen am Ende anfangen würde, war schwer zu sagen. Ihr Verhältnis zum Kaiser war das einer gegenseitigen Abhängigkeit, die bisher beiden Seiten zum Vorteil gereicht hatte. Sie verlieh ihm durch ihren jährlichen Segen Legitimation, er verschaffte ihr politisches Gewicht.

Als Odrin den Tempel verließ und ins Freie trat, hatte sich der Himmel bereits orange gefärbt, und die Sonne schickte sich an, hinter dem Horizont zu versinken. Heiligtümer der fünf großen und der meisten kleineren Götter standen im Tempelbezirk. Ihm wurde bewusst, dass er ihnen lange nichts mehr geopfert hatte. Nicht, dass er in den vergangenen Jahren den Wunsch verspürt hatte, doch jetzt war womöglich der richtige Zeitpunkt gekommen.

Neben Aquina, die aufgrund der heiligen Quelle als Schutzgöttin der Stadt Pandris galt, genoss auch Belrefan, der Gott des Feuers und des Krieges hohes Ansehen bei den Pandriern. Sein Haus war ein großes, aber vergleichsweise schlichtes Ziegelbauwerk am Fuß des Hügels, auf dem der Aquina-Tempel stand. Unbewusst hatten ihn seine Schritte hierhergeführt. Früher, als er noch bei der Armee gewesen war, hatte er häufig um die Gunst des wankelmütigen Gottes gebeten. Langsam schritt er durch das Zwielicht zu einem der großen Kohlebecken, die für Brandopfer bestimmt waren und starrte gedankenverloren in die Glut. Belrefan war nicht nur der Kriegsgott, sondern auch der Gott der Neuanfänge. Entschlossen zog Odrin seinen Vigilantenumhang aus, knüllte ihn zusammen und warf ihn in die Flammen.

Während er zusah, wie der Stoff Feuer fing, spürte er etwas in sich erwachen, so als wären seine Schultern mit dem blauen Tuch von einer großen Last befreit. Er hatte nie geklagt über sein Dasein als Vigilant, doch langsam, Stück für Stück, Tag um Tag, hatte es ihn niedergedrückt. Welches Ende sein Auftrag auch nehmen mochte, dieser Lebensabschnitt war vorbei und würde nicht wiederkehren.

Nur eine Sache blieb noch zu tun, bevor es morgen losging …

 

Dieses Mal war Bintus nur mäßig erstaunt, als Odrin an seine Tür klopfte. »Lust auf einen weiteren Spezialauftrag?«, fragte er den Rekruten.

»Ich dachte, wir hätten alle Spuren ausgewertet, Kommandant. Geht es wieder darum, einen Zeugen zu befragen?«

»Nein, diesmal wird es ungleich gefährlicher, allerdings auch ungleich lohnender. Warst du je in Sintura?«

»Noch nie«, antwortete Bintus, der sofort begriff, worauf die Frage zielte. »Ich wollte aber schon immer mal dort hin.«

 

5

Unterschlupf der Schattenläufer, Provinz Sintura

Wie angewurzelt blieb Ilea stehen, als sie das Dojo betrat. Sie hatte von außen gehört, dass jemand hier drinnen trainierte, sie hatte bloß nicht damit gerechnet, dass es Marek persönlich war. Fasziniert beobachtete sie, wie er mit geschmeidigen Bewegungen Schläge, Tritte und Ellenbogenstöße gegen eine lebensgroße Holzpuppe ausführte. Die Bodendielen knarrten unter seinen federnden Schritten. Schnell und kraftvoll zugleich mutete seine Technik an. Sein Oberkörper war nackt. Schweißperlen standen auf perfekt ausgebildeten Muskeln.

Ilea konnte den Blick einfach nicht abwenden. Still stand sie in der Tür, wollte ihre Anwesenheit auf keinen Fall preisgeben, um seine Darbietung nicht vorzeitig zu stören.

Mareks Routine schien sich ihrem Höhepunkt zu nähern. Immer heftiger wurden seine Angriffe; es hätte sie nicht überrascht, wären Splitter geflogen. Schließlich wirbelte der Anführer der Schattenläufer herum und trat aus der Drehung gegen einen aufgehängten Sandsack, den es glatt aus seiner Halterung riss. Ilea sog vernehmlich die Luft ein und hielt sich sogleich erschrocken die Hand vor den Mund.

»Tritt ein«, forderte Marek sie auf, ohne sich zu ihr umzudrehen. Zufrieden wischte er sich den Schweiß von der Stirn und lockerte seine strapazierten Glieder. »Das Dojo steht allen offen.«

Obwohl er sich gerade verausgabt hatte, klang seine Stimme tief und fest. Ihre eigene hingegen überschlug sich fast, als sie antwortete: »Ich … Ich bin eben erst gekommen.«

Bei den Göttern, Marek hatte sie beim Gaffen erwischt! Was würde er jetzt bloß von ihr denken?

Grinsend schlenderte er auf sie zu und sah sie dabei direkt an. Sein schwarzes Haar wippte. Seine dunklen geheimnisvollen Augen waren wie tiefe Seen; man konnte sich regelrecht darin verlieren. Als er vor ihr stehen blieb, spürte sie, wie ihre Knie weich wurden. Die Tätowierung auf seiner Brust, ein springender Tiger, hob und senkte sich mit seinen Atemzügen. Viele Schattenläufer schmückten ihre Körper mit der Abbildung eines Tieres, das ihren bevorzugten Kampfstil repräsentierte. Keines hätte besser zu Marek gepasst, als diese gefährliche Raubkatze.

»Du kommst genau rechtzeitig«, meinte er. »Ich will sehen, was du gelernt hast.«

Er wollte ihr beim Training zusehen? Ilea schluckte. Was, wenn er sie nicht für gut genug befand? Sie zwang sich zur Ruhe. Es gab keinen Grund nervös zu sein. Die Daodin hatten sie gut ausgebildet, sie in waffenlosen Kampftechniken unterwiesen und ihr beigebracht, ihr Prana zu nutzen, um ihre Bewegungen zu verstärken. Ein Jahr war sie nun schon bei den Schattenläufern und erlernte das Schleichen, das Klettern und den Umgang mit den vielfältigen Waffen dieser im Verborgenen agierenden Kampftruppe. Marek hielt große Stücke auf sie, das wusste Ilea. Sie würde ihn nicht enttäuschen!

Barfuß begab sie sich in die Mitte der rechteckigen Übungshalle. Die Längsseiten bestanden aus verschiebbaren Wandpaneelen, die mit dünnem, durchscheinendem Stoff bespannt waren. Obwohl es keine richtigen Fenster gab, fiel auf diese Weise eine Menge diffuses Licht ein. An der Stirnseite des Dojos befand sich ein Schrein, vor dem sie sich kurz verneigte. Er war Norkatu, dem pantherköpfigen Gott der Nacht gewidmet, unter dessen schützendem Mantel die Schattenläufer meist operierten. Eine zweite Verbeugung vollführte sie in Mareks Richtung.

Ilea begann mit einer Reihe von langsamen Übungen, um ihre Glieder zu dehnen. Es mutete wie eine Mischung aus Tanz- und Kampfbewegungen an, die fließend ineinander übergingen. Ihre Hose war an Knien und Knöcheln abgebunden und bescherte ihr so zusammen mit ihrer ärmellosen Tunika größtmögliche Bewegungsfreiheit. Ihr langes weißes Haar hatte sie zu zwei Ohrschnecken geflochten, damit es sie nicht behinderte. Während sie die Figuren zeigte, die sie bei den Mönchen gelernt hatte, konzentrierte sie sich auf ihre Atmung und sammelte ihr Prana. Sie spürte, wie die Energie aus ihrer Mitte durch den gesamten Körper bis in ihre Finger- und Zehenspitzen floss.

Mit neu gefundener Ruhe und Balance ging sie zu den Übungspuppen hinüber. Es waren runde Holzstämme, aus denen in unterschiedlicher Höhe kleinere Stäbe herausragten, die Arme und Beine eines imaginären Kontrahenten darstellten. Dazu hingen einige Säcke von der Decke, die mit Sand, Kies oder Schrot gefüllt waren. Sie arrangierte sie im Kreis um sich herum und blickte noch einmal zu Marek. Er beobachtete sie interessiert und nickte ihr aufmunternd zu.

Jetzt galt es – sie musste ihn beeindrucken! Einen schrillen Kampfschrei ausstoßend griff Ilea an. In schneller Folge ließ sie Schläge und Tritte auf ihre unbeweglichen Gegner niederprasseln. Das jahrelange Training im Kloster der Daodin hatte ihre Handkanten, Knöchel und Schienbeine gestählt, sodass sie kaum etwas spürte. Sie wirbelte herum, trat im Sprung gegen einen der Säcke und stieß sich ab. Noch in der Luft traf sie einen zweiten, fing ihren Sturz mit einer Rolle, sprang wieder auf und deckte die Holzpuppen, eine nach der anderen, mit einer Kaskade von Hieben ein.

Zufrieden trat sie aus dem selbsterrichteten Kreis und verbeugte sich abermals in Richtung ihres Anführers.

Der nickte ihr zu. »Nicht übel. Elegante Technik. Wie ein weißer Kranich.«

Ihre Brust schwoll vor Stolz. Er hatte sie gelobt!

»Darf ich morgen mitkommen?«, platzte es aus ihr heraus. »Ich weiß, dass du einen Überfall planst.« Gespannt warte sie auf seine Antwort. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als endlich in den Kampf zu ziehen, und nun wagte sie es endlich zu fragen.

Marek wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Du bist sehr wichtig für uns«, gab er zu bedenken. »Dein Vater war der letzte Windrufer Sinturas. Du könntest zu einem Symbol des Widerstands werden und das ganze Land hinter dir versammeln. Wir sollten warten, bis Yaki von ihrer Mission zurückkehrt und …«

»Ich bin bereit«, insistierte sie. »Ich will Pandrier töten!« Sie biss sich auf die Lippe, als ihr bewusst wurde, dass sie ihrem Meister ins Wort gefallen war.

Der Anflug eines amüsierten Grinsens umspielte Mareks Mundwinkel. »Dann lass uns sehen, wie du dich in einem wirklichen Kampf schlägst«, antwortete er und schlenderte zur Rückwand des Dojos. Dort löste er zwei Kintawas aus ihren Wandhalterungen, maristanische Krummschwerter mit schlanken, eleganten Klingen, einseitig geschärft und absolut tödlich in den richtigen Händen.

Als der Anführer der Schattenläufer ihr eine davon zuwarf, gelang es ihr nur gerade so, sie zu fangen und sich nicht komplett lächerlich zu machen. Erst als sie mit der Waffe in der Hand dastand, begriff sie, was ihr bevorstand: Sie würde gegen Marek kämpfen! Mit scharfen Klingen!

Sie hatte den Gedanken kaum gefasst, da griff er auch schon an! Stahl klirrte auf Stahl. Instinktiv riss sie das Schwert hoch und sprang gleichzeitig ein paar Schritte zurück.

»Ich war noch nicht so weit!«, beschwerte sie sich.

Marek grinste spöttisch. »Denkst du, ein pandrischer Legionär wartet, bis du das Zeichen gibst?«

»Nein aber …«

»Was habe ich dir beigebracht?«, fiel er ihr ins Wort. »Ein Schattenläufer kämpft niemals fair und verlässt sich nicht darauf, dass andere das tun.«

Schon startete er einen neuen Ausfall. Diesmal sah Ilea ihn kommen, machte einen Schritt zur Seite, hob ihr Schwert und ließ seine Klinge daran abgleiten. Unvermittelt traf Mareks Ellenbogen sie an die Schläfe. Benommen taumelte sie zurück. Das Prana, das sie während ihrer Übung angesammelt hatte, begann sich zu verflüchtigen. Schützend hob sie die Hand und versuchte die Sternchen vor den Augen wegzublinzeln. Zu spät: Seine Klinge sauste auf sie nieder! Mit einer verzweifelten Hechtrolle brachte sie sich in Sicherheit.

»Ich dachte, das wird ein Schwertkampf!«, rief sie empört und sprang wieder auf die Füße.

»Glaubst du, ein pandrischer Legionär würde sich dir gegenüber zurückhalten?«

Wütend fletschte Ilea die Zähne und ging ihrerseits zum Angriff über. Anführer oder nicht, sie würde ihm sein verdammtes Grinsen aus dem Gesicht prügeln! Doch Marek war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer und sie trainierte erst seit einem knappen Jahr mit dieser Waffe. Zwar trieb ihr ungestümer Ausfall ihn ein paar Schritte zurück, ihre Hiebe jedoch parierte er ohne große Mühe. Es war an der Zeit, ihn seine eigene Medizin schmecken zu lassen.

Sie führte einen schnellen Tritt gegen sein Knie aus. Ehe sie begriff, wie ihr geschah, fing er ihr gestecktes Bein mit dem freien Arm und trat ihr das andere weg. Sie landete hart auf dem Rücken und er direkt auf ihr. Während Ileas Schwertarm zwischen ihnen eingeklemmt war, spürte sie die Schneide seiner Klinge kalt an ihrem Hals. Sofort stellte sie jede Gegenwehr ein.

Einen Moment lagen sie einfach so da, keiner sprach ein Wort. Sie roch seinen Schweiß, fühlte die Wärme seines Körpers. Genau wie der Tiger auf seiner Brust hatte er etwas Animalisches an sich, das sie faszinierte, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Damals im Kloster, als er für bewaffneten Widerstand gegen die Besatzer geworben, und Meister Gisatra ihn fortgeschickt hatte. Es war die Aura der Gefahr, die ihn umgab, die sie magisch anzog.

Unwillkürlich hatten sich ihre Lippen einen Spalt weit geöffnet, ihre freie Hand berührte sanft seine nackte Brust …

»Ein guter Kampf«, durchbrach Marek die Stille. »Aber ich fürchte, du bist noch nicht so weit. Wenn Yaki zurück ist …«

Verärgert zog Ilea die Augenbrauen zusammen. Wie konnte er diesen Moment einfach so zerstören? Sie atmete tief ein und kanalisierte ihr gesamtes verbliebenes Prana in ihre freie Hand. Mit einer kraftvollen Bewegung stieß sie ihn von sich, sodass er meterweit durch die Luft geschleudert wurde. Trotz seiner Überraschung fing Marek sich geschickt und nickte zufrieden, während Ilea sich mühsam aufrappelte.

»Warum nicht gleich so?«, wollte er wissen. »In dir steckt mehr. Was immer dich hemmt, du musst dich davon befreien. Sei dir deiner Stärke bewusst. Überwältige den Feind, bevor er Gelegenheit hat sich zu wehren. Sei gnadenlos!«

»Den Pandriern gegenüber werde ich mich nicht zurückhalten«, versprach sie mit beschämt gesenktem Blick. Sie musste sich zusammenreißen, um vor Enttäuschung keine Tränen zu vergießen. Schattenläufer weinten nicht.

»Das werden wir sehen. Morgen in aller Frühe geht es los. Schlaf dich bis dahin aus.«

Ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer – sie durfte mit!

 

Beschwingt verließ Ilea das Dojo. Der anhaltende Regen der letzten Tage war einem blauen Himmel gewichen. Die Salbäume rund um das aufgegebene Dorf, das ihnen als Unterschlupf diente, standen in sattem Grün. Nach zwölf Monaten harter Ausbildung gab Marek ihr endlich eine Chance. Sie würde ihn nicht enttäuschen! Die gute Neuigkeit musste sie unbedingt ihrem besten Freund erzählen.

Sie fand Lafo auf dem Dach einer reparaturbedürftigen Holzhütte, wo er gerade neue Ziegel anbrachte. Als sie vor einem Jahr die Entscheidung getroffen hatte, das Kloster zu verlassen, hatte er zunächst versucht es ihr auszureden. Einige Tage später jedoch hatte er seine Meinung überraschend geändert und sich ebenfalls den Schattenläufern angeschlossen. Sie war froh, ihn weiter um sich zu haben. Die meisten Kämpfer aus dem Clan der Mondklingen, wie ihre kleine Schar sich nannte, waren ernst und verschlossen. Mit Lafo konnte sie wenigstens gelegentlich herumalbern.

Ihrem Freund aus Kindertagen war allerdings nicht zum Lachen zumute, als sie ihm erzählte, dass Marek sie morgen mitnehmen würde. Im Gegenteil.

»Ist das wirklich nötig? Du bist erst Siebzehn, das ist ziemlich jung, um in den Kampf zu ziehen.«

Ilea funkelte ihn böse an. »Yaki ist auch nicht älter als ich und sie hat Marek schon oft begleitet!«

»Yaki ist eben auch Yaki«, entgegnete Lafo lapidar. »Sie ist bei den Schattenläufern, seit sie ein kleines Mädchen ist, und hat vorher allein auf der Straße überlebt. Wahrscheinlich konnte sie sich anschleichen, bevor sie laufen gelernt hat.«

»Ich bin genauso gut wie sie!«, empörte sich Ilea, obwohl sie wusste, dass das nicht ganz stimmte.

Yakinascha, wie ihr voller Name lautete, war vor Wochen auf eine höchstgefährliche Mission aufgebrochen, die sie direkt in die Hauptstadt des Feindes geführt hatte. Gerne wäre Ilea an ihrer Stelle gegangen, doch Marek hatte anders entschieden. Natürlich hatte sie das geärgert, aber wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Yaki am besten geeignet war. Niemand bewegte sich durch die Schatten, wie sie es tat. Es war auch nicht so, dass sie ihr die Ehre nicht gönnte. Sie war die einzige andere Frau unter Mareks Leuten und ihr immer eine gute Freundin gewesen. Ilea hatte viel von ihr gelernt. Dennoch dürstete sie danach, selbst den Kampf aufzunehmen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752120387
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (November)
Schlagworte
East meets West Schwert und Magie Römer Antike Schwertkampf Abenteuer Asiatische Fantasy Fantasy Heroic Fantasy Ninjas Episch High Fantasy Historisch Roman

Autor

  • Patrick Arbogast (Autor:in)

Patrick Arbogast studierte eigentlich Biologie und schrieb eine Zeit lang hauptberuflich PR-Texte, war aber auch schon freiberuflich für die Lokalzeitung unterwegs. Seine erste selbstveröffentlichte Romanreihe, die dreiteilige Torwelt-Saga, verwebt bekannte Fantasy- und Science-Fiction-Elemente zu einer spannenden Abenteuergeschichte. Sein neuestes Projekt »Die Pandrischen Chroniken« entführt die Leser in eine römisch angehauchte Welt voller Schwertkämpfe und Mystik.
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Titel: Sturmzorn