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Der Franke - Ewig in Stein

von Klaus Haidukiewitz (Autor:in)
352 Seiten
Reihe: Der Franke, Band 1

Zusammenfassung

Jerusalem 1118. Zwanzig Jahre sind seit dem ersten Kreuzzug und der blutigen Eroberung Jerusalems vergangen. Jesco von Hohengreif, geboren im Heiligen Land und Nachkomme eines fränkischen Ritters, wächst als Waise in Jerusalem auf und wird zum Ritter. Überzeugt in seinem Glauben an Gott, bekämpft er viele Jahre die Ungläubigen und übersteht blutige Schlachten. Doch bald beschleichen ihn Zweifel an seinem Handeln, den Mächtigen und der Kirche. Er beschließt, sein Erbe im fernen Frankenland anzutreten, welches er nur aus Erzählungen kennt. Nach einer gefahrvollen und langen Reise erreicht er schließlich die Burg seiner Vorfahren. Doch auch dort erwarten ihn Kämpfe – und eine Frau. Taschenbuch Seitenzahl 488

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Danksagung

Zunächst vielen Dank an alle, die mein Buch lesen.

Ich danke meinen Probelesern und all jenen, denen ich während der Zeit des Schreibens den Nerv raubte. Ich bedanke mich bei Gerhard Waste für seine Mühe bei der Covergestaltung, sowie meinem Korrekturleser, dem Journalist Uwe Wagner. Mehr als hilfreich beim Umwandeln und Hochladen der Dateien, war mir der bekannte Autor Matthias Czarnetzki.

Besonderer Dank gilt meiner langjährigen Lebensgefährtin für ihre Geduld und Unterstützung, und meinen Freunden für ihre Aufmunterung, wenn ich mal wieder am Zweifeln war. Und nicht zuletzt meinem Computer, obwohl ich diesen des öfteren verfluchte.

 

Prolog

Jerusalem 1099 – Erster Kreuzzug

Eine lähmende Stille liegt über der Stadt, die sich lange gegen die christlichen Eroberer gewehrt hatte. Einer blutenden Wunde gleich, liegt die einst so erhabene Krone des Morgenlandes in der untergehenden Sonne.

Mit unvorstellbarer Gewalt und Brutalität haben die Kreuzritter gewütet und keinen einzigen Einwohner Jerusalems am Leben gelassen. Tausende Tote säumen die Straßen, ein unerträglicher Gestank nach Blut und Verwesung zeugen von der unerbittlichen Grausamkeit der Ritter Christi.

Im Jahre 1095 hatte Papst Urban mit einer flammenden Rede in Clermont zum ersten Kreuzzug aufgerufen. Achtzigtausend fränkische Kreuzfahrer folgten seinem Aufruf. Nach drei Jahren voller Leid, Tod und Hunger gelangten sie bis vor die Tore Jerusalems und eroberten die Stadt. Im Namen Gottes und seines Stellvertreters, Papst Urban, töteten die Kreuzfahrer an die zwanzigtausend Einwohner.

Und noch bis heute hallt ihr Schlachtruf durch die Epochen der Geschichte.

»Deus lo vult – Gott will es!«

 

Jerusalem 1118

Etwas rüttelte an meinem Fuß, ich drehte mich zur Seite und versank wieder in einen wohligen Schlummer. Als ich meine Augen erneut öffnete, fiel ein sanfter Sonnenstrahl durch das einzige Fenster unseres Knappenquartiers und wärmte mein Gesicht.

Aus der nahegelegenen Hufschmiede erklang das gewohnte, gleichmäßige Hämmern auf den Amboss. Ich streckte meine müden Glieder und wunderte mich, dass von den anderen kein Schnarchen zu hören war. Gähnend erhob ich mich langsam und blieb auf der Bettkante sitzen. Der lange Kratzer über meinem Knie erinnerte mich schmerzhaft an die Waffenübungen vom Vortag.

Noch schlaftrunken, bemerkte ich die leeren Betten meiner Kameraden und kratzte mich am Nacken. Es erschien mir ein wenig seltsam, dass alle schon fort waren.

Ich neigte meinen Kopf zur Seite und sah zum vergitterten Fenster hinaus, selbst die Sonne stand schon ziemlich hoch für diese frühe Tageszeit, es versprach ein schöner Tag zu werden.

»Allmächtiger!« Mit einem Mal war ich hellwach. Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen und Bero platzte herein. Er war völlig außer Atem und seine Wangen gerötet.

»Jesco, steh auf und beweg deinen faulen Hintern, Borchweis Geduld ist sonst zu Ende!« Ich sah erschrocken zu ihm rüber. Es war leider nicht das erste Mal, dass ich verschlafen hatte.

»Warum zum Teufel hat mich keiner von euch geweckt?!«

»Weil es alle leid sind, dich ständig zu wecken! Darf ich dir vielleicht noch dein Frühstück ans Bett bringen?!«

Unter Beros zornigem Blick rappelte ich mich auf und zog mir eilig Leinenbeinlinge, Stiefel und Tunika an. »Verdammt Jesco, jeden Morgen das Gleiche mit dir. Hast du auch nur eine vage Vorstellung davon, was Borchwei mit uns macht, wenn wir schon wieder zu spät kommen!?«

»Reg dich ab, wir nehmen die Abkürzung an den Ställen vorbei. Aber deine Idee mit dem Frühstück wäre gar nicht so verkehrt gewesen.«

Mit vor Wut zusammengepressten Lippen erwiderte Bero meinen Blick. »Ich glaub, deine Amme hat dich zu lange gestillt!« Dann drehte er sich um und eilte davon. Meine Stiefel erst halb angezogen, stolperte ich Bero hinterher.

Wir hetzten durch die Gassen, vorbei an der Davidszitadelle und entlang der Stadtmauer in Richtung unseres Übungsplatzes. Wir nutzten jeden kleinen Winkel und jede Abkürzung, um schneller voranzukommen. Von einem Kirchturm erklang ein einzelner lauter Glockenschlag, als wolle er mich für meine Unpünktlichkeit tadeln.

In den Straßen herrschte bereits geschäftiges Treiben, Marktstände wurden aufgebaut und die Gassen vom Unrat befreit. In meiner Eile rempelte ich einen Händler an, er fluchte und rief mir lauthals Beschimpfungen hinterher. Für eine Entschuldigung blieb mir keine Zeit, da ich große Mühe hatte, Bero zu folgen, der unbeirrt weiterrannte.

Nach der verregneten Nacht hatten sich auf den Pflastersteinen große Pfützen gebildet, und jetzt, da die Sonne schien, war die Luft schwül und stickig, sodass meine Tunika schon nach wenigen Schritten völlig durchgeschwitzt war. Außer Atem erreichten wir schließlich den schattigen Übungsplatz an der nördlichen Stadtmauer. Rund zwei Dutzend Knappen waren anwesend und hantierten bereits mit ihren schweren Übungsschwertern, von einigen erntete ich unfreundliche Blicke.

Mitten unter den Knappen stand Borchwei, der seine Schützlinge aufmerksam beobachtete. Er war unser Ausbilder und es erfüllte uns mit Stolz, von solch einem erfahrenen Recken ausgebildet zu werden. Borchwei war hochgewachsen, fast einen Kopf größer als ich. Er strahlte eine Unerschütterlichkeit aus, die mich zutiefst beeindruckte. Über seiner rechten Wange prangte eine lange tiefe Narbe, die sich jedes Mal dunkel verfärbte, wenn er wütend wurde. Schulterlange blonde Locken zeugten von seiner nordischen Herkunft; die blauen Augen hatte er von seiner dänischen Mutter geerbt. Selbst durch die Ledertunika erkannte man seinen muskulösen Oberkörper.

Als ich vor ihm zum Stehen kommen wollte, rutschte ich auf dem sandigen Boden aus und landete auf meinem Hinterteil. Mit hochgezogener Augenbraue sah er zu mir herunter, dann reichte er mir seine Hand und half mir auf. Obwohl er mich missmutig ansah, blieben seine Augen dennoch freundlich.

»Guten Morgen die Herren Knappen. Wenn die Herren dann die Güte hätten und sich die Schwerter nehmen würden.«

Leise, sodass es die anderen nicht hören konnten, sprach er an mich gewandt weiter. »Und Jesco, betrachte dies als letzte Warnung!«

Ich wollte ihm gestehen, dass unsere Verspätung meine Schuld war, doch er hatte sich schon wieder den anderen Knappen zugewandt. Eilig schnappten wir uns jeder ein Schwert und droschen damit auf die seilumwickelten Holzpfähle ein. Unsere Übungsschwerter waren schwerer als herkömmliche Klingen, es diente dazu, unsere Armmuskeln zu stärken.

Nach einiger Zeit wurde Bero müde, denn seine Bewegungen wurden immer schwerfälliger. Auch mir schmerzten bereits die Arme von den schweren Waffen, mein schlechtes Gewissen trieb mich jedoch weiter an. Uns lief der Schweiß ins Gesicht und wir stöhnten bei jedem Schlag. Zur Strafe plagte uns Borchwei ein wenig länger als den Rest der Knappen. Nachdem unser Ausbilder endlich ein Einsehen mit uns hatte und uns eine Pause gönnte, ließ Bero dankbar seine Waffe sinken und sah mich erbost an. »Das nächste Mal erwürg ich dich, statt dich zu wecken!«

Sein Blick war zwar zornig, aber er konnte das Lächeln seiner Augen nicht verbergen. Reumütig erwiderte ich seinen Blick und entschuldigte mich bei ihm. Er konnte manchmal jähzornig sein, doch seine Wut verflog meistens so schnell, wie sie entstanden war.

Bero war mein bester Freund, wir wuchsen gemeinsam in Jerusalem auf und waren fast gleichaltrig. Mit unseren 15 Jahren hatten wir schon manch kleines Abenteuer erlebt. Aber was uns noch mehr zusammenschweißte, war die traurige Tatsache, dass wir beide Waisen waren. Die ersten Jahre meines Lebens wuchs ich bei einer Amme auf, doch meine Erinnerungen an sie sind bereits verblasst. Danach nahm mich Borchwei unter seine Obhut. Alles, was ich über meine Eltern wusste, hatte ich von ihm erfahren. Er hatte mich erzogen und sich um mich gekümmert, seit ich denken kann.

Mein Vater, Annulf von Hohengreif, war bei der Eroberung Jerusalems im Jahre 1099 mit dabei. Er und Borchwei waren damals enge Freunde und Waffenbrüder gewesen. Mein Vater stammte aus einem niederen Adelsgeschlecht im Rheinland, das ständig in kleinere Scharmützel mit Nachbarn verwickelt war. Als Zweitgeborener und ohne Aussicht auf ein Erbe, hatte er die elterliche Burg verlassen, um im Heiligen Land sein Glück zu finden. Er starb einige Monate nach meiner Geburt an einem Fieber, das diesen einst so großen Krieger heimgesucht hatte. Dennoch vermachte er mir eine nicht unbeträchtliche Summe an Geld, über das Borchwei mit strenger Hand wachte. Dies sollte mir meine Ausbildung und Erziehung ermöglichen. Mein Vater hatte sich dieses kleine Vermögen auf unzähligen Kriegszügen im Heiligen Land erkämpft. Wie viel es genau war, verschwieg mir Borchwei jedoch eisern.

Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Sie stammte aus Lothringen und war wohl, so wurde mir berichtet, eine außergewöhnliche Schönheit. Sie hatte meinen Vater erst in Jerusalem kennengelernt und da sie die Tochter eines wohlhabenden Tuchhändlers war, führten sie ein sorgenfreies Leben, wenn man von den ständigen Kriegsunruhen einmal absah.

Sie liebten sich sehr und waren wie füreinander geschaffen, umso schlimmer traf meinen Vater ihr Tod. Danach war er wohl nie wieder so richtig glücklich gewesen. Borchwei glaubt, er sei am Gram um den Tod seiner großen Liebe gestorben. Obwohl ich meine Eltern nicht kannte, empfinde ich in manchen Momenten eine tiefe Traurigkeit.

Schon seit früher Kindheit war es mein großer Traum, eines Tages gegen die Ungläubigen in die Schlacht zu ziehen. Ich wollte es meinem Vater und Borchwei gleichtun, dies war für mich so unumstößlich wie der Lauf der Gezeiten, daher sah ich dem Tag meiner Schwertleite mit Sehnsucht entgegen.

Bero und ich waren inzwischen nass geschwitzt, die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht und brannte unerbittlich herab. Immer wieder suchte ich Blickkontakt mit Borchwei, doch er ließ mich außer Acht, als wäre ich gar nicht da. Nach einer kurzen Pause, in der wir uns mit kühlem Wasser aus dem Brunnen erfrischten, ließ uns Borchwei immer wieder die ausgetretene Steintreppe hoch zum Wehrgang der Stadtmauer laufen. Allerdings hatten wir dabei schwere Sandsäcke auf den Schultern. Es war die reinste Qual für uns, doch es sollte unsere Muskeln stählen, wie Borchwei immer wieder betonte. Im Stillen verfluchten wir ihn dafür. Nachdem wir uns völlig verausgabt hatten, nickte er zufrieden und beendete unsere Übungen für diesen Tag.
«Nun geht und zieht euch trockene Kleidung an, Bruder Philippe erwartet euch bereits«, grinste er süffisant. »Ich weiß, dies ist nicht eure liebste Beschäftigung, doch es muss sein.«

Leise murrend gingen wir in Richtung unseres Quartiers, um uns saubere und trockene Kleidung anzuziehen. Nach den stets kräftezehrenden Leibesübungen, war der geistige Unterricht für mich nicht mehr, als ein notwendiges Übel.

Bruder Philippe war ein italienischer Mönch, der uns Schreiben und Lesen in lateinischer Sprache beizubringen versuchte. Was ihm aber, mangels unseres Talents, nur schwerlich gelang.

Unser Lehrer war schon alt, dafür umso geduldiger mit uns. Er war ein Mönch der Armen Ritterschaft Christi vom salomonischen Tempel zu Jerusalem. Hugo von Payns hatte diesen Orden vor zehn Monaten gegründet. Die Ordensritter sollten in erster Linie die Pilgerwege schützen, da Gläubige des öfteren von Seldschuken überfallen wurden.

Wir konnten Philippe gut leiden, da er kein strenger, sondern ein gutmütiger Lehrmeister war. Oft erschöpft von den Waffenübungen, schlief nicht selten einer von uns während seiner Lehrstunden ein. Und selbst dann fand er keine tadelnden Worte für uns, sondern schenkte uns nur sein mildes Lächeln. Auf die Fortschritte unseres Unterrichts möchte ich nicht näher eingehen, da sie doch eher bescheiden ausfielen.

 

 

Wie fast jeden Abend, fielen mein Freund und ich todmüde auf unsere Strohsäcke. Bero zog seine abgenutzte Tunika aus und warf sie in die Ecke des Zimmers. Auch seine Eltern waren früh verstorben, seither kam sein Onkel für das Nötigste an Kleidung und alltäglichen Dingen auf, auch hatte er finanziell für seine Ausbildung gesorgt. Doch Beros Verhältnis zu ihm war eher kühlerer Natur, was daran lag, dass sein Onkel in erster Linie seine eigenen Interessen verfolgte und Beros Ausbildung für ihn nur eine lästige Pflichterfüllung darstellte. Dies war wohl auch der Grund, weshalb mein Freund nur ganz selten über ihn sprach.

Bero hingegen hatte ein sonniges Gemüt und war stets gut gelaunt. Mit seinen vielen Sommersprossen und seinen unbezähmbaren roten Haaren erweckte er manchmal einen fast tollpatschigen Eindruck. Bei den Kampfübungen hingegen widerlegte er dies eindrucksvoll, da sein Äußeres den Gegner dazu verleitete, ihn zu unterschätzen – was dieser dann oft schmerzhaft zu spüren bekam. Seine Wahrhaftigkeit und Treue machten ihn zu meinem besten Freund.

Mit müdem Gesichtsausdruck lag Bero in seinem Bett, hatte seinen Kopf auf eine Hand gestützt und sah zu mir rüber.

»Was denkst du, wann wir unsere Ausbildung abgeschlossen haben?«

»Ich weiß es nicht, Borchwei erwähnte mal, dass Jerusalem dringend neue Krieger benötigt, um die Stellungen zu sichern«, antwortete ich.

»Denkst du, dass wir dann früher zu Rittern werden, als geplant?«

»Möglich, die älteren Knappen munkeln, dass wir vor dem Winter noch unsere Pferde zugewiesen bekommen.«

Bero kratzte sich gedankenverloren an seinem bartlosen Kinn.

»Die Pferde, das wäre dann die letzte Übungseinheit unserer Ausbildung. Das heißt, wir könnten bereits im Frühjahr unseren Ritterschlag erhalten.«

Auch ich hegte diese Hoffnung, blieb dennoch zurückhaltend.

»Wäre möglich, aber es sind eben nur Gerüchte. Wir werden es erfahren, wenn es soweit ist.«

Nach kurzem Schweigen sah mich mein Freund stirnrunzelnd an. »Glaubst du, wir müssen dann getrennte Wege gehen, jeder bei einem anderen Kriegsherrn?«

Auch in mir erweckte diese Vorstellung ein mulmiges Gefühl, doch ich warf sie schnell beiseite. »Das hoffe ich nicht. Ich vertraue auf Borchwei, denn er bestimmt, welche Knappen für welche Einheiten eingeteilt werden. Ich glaube nicht, dass er uns trennen wird.«

»Das wünsche ich mir auch«, gähnte Bero. Mit diesen Gedanken schliefen wir ein.

 

 

Am nächsten Morgen hatten wir etwas freie Zeit zur Verfügung. Bero und mich zog es dann meistens zum Damaskustor, dem Hauptportal der Stadt. Täglich strömten dort Hunderte von Menschen aus aller Herren Länder hindurch. Man sah Händler aus Venedig und Kairo, neu ankommende Krieger und Pilger aus dem fernen Abendland. Es war eine bunte Mischung aus Sprachen und Kulturen, die mich jedes Mal von Neuem in ihren Bann zog.

Außerhalb der Stadtmauer, südlich des Damaskustores, standen einfache Hütten. Dort hatten sich die Armen, aber auch Kranke und Bettelmönche niedergelassen. Zerlumpte und heruntergekommene Huren boten hier ihre Dienste an, wurden aber meistens von den Wachsoldaten vertrieben.

Weiter nördlich hatte sich ein kleines Dörfchen aus besseren Holzhütten und orientalischen Zelten angesiedelt. Hier hatte sich eine Handvoll ägyptischer Heiler aus Kairo niedergelassen. Sie galten als die Besten ihrer Zeit und waren erfolgreicher als die Bader oder sogenannten Wunderheiler. Ihre Heilmethoden erfreuten sich auch unter den christlichen Einwohnern immer größer werdender Beliebtheit.

Einer von ihnen war Ali. Wir suchten ihn oft auf, um Salben oder Kräuter für Kranke oder Verletzte zu holen. In letzter Zeit wurde er immer öfter zu Rate gezogen, meist wenn es um komplizierte Behandlungen bei schlimmen Verletzungen ging. Ali hatte sogar schon offene Wunden mit silbernen, gebogenen Nadeln und Pferdehaar zugenäht, wo die europäischen Heiler die Gliedmaßen einfach abtrennten, oder die Wunden nur ausbrannten. Der Heilungserfolg gab Ali jedoch recht, in dem was er tat.

Durch das Damaskustor zwängte sich an diesem Tag wieder eine große Menschenmenge. Die Wachmannschaft hatte alle Hände voll zu tun, um jeden am Durchlass zu kontrollieren. Die Kaufleute wurden in Richtung Händlerviertel durchgeschleust, die anderen Ankömmlinge in Richtung Davidstor, so vermied man größere Verstopfungen in den Gassen der Stadt. Um sich eine Mahlzeit zu verdienen, sammelten die Kinder der Ärmsten in den Straßen den Kot der Kamele, Esel und Pferde auf. Sie brachten ihn dann vor die Mauern der Stadt, wo der Kot getrocknet und dann als Dung oder Brennmaterial verkauft wurde.

Bero und ich passierten das große Tor durch die kleinen Seitentüren daneben. Außerhalb der Mauer angekommen, wühlten wir uns durch das entgegenkommende Gedränge. Ein stechender Geruch von Schweiß und anderen menschlichen Ausdünstungen stieg uns in die Nase und begleitete uns, bis wir den nördlichen Teil erreichten. Hier befanden sich die etwas besseren Behausungen, auch die von Ali. Schon von Weitem winkte er uns zu, vor seinem Zelt hatte sich eine kleine Menschentraube von Gebrechlichen und Kranken gebildet. Wie so oft, wirkte Ali sehr beansprucht, trotzdem kümmerte er sich warmherzig um jeden seiner Patienten. Wir winkten ihm freundlich zurück, wollten ihn aber nicht weiter bei seiner Arbeit stören und zogen weiter.

Eine Flut von Gerüchen empfing uns wenig später an den Händlerzelten. Aus uns unbekannten Ländern wurden erlesene Gewürze und Kräuter angeboten, deren Duft unsere Nasen verwöhnte. Dazwischen gab es Stände mit frischem Gemüse, Früchten und Nüssen. Die Händler priesen lauthals ihre Waren feil, um die Gunst und Aufmerksamkeit der Käufer zu gewinnen. Ein Sprachgemisch aus arabischen, französischen und lateinischen Wortfetzen drang an unsere Ohren. Einen Teil davon konnte ich verstehen, da man täglich mit der Vielfalt der Sprachen konfrontiert wurde. In meinem kurzen Leben hatte ich es geschafft, mich in mehreren Sprachen zumindest verständigen zu können.

Auf einer Holzkiste zwischen zwei Händlern stand ein selbst ernannter Prediger und verkündete das Wort Gottes. Seine Kutte war verschlissen und dreckig, mit zahnlosem Mund forderte er seine Zuhörer auf, die Heiden von den christlichen Stätten zu vertreiben und sie ins Höllenfeuer zu stoßen. Wir hörten ihm nur kurz zu und gingen dann weiter zu den nächsten Ständen.

Ich genoss jedes Mal aufs Neue das lebendige Markttreiben, war es doch eine willkommene Abwechslung zu unserem Alltag. Bero erstand bei einem Tuchhändler ein Stück fein gewebtes Leinen, mit dem er seine Tunika ausbessern wollte. Ich kostete von einem roten Gewürz, das mir vor lauter Schärfe die Tränen in die Augen trieb, worauf Bero vor Lachen ebenfalls die Augen tränten. Wir schlenderten weiter und ließen die Hütten und Marktstände hinter uns. Ein Araber trieb sein blökendes Kamel mit einem Stock an uns vorbei. Er kam aus dem Bereich, wo Kamele und Pferde verkauft oder eingetauscht wurden. Uns interessierten dort hauptsächlich die Pferde.

In einer mit Seil umgebenen Koppel befanden sich herrliche weiße Araberhengste. Die schlanken und kleineren Tiere waren eher für einen längeren Ritt geeignet, wie etwa für Boten– oder Jagdausritte, da diese Pferde über eine größere Ausdauer verfügten. Auf der anderen Seite standen große und kräftig gebaute Streitrösser aus europäischer Zucht. Die meisten der Ritter bevorzugten diese stämmigen Schlachtrösser von meist französischer Herkunft. Die feindlichen Reihen der Heiden hatten dem Angriffsgalopp dieser schweren Kriegspferde meist nicht viel entgegenzusetzen, da ihre Pferde kleiner und leichter waren. Ich war jedes Mal beeindruckt von der unbändigen Kraft und der stolzen Körperhaltung dieser wuchtigen Streitrösser. Jeder einzelne Muskel zeichnete sich unter ihrem glänzenden Fell ab. Ich träumte davon, eines Tages so ein Pferd zu besitzen.

Es war bereits um die Mittagszeit, als wir uns wieder auf den Heimweg machten. Starker Wind war aufgekommen und bedeckte die Marktstände mit sandigem Puder aus der Wüste. Zum Schutz bedeckten wir mit den Händen unsere Augen, als wir uns allmählich dem Damaskustor näherten. Der Andrang an Menschen hatte um diese Tageszeit ein wenig nachgelassen. An der Pforte zeigten wir den Wächtern unser kleines Ledersiegel, das uns den Durchlass ermöglichte. Ein untersetzter Wachsoldat winkte uns mürrisch weiter.

Als wir das Tor schon beinahe hinter uns gelassen hatten, kam mit einem Mal Bewegung in die Menge. Die gereizten Stadtwachen brüllten ihre Befehle. Ein Händler mit seinem störrischen Esel wurde zum Tor hinausgetrieben, um so den Durchgang freizuhalten. Gleichzeitig drangen von außerhalb der Stadtmauer laute Rufe zu uns durch. Tumult brach am Tor aus, Bero und ich wurden durch die aufgewühlte Menschenmenge an die Mauer zurückgedrängt. Die Wachposten teilten die Menge, um eine breite Gasse zu schaffen und schoben dabei die Leute mit ihren langen Lanzen grob zurück. Wir reckten neugierig unsere Hälse: »Weißt du, was das alles soll?«, fragte mich Bero.

»Keine Ahnung, jedenfalls sind es keine Sarazenen, sonst würde es hier anders zugehen.«

Die Soldaten drängten uns nun immer weiter zurück, einige zischten den Wächtern ihren Unmut entgegen, während andere sich widerstandslos fügten. Unter dem hohen Torbogen hallten die lauten Kommandos der Wachposten von den Wänden wider. Wie durch einen dichten Nebel wurden die Menschen von einer knisternden Spannung umhüllt, die auch mich erfasste. Achselzuckend sah ich zu Bero, doch dessen rätselnde Miene gab mir auch keine Antwort.

Durch die Enge der Menschen wurde die Luft immer stickiger und erschwerte einem selbst das Atmen. Eine dicke Händlerin mit prallen Brüsten drückte sich seitlich an mich. Ich konnte ihren Schweiß und ihren schlechten Atem riechen, als sie mich dümmlich angrinste. Sie war nicht gerade das, wovon ein Junge in meinem Alter träumte. Ich rückte von ihr ab und drängte Bero unauffällig neben sie.

In der Ferne konnte man das Wiehern von Pferden hören. Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, sah ich über die vielen Köpfe hinweg vor dem Stadttor eine Staubwolke, in deren Dunst ich flatternde Kreuzritterfahnen und Lanzen erkennen konnte. Kurz danach hörten wir die ersten Rufe. Zunächst vereinzelt, dann wurden es immer mehr Stimmen, bis sie sich zu einem gemeinsamen, ohrenbetäubenden Jubel vereinten: »Balduin!«

Wir standen da wie angewurzelt, Bero rammte mir seinen Ellbogen in die Rippen: »Der König ist zurückgekehrt!«, dann hielt er sich wieder die Nase zu, denn die dicke Händlerin lehnte immer noch an seiner Seite.

König Balduin würde gleich wenige Schritte entfernt von uns vorbeiziehen. Man bekam den König nicht alle Tage so hautnah zu sehen. Wir hatten Balduin einige Male aus der Ferne bewundern dürfen, bei Prozessionen oder wenn das Heer sich sammelte, konnten sein Gesicht dann aber nur verschwommen erahnen.

Ich spürte ein Frösteln in meinem Nacken, während wir voller Erwartung zum Tor starrten. Von der Stadtmauer über uns erklangen laute Fanfaren zur Begrüßung des Königs. Dann konnten wir das Klappern der Pferdehufe hören, auf dem Sand vor der Stadtmauer noch etwas gedämpft, doch auf der steingepflasterten Straße unter dem Tor nun immer lauter werdend.

Die ersten Reiter ritten an uns vorüber, sie trugen Standarten und Fahnen, auf denen das rote Jerusalemkreuz leuchtete. Danach folgten schwer gepanzerte Ritter in Eisenhemden und hellbraunen Waffenröcken. Die Hufe der schweren Rösser übertönten die aufgeregten Zurufe aus der Menge.

Im Anschluss folgten ein Dutzend Ritter in Dreierreihen. Danach ein einzelner Reiter, er hielt ein großes, goldenes Kreuz hoch über seinem Kopf, hinter ihm schritten einige kirchliche Würdenträger in weißen Ordensgewändern.

Und dann kannte der Jubel keine Grenzen mehr. Umringt von seiner Leibeskorte, näherte sich König Balduin auf seinem weißen Ross. Einige Frauen warfen ihm Blumen entgegen und riefen verzückt seinen Namen.

Um sich vor der Sonne zu schützen, hatte der König ein helles Leinentuch um sein Haupt gewickelt, darüber funkelte ein fingerbreiter Goldreif an seiner Stirn. Ein schwarzer Bart umrandete sein edles Gesicht, ein goldenes Kettenhemd und ein langer weißer Umhang vollendeten seine erhabene Erscheinung. Mit seinen dunklen, jedoch einnehmenden Augen lächelte er in die Menge und winkte den Menschen zu. Sein Antlitz strahlte eine Würde aus, wie ich es noch nie zuvor bei einem Menschen erlebt hatte. Es kam mir fast vor, als sei mir soeben ein Heiliger erschienen.

Danach folgten wieder einige Dutzend gepanzerter Reiter, den Schluss bildete der Tross mit seinen großen Holzkarren. Die Fanfaren verstummten, der letzte Wagen bog um die Ecke.

Die Menge verstreute sich jetzt langsam und es kehrte eine gespenstische Ruhe ein. Wie mein Freund, war auch ich von den Geschehnissen stark beeindruckt, wir hätten unseren Herrscher fast berühren können.

Balduin II. war Teilnehmer des ersten Kreuzzuges und erst kürzlich zum König von Jerusalem gekrönt worden. Er folgte seinem Vetter Balduin I. auf den Thron. Bei den christlichen Einwohnern war er äußerst beliebt, er galt als weise und gerecht, aber auch als kluger Kriegsstratege. Ich hoffte, eines Tages an seiner Seite kämpfen zu dürfen, um zu Ruhm und Ehre zu gelangen, doch gleichzeitig schalt ich mich für meine einfältigen und kindischen Träumereien. Die Zeit war schnell verflogen und wir machten uns wieder auf den Heimweg.

Voller Erstaunen lauschten die anderen Knappen unserem Bericht, als wir wieder in unserem Quartier waren. In einigen Gesichtern bemerkte ich ein wenig Neid, andere löcherten uns mit Fragen nach dem König, seinem Aussehen, seiner Rüstung oder gar seinem Pferd. Natürlich schmückten wir unsere Erzählungen aus, um es noch spannender darzustellen, als es ohnehin schon war. Wenn ich ehrlich bin, genossen wir es, mit unseren kleinen Prahlereien im Mittelpunkt zu stehen.

 

 

Nach dem aufregenden Nachmittag standen wir alle ein wenig später wieder auf dem Übungsplatz. Der Abend dämmerte bereits, sodass jetzt eine angenehme Kühle einsetzte. Die leuchtend rote Sonne war nur noch zur Hälfte am Horizont zu sehen und tauchte Jerusalem in ein sanftes, goldenes Licht. Ich mochte diese Tageszeit, da sie etwas Friedvolles ausstrahlte.

Wir trugen unsere schweren Ledergambesons als Polsterung gegen die harten Schwerttreffer. Mit richtigen Schwertern aus der Rüstkammer hieben wir aufeinander ein. Bero und ich führten einen ausgeglichenen und verbissenen Kampf. Wir übten einige neue Varianten ein und freuten uns über jeden Treffer. Mein Rücken war bereits durchnässt, meine Arme wurden mir schwer und ich war müde. Plötzlich stand Borchwei neben uns. Mit vor der Brust verschränkten Armen sah er uns eine Weile zu. Ich konnte an seinem Blick nicht deuten, ob er mit uns zufrieden war oder nicht. Als Bero und ich unsere Waffen sinken ließen, tippte mir Borchwei auf die Schulter. »Jesco, du gegen mich. Ich will sehen, ob du Fortschritte gemacht hast.«

Ich musste schlucken, denn die blauen Flecken von meinem letzten Duell mit Borchwei waren immer noch schmerzhaft zu spüren. Ich ließ mir aber nichts anmerken und so trat ich ihm mutig, aber voller Respekt entgegen.

Wir gingen in unsere übliche Ausgangsposition, drei Schritte voneinander entfernt. Im Vorbeigehen gab mir Bero noch einen aufmunternden Klaps auf den Rücken und grinste mich schief an, er wusste, was auf mich zukam. Die anderen Knappen sahen neugierig zu uns herüber. In manchen Gesichtern erkannte ich Schadenfreude, denn sich mit Borchwei im Schwertkampf zu messen, war wahrhaftig kein Honigschlecken. Mit seinen blauen Augen sah mich Borchwei durchdringend an.

»Wir eröffnen mit der Hut.«

Die Hut ist eine Kampfhaltung, bei der man das Schwert über dem Kopf hält, mit dem Knauf in Richtung seines Gegners. Wir standen uns belauernd gegenüber, mein Atem ging schwer. Ich bemühte mich, nicht zu verkrampfen oder nervös zu werden. Mit schwitzenden Händen umklammerte ich den Griff meines Schwertes. Mein Schwachpunkt war meine Abwehr, ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, trotz meiner Nervosität. Ich suchte meinen Vorteil in der Überraschung und griff schnell und entschlossen an.

Mit geschmeidigen Bewegungen parierte dieser erfahrene Recke jeden meiner Schläge. Der laute Klang der Waffen erfüllte den Übungsplatz, Funken stoben durch die abendliche Luft. Meine Muskeln schmerzten bereits bei jeder meiner Bewegungen. Borchweis Schläge waren so hart, dass jedes Mal, wenn sich unsere Klingen kreuzten, ich die Hiebe in meinem gesamten Oberkörper spürte. Ich schlug ebenfalls hart zu und brachte Borchwei sogar für kurze Zeit in Bedrängnis und wurde übermütig. Als er jedoch einen Ausfallschritt machte und mich mit ein paar fürchterlichen Hieben an die Mauer zurückdrängte, war ich ihm nicht mehr gewachsen. Ich konnte noch einige seiner Schläge abwehren, aber ehe ich mich versah, hatte ich seine Klinge an meiner Kehle. Ich ließ zum Zeichen der Aufgabe mein Schwert fallen und keuchte. »Ich gebe auf, die Sonne hat mich geblendet.«

Borchwei grinste nur. »Ich glaube eher, dein allzu großer Übermut hat dich geblendet, mein Junge.« Er reichte mir seinen Wasserschlauch, dessen Inhalt wir gierig leerten.

Borchwei wischte sich mit dem Handrücken seinen Mund ab.

»Jesco, in der Schlacht gibt es keinen ritterlichen und ehrenhaften Zweikampf. Es ist ein grausames Abschlachten und Töten, bei dem du auf alles gefasst sein musst!«

Er tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.

»Deine Angriffstechnik ist schon ganz passabel. Ich gebe zu, du hast viel dazu gelernt, einige deiner Schläge sind überraschend und schnell. Allerdings an deiner Verteidigung musst du noch etwas feilen.«

»Ich weiß. Ich habe wieder nicht auf deinen Rat gehört«, erwiderte ich zerknirscht.

Borchwei legte mir seine Hand auf die Schulter. »In der Tat, das hast du nicht, drum sag ich es dir nochmals: Achte immer auf die Schulter deines Gegners, denn noch bevor er zum Schlag ausholt, bewegt sich seine Schulter. Das kann dir eines Tages das Leben retten und dir den Sieg schenken.«

Ich nickte und versprach ihm, in Zukunft darauf zu achten. Borchwei brummte zustimmend und wandte sich ab, um die anderen Knappen wieder zu ihren Übungen zu scheuchen.

Müde und mit blauen Flecken am ganzen Körper, schleppten wir uns nach Hause. Eine angenehme Brise durchzog jetzt die Gassen, die Händler packten ihre Waren zusammen und die Nacht brach herein. Vereinzelt vernahm man noch Stimmen aus den Fenstern der Häuser. Die Fackeln an den Straßenecken warfen lange Schatten auf die Mauern, der Tag neigte sich friedvoll dem Ende zu.

Auf dem Heimweg betrachtete ich die hohen Torbögen und Deckengewölbe über den Gassen. Sie waren allesamt so angelegt, dass ein Reiter mühelos aufrecht hindurch reiten konnte, so gelangten die Ritter schnell von einem Ende der Stadt zum anderen. In den engeren Gassen durften daher keine Fässer, Karren oder andere sperrige Hindernisse stehen, die das Weiterkommen der Reiter erschwert hätten.

Ich hatte zweimal in meinem Leben eine Alarmbereitschaft miterlebt, als Späher feindliche Reitertrupps meldeten. Sobald die Jerusalemglocke läutete, entstand hektische Unruhe. Die vielen Menschen, die sich außerhalb der Stadt angesiedelt hatten, suchten dann den Schutz innerhalb der Mauern. Soldaten eilten zu den Wehrgängen und Ritter sprengten auf ihren Rössern durch die Straßen. Laute Befehle wurden gerufen und die Stadttore verschlossen. Ich war damals fasziniert von der Genauigkeit und Schnelligkeit der reibungslosen Abläufe, obwohl es zugleich ein flaues Gefühl in meiner Magengegend hinterlassen hatte.

 

 

Am nächsten Morgen mussten wir zum Gebet in eine kleine Kapelle neben der Grabeskirche, in der unser Jesus Christi für uns allgegenwärtig war. Täglich strömten Pilger in Massen an diesen Ort, um Erlösung zu finden und Gott nahe zu sein. Für mich war es jedoch eine zumeist ermüdende Angelegenheit, denn die monotonen lateinischen Gesänge empfand ich auf Dauer sehr anstrengend, zumal man stundenlang auf kaltem Stein knien musste.

Anschließend fanden wir uns wieder bei Bruder Philippe zum Unterricht ein, der in einem Nebentrakt des Gebäudes der Ritter des Tempels stattfand. Ich konnte dem Lesen und Schreiben nicht viel abgewinnen, außerdem bezweifle ich noch heute, dass sich diese Art der Kommunikation auf Dauer wirklich durchsetzen wird. Wo das gesprochene Wort doch um vieles einfacher ist.

Wir warteten in dem von hellem Sonnenlicht durchfluteten Schreibsaal auf unseren Lehrer. Ich rieb mir meine schmerzenden Muskeln und sehnte mich nach meinem Bett. Als Bruder Philippe gut gelaunt den Saal betrat, begrüßte er uns freundlich. Doch anstatt mit dem Unterricht zu beginnen, bat er die Älteren unter uns, ihm schweigend zu folgen. Er wählte zehn von uns aus. Leicht verwundert erhoben wir uns und trotteten ihm hinterher. Wir durchquerten den schattigen Innenhof, dann ging es durch einen dunklen und langen Gang, der mir unbekannt war. Dieser führte uns eine Steintreppe empor in einen weiteren langen Gang, der von dicken Mauern umgeben und nur durch Fackeln an den Wänden erhellt wurde. Schließlich standen wir vor einer großen Tür.

Philippe öffnete die schwere, knarrende Eichentür und wir betraten einen großen, fensterlosen Rittersaal. Bero sah mich stirnrunzelnd an. Ich zuckte mit den Schultern, da auch ich nicht wusste, was wir hier sollten. An den Steinwänden unter dem Gewölbe hingen zwölf große Wappenschilder, darauf ein rotes Kreuz auf weißem Grund. Quer über jedem Schild hing ein prachtvolles Breitschwert. Auf schweren Eisenleuchtern brannten Kerzen und erhellten den Raum gespenstisch. Tief beeindruckt sahen wir uns alles genau an. Philippe bat uns, an der langen Holztafel in der Mitte des Raumes Platz zu nehmen. Er selbst blieb an der Stirnseite des Tisches stehen und gab uns etwas Zeit, um uns umzublicken.

Aus einem mir unerklärlichen Grund verspürte ich hier eine gewisse Demut. Der Saal vermittelte etwas Kriegerisches und zugleich Erhabenes. Keiner von uns traute sich etwas zu sagen, nicht einmal ein Räuspern war zu hören, so Respekt gebietend waren diese Mauern. Ich fühlte mich mit einem Mal unbedeutend und klein. Schließlich bat Philippe uns um Aufmerksamkeit. »Ihr seht hier an den Wänden zwölf Wappenschilder, wie auch die Apostel des Herrn zwölf waren!«

Andächtig lauschten wir den Worten unseres Lehrers. »Ihr befindet euch im Rittersaal des Ordens der Armen Ritter Christi. Das Volk nennt sie auch Ritter des Tempels. Sie leben nach besonders strengen Regeln und haben, wie ihr wisst, ihr Leben ganz Gott geweiht. Auch ich gehöre diesem Orden an, wenngleich in etwas anderer Weise, denn ich unterrichte euch und gehöre somit nicht der kämpfenden Einheit an.« Er machte eine Pause, um seine Worte bei uns ankommen zu lassen. »Diese Mönchsritter tragen ihr Haar kurz geschoren und ihre Bärte lang. Daran werden sie vom Feind erkannt und im gesamten Heiligen Land gefürchtet. Sie besitzen nichts, außer ihrer Rüstung und ihrer Waffen. Die Elitekämpfer Jerusalems führen ein frommes Leben in Bescheidenheit.«

Mit den letzten Worten war Philippes Stimme immer lauter und eindringlicher geworden. Er wies auf das mannshohe, rote Holzkreuz hinter sich an der Wand. »Das rote Kreuz auf weißem Grund ist unser Wappen, so auch auf unseren Waffenröcken. Das Symbol unseres Glaubens, denn unser Leben gehört Gott dem Herrn!«

Er sah wieder zu uns und lächelte. »Ich sehe fragende Gesichter vor mir. Nun, warum ich euch das erzähle, kann euch ein Anderer besser erklären.«

Mit diesem Satz wies er hinter uns. Wir drehten uns um und erblickten einen hochgewachsenen Mann an der Eingangstür. Keiner von uns wusste, wie lange er schon dort stand. Mit kraftvollen Schritten bewegte er sich an der Tafel vorbei und blieb neben Bruder Philippe stehen. Sein weißer Waffenrock mit einem roten Kreuz darauf, verriet uns, dass er ein Ritter des Tempels war. Die Ritter dieses Ordens waren im ganzen Land berüchtigt für ihre Kriegstaten und verfolgten ihre Ziele unbeirrt. Den einfachen Leuten waren sie jedoch unheimlich.

Er nickte Philippe kurz zu und wandte sein Gesicht dann zu uns. Sein Haar war kurz, sein Kinn verdeckte ein langer schwarzer und gepflegter Bart. An seiner Hand fehlte ihm ein Finger und eine tiefe Narbe verlief über seinem rechten Handrücken. Auch oberhalb seines Ohres konnte man eine Verletzung erkennen, die noch nicht sehr alt sein konnte. Dunkle Augen sahen uns einen nach dem anderen an, sein Blick war stechend und gebieterisch. »Ich grüße euch Männer, mein Name ist Guiscard und ich bin ein Ritter Christi.« Seine Stimme hatte einen angenehmen, tiefen Klang. Und es schmeichelte uns sehr, dass er uns Männer nannte.

»Ich sehe hier kräftige, junge Männer voller Tatendrang vor mir. Bald ist die Zeit gekommen, da ihr zu Rittern werdet. Doch nicht alle unter euch haben die nötigen Geldmittel, um sich dann Waffen, Rüstung und Ross leisten zu können.«

Wieder fixierten seine Augen jeden Einzelnen von uns, als könnte er in unsere Gedanken schauen. »Daher stelle ich euch in Aussicht, unserem Orden beizutreten. Wer sich dazu entscheidet, muss jedoch die Gelöbnisse der Keuschheit, Armut und des Gehorsams ablegen. Unser Orden wird euch dafür mit Verpflegung und allem was ein Krieger benötigt ausrüsten. Der Orden wächst von Tag zu Tag, weil stetig neue gläubige Männer zu uns stoßen. Wer sich uns anschließt, wird dreimal die Woche die Messe besuchen. Ihr müsst schwören, bis zum Tod für die heiligen Stätten der Christenheit zu kämpfen. Unser Hauptanliegen ist der Schutz der Pilgerwege, aber auch der Kampf gegen die ungläubigen Heiden. Wir sind ursprünglich Mönche, inbrünstig im Gebet, aber genauso unerbittlich den Feinden Gottes gegenüber.«

Nach einer kurzen Pause fuhr er milde lächelnd fort. »Der Orden wird eure Familie ersetzen. Dafür müsst ihr euch dem Orden verpflichten, bis zu eurem Lebensende! Doch nun genug der Worte. Überlegt euch mein Angebot in Ruhe, ihr müsst euch nicht sofort entscheiden. Aber bedenkt, Gottes strenger Blick ist auf euch gerichtet.«

Wir waren noch ganz im Bann seiner Worte, als er Philippe zum Abschied die Hand reichte. Dann drehte sich Guiscard noch einmal zu uns um, reckte die Faust in die Höhe und rief:

»Für Gott und Jerusalem!«

Als Antwort erwiderten wir brüllend seinen Schlachtruf.

Ich bemerkte so manch leuchtendes Augenpaar unter den anderen und auch an mir gingen die Worte des Mönchsritters nicht spurlos vorüber. Es konnte zumindest nicht schaden, über das Angebot Guiscards nachzudenken.

Auf dem Heimweg plapperten einige der Knappen aufgeregt durcheinander. Man hatte schon aufregende Geschichten über die Ritter des Tempels gehört, sie seien unbesiegbar und ihre Truhen voller Gold. Ich war bei solchen Gerüchten eher skeptisch, denn die Leute erzählten viel, wenn der Tag lang war. So mancher hielt sie für arrogant und machtbesessen, doch König Balduin griff gerne auf ihre Kampfkraft zurück, wenn er es für nötig hielt.

Als wir in unserem Quartier angekommen waren, nahmen wir das Nachtmahl zu uns. Wir ließen uns frisches Brot und Käse schmecken und bekamen noch einen Nachschlag. Bero, mir gegenüber auf einer schlichten Holzbank sitzend, hatte wie immer einen unersättlichen Appetit. Doch irgendwie wirkte er heute Abend in sich gekehrt.

»Was ist los mit dir?«, fragte ich ihn.

»Ich weiß auch nicht, mein Onkel bezahlt mir zwar meine Ausbildung, aber was dann? Ich werde mir niemals ein Kettenhemd oder ein eigenes Schwert leisten können.«

»Du denkst über das Angebot von Guiscard nach?«

»Na ja, verlockend wäre es schon. Auf der anderen Seite …«

»Lebenslange Keuschheit und Gebete, und das bis zu unserem Tod!«, kam ich ihm zuvor. Bero lächelte mich mit vollem Mund an.

»Wenn ich an die Kleine vom Hufschmied denke und dann an das Keuschheitsgelübde …«

Nichts für uns, beschlossen wir. Dennoch konnte ich die Worte des stolzen Tempelritters nicht so einfach vergessen und machte mir weiter meine Gedanken.

 

 

Nur wenig später saß ich auf einer Steinbank neben dem Eingang zu unserem Schlafraum. Ich streckte meine Beine aus, beobachtete die untergehende Sonne und dachte über meine Zukunft nach. Was würde wohl aus mir werden, nach meiner Zeit als Knappe?

Bisher war alles so sorglos und leicht gewesen, doch bald würde ich erwachsen sein und müsste auf eigenen Füßen stehen. Die Worte des Tempelritters wollten mir nicht mehr aus dem Kopf. Auf einmal stand Borchwei neben mir, dessen Stube direkt über unserem Quartier lag.

»Na, mein junger Freund, so nachdenklich?«

Er setzte sich neben mich und stellte einen großen Krug Wein mit zwei Bechern zwischen uns. Er schenkte ein und wir tranken gemeinsam. Nach dem ersten Schluck schloss Borchwei voller Wonne seine Augen. »Wein aus meiner Lothringer Heimat.«

Auch ich genoss den ungewohnten und vollmundigen Geschmack des Weins, der so anders war als die einheimischen säuerlichen Gebräue.

Trotz seiner vierzig Jahre wirkte Borchwei jugendlich und drahtig. Er war sonnengebräunt und hatte ein gepflegtes Äußeres. Seine Finger spielten mit dem Becher, während er versonnen zum Abendhimmel blickte. Ich fasste mir ein Herz und erzählte ihm von Guiscards verlockendem Angebot, dem Orden beizutreten und so einer gesicherten Zukunft entgegenzusehen. Aber auch von meinen Zweifeln, solch ein Leben als Mönchsritter zu führen. Mein väterlicher Freund hörte mir geduldig zu. Als ich geendet hatte, dachte er kurz nach.

»Es ist gut, dass du dir darüber Gedanken machst. Denn würdest du es nicht tun, würdest du blindlings eine Entscheidung treffen, die du vielleicht später bereuen würdest, wie so manch anderer vor dir.« Nach einem weiteren Schluck Wein fuhr er fort. »Ich kenne Guiscard, wenn auch nicht näher. Sie leben nach den strengen Regeln des heiligen Augustinus, nehmen meist nur Wasser und Brot zu sich und haben ihr Dasein ganz Gott gewidmet. Im Kampf fürchten sie den Tod nicht, sie lassen sich vom Feind nicht gefangen nehmen, eher sterben sie. Dies alles macht sie zu so furchtlosen Kriegern, selbst wenn der Feind in noch so großer Überzahl ist.«

»Woher kennst du Guiscard?«

»Es ist einige Monate her, bei einer Schlacht nördlich von Ascalon. Wir hatten drei Dutzend Ritter des Tempels zur Unterstützung dabei. Als wir dem Feind gegenüber standen, erkannten wir, dass wir dessen Anzahl unterschätzt hatten. Wir waren zweihundert, die Seldschuken mindestens doppelt so viel. Die Ordensritter hatten den Befehl, die rechte Flanke des Feindes abzulenken, während wir in der Mitte vorstoßen sollten. Nun, sie zerstörten die Feindesflanke komplett, bis hin zur Mitte. Sie wüteten wie die Teufel, bis der Feind die Flucht ergriff. Nie zuvor hatte ich Männer so entfesselt kämpfen sehen. Selbst wenn ihre Gegner in der dreifachen Überzahl sind, siegen sie. Und so eilt ihnen ihr gefürchteter Ruf voraus.«

Das mussten wirklich außergewöhnliche Streiter sein, dachte ich für mich. In meiner Erinnerung sah ich, wie die siegreichen Krieger damals umjubelt heimgekehrt waren, an ihrer Spitze die Ritter des Tempels. Ich fragte wissbegierig weiter. »Die Leute halten sie für geheimnisvoll und nicht wenige behaupten, dass der Orden große Schätze angehäuft hat. Aber wenn dem so wäre, warum leben sie dann in solcher Bescheidenheit?«

»Nun, irdische Güter bedeuten ihnen nichts. Sie leben ganz für Gott und ihren Glauben. Beten und Schweigegelübde, aber ebenso der Kampf, bestimmen das Leben der Ordensmitglieder. Und somit der Verzicht auf die Freuden des Lebens.«

Wir tranken wieder. »Borchwei, ganz ehrlich, ich glaube so ein Leben als Mönch, dafür bin ich wohl nicht geeignet.«

Borchwei schmunzelte und sah mich von der Seite an. »Jesco, das glaube ich auch nicht, du kriegst ja morgens schon nicht deinen Arsch aus dem Bett.«

Wir mussten beide lachen, doch dann wurde Borchwei wieder ernst. »Weißt du mein Junge, ich bin der festen Ansicht, einen gottgefälligen Mann erkennt man nicht unbedingt an seinen Gebeten, sondern an seinen Taten!«

Ich dachte lange über seine Worte nach und nahm mir vor, sie nicht mehr aus dem Gedächtnis zu verlieren. »Die Taten eines Mannes«, das gefiel mir, musste ich zugeben.

Erneut füllten wir unsere Becher, inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Wir schauten in den klaren Sternenhimmel, vor dem sich die dunkle Silhouette des Davidsturms abhob.

Entschlossen sah ich Borchwei an. »Ich werde dem Orden nicht beitreten, ich möchte ein Krieger werden, so wie du.«

Er sah mich an und wirkte dabei fast erleichtert. »Das wirst du, Jesco, und noch dazu ein Besserer als ich, das verspreche ich dir.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte und blickte verlegen zu Boden. Nach kurzem Schweigen bat ich ihn, aus seiner Heimat zu erzählen. Sein Blick schweifte sehnsüchtig in die Ferne. »Da wo ich herkomme, aus Lothringen, meines Vaters Heimat, sind die Wiesen grün und saftig, nicht so trocken wie hier. Die Wälder sind dort feucht und dicht bewachsen. Üppige Weinberge und sanfte Hügel durchziehen die Landschaft, es gibt viele kleine Bäche und Seen voller Fische. Man kann auf der Jagd Tiere erlegen, die du gar nicht kennst. Ich liebte es, zu Hause zur Jagd zu gehen. Im Winter schneit es, die Seen gefrieren zu, sodass man über das gefrorene Wasser laufen kann. Die Feuerstellen in den Häusern und Burgen brennen tags wie nachts, als Kleidung trägt man dann dicke Wollsachen und Fellumhänge. Die Burgen haben dunkle und feuchte Wände, nicht so helle Steinquader, wie du sie von hier kennst. Das tägliche Leben ist oft mühsam und hart, aber keiner lässt sich unterkriegen. Die Menschen sind dort anders, sie sind einfach. Es gibt nur eine Kultur und nur eine Sprache, nicht so eine Vielfalt von Menschen und Sprachen aus der ganzen Welt, wie im Heiligen Land. Manchmal regnet es tagelang und die Sonne versteckt sich hinter dicken, grauen Wolken. Im Herbst wechseln die Blätter der Bäume ihre Farbe und fallen als Laub zu Boden. Im Frühjahr jedoch erblüht das ganze Land und alles erwacht zu neuem Leben – dann gibt es für mich kein schöneres Land auf der Welt. Das, Jesco, ist meine Heimat!«

Verzaubert hatte ich ihm zugehört. »Und wo hast du meinen Vater kennengelernt?«

»In Mainz, einer Stadt, die nur einige Tagesritte von meiner väterlichen Burg entfernt liegt. Ein Teil des großen Frankenheeres sammelte sich dort und schloss sich später Gottfried von Bouillon an, um Jerusalem aus der Hand der Heiden zu befreien. Wir ritten beide in der Heeresmitte und mochten uns von Anfang an. Wir teilten uns die Verpflegung und halfen uns gegenseitig. Im Laufe des jahrelangen Feldzugs wurde daraus eine enge Freundschaft.«

Borchwei hatte mir schon oft von all diesen Dingen erzählt, doch ich wurde nicht satt, es immer wieder zu hören. Also fragte ich weiter: »War die Eroberung Jerusalems wirklich so grausam, wie man sich erzählt?«

Sein Gesichtsausdruck wurde kalt und er zögerte etwas mit seiner Antwort. »Es war das Schrecklichste, was ich je gesehen habe. Dein Vater und ich hatten in unserem Leben so manche Schlacht erlebt. Doch dies war ein Gemetzel, ein Abschlachten von Frauen und Kindern, Alten und Wehrlosen.«

Er sah vor sich auf den Boden, sein Blick war leer, fast abwesend. »Als wir die Mauern der Stadt überwanden, waren wir noch voller Kampfeslust. Doch was dann geschah, war der reinste Blutrausch. An die zwanzigtausend Einwohner wurden getötet. Sie hackten und stachen auf alles ein, was sich bewegte. Die Frauen wurden geschändet und anschließend aufgeschlitzt, als wären sie Wasserschläuche. Wir sahen viele Pfaffen und Mönche, die Menschen mit Holzknüppeln erschlugen. Dein Vater und ich wandten uns mit Ekel und Entsetzen ab. Danach stank es tagelang nach Verwesung und Blut, die Hitze machte es noch schlimmer. Berge von Toten wurden vor der Stadtmauer aufgehäuft und dann verbrannt.«

Borchwei schnaufte hörbar aus und schloss kurz seine Augen.

»Gott kann so etwas nicht gewollt haben«, sagte er traurig.

Ich sah Borchwei nie beten, jetzt glaubte ich zu wissen warum.

Wir schwiegen beide und ich stellte mir die Gräueltaten von damals vor, in dieser Stadt, die jetzt so friedlich vor mir lag. Ich hatte aber noch mehr Fragen, vor allem eine beschäftigte mich. »Borchwei, manche berichten, die Krieger hätten in Antiochia heilige Reiter am Himmel gesehen und das hätte sie zum Sieg angespornt. Hast du sie auch gesehen?«

»Nein, ich selber nicht. Aber viele behaupteten, sie gesehen zu haben.« Er sah mir an, dass mit seiner Antwort mein Wissensdurst nicht gestillt war und fuhr fort: »Wir hungerten damals tagelang, viele starben fast vor Hunger. Wenn man zu lange nichts gegessen hat, dann sieht man Dinge, die es gar nicht gibt. Ich glaube, es waren einfach nur Hungervisionen, aber sie verhalfen uns zumindest zum Sieg.«

Borchweis Erklärung erschien mir einleuchtend, obwohl mir die andere Version besser gefiel. Der Wein hatte meine Zunge inzwischen gelockert und ich wollte mehr wissen. Ich fragte ihn nach der Heiligen Lanze. Er trank wieder einen Schluck, bevor er mir antwortete. »Ein Mann namens Peter Bartholomäus hatte die Vision, dass die heilige Lanze, mit der Jesus in die Rippen gestoßen wurde, in einer Kirche in Antiochia vergraben wäre. Nach Tagen fand man auch eine alte rostige Lanze.« Er sah mich an und zog seine Augenbraue nach oben. »Man findet hier alte römische Lanzen zuhauf. Ich möchte nichts behaupten, jeder soll das glauben, was er für richtig hält. Jedenfalls hat die Lanze uns bis heute von Sieg zu Sieg getragen. Eines habe ich daraus gelernt: Glaube versetzt Berge.«

Ich war erstaunt, nicht nur über diese Geschichten, sondern auch über Borchweis Ansichten. Denn sie bewiesen mir, dass er alles andere als leichtgläubig war. Ich nippte nachdenklich an meinem Becher. Mir war von dem schweren Wein schon gehörig schwummrig, als Borchwei uns den letzten Rest einschenkte. Er zwinkerte mir zu und wir tranken unsere Becher leer. Rülpsend lehnte ich mich zurück an die Wand, deren Steine noch von der Sonne erwärmt waren. Mir drehte sich alles! Ich war nur Wein mit viel Wasser verdünnt gewohnt, von dem ich meist nicht viel trank. Ich sah alles nur noch verschwommen.

»Halleluja, mir is ...«

Borchwei sah mich verdutzt an und musste dann laut lachen.

»Ich denke, du gehst besser ins Bett.«

Sein Ratschlag schien mir äußerst vernünftig zu sein. Doch leider sahen meine Beine das etwas anders, denn sie wollten mir nicht mehr gehorchen, als ich versuchte aufzustehen. Und so zog mich Borchwei unter den Achseln hoch, schleppte mich ins Haus und legte mich auf mein Bett, wo ich sofort einschlief.

 

 

Ich erwachte am nächsten Morgen und dachte, eine Herde von Kamelen wäre über mich hinweg getrampelt. Mein Schädel dröhnte und mein Mund war wie ausgetrocknet. Die Zunge klebte mir am Gaumen und ich verspürte großen Durst.

Ich stand wackelig auf und torkelte hinaus zum Brunnen, wo ein mit Wasser gefüllter Holzeimer stand. Die grelle Sonne blendete mich erbarmungslos und verstärkte meine pochenden Kopfschmerzen und meinen Schwindel. Bei jedem Schritt drohte sich mir der Magen umzudrehen. Wie ein Verdurstender erreichte ich schließlich den rettenden Brunnen im Schatten.

Ich tauchte meinen Kopf in das wohltuend kühle Wasser des Eimers. Die Erfrischung tat mir gut und ich fühlte mich etwas besser. Dann kotzte ich mir die Seele aus dem Leib.

Von Weitem war Gelächter zu hören. Borchwei stand mit zwei Rittern einige Schritte entfernt und sie schauten amüsiert zu mir herüber. »Leg dich noch mal hin, für was anderes bist du heute sowieso nicht zu gebrauchen«, hörte ich Borchweis Stimme.

Wieder ertönte schadenfrohes Gelächter, aber ich war ihm dankbar und schleppte mich wieder stöhnend in mein Bett. Ich schwor mir damals hoch und heilig, so schnell keinen Wein mehr anzurühren. Noch nie zuvor in meinem Leben ging es mir so hundeelend. Den übrigen Tagesverlauf möchte ich an dieser Stelle nicht näher ausführen.

Eines Morgens beauftragte mich Borchwei mit einem Botengang zu Ali, dem Medikus vor der Stadt. Es war ein sonniger Tag, doch im Süden brauten sich einige dunkle Wolken zusammen und verhießen nichts Gutes.

Als ich mich seinem großen Zelt näherte, dessen helle Wände mit Holz verstärkt waren, befanden sich schon die ersten Patienten vor Ort. Er trat aus dem Zelt und begutachtete einen Kranken. Ali war schon sehr alt, sein Haupt schmückte ein weißer Turban und um seine Augen kräuselten sich kleine Lachfältchen. Ein braunes, wettergegerbtes Gesicht und ein langer weißer Vollbart verliehen ihm einen weisen Ausdruck.

Als er mich sah, kam er gebückt auf mich zu, nahm meine beiden Hände in die seinen und begrüßte mich warmherzig.

»Was führt dich zu mir mein junger Freund, ich hoffe du bist nicht krank?«

Beruhigend lächelte ich ihn an. »Nein, mir fehlt nichts. Borchwei schickt mich, um dir dies zu überreichen und richtet dir seinen Dank aus für deine Dienste.« Mit diesen Worten überreichte ich ihm einen kleinen Lederbeutel, gefüllt mit Münzen. Dankbar und zugleich bescheiden, nahm er ihn entgegen.

Ali hatte sich schon des Öfteren um uns Knappen gekümmert, wenn wir kleinere Blessuren vom täglichen Üben mit den Waffen davontrugen. Borchwei vertraute voll und ganz auf Alis heilerische Fähigkeiten.

Er forderte mich freundlich auf, mich hinzusetzen. Auf einem kleinen Holzschemel vor seinem Zelt ließ ich mich nieder, während er in seinem Zelt verschwand, um kurz darauf mit einem bronzenen Becher zurückzukehren. Er reichte ihn mir. »Trink, das wird deine Lebensgeister wecken.«

Ich bedankte mich und nahm einen Schluck. Der Trunk war heiß und schmeckte seltsam, irgendwie süßlich und bitter zugleich. Wohlwollend sah er mich an und lächelte. »Richte Borchwei meinen tiefsten Dank aus.«

Ali hatte gerade ausgesprochen, als ein Normanne in gestrecktem Galopp auf uns zukam und sein Pferd jäh vor uns zügelte. Sein Waffenrock war stark verstaubt vom Wüstensand, sein Gesicht verschwitzt und sein Pferd blutete an der Flanke. Auch auf dem Kettenhemd des Ritters waren mehrere Blutflecken zu sehen. Er sprang vor uns aus dem Sattel.

»Schnell, wir brauchen deine Hilfe – ein Hinterhalt bei den Hügeln.« Schon folgten seine beiden Gefährten, der eine hatte einen Verletzten quer vor sich über dem Sattel hängen.

Hastig eilte Ali zu dem Verwundeten. Ich stand ebenfalls auf, um zu helfen. Vorsichtig zogen einer der Normannen und ich den stark blutenden Ritter vom Pferd. Er war noch jung und schrie auf, während wir ihn auf eine Pritsche legten, die Ali uns anwies. Vorsichtig legten wir ihn ab und trugen ihn dann in Alis Zelt.

Stöhnend vor Schmerzen lag er da, an seiner Hüfte war das Kettenhemd zerfetzt und eine tiefe, blutende Wunde klaffte darunter. Das Blut schoss daraus hervor wie Wasser aus einer Quelle. Behutsam öffneten Ali und zwei seiner Helfer die Schnürung an seinem Kettenpanzer. Dann richteten sie seinen Oberkörper langsam auf und zogen ihm seine schwere Last aus. Wieder furchtbare Schreie.

Alis Miene war mehr als besorgt. »Ich weiß nicht, ob ich ihn retten kann, ich muss seine Wunde säubern und zunähen.«

Die drei Normannen starrten ihn zunächst erschrocken an, bis schließlich einer nickte, es war wohl ihr Anführer. »Tut, was Ihr für richtig haltet, aber lasst meinen Bruder nicht sterben!« Darauf schickte Ali die Normannen und mich aus dem Zelt. Sichtlich besorgt standen die drei nun bei ihren Pferden.

Wieder drangen gurgelnde Schmerzensschreie aus dem Zelt an unsere Ohren. Noch nie hatte ich jemanden so unmenschlich schreien hören. Mit wutverzerrtem Gesicht starrte der Bruder des Schreienden zu Alis Zelt hinüber. »Ich schwöre bei Gott, wenn mein Bruder stirbt, dann werde ich die Hölle über diese verfluchten Heiden hereinbrechen lassen!«

Er sprach es mit so einer Entschlossenheit aus, dass kein Zweifel daran bestand, dass er seine Worte in die Tat umsetzen würde. Denn jeder wusste, wenn hasserfüllte Normannen in die Schlacht zogen, dann gnade Gott ihrem Feind.

Einer der Ritter nahm die Zügel der Pferde und brachte sie fort. Die anderen beiden stellten sich unter einen braunen Baldachin, um sich vor der Sonne zu schützen. Sie mussten schon sehr lange in der sengenden Hitze ausgeharrt haben. Ich griff nach einem Wasserkrug, der vor Alis Zelt auf einer Kiste stand und brachte ihn den Beiden. Sie sahen mich dankbar an und tranken gierig. Wassertropfen liefen an ihrem staubigen Kinn herunter und tropften auf ihre Brust. Ihre Gesichter waren von der Sonne stark gerötet und die Haut löste sich an vereinzelten Stellen. Die Blutflecken auf ihren Waffenröcken waren bereits angetrocknet; auch an ihren Kettenhemden waren deutliche Kampfspuren zu erkennen. Sie wirkten beide sehr erschöpft.

»Danke, auch für deine Hilfe vorhin.«

Ich nickte verlegen und wusste nicht, wo ich hinschauen sollte.

»Wurdet ihr von Sarazenen angegriffen?«

Die Augen des Normannen funkelten wütend. »Ja, hinterrücks und feige, wie es ihre Art ist!«

Nachdem er erneut getrunken hatte, sah mich der Bruder des Verletzten traurig an. Sein Blick wirkte gequält, als er voller Wehmut weitersprach. »Mein Bruder und ich wollten in ein paar Wochen nach Sizilien heimkehren. Ich habe die Heimat zum letzten Mal vor acht Jahren gesehen, mein Bruder sah sie noch nie, er ist hier geboren.« Seine Augen waren feucht geworden. »Und vielleicht wird er hier begraben.«

Ich sah ihn mitfühlend an. »Ali ist der beste Heiler den ich kenne, er wird ihn nicht sterben lassen.«

Woher ich meine Zuversicht nahm, wusste ich nicht, denn es sah nicht gut aus für seinen Bruder.

Der Normanne fuhr sich mit der Hand durch seine langen, schwarzen Haare, die verschwitzt in sein Gesicht hingen. Voller Sorge blickte er immer wieder zu Alis Zelt, in dem sein Bruder gegen den Tod kämpfte. Dann drehte er sich zu mir um. »Wie alt bist du?«

»Fünfzehn Jahre und noch Knappe.«

Er sah mich an, doch es war, als würde sein Blick durch mich hindurchgehen. »Mein Bruder ist nur drei Jahre älter als du. Er hat wenig Kampferfahrung, aber einen tiefen Glauben. Geholfen hat es ihm nicht.«

»Wir sollten für ihn beten«, schlug ich vor.

Der Normanne schnaubte nur höhnisch. »Beten? Ich habe früher einmal viel gebetet. Aber wenn man lange genug hier ist, und lange genug getötet hat, dann verlernt man das Beten, glaube mir!«

Ich starrte ihn erschrocken an. Wenn man so etwas in der Öffentlichkeit aussprach, konnte es gefährlich für einen werden. Mit wutunterdrückter Stimme sprach er weiter. »Verrat und Lügen, Krieg und Tod. Wenn das hier das Heilige Land sein soll, wo angeblich Milch und Honig fließen, dann will ich hier nicht mehr sein. Denn ich fühle keinen Gott mehr!«

Ich schwieg jetzt, ich wollte nicht noch mehr solcher Worte hören, denn Gott zu leugnen war eine schwere Sünde.

Der Wind wurde stärker und blies den Sand durch die Zeltstadt. Die Schreie aus dem Zelt waren schon eine ganze Weile verklungen, hoffentlich kein schlechtes Zeichen, dachte ich für mich. Die Zeit verstrich und die Normannen wurden immer unruhiger. Ich traute mich nicht mehr etwas zu sagen und füllte erneut den Krug mit frischem Wasser aus einem Eimer.

Blutbesudelt und verschwitzt trat Ali nach einiger Zeit aus seinem Behandlungszelt. Sofort gingen die beiden Ritter auf ihn zu. »Lebt er?«

»Ja, er lebt.«

Erleichtert atmeten die beiden durch. Doch Alis Miene blieb besorgt. »Er hat sehr viel Blut verloren, die Wunde ist tief, ich habe sie sorgfältig gesäubert und zugenäht, einen Kräuterbrei aufgetragen und verbunden. Er hat das Bewusstsein verloren, aber sein Atem ist ruhig und gleichmäßig. Sein Zustand ist jedoch weiterhin kritisch.«

»Ich danke dir, Medikus, ich werde dich gut entlohnen«, sprach der Normanne.

»Ich habe nur meine Arbeit verrichtet, dankt lieber eurem Gott«, entgegnete ihm Ali, worauf der Ritter verächtlich zu Boden spuckte. »Wir kommen morgen wieder und sehen nach ihm.«

Der Normannenführer sah mich noch kurz an, dann schritten sie davon. Wir sahen ihnen noch nach, bis sie die Menschenmenge schließlich verschluckte.

Ali schüttelte betrübt seinen Kopf. »Wenn ein Mann seinen Glauben verliert, was hat er dann noch?«

Ich wusste ihm darauf keine Antwort und schwieg. Kurz danach verabschiedete ich mich von Ali und machte mich auf den Heimweg.

Tief in Gedanken versunken, ging ich durch die schattigen und windgeschützten Gassen der Stadt. Würde ich vielleicht auch eines Tages halb tot in Alis Zelt liegen?

Die blasphemischen Worte des Normannen gingen mir durch den Kopf und ließen mich nicht mehr los. Wie viel Leid und Tod musste er gesehen haben, um so zu sprechen.

 

 

Das abendliche Üben mit den Waffen verscheuchte meine Gedanken an die Normannen jedoch schnell. Bero hieb wie besessen mit einer Streitkeule in der einen und Schild in der anderen Hand, auf einen Baumstumpf ein. Er konnte mit der Holzkeule, an deren Ende lange Eisenspitzen steckten, verdammt gut umgehen.

Ich hatte Schild und Morgenstern, eine Waffe, die es in dieser Form noch nicht lange gab. An einem Holzgriff hing eine unterarmlange Eisenkette, an der eine schwere Eisenkugel mit Eisenspitzen daran, befestigt war. Wenn man damit ausholte und seinen Gegner traf, hatte es eine verheerende Wirkung. Borchwei legte sehr großen Wert darauf, dass wir mit allen Waffen gleich gut umzugehen verstanden.

Durch die körperlich harten Übungen an den Waffen und das Schleppen der schweren Sandsäcke, waren meine Muskeln stärker geworden. Auch war ich in letzter Zeit gewachsen, was ich an meinen zu kurzen Hosen feststellte. Mein Haar hatte ich schulterlang wachsen lassen, wie die meisten Ritter es trugen. Dadurch fühlte ich mich erwachsener. Jedenfalls fiel mir auf, dass mich in letzter Zeit die Mädchen auf dem Markt immer öfter anlächelten, was mich zwar stets verlegen machte, mir aber dennoch gefiel.

Bevor wir uns schlafen legten, aßen Bero und ich noch Speck und frisch gebackenes Brot. Auch an Bero stellte ich immer häufiger Veränderungen fest. Ein leichter Flaum kräuselte sich an seinem Kinn und er war an den Schultern breiter geworden. Er wirkte seit einiger Zeit nicht mehr so jungenhaft. Wurden wir jetzt zu Männern?

In dieser Nacht schlief ich unruhig und wälzte mich in meinem Bett. Ich träumte von einem Meer aus Blut, auf dessen Wogen Schiffe trieben, ihre Segel schmückte ein großes rotes Kreuz. Aus dem rot gefärbten Wasser wollten Hände nach mir greifen. Es waren die Hände von Toten. Ich sah mich selbst im Blut schwimmen und schrie, als mich etwas an den Füßen packte. Schweißgebadet wachte ich auf und sah Beros Gesicht über mir. »Du hast geträumt, Jesco.«

Ich musste wohl im Schlaf geschrien und Bero geweckt haben. Kopfschüttelnd ging er wieder zu Bett. Die restliche Nacht verfiel ich in einen unruhigen Schlaf.

 

 

Es war einige Tage vor dem Weihnachtsfest, als Borchwei die älteren Knappen zusammenrief. Wir versammelten uns im Kleinen Saal in der Davidszitadelle und waren gespannt darauf, was Borchwei uns mitzuteilen hatte.

Durch zwei schmale Fenster drang die morgendliche Sonne in den nur spärlich eingerichteten Raum. Wir saßen auf einfachen, dunklen Holzbänken und warteten ungeduldig auf unseren Ausbilder. Schließlich betrat Borchwei den Saal, er baute sich vor uns in der Mitte auf und sah uns nur an. Entweder wollte er so die Wichtigkeit seiner Worte unterstreichen, oder wir mussten eine Strafpredigt befürchten.

»Ich habe euch heute alle hierher gebeten, um euch etwas mitzuteilen. Ihr alle habt mir während eurer Ausbildung große Freude bereitet, ihr wart gehorsam und fleißig. Eure Lernerfolge im Lesen und Schreiben bei Bruder Philippe sind, sagen wir mal, ausreichend bis ausbaufähig. Das Königreich Jerusalem braucht neue, militärisch gut ausgebildete Kämpfer.«

Er machte eine Pause und sah zu Boden, dann verschränkte er seine Arme vor der Brust und fuhr fort. »Daher haben wir beschlossen, dass euch morgen eure Pferde zugeteilt werden, um die letzte Einheit eurer Ausbildung anzugehen.«

Bero, der neben mir saß, stieß mir mit seinem Fuß an mein Schienbein. Wir sahen uns gegenseitig an – endlich war es soweit! Wir Knappen flüsterten alle aufgeregt durcheinander, bis Borchwei wieder seine Stimme erhob. »Die Tiere sind schon fertig ausgebildet, einige haben bereits Kampferfahrung. Aber wichtig ist, dass ihr Eins werdet mit eurem Ross, es soll euer Leben schützen und ihr das seine. Die Kosten für eure Pferde übernimmt das Königreich, dafür werdet ihr im Gegenzug später für Jerusalem kämpfen ... einige vielleicht sogar sterben. Das ist die Abmachung und dafür werdet ihr vereidigt werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist.«

Ein Frösteln durchlief mich, auch Bero war sichtlich aufgewühlt. Dann wurde die Versammlung aufgelöst und Borchwei gab uns den ganzen Tag frei.

Einige der anderen Knappen gingen beten, doch Bero und ich waren aufgrund der Neuigkeiten viel zu aufgeregt und so zogen wir es vor, durch das arabische Viertel zu ziehen.

In diesem Stadtteil lebten einst Juden, die aber von den Eroberern vertrieben wurden. Seit kurzem hatten sich dann in dem Viertel einige arabische Siedler niedergelassen, mussten sich aber den strengen Regeln der Christen unterwerfen.

Wir nahmen das geschäftige Treiben um uns herum kaum wahr, viel zu aufgekratzt waren wir noch. »Mein eigenes Pferd, ich kann es noch gar nicht glauben«, schwärmte Bero. Ich neckte ihn: »Vielleicht kriegst du auch nur eine alte, klapprige Mähre, auf der du dann in die Schlacht hoppelst.«

»Und du einen trächtigen Esel!«

Wir mussten beide lachen, aber ein Gefühl der Nervosität vor dem morgigen Tag blieb dennoch hängen.

 

 

Zum Frühmahl bekamen wir Milchbrei, den wir hastig verschlangen, zu groß war unsere Ungeduld. Danach warteten wir vor unserem Quartier auf Borchwei. Der Himmel war von grauen Wolken verhangen und weigerte sich, den Tag mit uns zu feiern.

Als es schon zu tröpfeln begann, kam Borchwei endlich. Er ging zielstrebig voran und wir folgten ihm wortlos zu den nahegelegenen Ställen. Als wir dort ankamen, wartete bereits der Stallmeister auf uns. Seine Miene hatte etwas Strenges und er schien schlecht gelaunt zu sein. Ich war ihm schon ein paar Mal über den Weg gelaufen und mochte ihn nicht sonderlich. Als wir vor ihm stehen blieben, murrte er uns ohne Begrüßung herrisch an. »Dass ihr mir ja nicht die Pferde scheu macht, ihr tut genau das, was wir euch sagen!«

Er trat einen Schritt zurück und überließ Borchwei das Wort.

»Der Stallmeister und ich haben uns lange Gedanken darüber gemacht, wer von euch welches Pferd bekommt. Der Charakter und Körper des Reiters soll zu dem seines Pferdes passen.«

Wir hörten seinen Worten aufmerksam zu, während aus dem steingemauerten Stall leises Wiehern zu uns drang. »Wir haben an jedem Holzverschlag eines Pferdes eine kleine Holztafel mit euren jeweiligen Namen angebracht, insgesamt zehn. So kann jeder sein Pferd erkennen. Lesen könnt ihr ja, zumindest dafür müsste es reichen. Geht nun langsam dem Stallmeister nach und verhaltet euch ruhig.«

Das schwere Holztor wurde von einem Knecht geöffnet. Pferdegeruch kam uns entgegen, als der Stallmeister voranschritt und wir anderen ihm folgten. Bero drängelte sich gleich nach vorne und ich wollte ihm schon folgen, als sich mir plötzlich Borchwei in den Weg stellte. Er lächelte mich an. »Komm mit mir.« Dabei legte er mir seinen Arm um meine Schulter und wir gingen gemeinsam ins Stallinnere.

Durch sehr kleine Lichtschlitze in den Wänden drang gedämpftes Licht in den Stall, was dem Ganzen etwas Magisches verlieh. Jeder der Knappen suchte sein Namensschild. Hier und da war ein leiser Ausruf der Freude zu hören, wenn einer sein Pferd gefunden hatte, der Stallmeister mahnte jedoch immer wieder zur Ruhe. Borchwei zog mich mit sich, bis fast zum Ende des Stalls. Dann entdeckte ich an einer Bretterwand meinen Namen auf einer Tafel, Borchwei blieb dicht hinter mir stehen. Mit bedächtigen Schritten ging ich langsam um die Holzabtrennung und blieb mit gebührendem Abstand stehen.

Ein großer dunkelbrauner Hengst stand vor mir, stolz und anmutig. Er begrüßte mich mit einem leisen Schnauben und wippte seinen Kopf hoch und runter, mit seinem kräftigen Vorderhuf scharrte er im Stroh.

»Nun geh schon und begrüße deinen neuen vierbeinigen Gefährten.« Ich vernahm Borchweis Stimme nur wie durch einen Nebel. Mit Respekt ging ich langsam auf mein Pferd zu und tätschelte es am Hals, während der Hengst mit seinen Nüstern neugierig an mir schnupperte. Er war kräftig gebaut und trotzdem schlank und muskelbepackt. Die langen Haare seiner pechschwarzen Mähne wirbelten umher, als er seinen Kopf nach oben warf.

Ich streichelte ihn beruhigend und sprach leise auf ihn ein. Mehrere gut verheilte Narben an seiner Bauchseite zeugten von Kampfeinsätzen. Sein Fell war weich und glänzte seidig, man konnte seine Muskeln darunter zucken sehen. Ich konnte mein Glück kaum fassen, so ein wundervolles Pferd zu besitzen.

»Danke Borchwei.«

»Schon gut, Junge. Ich fand er passt zu dir, jung und wild wie du. An seinen Zähnen erkennt man sein junges Alter und seine Kampfnarben zeugen von Mut. Er entstammt einer noch neuen Zucht und ist eine Mischung aus Zelter und schwerem Streitross. Das macht ihn kräftig, beweglich und schnell. Freunde dich mit ihm an, aber habe auch eine strenge Hand. Und gib ihm einen Namen.« Mit diesen Worten verließ er den Stall.

Ich setzte mich ins Stroh und widmete mich wieder meinem Pferd. Lange Zeit beobachtete ich den Hengst und überlegte mir einen passenden Namen für ihn. Plötzlich stampfte er wild auf und wie einer Eingebung folgend, flüsterte ich: »Ashir«, ein arabisches Wort für „wild”. Er wieherte leise, als würde er seinem Namen zustimmen. Ich hatte Bero hinter mir nicht bemerkt.

»Na ja, einen trächtigen Esel, sagte ich doch«, flachste er. Ich stellte ihm voller Stolz meinen Ashir vor, bewundernd nickte er mir zu und streichelte ihn. Dann zeigte er mir sein Pferd, einen hellbraunen Hengst, ebenfalls ein schönes Tier. Aber ich hatte nur noch Augen für Ashir. Trotzdem zollte ich ihm meine Anerkennung für sein Pferd, auf das er genauso stolz war, wie ich auf meines. Ab diesem Tag waren wir täglich zweimal im Stall, um unsere Pferde zu füttern und zu striegeln. Vor allem aber, um das gegenseitige Vertrauen zu gewinnen.

Allerdings ahnte ich damals noch nicht, dass ich gemeinsam mit Ashir dem Tod noch oft ins Angesicht blicken würde.

 

Am Weihnachtstag standen wir vor Sonnenaufgang auf und gingen zur nahegelegenen Gihonquelle, um uns gründlich zu waschen. In einem Steinbecken stehend, schrubbten wir uns gegenseitig mit dem kalten Wasser ab. Gereinigt und in saubere Tuniken gekleidet, nahmen wir danach unser Frühmahl zu uns.

Anschließend machten wir uns zum weihnachtlichen Gebet in die Kirche St. Maria Latina auf. In den Straßen herrschte schon am frühen Morgen dichtes Gedränge. Am wichtigsten Feiertag des Jahres strömten nicht nur Pilger aus fremden Ländern, sondern auch Christen aus anderen Kreuzfahrerstaaten wie Antiochia oder Tripolis in die Stadt.

In der von Gläubigen überfüllten Kirche quetschten Bero und ich uns in das Seitenschiff des großen Gotteshauses. Durch die schmalen, hohen Säulenfenster konnte man den strahlend blauen Himmel sehen. Das eindringende Sonnenlicht paarte sich mit dem Kerzenschein und verzauberte das Innere der Kirche in einen festlichen Glanz.

Den lateinischen Gebeten der Priester lauschend, beobachtete ich die anderen Gläubigen um mich herum. Einige waren tief im Gebet versunken. Fast schon einer Ekstase gleich, wiegten sie im Knien ihre Oberkörper vor und zurück. Ich hatte ähnliches Verhalten schon bei Tieren festgestellt, wenn sie zu lange eingesperrt waren.

Den langen Gebeten schnell überdrüssig, fragte ich mich nach meiner eigenen Frömmigkeit, war ich vielleicht nicht gläubig genug? Ich hatte schon so manche Zweifel in mir festgestellt, wenn es um meinen Glauben ging; denn ich war stets grenzenlos erleichtert, wenn die Gebete nach endloser Zeit beendet waren. Meist schmerzten mir dann die Knie und ich hatte große Mühe, meine Augen offenzuhalten.

Wenn ich allerdings Bero neben mir gähnend gegen die Langeweile ankämpfen sah, war ich jedes Mal beruhigt, dass es mir wohl nicht allein so ging. So war ich auch an diesem Tag erleichtert, als wir die Kirche nach Stunden wieder verließen. Gott möge mir verzeihen.

Mein Ashir schnaubte mir freudig entgegen, als wir nach dem Kirchgang den Stall betraten. Ich fütterte und bürstete ihn und bildete mir ein, dass er mich jetzt schon von Weitem erkannte und sich freute, mich zu sehen. Länger als sonst verweilte ich heute bei meinem Pferd und redete viel mit ihm, er sollte sich so an meine Stimme und meinen Geruch gewöhnen.

Gegen Abend machten wir uns mit knurrenden Mägen auf den Heimweg. Die Stadt schien jetzt aus allen Nähten zu platzen; man hatte die Stadttore zwischenzeitlich immer wieder geschlossen, um dem großen Andrang an Menschen vor und in der Stadt Herr zu werden. Vor dem Refektorium des Klosters wurden den Armen und Bettlern Speisen gereicht, die sie an diesem heiligsten Tag des Jahres dankbar entgegennahmen.

Bei unserem Quartier angekommen, duftete es schon köstlich nach knusprig gebackenem Brot. Kurz darauf standen auf den Tischen die herrlichsten Speisen: in Honig und Gewürzen gebratenes Fleisch und Gemüse, Fisch und allerlei Früchte. Nach einem Dankgebet fielen wir über das Dargebotene her. Müde und satt gegessen fielen wir später auf unsere Strohsäcke und schliefen umgehend ein.

 

 

Nach den feierlichen Tagen des Weihnachtsfestes kehrte wieder etwas mehr Ruhe in Jerusalem ein und das Arbeiten mit unseren Pferden begann. Zu Anfang durften wir unsere gesattelten Tiere nur gehend am Zügel führen, zwei erfahrene Ritter beaufsichtigten uns dabei. Brav trottete Ashir stets hinter mir her. Auf leichten Zeltern konnten wir zwar schon reiten, aber so ein schweres Streitross zu beherrschen, war eine weitaus schwierigere Aufgabe; daher bereitete man uns behutsam darauf vor.

An einem verregneten Tag gingen wir wie üblich zum Stall, um die Pferde zu versorgen. Nachdem wir unsere Rösser gesattelt hatten, wollten wir sie wie immer am Zügel ins Freie führen. Der Stallmeister und drei Ritter, die uns unbekannt waren, standen uns am Stalltor jedoch breitbeinig im Weg.

Langsamen Schrittes ging der Stallmeister zwischen uns und unseren Pferden umher. Kritisch begutachtete er die Sattelriemen und kontrollierte die Steigbügel. Unter seiner strengen Fuchtel hatten wir viel über Pferde gelernt, dennoch mochte ich ihn nicht, was wohl an seiner mürrischen Art lag.

Nachdem er sich überzeugt hatte, dass wir alles zu seiner Zufriedenheit erledigt hatten, flüsterte er einem der drei Ritter etwas zu, worauf dieser nickte und vortrat. Man sah diesem Recken an, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Seine rechte Gesichtshälfte bedeckte eine Brandnarbe und seine Augen wirkten kalt. Ich fühlte mich unter seinem Blick nicht wohl, es war der Blick eines Kriegers, der keine Gnade mit seinen Feinden kannte.

Plötzlich brüllte er. »Aufsitzen!« Wir trauten zuerst unseren Ohren nicht, doch sein Befehl war unmissverständlich. Die beiden anderen Ritter traten zwischen uns, um eingreifen zu können, falls ein Pferd scheute.

Bero biss sich nervös auf die Lippen und ich umfasste mit schweißnassen Händen den Sattelwulst. Den linken Fuß im Steigbügel, nahm ich mir ein Herz und schwang mich in den Sattel. Kaum dass ich saß, tänzelte Ashir auch schon nervös. Sofort sprach ich beruhigend auf ihn ein und streichelte ihn am Hals, worauf er zu meiner Freude ganz ruhig wurde. Ich konnte spüren, wie sich seine mächtigen Muskeln unter mir bewegten. Endlich saß ich auf meinem Pferd.

Auch die anderen waren aufgesessen, ein Tier scheute ein wenig, doch einer der Ritter war zur Stelle und beruhigte es. Bero saß mühelos im Sattel und grinste mich schelmisch an, ich zwinkerte ihm erleichtert zurück.

Auch der narbige Ritter bestieg nun sein Pferd. »Wir reiten in langsamen Gang die Ausfallstraße entlang und dann hinaus zur Stadt. Ihr folgt genau meinen Befehlen!«

Er ritt voraus, während die anderen beiden Ritter sich unter uns mischten. Mit leichtem Schenkeldruck brachte ich mein Pferd in Gang. Bereits der kleinste Ruck am Zügel reichte aus, um dieses mächtige Ross in die gewünschte Richtung zu lenken.

Ich fühlte mich bereits wie ein erfahrener Ritter, als die Menschen auf der Straße mir respektvoll Platz machten und zu mir hoch sahen. Mit stolzgeschwellter Brust ritten wir unter dem hohen Torbogen des Davidsturms hindurch.

Etwa fünfhundert Schritte außerhalb der Stadtmauern trabte unser Anführer an. Wir folgten mühelos und Ashir gehorchte jedem meiner Kommandos. In der großen Ebene vor der Stadt angekommen, hielt der Narbige an und wendete sich uns zu.

»Seht ihr an den Hügeln dort die Bäume, dorthin reiten wir jetzt im Galopp und wieder zurück!«

Kaum hatte er gesprochen, gab er seinem Pferd die Sporen. Wir schauten uns noch ungläubig an, als die ersten ihm schon folgten, auch Bero preschte bereits davon. Ich gab mit meinen Fersen Druck und verlagerte mein Gewicht nach vorn, sofort jagte Ashir wie entfesselt den anderen nach.

Ich fühlte mich wie in einem Rausch, wir flogen förmlich dahin. Die Muskelmasse dieses großen und schweren Pferdes in immer schneller werdender Geschwindigkeit zu erleben, war einfach nur atemberaubend. Sein Schweif wehte im Wind und sein Atem ging kraftvoll. An den Bäumen machten wir kehrt und ich war beeindruckt von der Beweglichkeit und Wendigkeit Ashirs. Nach der Kehrtwende hatten wir schon einige der anderen eingeholt. Als wir unseren Galopp beendeten, hatte sich Ashir als eines der schnellsten Pferde behauptet.

Der Narbige ließ sich sogar zu einem Lob an uns alle herab. Danach ritten wir wieder in gemütlicher Gangart in die Stadt zurück. Ich genoss jeden Schritt auf meinem Pferd. Wieder im Stall, rieb ich Ashir trocken und belohnte ihn mit ein paar Nüssen und frischem Futter. Dies war der bislang glücklichste Tag in meinem Leben.

 

 

In den darauffolgenden Wochen erlernten wir die verschiedenen Schlachtenformationen zu Pferde. Wir mussten in Keilform reiten oder in geschlossener Reihe, um uns dann in Flankenangriffe nach links und rechts zu teilen. Auch hier bewies mir Ashir seine bereits gewonnenen Erfahrungen.

Im beginnenden Frühjahr begannen dann die Waffenübungen zu Pferde, bei denen Bero und ich miteinander wetteiferten, was uns aber letztendlich nur zugute kam.

Besonders stolz war ich auf mein Pferd, als uns die Kampfkraft unserer Tiere demonstriert wurde. Ich saß auf und ein Knecht schlug mit einem langen Palmenzweig von hinten auf Ashir ein. Er reizte ihn gehörig, sofort schlug mein Pferd mit den Hinterhufen wütend aus und versuchte den Knecht mit seinem Hinterteil umzuwerfen. Ich wäre fast aus dem Sattel gefallen, hätte ich mich nicht im letzten Moment an seinen Hals geklammert.

Wurden wir von vorne angegriffen, bäumte sich Ashir auf und trat mit den Vorderhufen nach seinem Gegner. Auch hierbei machte sich seine vorherige Ausbildung bemerkbar. Mein Pferd war mir nicht nur ein Gefährte, sondern auch eine wirkungsvolle Waffe, die man im Kampf einsetzten konnte.

Irgendwann gingen mir Ashirs Bewegungen und Reaktionen in Fleisch und Blut über. Reiter und Pferd waren jetzt Eins.

 

Es war der sechzehnte Jahrestag meiner Geburt, Borchwei, Bero und ich saßen in einer Schenke. Borchwei lud uns ein, der Wirt trug uns Fleisch, Gemüse und Wein auf. Inzwischen hatte ich mich an den Genuss des gegorenen Traubensaftes gewöhnt.

Die Taverne war gut gefüllt und wir mussten unseren Tisch mit drei Handwerkern teilen. Die Luft in der Gaststube war stickig und es roch nach Männerschweiß. Nach dem Mahl beschlossen wir, uns draußen vor der Schenke an einem Tisch niederzulassen. Die Nacht war klar und der Vollmond erhellte die Straßen; nur eine Kerze auf dem Tisch spendete noch zusätzlich Licht.

Wir erzählten Borchwei von unseren Pferden und unseren Fortschritten bei den Reitübungen. Anerkennend hob er seinen Becher, mahnte uns aber zugleich, nicht nachzulassen oder selbstgefällig zu werden.

Es war ein ausgelassener Abend und ich fand es schön, mit meinen liebsten Menschen zusammen zu sein. Als Bero zu lallen begann, entschied sich Borchwei zu Bett zu gehen.

»Ihr seid alt genug, um den Abend auch ohne mich zu verbringen, gebt gut auf euch acht.« Er warf einige Münzen für die Zeche auf den Tisch und ging dann.

Kurz darauf war Bero mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen. Ich schickte mich gerade an, meinen Freund zu wecken und nach Hause zu bringen, als sich ein Fremder zu uns ans Tischende setzte. Seinen Kopf und Schultern umhüllte ein Tuch, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Ich stand auf und wollte Bero aufwecken, der Fremde sah zu mir herüber. Ich konnte jetzt sein Gesicht sehen, er war kaum älter als ich, und er kam mir irgendwie bekannt vor.

Er hustete und spuckte auf den Boden, er wirkte ein wenig angeschlagen. Plötzlich hatte ich die Erinnerung wieder vor Augen. Es war der verletzte junge Ritter, den Ali verarztet und dem ich vom Pferd geholfen hatte. Ich war neugierig geworden, also ließ ich Bero weiterschlafen und setzte mich dem jungen Normannen gegenüber.

»Verzeih, aber erkennst du mich?«, sprach ich ihn vorsichtig an. Er blickte auf und sah mich stirnrunzelnd an.

»Es tut mir leid, aber ich wüsste nicht, woher ich dich kennen sollte.«

»Du warst schwer verwundet, dein Bruder und ich haben dich damals in Alis Zelt getragen.«

Sein Blick war verwundert und überrascht zugleich. »Vergib mir, aber ich weiß nur noch, wie ich in seinem Zelt aufgewacht bin. Wie ich dort hinkam, weiß ich nur von meinem Bruder.«

»Sei's drum. Es freut mich jedenfalls, dass du noch lebst.«

Ich räusperte mich verlegen. »Ich meinte natürlich, dass es dir wieder besser geht.«

Er lächelte mich offen an. »Schon gut. Ich muss mich bei dir entschuldigen und bedanke mich im Nachhinein für deine Hilfe. Wie heißt du?«

»Jesco.«

»Mein Name ist Gilbert.«

Er nahm seinen Krug und füllte unsere Becher mit Wein. Ich sah ihn mir genauer an. Er hatte lange, glatte und dunkle Haare. Sein markantes Kinn war unrasiert und seine blauen Augen wirkten ehrlich auf mich.

»Es geht dir also wieder gut?«, fragte ich.

»Na ja, manchmal fühlt es sich an, als hätte ich glühende Nadeln in meiner Hüfte. Lange Zeit hatte ich Fieber.«

Er hustete wieder und spuckte aus. »Es ging mir schon besser, aber nichtsdestotrotz hat Ali mir das Leben gerettet.«

»Ja, er ist ein hervorragender Heiler. Darf ich dich fragen, wie es zu deiner Verletzung kam?«

Bei meiner Frage verhärteten sich seine Gesichtszüge.

»Wir waren mit sechzig Mann, alles erfahrene Normannen, in Antiochia. Der Befehl lautete, dort die Grenzen zu sichern, da es oft zu Überfällen von Seldschuken kam. Es blieb aber die gesamte Zeit über ruhig, keine Überfälle, keine Rebellen, rein gar nichts. Nach zwei Monaten hatten wir die Order, wieder nach Jerusalem zurückzukehren. Wenige Meilen von hier, in dem Tal zwischen den Hügeln, dann der Hinterhalt. Erst beschossen sie uns mit Pfeilen, dann griffen sie uns von den Hügeln herab an. Es war ein kurzer Kampf, wir hatten sie schon fast in die Flucht geschlagen, als mir ein verfluchter Heide seine Lanze in die Seite bohrte. Mein Bruder spaltete ihm mit seinem Schwert den Schädel samt Helm. Dann verlor ich das Bewusstsein. Den Rest kennst du ja.«

Erschüttert sah ich ihn an, ein Wunder, dass er noch lebte.

»Dein Bruder ist sicherlich froh, dass du wieder wohlauf bist.«

»So ist es. Aber er ist wieder nach Sizilien heimgekehrt. Er wollte mich mitnehmen, ich war jedoch zu geschwächt für die lange Reise. Also versprach ich ihm nachzukommen, sobald es mir besser ginge.«

Ich hatte schon oft von diesem Sizilien gehört. Der berühmte Heerführer der italienischen Normannen des ersten Kreuzzugs, der große Bohemund, stammte von dort. »Dann wirst du deinem Bruder bald folgen?«

Ein Hauch von Traurigkeit lag in seinen Augen. »Wohl eher nicht. Ich habe zwei ältere Brüder in Sizilien und werde nichts erben. Mich als Söldner zu verdingen kommt auch nicht in Frage. Also werde ich wohl hierbleiben und mich den französischen Normannen anschließen.«

Wir schwiegen eine Weile, dann bat mich Gilbert, von mir zu erzählen. »Ich bin noch Knappe, aber so Gott will, bald ein Ritter Jerusalems. Meine Eltern sind gestorben, ich komme aber gut zurecht. Mein Ritter Borchwei kümmert sich um mich und ich kann es kaum erwarten in den Kampf zu ziehen. Aber bis zu meinem Ritterschlag muss ich mich eben noch gedulden.«

Er trank einen Schluck Wein und sah mich nachdenklich an.

»Das kann schneller geschehen als du denkst.« Er bemerkte meinen fragenden Blick. »Jesco, wenn man abends an den Lagerfeuern sitzt, dann hört man so allerlei. Die Seldschukenstämme und ihre Fürsten sind untereinander zerstritten, daher gelingt es ihnen nicht, ein gemeinsames großes Heer aufzustellen. Doch in den letzten Wochen sollen sich einzelne Stämme zu Hundertschaften zusammengerottet haben. So erzählt man jedenfalls.«

»Wenn dem so wäre, dann hätten die Späher doch unsere Heerführer schon längst benachrichtigt, meinst du nicht?«

»Ich weiß es nicht, diese Heiden sind unberechenbar in ihren Wüstenlöchern.«

Wir leerten unsere Becher und standen auf. Gemeinsam zerrten wir Bero auf die Füße und nahmen ihn in unsere Mitte. Gilbert war so freundlich und half mir noch, ihn heimzubringen. Als wir Bero später in unserem Quartier auf sein Bett geschleppt hatten, bedankte ich mich nochmals für seine Hilfe. Doch er winkte nur lächelnd ab. »Gern geschehen.«

Wir verabschiedeten uns und Gilbert reichte mir seine Hand.

»Es hat mich gefreut dich kennenzulernen, Jesco. Und es würde mich freuen, wenn du mich mal besuchen kämst. Ich werde die nächste Zeit im Normannenlager vor der Stadtmauer zu finden sein, frag dort einfach nach mir.«

»Das werde ich gerne tun.«

Wir lächelten uns freundlich an, dann ging jeder seines Weges. Es war eine warme Nacht und der Wein hatte mich müde gemacht, daher freute ich mich auf mein Bett.

Als ich auf meinem Strohsack lag, dachte ich über den Abend nach. Gilberts vereinnehmende und warmherzige Art hatte es mir angetan. Ich nahm mir fest vor, ihn bei nächster Gelegenheit mit einem Krug Wein zu besuchen.

Ashir war mir inzwischen so ans Herz gewachsen und vertraut geworden, dass ich ihn abends nur ungern im Stall zurückließ. Ich hatte mich eben von ihm verabschiedet, als Borchwei den Stall betrat. »Ich dachte mir schon, dass ich dich hier finde. Es freut mich, dass ich wohl die richtige Auswahl traf, bezüglich deines Pferdes.«

»Oh ja, das hast du. Ich könnte mir wirklich kein besseres Ross wünschen, ich danke dir nochmals dafür.«

»Nicht der Rede wert.« Er streichelte Ashir und nickte anerkennend. »Wahrlich, ein prächtiges Tier.«

»Manchmal denke ich, Ashir kann meine Gedanken lesen. Bei den Kampfübungen handelt er wie von selbst, noch bevor ich ihm ein Kommando gebe«, antwortete ich voller Stolz.

»Ja, das macht ein gutes Streitross aus, Klugheit und Instinkt. Beides besitzt dein Pferd.«

Er sah mich eine Weile nachdenklich an und atmete dann hörbar aus. Ich hatte das Gefühl, dass ihm etwas auf dem Herzen lag. »Jesco, ich möchte dir etwas zeigen, weil ich glaube, dass heute der richtige Tag dafür ist.«

Ich sah ihn fragend an. Wenn Borchwei so sprach, dann lag meistens etwas in der Luft. Auffordernd deutete er mit dem Kopf in Richtung der Stalltür. »Komm einfach mit.«

Ich folgte ihm, mehr als erwartungsvoll. Wir gingen durch die abendlichen, belebten Straßen am Tempelberg vorbei und dann bergauf durch lang gezogene und überdachte Gassen. Die letzten Händler packten ihre Waren zusammen und Fackeln wurden angezündet.

Aus dem Gerberviertel drang ein beißender Geruch zu uns herüber, die Hinterhöfe zwischen den Häusern waren voller Unrat, der in der Hitze schon zu faulen begann. Nach weiteren Abzweigungen wurde die Luft wieder klarer, dafür strömten uns jetzt viele betende Pilger entgegen.

Schließlich standen wir vor der Grabeskirche. Borchwei blieb stehen und wir bekreuzigten uns. Dann sah er mich an.

»Das Kirchentor wird demnächst geschlossen, wie jeden Abend. Ich habe diesen Zeitpunkt bewusst gewählt, um mit dir ungestört zu sein, ohne all die Pilger.«

Er wollte mit mir beten? Wenn Borchwei mal betete, dann musste wirklich Unheil in der Luft liegen!

Die mächtige Holztür stand noch offen, als wir durch das große Eingangsportal ins Innere der Grabeskirche schritten. Hier war unser Herr Jesus Christus gestorben und begraben worden. Tiefe Ehrfurcht ergriff mich, wie auch die wenigen Male zuvor, die ich schon hier gewesen war.

Die alte Kirche überdeckt in der Mitte eine runde Kuppel, an den Außenwänden führen Treppen hinab zu mehreren Gebetsnischen. Direkt unter der Kuppel befindet sich der Felsen, auf dem unser Jesus Christus gekreuzigt wurde, daneben ist der Eingang zu seinem Grab zu sehen, in dem sich ein wunderschöner goldener Schrein befindet. Es brannten nur noch wenige Kerzen, die düsteren Steinwände flackerten in ihrem Lichtschein. Die Stille roch modrig und nach Weihrauch.

Wir stiegen einige Treppen in eines der Gewölbe hinab. Neugierig folgte ich Borchwei. An den geschwärzten Steinwänden waren tausende kleine Kreuze eingeritzt. Einst hatten sich dort die ersten Eroberer im Jahre 1099 verewigt.

Borchwei nahm mich an der Schulter und führte mich zu einem alten Steinaltar in einer dunklen Nische, die nur von einer kleinen Kerze dürftig erhellt war.

Als er vor dem Altar stehen blieb, sah er mich durchdringend an. »Jesco, mein Junge. Du wirst bald ein Streiter Jerusalems sein, wie all die Männer vor dir.« Er wies weitausholend mit seinen Armen auf die vielen Kreuze an der Wand. Dann zeigte er auf zwei eingekratzte Kreuze, die sich in Kniehöhe hinter dem Steinaltar befanden. »Diese beiden stammen von deinem Vater und mir, das rechte von deinem Vater Annulf!«

Ich starrte Borchwei mit offenem Mund an und war sprachlos. Dann schritt ich etwas zögerlich um den Altar herum zur Wand. Ich kniete mich hin und strich ehrfurchtsvoll mit den Fingerspitzen über das Kreuz meines Vaters. Es war, als würde ich an seinem Grab stehen. Eine Träne kullerte über meine Wange.

Ich hatte nie ein Grab meines Vaters besuchen können, da die Toten damals hinter der Stadt in einer riesigen Grube vergraben oder verbrannt wurden, denn zu groß war ihre Anzahl. Nur ein schlichtes großes Holzkreuz erinnerte noch an sie.

Lange betrachtete ich das kleine Kreuz. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als ich Borchweis Hand irgendwann auf meiner Schulter spürte. »Verzeih mir, dass ich dir das erst heute zeige. Aber ich war der Ansicht, du wärest noch zu jung und zu umtriebig. Jetzt besitzt du die nötige Reife, um es in dein Herz und deinen Geist zu lassen.«

Ich vernahm seine Worte und wusste, was er meinte. Die Würde dieses Augenblickes erfüllte mich und es schien, als wäre ich für immer mit dem alten Gemäuer der Grabeskirche verbunden. Es war nur ein kleines, eingeritztes Kreuz in der Wand, und doch bedeutete es mir so viel. Für mich war es ein Andenken an meinen Vater – auf ewig in Stein gemeißelt.

Mehr als nur dankbar sah ich Borchwei an. »Ich bin froh, jetzt einen Ort zu haben, an dem ich meinem Vater nahe sein kann.«

 

Ich besuchte diesen Ort noch viele Male. Immer dann, wenn ich verzweifelt war, wenn ich Angst hatte oder einsam war.

Heute weiß ich, dass kein anderer Ort dieser Welt mir jemals so viel Kraft verlieh.

Frühsommer 1119

»Es ist in Stein gemeißelt!«

Immer häufiger verwendete ich diesen Spruch, die eingemeißelten Kreuze an den Wänden der Grabeskirche waren wahrscheinlich der Grund dafür. Freudig umarmte ich Bero.

Wir älteren Knappen hatten soeben von Borchwei erfahren, dass wir in zwei Wochen den Ritterschlag erhalten sollten. Freudetrunken verließen wir den Kleinen Saal des Davidsturms, wo uns Borchwei diese gute Nachricht mitgeteilt hatte.

Er erzählte uns auch von der Knappenausbildung im fernen Frankenland. Denn dort mussten die Knappen oft mit in die Kämpfe ziehen, um ihren Herren zu dienen und in der hintersten Reihe zu kämpfen.

In Jerusalem hatte man aber beschlossen, die Knappen erst nach ihrer Ausbildung in den Kampf zu schicken. Der Grund dafür sei, so erklärte uns Borchwei, dass die Heiden nur militärisch gut ausgebildete Ritter zum Gegner haben sollten und nicht Kinder. Dies erschien auch mir einleuchtend und klug. Danach hatte er uns noch den Ablauf des Zeremoniells geschildert, was uns noch ungeduldiger werden ließ.

Am Abend wollten wir feiern. So beschloss ich, mit Bero zusammen ins Normannenlager zu gehen, ich wollte ihm Gilbert vorstellen. Bero willigte sofort ein und wir kauften unterwegs noch ein kleines Fässchen Wein.

In den vergangenen Wochen hatte ich Gilbert zweimal besucht, er war inzwischen vollständig genesen und wir hatten viele Stunden miteinander geredet. Ich mochte ihn und ich denke, er mich auch.

Schon von Weitem konnte man die Gesänge und das Gegröle aus dem Normannenlager hören. Es war eine ganz andere Welt, als innerhalb der Mauern.

Bero wirkte leicht eingeschüchtert, als wir durch das Zeltlager schritten. Ich hatte mich schon durch meine vorherigen Besuche an die ungehobelten und betrunkenen Krieger gewöhnt. Ich muss gestehen, dass einige dieser Burschen Furcht einflößend aussahen. Sie waren hochgewachsen und ihre Haare und Bärte meist ungepflegt und verfilzt. Manch einer war am Kopf sogar kahl geschoren. Und sie stanken!

Abschätzige und argwöhnische Blicke empfingen uns, sie benahmen sich Fremden gegenüber eher misstrauisch. Wir versuchten, uns unser Unbehagen nicht anmerken zu lassen, als plötzlich ein sprechender Baumstamm vor uns stand.

»Die feinen Herren haben sich wohl verlaufen. He?«

Bero neben mir wich einen Schritt zurück, doch ich blickte dem Hünen unerschrocken in die Augen. »Wir wollen zu Gilbert. Weißt du wo er ist?«

Er grunzte etwas Unverständliches und wies mit seiner Pranke zu einem großen Lagerfeuer. Ich nickte ihm dankend zu und wir zwängten uns an ihm vorbei. Im letzten halben Jahr war ich gehörig gewachsen und hatte fast Borchweis Körpergröße erreicht, aber dieser Normanne hier war wirklich ein Riese.

Am Feuer saßen viele Männer und tranken, es roch nach gebratenem Fleisch und Rauch. Bero fragte mich, was die Normannen feierten, ich klärte ihn auf, dass es hier jeden Abend so zuging, zumindest immer wenn ich da war.

Aus der Dunkelheit trat Gilbert hervor und umarmte mich freundschaftlich. Ich stellte ihm Bero vor, der sich nicht mehr daran erinnern konnte, wie Gilbert und ich ihn heimgebracht hatten. Gilbert reichte ihm lächelnd die Hand.

»Jesco hat mir schon viel von dir erzählt, es freut mich dich jetzt persönlich kennenzulernen – und nüchtern.«

»Ganz meinerseits«, erwiderte Bero ein wenig steif. Er war, im Gegensatz zu mir, bei Fremden immer etwas zurückhaltend.

Gilbert lud uns ein, am Lagerfeuer Platz zu nehmen. Wir setzten uns und öffneten unser Fässchen, Gilbert hatte uns inzwischen Holzbecher besorgt. Wir tranken und ich erzählte ihm voller Stolz von unserem baldigen Ritterschlag. Bero sah sich immer noch etwas verunsichert um. Es erging ihm wie mir bei meinem ersten Besuch hier, aber ich war mir sicher, er würde sich schnell daran gewöhnen.

Während wir uns so unterhielten, beobachtete ich die grobschlächtigen Männer um uns herum. Zotige Witze wurden gerissen und Geschichten aus ihrer Heimat erzählt, die meisten davon hielt ich aber für stark übertrieben. Vor dem Feuer wurde ein Kampfschild auf einen Baumstumpf gelegt, darauf kam ein großes Stück gebratenes Fleisch. Einige rissen sich mit den Händen einen Fetzen davon ab und stopften es sich gierig in den Mund, das Fett tropfte dabei an ihren Bärten herab. Sie waren barbarisch, aber ich gewann den Eindruck, dass ein starker Zusammenhalt zwischen ihnen herrschte.

Im Laufe des Abends wurde auch Bero redseliger und es stimmte mich froh, als ich sah, wie er sich mit Gilbert immer besser verstand.

Ich wusste nicht weshalb, aber ich fühlte mich unter diesen normannischen Kriegern irgendwie wohl. Trotz ihrer rauen Art waren sie fröhlich und sehr stolz auf ihre Herkunft. Vor allem waren sie gefürchtete Krieger, von deren Erfahrungen man nur lernen konnte.

Die Luft war noch erwärmt vom Tag und die Nähe des Feuers trieb mir den Schweiß aus allen Poren. Der Wein zeigte langsam seine Wirkung, mit voller Blase entfernte ich mich eilig vom Lager und erleichterte mich an einer Dattelpalme. Leicht säuselnd und schwankend kehrte ich zum Lagerfeuer zurück und setzte mich wieder zu den anderen in den warmen Sand. Im Sitzen fühlte ich mich sicherer. Bero füllte unsere Becher auf und wir leerten den Inhalt in einem Zug. Meine Sinne waren bereits gehörig vernebelt. Gilbert hatte sich ein Mädchen auf den Schoß gezogen und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie errötete und laut lachte. Bero zwinkerte mir zu und füllte erneut unsere Becher, wobei wir ausgiebig das Hinterteil des Mädchens begutachteten.

Ich streckte meine Beine aus und lauschte den Liedern, die gesungen wurden, als wie aus dem Nichts plötzlich ein älterer Normanne vor mir stand. Breitbeinig und seine Arme provozierend in die Hüften gestemmt, blickte er verächtlich auf mich herab. Er stellte sich mir vor, nämlich mit einem lauten Rülpsen.

Ich starrte ihn an. Auch Bero und Gilbert waren jetzt aufmerksam geworden. Der Kerl hatte nur noch ein Auge, über dem anderen war die Haut zu einer hässlichen Narbe zusammengewachsen. Er war zweifelsohne auf Streit aus und wollte sich vor den anderen wichtig machen. Mit zahnlosem Mund blaffte er mich an. »Und wer bist du, Bürschchen?«

Ich stand auf und schwankte leicht, wir waren gleichgroß.

»Mein Name ist Jesco, und bald werde ich ein Ritter sein!«

Der Einäugige sah mich kurz ungläubig an, dann prustete er vor Lachen. »Habt ihr das gehört? Ein edler Ritter will er sein!«

Auch seine Kameraden stimmten lauthals in sein höhnisches Gelächter ein. Keiner sang mehr, alle sahen jetzt zu uns herüber. Von hinten zischte mich Bero an. »Jesco, setz dich wieder hin und lass es gut sein!«

Doch der Wein hatte mich mutig gemacht und ich sah dem Normannen trotzig in sein einziges Auge. Ich wollte mir von diesem einfältigen Kerl nichts gefallen lassen, schon gar nicht vor meinen Freunden. Also trat ich ein Stück auf ihn zu und schnaubte ihn trotzig an. »Jawohl, ein Ritter werde ich sein. Allemal besser, als so ein Barbar wie du einer bist.«

Gilbert und Bero wollten mich am Ärmel zurückziehen, aber ich riss mich los und schnauzte den vierschrötigen Kerl an.

»Und falls du lesen kannst, kann ich dir das auch schriftlich geben – und zwar in Stein gemeißelt, du Schwachkopf!«

Sein noch verbliebenes Auge zuckte plötzlich gefährlich und er presste seine Kiefer zusammen. Und dann fühlte es sich an, als hätte einer ein Hufeisen an meinen Schädel geworfen. Ich fühlte einen dumpfen Schmerz an meiner Schläfe, alles drehte sich und ich sah grelle Lichtblitze, bevor mich nur noch tiefe schwarze Dunkelheit umgab.

 

 

Ich erwachte auf dem Boden liegend in Alis Zelt. Die Morgensonne schien bereits unbarmherzig durch die hellen Zeltwände. Mein Kopf schmerzte grauenvoll, ich wusste nicht, ob durch den vielen Wein, oder den Faustschlag, der mich so unvermittelt traf.

Borchweis Rat schoss mir durch den Kopf – achte immer auf die Schulter deines Gegners! Bei allen Heiligen, ich hatte zu viel Wein getrunken! Meine linke Wange und mein Kiefer schmerzten höllisch und es fühlte sich alles angeschwollen an.

Langsam richtete ich meinen Oberkörper auf und versuchte vorsichtig meinen Kiefer zu bewegen. Zumindest fehlte mir kein Zahn. Ich tastete mit den Fingern behutsam an meinem Wangenknochen, der sich anfühlte, als würde er nicht zu mir gehören. Schließlich ging die Zeltplane auf und Ali trat herein. Kopfschüttelnd sah er zu mir herunter und grinste breit. »Ein herrlicher Morgen! Wie geht es dir?«

Ich stöhnte und rieb mir den Nacken. Flehend blickte ich zu ihm hoch. »Ali, du hast doch bestimmt eine Arznei, die meine Kopfschmerzen vertreibt.«

»Oh ja, ich habe schon etwas vorbereitet, das dir helfen wird.«

Milde lächelnd drehte er sich um und kramte hinter einer Kiste. Ich verschloss meine Augen vor der unangenehmen Helligkeit und versuchte meine wenigen Gedanken zu ordnen. Der pochende Schmerz in meinem Kopf wurde immer schlimmer.

Ich erschrak fast zu Tode, als ich einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht bekam. Den leeren Krug noch in seiner Hand, beugte sich Ali lachend über mich. »Eine spezielle Arznei aus Kairo, für solche Fälle bestens geeignet.«

Fluchend schüttelte ich mich und stand auf, aber wenigstens war ich jetzt wach. Mein behandelnder Arzt lachte immer noch und setzte sich auf einen Hocker. »Bero und ein anderer junger Mann haben dich heute Nacht hierher geschleppt, du solltest dich bei ihnen bedanken.«

»Ja, das sollte ich. Aber jetzt werde ich mich zuerst mal unter Borchweis Augen trauen müssen.« Der Gedanke daran verursachte mir noch mehr Übelkeit, als ich ohnehin schon verspürte. Während ich mir mein nasses Gesicht abtrocknete, verschränkte Ali seine Arme vor der Brust und sah mich wohlwollend an. »Du solltest dir eines merken: Wer durch ein Zwiebelfeld geht, riecht danach. Und nun geh besser, Borchwei wird dir schon nicht den Kopf abreißen.«

Gerne hätte ich seine Zuversicht geteilt, aber meine Reue belehrte mich eines Besseren. Ich verabschiedete mich von ihm und bedankte mich für seine umfangreiche ärztliche Versorgung.

 

 

Kaum war ich in unserem Quartier, ließ mich Borchwei auch schon zu sich rufen. Um ansehnlicher zu erscheinen, zog ich mir schnell noch eine saubere Tunika an. Dann stieg ich die Treppen hoch, klopfte an die Tür zu Borchweis Stube und betrat mit unsicheren Schritten den Raum.

Er saß in Schriftrollen vertieft an seinem Tisch. Bei meinem Eintreten hatte er mich nur kurz mit einem Seitenblick gestreift und sich dann wieder seinen Pergamenten gewidmet. Wie bedröppelt stand ich da und wartete, bis mir Borchwei seine Aufmerksamkeit schenkte. Nach einer gefühlten Ewigkeit richtete er sich schließlich auf und musterte mich eingehend.

»Du siehst ein wenig mitgenommen aus. Bist du gegen einen Rammbock gelaufen?«

»Nein, wir waren nur im Normannenlager.«

Seine Augenbraue ging nach oben. »Soso, nur im Normannenlager.« Er schüttelte den Kopf und sah mich missmutig an. Am liebsten wäre ich im Boden versunken, so schämte ich mich.

Borchwei kratzte sich lange an seinem Kinn, dann seufzte er.

»Wenn dein Vater dich so sehen könnte, ich bin mir sicher, er wäre stolz auf dich gewesen!« Das saß!

Voller Reue bat ich ihn um Verzeihung. Noch nie hatte Borchwei böse oder wütend mit mir gesprochen, er konnte vielmehr mit gezielten und wohlgewählten Worten mein Ehrgefühl treffen, so auch dieses Mal.

Er forderte mich schroff auf, mich zu setzen. Etwas milder gestimmt fuhr er fort. »Jesco, du hast jetzt das Mannesalter erreicht, aber dann verhalte dich auch so. Du wirst bald deinen Eid ablegen und in den Kampf ziehen, aber wenn du dich weiterhin so verhältst, wirst du nicht lange überleben, und das möchte ich nicht erleben.«

Er sah mich eine Weile an, dann atmete er tief durch. »Ich zürne dir nicht, aber versprich mir, endlich erwachsen zu werden und auch mal ab und zu dein Hirn zu benutzen. Und nun geh und kümmere dich um deine Arbeit … und halte Abstand zu den Normannen und ihrem Lager!«

Ich versprach ihm, mich daran zu halten und schlich mit schlechtem Gewissen davon.

 

In den darauffolgenden Tagen war ich sehr bemüht, meinen Plichten nachzukommen, um Borchweis Wohlwollen wiederzuerlangen. Mit feinem Sand entfernte ich den Rost von seinem Kettenhemd und fettete es anschließend ein. Ich putzte unser Quartier jeden Tag, räumte auch Borchweis Kleidung ordentlich auf und kehrte den lästigen Sand aus seiner Stube. Ich tadelte jeden, der auch nur ein Fitzelchen Dreck verursachte.

Borchwei entgingen meine Bemühungen wohl nicht, denn eines Tages ließ er mich zu sich rufen. In der Hoffnung, er möge mir nicht mehr böse sein, eilte ich zu seiner Stube.

Zu meiner großen Erleichterung war er ausgesprochen gut gelaunt und begrüßte mich freundlich. »Jesco, bevor du uns mit deinem Putzeifer noch alle in den Wahnsinn treibst, habe ich eine kleine Aufgabe für dich.«

Froh über jede Abwechslung, hörte ich ihm aufmerksam zu.

»Geh bitte in die Zeltstadt. Etwa hundert Schritte hinter Alis Zelt befindet sich ein kleiner Palmenhain, auf dem zwei Zelte stehen. Frage nach Shamsa und überbringe dieses Kästchen.«

Ich nahm ein kleines verziertes Kistchen entgegen und blickte Borchwei fragend an. »Und wer ist dieser Shamsa?«

»Neugier ist eine Untugend, die du schnell ablegen solltest. Und nun geh schon«, mahnte er mich lächelnd und schickte mich dann los.

Auf dem Weg zur Zeltstadt machte ich mir meine Gedanken. Wenn Borchwei so heimlich tat, dann hatte er seine Gründe. Vermutlich war dieser Shamsa ein Spion, der für Borchwei Informationen bereithielt. Ich fühlte mich geehrt, einen so wichtigen Auftrag erhalten zu haben.

Der Abend war lau und in der Zeltstadt wehte mir ein angenehmer, sanfter Wind entgegen. Das rötliche Licht der Abenddämmerung wich langsam der einsetzenden Nacht, die nun durch Fackeln und Feuerschalen erhellt wurde. Alis Zelt war verschlossen, wahrscheinlich schlief er bereits. Ich ging weiter und folgte Borchweis Wegbeschreibung. In geringer Entfernung erkannte ich ein kleines Lagerfeuer, dessen schwacher Lichtschein einen kleinen Palmenhain erkennen ließ.

Ich näherte mich mit leisen Schritten und der Gewissheit, dass Borchwei mich keiner Gefahr aussetzen würde. Dennoch fühlte ich eine gewisse Anspannung in mir, je näher ich der Feuerstelle kam.

Zwei arabische Zelte standen zwischen den Bäumen; es waren keinerlei Geräusche zu hören. Ich hatte das Feuer bereits erreicht, als aus dem größeren Zelt ein dunkelhäutiger Mann trat. Ein blauer, langer Umhang umhüllte seine kräftige Gestalt. Auf seinen Händen befanden sich seltsame Bemalungen. Er musterte mich mit finsterem Blick aus dunklen Augen.

»Wer bist du?«, fragte er mich mit starkem arabischem Akzent und baute sich vor mir auf. Ich streckte meinen Rücken durch und gab mich selbstbewusst. »Mein Name ist Jesco und ich möchte zu Shamsa. Borchwei schickt mich.«

Er nickte wissend, so als hätte er bereits mit mir gerechnet.

»Du warten.«

Dann drehte er sich um und ging in das Zelt zurück, ich blieb nervös an der Feuerstelle stehen und wartete. Schlagartig wurde mir klar, dass ich von Borchwei einen wichtigen Auftrag erhalten hatte und ihn nicht enttäuschen durfte. Ich hielt das kleine Kistchen fest umklammert und blieb weiter angespannt.

Der Zelteingang öffnete sich wieder und der Dunkelhäutige trat hervor, hinter ihm erschien eine verschleierte Frau, die mit leichtfüßigen und grazilen Bewegungen auf mich zukam. Als sie vor mir stehen blieb, nahm sie ihren Gesichtsschleier ab und ich sah mich einer wunderschönen Frau gegenüber. Ihre dunklen Augen musterten mich neugierig. »Du bist Jesco, ich habe dich bereits erwartet.« Sie sprach fließend fränkisch, mit nur leichtem arabischen Akzent.

»Dann bist du Shamsa?«, fragte ich verwundert. Sie nickte und ließ mich dabei nicht aus den Augen.

»Borchwei beauftragte mich, dir dies zu übergeben.«

Ich reichte ihr das Kästchen, sie sah es liebevoll an, nahm es entgegen und stellte es behutsam auf einen kleinen Tisch vor dem Zelt. Dann wandte sie sich wieder mir zu und fasste mich an der Hand. »Auch mir trug Borchwei etwas auf, es betrifft dich.«

Verwirrt erwiderte ich ihren Blick, doch sie zog mich sanft an der Hand mit. Ich war so fasziniert von ihrer Schönheit, dass ich ihr fast willenlos zu dem anderen Zelt folgte, vor dessen Eingang sie stehen blieb. Lächelnd forderte sie mich auf einzutreten und schloss dann hinter mir den Zelteingang.

Ein süßlicher Blumenduft wehte mir entgegen, überall lagen bunte Kissen zwischen Fellen auf dem Boden. Kleine Öllampen verbreiteten ein weiches, schummriges Licht. Den hinteren Teil des Zeltes trennte ein farbenfroh gemusterter Vorhang. Ein leises Rascheln hinter der Stoffabtrennung ließ mich aufhorchen.

Eine Frau trat hinter dem Vorhang hervor, ihr Gesicht war verschleiert, ihren Körper umhüllte ein hauchdünnes orientalisches Tuch, das ihre weiblichen Formen zum Ausdruck brachte.

Sie blieb dicht vor mir stehen und reichte mir bis zur Schulter. Dann nahm auch sie ihren Schleier ab. Sie war fast genauso schön wie Shamsa, hatte dunkle Augen und einen sinnlichen Mund, der mich verlockend anlächelte. Ich schätzte sie um wenige Jahre älter als ich es war. Sie stand jetzt ganz nah bei mir und ich konnte ihren Atem spüren.

»Ich verstehe nicht, was …« Weiter kam ich nicht. Sie legte ihren Finger auf meinen Mund und schnürte meine Tunika auf. Verführerisch strich sie mit ihren Fingerspitzen über meine Brust, ihre Augen beobachteten mich dabei genau. Mir drohte mein Gemächt zu platzen! Ich hatte schon oft pochende Lenden, wenn ein Mädchen mir gefiel und sie mich anlächelte, doch dies hier übertraf alles. Ich konnte nicht mehr klar denken.

»Bist du eine käufliche Liebesfrau?«, fragte ich stotternd.

Kaum hatte ich es ausgesprochen, bereute ich auch schon meine Unverschämtheit. Wie konnte ich sie so etwas nur fragen. Doch anstatt mir böse zu sein, lächelte sie mich nur an und küsste mich. »Niemand kauft mich, ich bestimme, wer mich bekommt. Ich bin kein billiges fränkisches Freudenmädchen. Shamsa und ich schenken denjenigen Liebe, denen wir es gestatten«, sprach sie ebenfalls akzentfrei.

Wenn sich irgendetwas in mir bisher gegen sie gewehrt hatte, so brach mein Widerstand jetzt völlig zusammen. Mit ihren dunklen Augen sah sie mich an und fragte: »Es ist dein erstes Mal, nicht wahr?«

Ich nickte verlegen und merkte, wie ich errötete. Sie nahm mich an der Hand und zog mich auf ein weiches Schafsfell auf dem Boden. Betörend flüsterte sie mir ins Ohr. »Vertrau mir, Jesco.«

Sie entkleidete mich langsam, ich ließ es geschehen und legte meine anfängliche Schüchternheit allmählich ab. Ihre zärtlichen Berührungen und Liebkosungen brachten mich um den Verstand. Und als sie sich entblößte und meine Hand in die ihre nahm, um ihre Brüste zu streicheln, war es endgültig um mich geschehen und ich ergoss mich.

Sie lächelte mich verständnisvoll an. »Schäme dich nicht, das ist ganz normal, glaube mir.« Dann beugte sie sich über mich, küsste mich und tauchte mit mir in bis dahin unvorstellbare Wonnen. Sie leitete und führte mich und ich war ihr gelehriger Schüler. Sie brachte mir bei, wie man eine Frau zärtlich an den richtigen Körperstellen verwöhnt, sie zwischendurch zu Atem kommen lässt, um sie dann wieder wild zu nehmen.

Ich streichelte sie sanft, sodass sich die feinen Härchen an ihren Armen vor Erregung aufstellten. Sie juchzte und stöhnte unter meinen Berührungen und wir tanzten unseren Reigen von Neuem. Sie zeigte mir die Liebe und ich wurde in dieser Nacht endgültig zum Mann.

Wir erwachten am Morgen eng umschlungen und ich roch ihren betörenden Duft. Mich durchströmte ein wohliges Gefühl. Ein einzelner Sonnenstrahl schien zum Zelteingang herein. Zärtlich strich sie mir durch meine Haare und sah mich lächelnd an. »Du wirst ein wundervoller Liebhaber werden, denn du besitzt Geist, Zärtlichkeit und Kraft in einem vereint. Ich beneide deine zukünftige Ehefrau.«

Ich wurde verlegen und wusste nicht was ich sagen sollte, hatte ich mich doch mit solchen Dingen bisher nicht sonderlich beschäftigt. Ich war ja schließlich auch kein Minnesänger, der sich mit solchen Worten auskannte. Nach einer Weile drehte sie sich auf ihren Rücken und blickte etwas wehmütig zum Zeltdach hoch. »Die meisten Männer rammeln nur wie Böcke und scheren sich einen Dreck darum, was einer Frau gefällt. Sie befriedigen nur ihr eigenes Verlangen und schlafen anschließend grunzend ein.« Der traurige Klang ihrer Stimme berührte mich. »Jesco, die Liebe ist etwas Gegenseitiges, für Mann und Frau. Das musste ich dir nicht zeigen, du hattest es bereits in dir!«

Sie streifte sich ein dünnes Leinengewand über und stand auf, mein Gemächt ebenfalls. Widerstrebend erhob ich mich und zog mir meine Hosen an, was kein leichtes Unterfangen war. Als ich mich angekleidet hatte, umarmten wir uns zum Abschied und ich fragte sie nach ihrem Namen.

»Ich heiße Faizah.«

»Und was bedeutet dein Name?«

Vielsagend lächelte sie mich an. »Die Siegreiche. Jetzt musst du aber gehen, mein junger schöner Held.« Ich nickte ihr verschmitzt zu, dann verließ ich ihr Zelt.

Draußen saß Shamsa am Feuer und rührte in einem kleinen dampfenden Kessel. Als sie mich sah, forderte sie mich freundlich auf, neben ihr Platz zu nehmen. Sie füllte einen Becher mit heißem Kräutersud und reichte ihn mir. »Borchwei hat mir schon viel von dir erzählt, Jesco. Er hält große Stücke auf dich.«

Ich nippte betreten an meinem Becher, während sie mich warmherzig anlächelte. Sie war schon etwas älter, aber dennoch die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Ich wollte wissen, wem ich das Glück der letzten Nacht zu verdanken hatte.

»Shamsa, hat Borchwei dich bezahlt, also ich meine …?«

Sie schaute mich ernst an. »Er muss mich nicht bezahlen, er steht nicht in meiner Schuld, sondern ich in seiner.«

Sie bemerkte mein Stirnrunzeln. »Borchwei hat mir vor vielen Jahren das Leben gerettet. Ich war damals mit einer Händlerkarawane meines Vaters in der Wüste unterwegs. Wir kamen von Kairo und wollten hier neu anfangen. Dann wurden wir von Sarazenen überfallen.«

Ihr Blick schweifte in die Vergangenheit und mir schien, es fiel ihr nicht leicht darüber zu reden. Zögernd und traurig fuhr sie fort. »Es war grauenvoll. Die Sarazenen kannten kein Erbarmen oder gar Mitleid. Mein Vater und viele andere wurden getötet. Doch dann kam Borchwei mit einigen Rittern und sie töteten die feindlichen Angreifer. Ich war allein und hatte niemanden mehr, also nahm er mich mit hierher. Er kümmerte sich um mich, trotz vieler Anfeindungen. Irgendwann ging ich dann meinen eigenen Weg.«

Räuspernd sprach ich ihr mein Mitgefühl aus. »Das tut mir leid für dich, du musstest vieles durchmachen.«

»Ja, aber es gehört der Vergangenheit an. Ich weiß nur, dass Borchwei ein guter und außergewöhnlicher Mann ist, aber das weißt du ja auch selbst.«

»Ja, das ist er. Du magst ihn sicherlich.«

Sie sah mich stolzerhobenen Hauptes an. »Nein, ich mag ihn nicht – ich liebe ihn!«

Ich stand da wie vom Donner gerührt und starrte sie mit offenem Mund an. Sie lachte nur und umarmte mich.

»Eines Tages werde ich es dir erklären, oder Borchwei. Aber nicht heute.«

Ich bedankte mich für den Kräutersud und alles andere, dann verabschiedete ich mich und ging.

Nein, ich ging nicht, ich stolzierte wie ein Schwan. Nach der letzten Nacht war ich so voller Selbstvertrauen und Kraft, dass ich nicht wusste wohin damit. Nach kurzem Nachdenken entschied ich mich dann, ins Normannenlager zu gehen, um dort Gilbert zu sehen, trotz Borchweis Warnungen.

Ein hauchdünner Tau überzog noch die Blätter, tief atmete ich die frische, kühle Morgenluft ein. Viele der normannischen Zelte waren verschlossen, denn die meisten schliefen noch. An der Feuerstelle standen zwei Frauen und entfachten die Glut.

Ich hatte mich darauf eingestellt, Gilbert wecken zu müssen, doch zu meiner Überraschung war er schon wach. Vor seinem Zelt stand ein Holzbottich, an dem er sich gerade wusch. Er hatte seinen Kopf darin eingetaucht und schüttelte sich nun das triefende Wasser aus seinen Haaren.

In freudiger Erwartung auf einen Becher Wein, schritt ich auf ihn zu. Ich ging an einem großen Zelt vorbei und wollte ihm auf die Schulter klopfen, da sah ich ihn: den Einäugigen. Er stand mit einem anderen Krieger zusammen und unterhielt sich gerade mit ihm.

Ich weiß bis heute noch nicht, welcher Teufel mich damals ritt. Vielleicht war es der gedankenlose Leichtsinn meiner Jugend, der mich damals umtrieb, vielleicht lag es auch an der Nacht, die ich hinter mir hatte. Ich hielt jedenfalls kurz inne, dann ging ich zu ihm hin.

Er stand jetzt mit dem Rücken zu mir und hatte mich noch nicht bemerkt. Ich tippte ihm auf die Schulter und er drehte sich zu mir um.

»Erinnerst du dich an mich? Mein Name ist Jesco.«

Er sah mich dämlich an und grinste dabei überheblich. »Ha, der edle Ritter, ich erinnere mich.«

»Genau, und hier hast du noch einen Grund, dich an mich zu erinnern!«

Meine rechte Faust schlug in seinem Gesicht ein, er flog rückwärts auf einen Tisch, der unter ihm zerkrachte. Dort blieb er halb ohnmächtig liegen und blutete aus seiner Nase. Ich wartete noch ein wenig ab, ob er wieder aufstehen würde, doch er war dazu nicht mehr ganz in der Lage. Ich rieb mir meine Faust und war selbst etwas verwundert über die Wirkung meines Hiebes.

»Mon Dieu! Hast du einen Amboss in deiner Faust?«, lachte Gilbert neben mir und sah mich anerkennend an. »Ich denke, er wird sich besser an dich erinnern, als ihm lieb ist!«

Zwei andere Krieger halfen dem Einäugigen schließlich auf. Doch dieser war so benommen, dass er nicht mehr selbstständig laufen konnte und so schleiften sie ihn in sein Zelt.

Ich ließ mich neben Gilbert auf einer Holzbank nieder und er schenkte uns aus einem Tonkrug Wein ein. Ich nahm einen ordentlichen Schluck und füllte unsere Becher nach. Meine Faust schmerzte und ich hielt sie in den Wasserbottich, um sie zu kühlen. Gilbert schaute mich immer noch ungläubig an und klopfte sich dann lachend auf seinen Schenkel.

»Was ist dir denn widerfahren, hattest du eine schlechte Nacht?«

Ich sah versonnen in den klaren, blauen Himmel. »Ganz im Gegenteil, eher eine siegreiche!«

Bero und ich hatten die ganze Nacht kaum geschlafen und warteten ungeduldig auf den Sonnenaufgang. Heute war der große Tag, auf den wir so lange gewartet hatten: unser Ritterschlag. Als der Morgen endlich graute und die ersten Sonnenstrahlen Jerusalem in ein weiches Licht hüllten, begaben wir uns zur Gihonquelle, um uns gründlich zu reinigen, so wie wir es bei allen festlichen Anlässen taten. Doch anders als sonst, waren Bero und ich heute nicht sehr gesprächig.

Wir hatten diesem Tag so ungeduldig entgegengefiebert und nun kam es mir vor, als würde mir die Luft zum Atmen genommen. Zwei Tage zuvor hatten wir stundenlang in der Kirche St. Maria Latina ausgeharrt, um zu beten und unsere Sünden zu bereuen. Auf dem Bauch liegend und die Arme weit von uns gestreckt, hatten wir danach die halbe Nacht auf dem kalten Steinboden der Kirche verbracht.

Die Knappen aus den anderen vier Einheiten der Stadt würden später zu uns stoßen; der Treffpunkt war vor der Grabeskirche. Mit uns zehn waren wir insgesamt sechzig junge Männer, die den Ritterschlag erhalten sollten. Innerlich etwas unruhig, saßen wir auf unseren Betten und warteten auf Borchwei. Unsere Mägen knurrten bereits um die Wette, da wir den heutigen Tag fastend verbringen mussten. Ich kratzte mich an meinen juckenden Haarstoppeln, denn wir hatten uns alle die Haare kurz scheren müssen. Die Gewissheit, dass meine Haare wieder wachsen würden, tröstete mich nur wenig.

In einem strahlend weißen Waffenrock erschien Borchwei an der Tür, sogar seinen Bart hatte er sich gestutzt. Auf dem Arm trug er einen Stapel mit weißem Tuch. Er begrüßte uns gut gelaunt, dann gab er jedem ein Leinengewand. Wir halfen uns gegenseitig in die knöchellangen Gewänder, deren Ärmel am Ende weit geschnitten waren. Um die Hüften knoteten wir uns als Gürtel nur eine einfache fingerdicke Schnur. In Demut und Bescheidenheit sollten wir unseren Ritterschlag erhalten, unsere einfache Kleidung brachte dies zum Ausdruck.

Als wir fertig waren, reichte er jedem ein schlichtes kleines Holzkreuz, das wir in den Händen halten sollten. So standen wir alle fertig gekleidet im Kreis, ähnlich wie früher bei unseren Waffenübungen. Borchwei musterte uns schmunzelnd.

»Na ja, es war nicht immer einfach mit euch, aber heute erfüllt ihr mich mit Freude und Stolz. Ihr habt euch eure Sporen redlich verdient. Doch bevor ihr da draußen euren eigentlichen Ritterschlag erhaltet, noch ein Wort von mir. Es ist ein alter Brauch unserer Väter.« Er machte eine Pause bevor er weitersprach. »Nehmt nun diesen letzten Schlag wehrlos hin und danach nie wieder!«

Immer noch lächelnd, verpasste er jedem von uns eine Ohrfeige. Wir rieben uns verwundert die Wangen, denn er hatte nicht gerade zimperlich zugeschlagen. Borchwei grinste immer noch, doch dann wurde seine Miene ernst und er sah uns eindringlich an. »Als Knappen werdet ihr diesen Raum verlassen, als Ritter werdet ihr ihn wieder betreten!« Dann umarmte er jeden Einzelnen von uns, es war ein schöner und erhebender Augenblick. Danach verließen wir unser Quartier.

Barfuß und schweigend schritten wir zur Grabeskirche, um uns dort den anderen Knappen anzuschließen. Wir wurden von einem Dutzend Mönchen und Priestern empfangen und reihten uns bei den anderen fünfzig Knappen ein. Ein Priester sprach ein kurzes Gebet, anschließend gingen wir langsam und andächtig in einer Prozession in Richtung Felsendom. Ich fragte mich, wie viele diesen Weg wohl schon vor mir gegangen waren und wie viele ihm noch folgen würden?

Je näher wir dem Felsendom kamen, umso nervöser wurde ich. Für mich fühlte es sich an, als verließe ich ein altes Leben und beträte ein neues. Der wunderschöne, himmlische Klang der singenden Mönche geleitete unseren Weg und versetzte mich in eine Hochstimmung. Wir erreichten die Treppe, die hoch zum Felsendom führte. Als wir die letzten Stufen hinaufstiegen, sah ich auf dem großräumigen Platz zwischen der Al-Aqsa Moschee und dem Felsendom eine große Menschenmenge, die uns bereits erwartete. Ein großes Holzpodest war errichtet worden, darauf stand ein herrlich verzierter Thron mit funkelnden, bunten Steinen besetzt, dahinter ein mannshohes goldenes Kreuz.

Im Halbkreis um das Podest standen ungefähr zwanzig kirchliche Würdenträger. Etwas davor ein Dutzend Mönche, die jetzt in den Gesang ihrer Glaubensbrüder einstimmten. Rund um den Platz standen noch unzählige Gläubige und Angehörige der Knappen. Sanfter Wind ließ die großen kirchlichen Banner flattern, während wir Knappen uns geordnet aufstellten. In sechs Reihen knieten wir uns nebeneinander nieder. Bero und ich, in zweiter Reihe, hielten unsere Köpfe demütig gesenkt. Ich schloss meine Augen und dankte Gott für diesen Tag, meinen letzten als Knappe.

Hinter dem Thron bildete sich eine kleine Gasse und lauter Jubel brandete auf, als der lateinische Patriarch von Jerusalem, Daimbert von Pisa, und sein Legat sich würdevoll dem Thron näherten. Der Patriarch war schon alt und eine gebieterische Kühle ging von ihm aus. Er trug eine kostbare dunkelrote Robe, die mit kleinen funkelnden Edelsteinen bestickt war. Als er seine knochige goldberingte Hand hob, durften wir uns erheben und sein Legat trat mit würdevollen Schritten vor. Im Gegensatz zu seinem Patriarchen war er mit einem schwarzen, schlichten Gewand bekleidet, doch auch er strahlte die gleiche Strenge aus. Ich frage mich noch heute, warum die meisten Männer des Klerus stets so verhärmt und verbittert aussehen, wo sie doch eigentlich Güte und Barmherzigkeit predigen.

Der Legat hob beide Arme in die Höhe und sprach mit lauter Stimme, die über den ganzen Platz hallte: »Gottes Augen sind auf euch gerichtet, die ihr da als Knappen in Demut vor ihm steht. Beweist durch euren Schwur, dass ihr würdig seid, den Ritterschlag zu erhalten.«

Etliche Priester gingen zwischen unseren Reihen umher und besprenkelten uns mit Weihwasser, dann knieten wir wieder nieder. Nun erklangen wieder die wunderschönen, lateinischen Gesänge der Mönche, gefolgt von langen und monotonen Gebeten. Dann erhob sich der Patriarch. »Schwöret nun im Namen Gottes, König Balduin und die christlichen Stätten zu verteidigen, und sei es mit eurem Leben!» Wie aus einer Kehle antworteten wir. »Nos iurare, Amen.«

Vor dem Holzpodest erschien nun ein alter Recke mit langem Bart und bekleidet mit dem hellbraunen Jerusalemwaffenrock mit aufgesticktem rotem Kreuz. Der Ausdruck seiner Augen verriet Erfahrung und Besonnenheit, aber auch Mut und Entschlossenheit. Er breitete seine Arme aus und sprach mit lauter Stimme. »Schwöret, die Wehrlosen und Schwachen zu beschützen und niemals vor dem Feind zu weichen!«

»Wir schwören!«

Der Recke hob ein riesiges Breitschwert über sein Haupt und sprach bedeutungsvoll weiter. »So nehmt nun symbolisch dies Schwert entgegen und erhebt euch als Ritter Jerusalems, milites de Hierusalem!« Wir reckten unsere Fäuste in die Höhe und riefen gemeinsam. »Für Gott und Jerusalem!«

Hiermit entließ man uns, in unser neues Leben als Ritter. Mich durchlief ein Schauer des Glücks, ich sah in Beros Augen das gleiche Empfinden – es war vollbracht. Die anderen Knappen begaben sich jetzt zu ihren Familienangehörigen und wurden beglückwünscht. In diesem Moment sehnte auch ich mich nach einer Familie, die mich jetzt ebenso stolz empfangen hätte. Doch an jenem Tag wollte ich keine traurigen Gedanken zulassen, sondern mich einfach nur von der Welle des Glücks tragen lassen. Ich sah Bero suchend umherblicken, doch sein Onkel war nicht mal an diesem wichtigen Tag erschienen. »Mach dir nichts draus, dein Onkel hat sich bisher nicht bei dir blicken lassen, dann kannst du auch in Zukunft auf ihn verzichten!« Bero gab sich trotzig. »Du hast recht, Mein Onkel kann mir gestohlen bleiben, aber der Wein heute Abend nicht!« Obwohl er lächelte, blieb mir seine innere Zerrissenheit nicht verborgen.

Die Menschenmenge zerstreute sich jetzt langsam, die Würdenträger zogen sich zufrieden zurück und der große Platz leerte sich allmählich. Die ersten Handwerker erschienen, um das Podest wieder abzubauen. Der offizielle Teil war nun beendet und es durfte ausgiebig gefeiert werden.

Auch Bero und ich wollten uns gerade auf den Heimweg begeben, als uns plötzlich Borchwei freudestrahlend entgegeneilte und mich und Bero herzlich umarmte. Er sah uns voller Stolz an und schlug uns dabei kräftig auf die Schultern. Zu meinem großen Erstaunen schimmerte ein feuchter Glanz in seinen Augen. Diesen großen Krieger so zu sehen, erwärmte mein Herz und verlieh mir eine innere Zufriedenheit.

Man schrieb das Jahr 1119. Es war ein sonniger, wolkenloser Tag – und ich war ein Ritter Jerusalems.

 

Drei Tage später packten wir die wenigen Habseligkeiten in unserem Quartier. Neue Knappen sollten jetzt hier einziehen, während wir in die Kriegerunterkunft, das Garnisonshaus, umsiedelten. Von uns zehn Knappen waren noch sechs übrig, die anderen vier hatten sich entschieden, den Rittern des Tempels beizutreten. Wir erfuhren von Borchwei, dass sich von den sechzig Knappen, insgesamt dreißig dazu entschieden hatten.

Im Garnisonsgebäude war genügend Platz für uns, denn immer wieder starben Krieger bei Kämpfen oder verließen nach vielen Jahren Jerusalem, um in ihre Heimat zurückzukehren, wozu jedoch eine Erlaubnis nötig war. Man musste sie sich durch herausragende Kampfeinsätze verdienen oder man war ganz einfach zu alt zum Kämpfen.

Das Garnisonshaus war ein großes, dreistöckiges Steingebäude mit einer Außentreppe aus Holz, die in jede Etage führte. Von den Säulengängen an der Vorderseite gelangte man in die Schlafräume. Im Erdgeschoss befand sich der Speisesaal und eine Waffenkammer. Beeindruckt von diesem gewaltigen Gebäude, bekamen Bero und ich einen Schlafraum im ersten Stock zugewiesen. Wir teilten uns die Unterkunft mit vier anderen Rittern. Sechs Holzbetten mit Strohsäcken und ein Tisch am Fenster waren die einzigen Möbelstücke. Das Zimmer war jedoch geräumig und wir hatten genügend Platz für die Kisten mit unseren persönlichen Dingen.

Im Norden der Stadt gab es noch zwei Herbergen von ähnlicher Größe. Unsere befand sich im südlichen Teil Jerusalems und hatte einen Stall als Anbau, in dem wir unsere Pferde untergebracht hatten.

Zu unserer großen Erleichterung hatte Borchwei seinen Einfluss geltend gemacht und dafür gesorgt, dass Bero und ich weiterhin zusammenbleiben konnten. Wir beide waren ihm dafür unendlich dankbar und zu unserer weiteren Freude blieben wir unter Borchweis Befehl. Die Ritter eines jeden Gebäudes unterstanden einem Anführer, und wie der wundersame Zufall es so wollte, war dies für unser Haus Borchwei.

Die anderen Ritter in unserem Zimmer waren alle Franzosen, zwei von ihnen nur wenig älter als wir, die anderen wesentlich älter und nicht sehr gesprächig. Sie waren in sich zurückgezogen und wirkten verbittert. Die beiden jüngeren Ritter waren im Heiligen Land geboren, wie viele andere junge Männer europäischer Abstammung.

Für mich war es nichts Außergewöhnliches, Männer verschiedener Nationen kennenzulernen, die noch nie das Land ihrer Väter gesehen hatten. Franzosen, die noch nie Frankreich gesehen hatten, ebenso Italiener, Franken, Engländer und viele andere, so wie auch ich. Jerusalem war meine Heimat und Geburtsort, ich konnte damals nie verstehen, wenn ältere Krieger oft über Heimweh klagten oder das Heilige Land verließen.

In der Waffenkammer erhielten wir unsere Waffenröcke, hellbraun mit dem roten Jerusalemkreuz auf der Brust, einen Ledergambeson und einen Helm mit Nasenschutz. Gambeson und Helm waren bereits benutzt worden und wir probierten sie mit gemischten Gefühlen an. Wir wollten gar nicht wissen, was mit den vorherigen Trägern dieser Sachen geschehen war. Als Bero und ich fertig angezogen waren und wir uns gegenseitig betrachteten, erfüllte es uns dennoch mit Stolz. Endlich sahen wir aus wie Krieger, ob wir auch wirklich welche sein würden, konnte nur die Zukunft beantworten.

Wir hatten soeben unsere neue Ausrüstung in unserem Zimmer verstaut, als ein junger Knappe eintrat und nach mir fragte. »Verzeiht, ich suche Ritter Jesco.«

An die neue Anrede musste ich mich erst gewöhnen.

»Das bin ich, was willst du?«

»Herr Borchwei wünscht Euch zu sehen.«

Aufplusternd erhob ich mich und bedankte mich bei dem Knappen, der sich wieder eilig davonmachte. Als ich schon Richtung Tür ging, hörte ich noch Beros Gelächter hinter mir.

»Du Pfau!«

Ich schmiss ihm meine Tunika an den Kopf und machte mich auf den Weg zu Borchweis Stube.

 

 

Wie so oft, saß Borchwei grübelnd über einigen Pergamenten und Plänen. Als ich in seine Stube eintrat, sah er lächelnd auf.

»Jesco, schön dich zu sehen. Na, hast du dich im neuen Heim schon eingelebt?«

»Ja, habe ich. Unsere Zimmergenossen sind zwar etwas eigenbrötlerisch und schweigsam, aber es geht schon.«

Borchwei nickte verstehend. »Daran wirst du dich gewöhnen. Es sind Krieger und ein jeder geht mit seinen Kampferfahrungen anders um. Manche werden schweigsam, andere verbittert und hasserfüllt, nur die wenigsten bleiben sie selbst.«

Ich verstand, zog es aber vor, Letzteres zu bleiben.

»Du hast mich rufen lassen?«

»Ja, das habe ich. Denn es ist an der Zeit, dir etwas zu geben, das dir jetzt zusteht.«

Ich sah ihn verblüfft an, dann stand er auf und bat mich, ihm zu folgen. Wir gingen die Treppe hinunter, vorbei an meinem ehemaligen Quartier. Nach zwei Straßenbiegungen standen wir vor einem eingeschossigen Steingebäude mit Gittern vor den Fenstern. Vor einer schweren Eisentür standen mehrere Wachposten.

Borchwei nahm mich zur Seite und sah mich geheimnisvoll an. Dann öffnete er seine Hand, darin lag ein silberner Ring. Auf der Oberseite des Schmuckstücks war ein runenähnliches Zeichen eingraviert. »Stecke dir bitte diesen Ring an und verliere ihn niemals, denn er bevollmächtigt dich, dieses Gebäude zu betreten, da hier nur berechtigte Personen Zutritt haben.«

Daraufhin drehte er sich um und ging auf die Wächter zu, leicht irritiert folgte ich ihm. Borchwei wies mich an, den Wachsoldaten meinen Ring zu zeigen. Der Ältere unter ihnen nickte mir bestätigend zu und zog einen großen Schlüssel aus seinem Gürtel hervor, mit dem er dann die Eisentür aufschloss. Ein anderer reichte Borchwei eine brennende Fackel und wir gingen in das dunkle Innere des Steinhauses.

Die Fackel erleuchtete mehrere kleine Räume, es erinnerte an ein Gefängnis, was es wahrscheinlich auch mal gewesen war. Durch die vergitterten Fenster drang der Lärm von der Straße herein, ich blickte mich neugierig um.

Überall standen Holztruhen und Säcke, manchmal bis hoch zur Decke gestapelt. Schließlich blieben wir in der hinteren Ecke eines Raumes stehen und Borchwei deutete auf zwei Truhen. Auf ihrem Deckel war jeweils ein großes „A“ eingeschnitzt. Borchwei drehte sich zu mir um.

»Jesco, vor dir stehen die beiden Truhen deines Vaters!«

Ich war wie in Schockstarre und schaute auf die beiden Kisten.

»Du bist jetzt erwachsen und ein Ritter, sie gehören jetzt dir.«

Wie benommen kniete ich mich hin und strich mit meinen Händen über die Deckel der Kisten, dann öffnete ich die eine.

Mir stockte fast der Atem, als ich ein wundervoll gearbeitetes Schwert sah. Es musste über all die Jahre gut gepflegt worden sein, denn es war keine Spur von Rost darauf zu erkennen.

Ich sah ungläubig zu Borchwei hoch, doch er machte nur eine auffordernde Handbewegung. Mit zittriger Hand nahm ich das Schwert meines Vaters heraus. Es hatte einen Holzgriff, der mit Leder umwickelt war und lag herrlich ausgewogen in meiner Hand. Die Klinge war, nach hiesiger Machart, mehrfach gefaltet und eine vorzügliche Schmiedearbeit, ähnlich der von Borchweis Schwert. Ich hielt es lange in meiner Hand, bis mich Borchwei aus meinen Gedanken riss.

»Jesco, da ist noch mehr in den Kisten, sieh es dir an.«

In derselben Truhe lag noch ein schweres Tuch, ich wickelte es vorsichtig auf. Ich traute meinen Augen nicht, darin lag ein Kettenhemd.

»Dein Vater hatte die ähnliche Statur wie du heute, es müsste dir passen, zieh es an, bevor du hier vor lauter Staunen noch Wurzeln schlägst.«

Ich zog es heraus, es war sehr schwer. Borchwei half mir es überzustülpen. Es war langärmlig und vorne zum Zuschnüren; es passte wie angegossen. Ich kam mir vor wie in einem Traum.

»Borchwei, ich weiß nicht mehr was ich sagen soll, es ist ...«

»Schon gut. Ich kann mir vorstellen, wie du fühlst, du brauchst nichts zu sagen.«

Er langte in die Kiste und zog ein rundes Amulett heraus, darauf war ein Fels mit einem Turm eingraviert, darunter der Name meines Vaters. ~ Annulf von Hohengreif ~.

»Dies Amulett bezeugt deine Herkunft, es ist wie eine Urkunde, die bestätigt, dass du der Sohn Annulfs bist. Ebenso dieser Ring deines Vaters.« Er reichte mir einen silbernen Ring mit den Initialen meines Vaters. Ich nahm ihn in meine Hände und steckte ihn mir an den Ringfinger der rechten Hand. Mein Mund war staubtrocken und ich konnte kaum schlucken. Mir war, als würde ich von all den Eindrücken erschlagen.

Als nächstes kam eine dunkelgrüne, edle Tunika zum Vorschein, mit wunderschönen bestickten Borten an den Rändern.

»Die hat deine Mutter einst für deinen Vater genäht, und diese Halskette war ein Geschenk deines Vaters an deine Mutter.« Er reichte mir eine dünne Goldkette mit einem Kreuz als Anhänger. In der Mitte des Kreuzes war ein kleiner roter Rubin eingearbeitet. Jetzt konnte ich meine Tränen kaum mehr zurückhalten, doch dafür schämte ich mich nicht. »Jetzt habe ich auch etwas von meiner Mutter.«

Borchwei legte mir sanft seine Hand auf die Schulter. »Sie war eine wunderschöne und stolze Frau. Und du bist ihr Sohn. Sie wäre stolz auf dich, Jesco.«

Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.

Worte reichten nicht mehr aus, um dieses Gefühl, das mich übermannte, auszudrücken.

Dann öffnete Borchwei die zweite Kiste. Darin lagen viele Leinensäckchen unterschiedlichster Größe. »In diesen Säcken ist deine Zukunft, verwalte sie gut.«

Ich öffnete eines nach dem anderen und mit jedem Säckchen wurde ich noch staunender, ich war überwältigt. Denn bunte Edelsteine, Gold– und Silbermünzen, einzigartige Schmuckstücke und Goldstaub befanden sich darin.

»Dies alles ist die Kriegsbeute deines Vaters. Er wollte, dass deine Zukunft gesichert ist.«

Ich war wie versteinert und es dauerte seine Zeit, bis ich wieder ein klares Wort zustande brachte. »Borchwei, ich kann das nicht annehmen. Ich meine … ich habe nichts getan, um all dies zu verdienen. Es fliegt mir einfach so zu, ich bin nicht würdig es zu besitzen …«, stammelte ich immer noch kniend.

Borchwei beugte sich zu mir herunter und sah mir in die Augen. »Oh doch, das bist du. Wenn nicht du, wer sonst? Du bist der Erbe deines Vaters, so wollte er es. Und du bist würdig, denn ich sehe in dir deinen Vater und deine Mutter, und die Erinnerung an sie schmerzt mich.«

Nach seinen Worten umarmten wir uns, er war mehr als ein väterlicher Freund und so akzeptierte ich was er gesagt hatte. Dennoch war ich immer noch so überwältigt, dass ich mich erst sammeln musste. »Danke Borchwei, dass du all die Jahre mein Erbe für mich gehütet, und die Erinnerung an meine Eltern bewahrt hast. Danke.«

»Es war mir eine Ehre. Es macht mich zu einem glücklichen Mann, deine Eltern gekannt zu haben.«

Wir verschlossen die Kisten wieder und gingen nach draußen. Das Kettenhemd behielt ich an, das Schwert steckte ich mir in den Gürtel. Wir schlossen uns noch einmal in die Arme, dann verabschiedeten wir uns voneinander.

Ich ging durch die Straßen und spürte das Gewicht des Eisenhemdes auf meinem Körper, so als würde die Last meines Erbes auf meine Schultern drücken. Ich beschloss, in den Stall zu gehen und Ashir zu satteln; ich wollte alleine sein.

Als ob ich vor etwas fliehen wollte, ritt ich auf meinem Pferd zur Stadt hinaus. Ich nahm nichts um mich herum wahr, als würde ein Schleier mich umhüllen. Ohne festes Ziel galoppierte ich immer weiter, bis ich auf einer kleinen sandigen Anhöhe zum Stehen kam.

Ashir schnaubte übermütig, stand aber ganz ruhig da. Und ich saß im Sattel und blickte einfach nur in die Ferne, sehr, sehr lange. Erst als der glutrote Sonnenball langsam hinter dem Horizont verschwand, machte ich mich auf den Heimweg. Meine Gedanken überschlugen sich und drohten mir zu entgleiten. Mir wurde jetzt erst so richtig klar, dass aus dem jungen Knappen ein vermögender Ritter geworden war. Aber das war für mich zweitrangig. Was mir wirklich die Sinne zu rauben schien, waren die persönlichen Vermächtnisse meiner Eltern. Es war, als hätte Gottes Hand mich berührt.

 

»Bero, stimmt was nicht?«

Missmutig saß mein Freund auf seinem Bett. Ich hatte zuvor lange gewartet bis wir alleine waren und ihm dann von meinem plötzlichen Reichtum erzählt. Stolz zeigte ich ihm auch mein Kettenhemd und Schwert, doch seine Reaktion war anders als ich erwartet hatte.

»Dir fällt alles vor die Füße, und ich? Ich besitze nichts, mein elender Onkel schert sich einen Dreck um mich. Ich bin kein Ritter, ich bin nur ein einfacher, mittelloser Krieger!«

»Bero, du bist genauso ein Ritter wie ich … «

Er stand auf und seine Augen funkelten mich wütend an.

»Einen Dreck bin ich!«

Dann ging er und schlug die Tür zu. Was war nur in ihn gefahren, gönnte er mir mein Glück etwa nicht? Ich gebe zu, ich hatte alles und er nichts, aber deshalb musste er sich nicht wie ein trotziges Kind aufführen.

Ich spielte mit dem Gedanken, Bero beim Schmied ein bereits getragenes Kettenhemd zu kaufen. Es gab zuhauf Eisenhemden von Gefallenen oder Heimkehrern, die sie verkauften, um das Geld für die Heimreise zu erlangen. Aber Bero wäre viel zu stolz gewesen, um es anzunehmen, also verwarf ich den Gedanken wieder. Er würde sich schon wieder beruhigen, früher oder später. Wir hatten nur selten Streit und wenn, dann nie sehr lange.

Ich gab dem Stuhl einen Tritt, zog mir dann entnervt meine Stiefel an und ging raus auf die Straße. Ziellos schlenderte ich durch die Stadt. Ich wusste nichts mit mir anzufangen und hatte wegen Bero schlechte Laune. Nach einer Weile entschied ich, dass Wein eine hervorragende Idee war, um auf andere Gedanken zu kommen.

 

 

Ich saß im leeren Wirtshaus und hatte meinen ersten Becher geleert. Die dicke Köchin mit ihrem Doppelkinn machte mir schöne Augen. Als sie mir wieder einschenkte, beugte sie sich tief zu mir runter und streckte mir ihren Ausschnitt entgegen.

Ihre fettige, unreine Haut glänzte im Kerzenschein und ihre verschwitzten Haare klebten ihr im Gesicht. Mit ihren kleinen Äuglein grinste sie mich dümmlich an.

»Na, mein Schöner, so allein?«

Sie roch widerlich und ich rückte ein Stück von ihr weg.

»Ich bin gern allein.«

»Na komm schon, keiner ist doch gern allein …«

»ICH SCHON !«

Sie sah mich erschrocken an und walzte dann beleidigt davon.

Der Wein war sauer und warm und ich wollte gerade gehen, als mir plötzlich Bero gegenübersaß und mich schuldbewusst ansah. »Du Mistkerl, es tut mir leid ... ich bin nicht neidisch, es ist nur …«

»Ist schon gut, ich bin dir nicht böse. Lass es uns einfach vergessen.«

Er lächelte mich erleichtert an. »Ich war bei Gilbert, ich hab mit ihm darüber geredet und ich sehe ein, dass ich mich dämlich benommen habe.«

»Es freut mich, dass ihr euch versteht, Gilbert und du.«

»Ja, ich denke, er ist ein guter Freund.«

Ich bezahlte bei der ungepflegten Wirtin und war froh, ihren Anblick nicht länger ertragen zu müssen.

Als wir spät in der Nacht heimkehrten, bemerkten wir, dass ein Bett leer war. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass einer der beiden jüngeren Krieger tot war, ehrenhaft gestorben im Kampf. Es geschah auf einem Patrouillenritt, sechs Ritter wurden von Sarazenen überfallen. Er starb durch einen Schwerthieb.

 

 

Nachdem sich unsere Betroffenheit etwas gelegt hatte, kam mir ein Gedanke. Ich eilte zu Borchwei, um ihn ihm zu unterbreiten.

Er runzelte zuerst skeptisch seine Stirn, doch dann hellten sich seine Gesichtszüge auf. »Nun ja, nach deinen Schilderungen scheint er ja ein redlicher Bursche zu sein. Also schön, so soll es sein.«

»Danke Borchwei, er wird dich nicht enttäuschen.«

Ich hatte ihm den Vorschlag gemacht, dass den freien Platz in unserem Zimmer doch Gilbert einnehmen könnte. Nach kurzem Überlegen hatte Borchwei eingewilligt. Und so zog noch am gleichen Tag Gilbert bei uns ein. Er war mir sehr dankbar, denn das Leben im Normannenlager wäre auf Dauer nichts für ihn gewesen. So entwickelte sich in den Wochen danach eine ehrliche und tiefe Freundschaft zwischen Bero, Gilbert und mir.

Ich hörte laute Schreie, sie kamen aus dem Abort. Es war Simon, einer der älteren Ritter, der mit uns das Zimmer teilte.

Im Garnisonshaus waren es alle schon gewohnt, dass Simon bei seiner Notdurft vor Schmerzen schrie, doch diesmal war es besonders schlimm.

Als Simon unser Zimmer betrat, stöhnte er immer noch. Nur Gilbert und ich waren anwesend, ich wollte ihm helfen.

»Simon, du hast große Schmerzen. Was plagt dich?«

Er krümmte sich auf seinem Bett zusammen und sah mich abweisend an. »Du willst wissen, was mich plagt? Ich pisse Blut und es fühlt sich an, als würde mir jemand ein glühendes Eisen auf den Unterleib drücken.«

»Wir könnten dich zu Ali bringen, er kann dich von deinen Qualen befreien.«

Simon stöhnte wieder schmerzhaft auf. »Ihr werdet mich zu keinem gottverdammten Heiden bringen, vorher verrecke ich lieber. Gott wird mir helfen.«

Gilbert und ich schüttelten verständnislos unsere Köpfe, trotzdem ging ich zu Ali und schilderte ihm Simons Leiden. Er gab mir ein Säckchen getrockneter Kräuter mit, die wir in heißem Wasser aufkochen sollten und wovon Simon reichlich trinken sollte. Ali war sich sicher, dass sie Simons Schmerzen schon nach wenigen Tagen lindern würde.

In seiner Sturheit weigerte sich Simon jedoch, sich von Ali helfen zu lassen und rührte keinen Tropfen des Kräutersuds an.

»Teufelszeug eines Ungläubigen, bleibt mir damit vom Leib! Ich sagte euch doch, ich vertraue auf Gottes Hilfe! Und nun schert euch raus!«

Schließlich gaben wir es irgendwann auf und hielten uns jedes mal die Ohren zu, wenn Simon im Abort war. Obwohl seine Schmerzen täglich schlimmer wurden, ließ er sich von Ali nicht helfen. Doch Gott half ihm auch nicht, denn er lag drei Tage später tot in der Latrine. Ich war mir sicher, hätte dieser Narr auf Ali vertraut, er wäre am Leben geblieben. So konnten wir nichts weiter tun, als für ihn beten. Simons Bett blieb unbesetzt und erinnerte uns stets an seine Einfalt.

 

 

Die Tage strichen ereignislos dahin, wir kümmerten uns um unsere Ausrüstung und unsere Pferde. Wenigstens waren meine Haare wieder gewachsen und bedeckten schon zur Hälfte meine Ohren. Ab und zu übten wir uns im Schwertkampf, um nicht einzurosten, aber langsam begannen wir Trübsal zu blasen. Borchwei schien dies nicht zu entgehen, denn eines Abends kam er in unsere Stube. Er sah sich zuerst unsere Bleibe gedankenverloren an, dann verschränkte er seine Arme vor der Brust und zog wie so oft eine Augenbraue nach oben.

»Mir scheint, ihr braucht ein wenig Zerstreuung.«

Mit ernster Miene sah er uns an. »Morgen zum Sonnenaufgang, vollgerüstet vor dem Stall. Wir reiten Patrouille. Zwanzig Mann!« Ohne ein weiteres Wort war er wieder verschwunden und wir sahen uns mit offenen Mündern an.

Für Gilbert war es nichts Besonderes, aber Bero und ich hatten unseren ersten Einsatz vor uns. Natürlich hatten wir damit gerechnet, dass es bald soweit sein würde. Aber es war jetzt doch etwas überraschend für uns, was unsere Freude darüber aber nicht schmälerte.

Gilbert bemerkte unsere innere Unruhe. »Haltet euch an die älteren Krieger und tut was sie tun! Und jetzt versucht zu schlafen.«

Seinem Rat folgend gingen wir zu Bett. Doch ich war zu aufgeregt, um gleich einschlafen zu können. Von draußen drang die warme Luft zum Fenster herein und ließ mich schwitzen. Ich wälzte mich auf meinem Strohsack und hatte eine unruhige Nacht mit nur wenig Schlaf. Und wenn mir die Augen zufielen, dann träumte ich wieder von meinem Meer aus Blut. Freude und Angst rangen in dieser Nacht um die Oberhand in meiner Seele.

 

 

Vor Sonnenaufgang sattelten wir unsere Pferde. Ashir stupste mich frech an, als ich ihm das Zaumzeug anlegte. Dann saß ich auf und stellte die Lanze aufrecht in eine Lederschlaufe am Steigbügel. Besorgt beobachtete ich Bero, der als einziger von uns kein Kettenhemd trug, sondern nur seinen Ledergambeson.

Den Kampfschild auf dem Rücken, warteten wir vor dem Stall auf Borchwei. Wir gaben einen beeindruckenden Anblick ab, in unserer Rüstung, den hellbraunen Waffenröcken und den Streitrössern. Schließlich kam Borchwei auf seinem Pferd angeritten. Er sah prächtig aus in voller Kampfmontur. Ich zog mir meine Kettenkapuze über den Kopf und setzte mir meinen Helm auf, den ich mir am Kinnriemen festzog.

Borchwei zügelte sein Pferd vor uns, musterte uns zufrieden und zählte die Männer durch.

»Wir reiten einen halben Tagesritt in Richtung Massada, dort füllen wir unsere Wasserschläuche und kehren wieder um. Seid wachsam!«

 

 

Wir ritten durch die noch verschlafenen Gassen Jerusalems, dann verließen wir am Damaskustor die sicheren Mauern der Stadt. Als wir die Wüste erreichten, brannte die Sonne bereits erbarmungslos auf uns herab. Ich teilte mir die Ration in meinem Wasserschlauch gut ein und nahm immer nur einen kleinen Schluck zu mir.

An unserer rechten Seite erstreckte sich eine lange, sandige Hügelkette, durchzogen von karstigen braunen Sandsteinfelsen. Meine Anspannung wuchs, denn hinter den zerklüfteten Felsen boten sich gute Versteckmöglichkeiten für etwaige Angreifer.

Je länger der Ritt jedoch andauerte, desto entspannter wurde ich, zumal die Landschaft jetzt flacher wurde und weit und breit niemand zu sehen war. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, legten wir an einem Wasserloch eine kurze Rast ein. Wir stiegen ab, füllten unsere Wasserschläuche und tränkten die Pferde. Borchwei warf mir einen aufmunternden Blick zu und reichte mir seinen Wasserschlauch. Ich schwitzte unter meinem Helm, aber meines Vaters Kettenhemd war trotz des Gewichts angenehm zu tragen.

Wir kontrollierten noch die Sattelgurte und nach Borchweis Befehl zum Aufsitzen, ging es wieder weiter. Nach einigen weiteren Meilen wendeten wir und machten uns auf den Rückweg. Borchwei zog das Tempo nun etwas an, was mein Ashir sichtlich begrüßte. Der durch die Hufe aufgewirbelte Sand fegte mir ins Gesicht, ich kniff meine Augen schützend zusammen. Durch den leichten Galopp wehte mir jetzt wenigstens kühlender Wind ins Gesicht.

Ich war ein wenig erleichtert, meinen ersten Einsatz ohne kriegerische Auseinandersetzung hinter mich gebracht zu haben. Ich wischte mir mit der Hand den Schweiß und Sand aus den Augen. Doch plötzlich riss Borchwei sein Pferd jäh zur Seite, erschrocken riss auch ich den Zügel zurück. Aufgrund des abrupten Anhaltens bäumte sich manch Pferd auf und scheute leicht.

Nachdem wir die Pferde wieder unter Kontrolle hatten, folgten wir Borchweis Blick zur Hügelkette. Dann sahen wir sie. Erst drei, dann vier, schließlich ein Dutzend. Da mich die Sonne blendete, konnte ich sie nur undeutlich erkennen. Sie saßen auf Pferden und waren schwarz gekleidet, ihre Köpfe mit Tuch umhüllt. Mit der Sonne in ihrem Rücken, verschmolzen ihre Körper zu einer konturlosen, flimmernden Masse.

»In Reihe und Lanzen einlegen!«

Borchwei brüllte den Befehl, ohne den Feind aus den Augen zu lassen. Wir formierten uns in breitgefächerter Reihe, die Lanze hatte ich unter dem rechten Arm, links den Schild und die Zügel.

Borchwei war in der Mitte vor uns und fixierte den Feind. Ich hörte mein Herz bis unter meinen Helm pochen. Es war ein abwartendes Belauern. Das einzige was ich wahrnahm, war Borchweis behandschuhter Arm, den er nach oben streckte. Würde er den Arm langsam senken, dann könnten wir aufatmen. Würde er seinen Arm in Richtung des Feindes strecken, hieße es: frontaler Angriff!

An diesen Augenblick muss ich noch bis heute immer wieder denken. Ich hatte alles um mich herum ausgeblendet und sah nur noch Borchweis Lederhandschuh als schwarze Silhouette vor dem gleißenden Sonnenball. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ er seinen Arm langsam sinken. Ich atmete aus und lockerte meine Schultern. Ashir schnaubte leise und stampfte immer wieder mit seinem Vorderhuf in den Sand.

Der Feind schien sich zu beraten, und langsam, ohne uns aus den Augen zu lassen, zogen sie sich zurück und verschwanden hinter dem Hügel.

»Position und Reihe halten!«

Ich fühlte mich sicher unter Borchweis Führung. Bero und Gilbert sahen zu mir, auch in ihren Gesichtern lag erkennbare Erleichterung. Borchwei fixierte immer noch konzentriert die nahe Hügelkette. »Späher zum Hügel, es könnte ein Hinterhalt sein!«

Ein älterer Reiter löste sich langsam aus unserer Reihe und ritt auf den Hügel zu, hinter dessen Anhöhe er dann verschwand.

Der Wind war etwas stärker geworden und wehte feine Sandschwaden über den Boden. Meine rechte Hand krampfte sich um die Lanze, während wir warteten.

Dann tauchte unser Späher wieder auf, doch als er näher kam und nicht mehr die Sonne in seinem Rücken hatte, erkannten wir, dass es einer der schwarzgekleideten Heiden war, und er hielt etwas in der Hand. Er ritt einige Schritte in unsere Richtung, blieb aber in sicherem Abstand. Dann warf er den Gegenstand mit einem kräftigen Schwung zu uns herunter. Er kullerte durch den Sand bis fast vor die Hufe unserer Pferde. Es war der Kopf unseres Kameraden, der eine blutige Spur im Sand hinterließ. Seine toten Augen starrten uns aus seinem sandverkrusteten Gesicht anklagend an.

Borchwei blickte auf den abgetrennten Schädel, der vor ihm auf dem Boden lag, dann schnellte er herum. Sein Blick sagte mehr als Worte: Seine Augen schrien nach Rache.

»Angriff!«

Mit eingelegter Lanze sprengte er los. Während ich ihm noch nachsah, geschah etwas Sonderbares in mir, all meine Angst war wie weggeblasen. Wut und Kampfeshunger überkamen mich stattdessen wie eine Welle. Ich preschte Borchwei und den anderen hinterher. Ashir wieherte wütend, er witterte wohl den Kampf. Ich sah Borchwei hinter dem Hügelkamm verschwinden. Als ich auch dort ankam, sah ich ihn hinter dem Feind hergaloppieren. Ich gab Ashir die Sporen, die anderen folgten. Nach einiger Zeit war der Feind jedoch zu weit entflohen, sodass wir unsere Pferde anhielten. Wir konnten nur noch der Staubwolke der Ungläubigen hinterherschauen.

Borchwei sah ihnen hasserfüllt nach: »Merde!«

Die anderen hatten ebenfalls aufgeschlossen, es war jedoch zwecklos den Feinden noch zu folgen, zu groß war ihr Abstand. Langsam wendete Borchwei sein Pferd und sprach mit wutunterdrückter, kalter Stimme. »Lasst uns Armand begraben.« Schweigend folgten wir seinem Befehl und ritten zu dem Leichnam unseres Spähers zurück.

In einer riesigen Blutlache lag der kopflose Körper unseres Kameraden. In seiner Brust steckten zwei Pfeile und aus seinem Halsstumpf tropfte das Blut und versickerte im Sand. Wir stiegen ab und Borchwei rief Bero und mich zu sich.

»Zieht ihm Waffenrock und Kettenhemd aus.«

Voller Schreck starrten wir ihn ungläubig an, aber er wies nur mit der Hand auf den Toten. »Tut, was ich euch sage. Ihr müsst euch an den Tod gewöhnen, er wird ab jetzt euer treuer Wegbegleiter sein.«

Gehorsam befolgten wir Borchweis Befehl. Wir stiegen von unseren Pferden ab und knieten uns neben den Leichnam.

Zuerst versuchten wir, dem Toten die Pfeile aus seinem Brustkorb zu ziehen, doch die Widerhaken an den Pfeilspitzen erschwerten es uns. Mit einem heftigen Ruck zog ich schließlich einen Pfeil heraus, begleitet durch ein knirschendes Geräusch von zerreißendem Fleisch und brechenden Knochen. Mir drehte sich fast der Magen um. Der zweite Pfeil ließ sich nicht herausziehen, er musste sich in seinen Rippen verhakt haben, wir brachen nur den Schaft ab.

Nachdem wir ihm den blutigen Waffenrock ausgezogen hatten, schnürten wir sein Kettenhemd auf und zerrten es von ihm ab. Bero musste sich übergeben und auch ich kämpfte gegen meinen aufsteigenden Mageninhalt an.

Borchwei sah uns die ganze Zeit über nur ungerührt zu, der Ausdruck in Gilberts Gesicht war das blanke Mitleid. Einige der anderen gruben ein tiefes Loch in den sandigen Boden, um den kopflosen Leichnam vor Aasfressern zu schützen.

Als Bero das blutbesudelte Eisenhemd Borchwei reichen wollte, schüttelte dieser nur abweisend seinen Kopf.

»Es gehört jetzt dir, Bero.«

Mit blankem Entsetzen starrte Bero ihn an.

»Aber ich kann doch nicht … von einem Toten …«

Bero konnte nur noch stammeln, angesichts dieses makaber wirkenden Geschenks. Doch Borchweis strenger und zugleich kalter Gesichtsausdruck ließ keinen Widerspruch zu.

»Es ist gang und gäbe von Gefallenen, ob Feind oder Kamerad, Waffen und Rüstung an sich zu nehmen. Also nimm es!«

Kreidebleich gehorchte Bero und legte das Ringhemd vor sich auf den Sattel. Anschließend begruben wir den armen Kerl und sprachen ein Gebet für ihn.

Der Heimritt verlief schweigend. Ich kannte Borchwei gut genug, um zu wissen, dass dieser Vorfall an ihm nagte.

 

 

Als wir wieder zuhause waren, entledigten wir uns unserer Rüstung und der Waffen. Anschließend schrubbten Gilbert und ich mit kaltem Wasser und Sand die Blutflecken von Beros neuem Kettenhemd. Dann rieben wir es mit Fett ein und überreichten es Bero, der immer noch sichtlich mitgenommen wirkte.

»Ich danke euch, aber ich kann es nicht anziehen, es widerstrebt mir.« Ich konnte ihn verstehen, dennoch gab ich nicht nach. »Bero, bitte, du wolltest immer ein Kettenhemd. Und auch wenn es von einem Toten stammt, es würde mich beruhigen, wenn auch du im Kampf besser geschützt wärst. Du weißt, so ein Hemd kostet ein Vermögen. Die Löcher werden wir beim Schmied mit neuen Ringen flicken lassen und nun tue uns den Gefallen und probier es an.«

Bero zauderte immer noch. »Ich komme mir dabei vor wie ein Leichenfledderer.«

Doch nach einigem Zögern willigte er ein und zog es sich mit angeekelter Miene an. Es passte ihm ausgezeichnet und nach und nach huschte sogar ein zaghaftes Lächeln über sein Gesicht. Ich war mir sicher, er würde sich an sein neues Eisenhemd gewöhnen, auch wenn es von einem Toten stammte. Erleichtert tranken wir einen Becher Wein und gingen uns dann waschen.

 

Seit unserem Patrouillenritt war Borchwei in sich zurückgezogen, er sprach nicht mehr mit uns und wirkte abweisend.

Nachdem er mir tagelang aus dem Weg gegangen war, traf ich ihn eines Morgens im Stall. Sein Gesichtsausdruck war wie versteinert, dennoch fasste ich mir ein Herz.

»Borchwei, du gehst uns seit Tagen aus dem Weg. Was ist los, haben wir etwas falsch gemacht?«

Er blickte mich an und schwieg, erst nach einer Weile rang er sich zu einer Antwort durch.

»Nicht ihr, sondern ich!«, brummte er.

Ich verstand nicht und bat ihn um eine Erklärung. Sein Blick ging durch mich hindurch, als er zögerlich antwortete. »Ich habe ohne Verstand gehandelt.« Er sammelte sich, denn es fiel ihm sichtlich schwer darüber zu reden. »Als ich den Angriff befahl, war ich blind vor Hass. Wenn der Feind hinter dem Hügel einen Hinterhalt vorbereitet hätte, wären wir alle in den Tod geritten!« Er atmete tief durch, dann fuhr er fort. »Ich habe euch großer Gefahr ausgeliefert, weil ich mich von meinen Gefühlen habe leiten lassen. Ich hätte überlegter handeln müssen. Doch das habe ich nicht.«

»Bitte, gräme dich nicht. Es ist ja gut gegangen«, sagte ich.

»Reines Glück, Jesco, einfach nur reines Glück! Es hätte anders ausgehen können. Nimm dir ein Beispiel daran, behalte immer einen kühlen Kopf, auch wenn deine Wut noch so groß ist. Lasse dich nicht verleiten, denn genau das will der Feind!«

Er verließ den Stall, erst jetzt machten seine Worte einen Sinn für mich. Dennoch tat es meinem Vertrauen zu ihm keinen Abbruch, er war unser Anführer und Freund, ganz gleich was geschah!

In den Nächten dachte ich oft an Faizah, wie ich deutlich in meinen Lenden spürte. Ich suchte sie jedoch nicht mehr auf, denn ich wollte selbst ein Mädchen erobern. Meine stümperhaften Bemühungen waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt. So blieb mir nichts anderes übrig, als eines Abends mit Gilbert ins Normannenlager zu gehen. Bero war ausgeritten und so gingen wir nur zu zweit.

Gilbert begrüßte einige seiner Bekannten und ich ging zum Feuer, um mir einen Becher Wein zu gönnen. Die Nacht war warm und die Stimmung im Lager ausgelassen wie immer.

Die normannischen Krieger waren mir ein Mysterium, sie waren in der Lage, Tag und Nacht zu saufen und am nächsten Morgen mit Todesverachtung in die Schlacht zu ziehen. Es waren Krieger, die keiner unbedingt zum Feind haben wollte.

Ich saß am Feuer und nippte an meinem Wein. Eine junge Magd, die den Männern immer wieder Wein nachschenkte, lächelte mich unverblümt an, blieb aber am anderen Ende des Feuerplatzes. Doch immer wenn ich in ihre Richtung blickte, bemerkte ich, dass sie mich beobachtete, dann aber ertappt wieder wegsah.

Gilbert trank und unterhielt sich mit den anderen Normannen. Ich beschloss, meine Blase zu erleichtern und dann schlafen zu gehen. Ich stand auf und ging ins Dunkel außerhalb des Lagers, dort pinkelte ich an meine Dattelpalme. Als ich fertig war, drehte ich mich um und die junge Magd stand vor mir. Sie sah mich keck an, dann öffnete sie ihren Haarschleier und trat auf mich zu.

Sie war blond, keine Schönheit, aber sie hatte eine anziehende Art. Wir hatten noch nicht ein Wort gewechselt, als sie mich plötzlich stürmisch küsste.

Nachdem sich meine anfängliche Überraschung gelegt hatte, schob ich ihren Rock hoch und wir trieben es leidenschaftlich im noch warmen Sand. Ich war ausgehungert und ihr schien es gelegen zu kommen. Als wir fertig waren, ging sie wieder, ohne ein Wort zu sagen.

Erst später erfuhr ich, dass sie stumm war. Wir trafen uns danach noch einige Male an der Dattelpalme. Es war jedoch keine Liebe, wir befriedigten nur unser gegenseitiges körperliches Verlangen. Danach ging ich jedes Mal zur Beichte.

 

 

Meine Haare waren inzwischen gewachsen und reichten mir wieder bis zu den Schultern. Ich hatte noch an drei Patrouillenritten teilgenommen, jedoch ohne nennenswerte Geschehnisse.

Nach dem Gottesdienst saßen Borchwei, Gilbert, Bero und ich gemeinsam im Speisesaal des Garnisonshauses und aßen etwas. Als wir unser Mahl beendet hatten, sprach ich etwas an, was mich schon seit Wochen beschäftigte.

»Wisst ihr was seltsam war? Als wir bei unserer Patrouille damals den Angriff ritten, war meine Angst plötzlich wie weggewischt.« Meine Kameraden hörten mir ein wenig verwundert zu. »Ich war wie angestachelt, voller Mut. Ashirs Hitze spornte mich noch zusätzlich an.«

Jetzt starrten die drei mich stumm an, plötzlich fing Gilbert laut zu lachen an. Borchwei hatte sich beim Trinken verschluckt und Bero sah mich an, als wäre ich verwirrt. »Jesco, wie viele Becher hattest du heute schon?«

»Das ist mein erster, verdammt was soll das!?«

Gilbert musste sich zusammenreißen, um nicht gleich wieder loszuprusten. »Jesco, wir wussten ja nicht, dass du auf einem ralligen Ross in den Kampf gezogen bist!« Ich stutzte, doch dann fiel mir meine Wortwahl selbst auf. Ich ließ den Spott über mich ergehen, vermied aber in Zukunft diese Wörter, zumindest in Bezug auf mein Pferd.

Wir saßen noch eine Weile fröhlich zusammen, als von draußen plötzlich Rufe zu hören waren:

»Borchwei, ich suche Ritter Borchwei!«

Ein gehetzt wirkender Bote betrat den Speisesaal und kam eilig auf unseren Tisch zu. Seine Miene verhieß nichts Gutes.

»Borchwei, endlich finde ich Euch.«

Mit besorgter Miene erhob sich Borchwei. »Sprich Mann, was ist geschehen?«

Der Bote sah kurz verunsichert zu uns, dann wieder zu Borchwei. »Die Normannen sind überfallen worden, auf dem Weg nach Antiochia. Einige Überlebende sind zurückgekehrt, sie konnten gerade noch fliehen.«

»Wie viele?«, fragte Borchwei.

»Von einhundert Normannen sind noch etwa zwanzig am Leben.«

Borchweis Gesichtszüge verhärteten sich. »Anzahl der Feinde?«

»Man berichtet von ungefähr dreihundert!«

Borchwei schlug mit seiner Faust wütend auf die Tischplatte.

»Bote, begleite mich ins Normannenlager, unterwegs erzähle mir Genaueres!«

Wir erhoben uns und wollten ihm folgen, doch er zischte uns nur an. »Ihr bleibt hier und wartet.«

An der Tür drehte er sich noch einmal zu uns um und in seinen Worten lag Eiseshärte. »Wenn die Heiden den Kampf suchen, dann sollen sie ihn bekommen!«

 

Gilbert kochte vor Wut, viele seiner Kameraden waren gefallen. Er war deshalb zwei Tage im Lager der Normannen gewesen, hatte Trost gespendet und geholfen, die Verletzten zu versorgen.

Auch Ali war nicht zu sprechen, er hatte alle Hände voll zu tun. Nur einmal hatte ich ihn mit blutbesudeltem Gewand in sein Zelt eilen sehen.

Die Nervosität und Anspannung der Krieger konnte man förmlich greifen. Die Normannen wären am liebsten sofort losgezogen, um ihre Kameraden zu rächen. Im Königspalast beriet man sich seit Stunden, auch Borchwei war geladen und ebenso Leofwin, der Heerführer der Normannen. Die Ritter des Tempels waren in Alarmbereitschaft und sicherten bereits die nähere Umgebung der Stadt. Und wir drei warteten auf Nachricht von Borchwei und den hohen Herren, doch es tat sich lange nichts.

Die Sonne stand schon tief, als Borchwei uns endlich rufen ließ. Sofort eilten wir zu seiner Stube. Als wir sie betraten, stand er über seinen Tisch gebeugt und studierte konzentriert einen Plan auf Pergament. Seine vernarbte rechte Wange zuckte ganz leicht, was nie ein gutes Zeichen war.

Er schaute kurz auf als wir eintraten, dann rollte er das Pergament zusammen und schleuderte es wütend in die Ecke.

»Unbemerkt von unseren Spionen haben sich einige Sarazenenstämme zusammengetan. Der Befehl des Königs lautet: Einhundert Normannen, fünfzig Tempelritter und einhundert Ritter der Garnison. Alle beritten. Mehr Krieger kann uns der König nicht zur Verfügung stellen, er will die Stellungen nicht schwächen.« Borchwei zwang sich, seine Wut zu unterdrücken.

»Wir werden diese Wüstensöhne aufspüren und ich schwöre bei Gott, wir werden sie unsere Rache spüren lassen. In drei Tagen rücken wir aus. Ich soll entscheiden wer von unseren Männern dabei ist!«

Wir drei schauten uns gegenseitig an, dann nickten wir alle einstimmig. »Wir wollen dabei sein!«

Er überlegte und schritt auf und ab, keiner von uns wagte etwas zu sagen, denn sein Gebaren wirkte mehr als nur gereizt.

»Ich schätze euren Mut, aber ich weiß nicht, ob es richtig wäre. Bero und Jesco sind noch unerfahren. Auf der anderen Seite müssen die Jüngeren beweisen, dass sie Krieger sind.«

Noch immer wagten wir nichts zu sagen und hofften auf Borchweis Gunst. »Na schön, zwanzig der Jüngeren, achtzig Veteranen. Ihr drei seid dabei. Einmal muss es das erste Mal sein!«

Erleichtert atmete ich aus. Wir dankten ihm für sein Vertrauen und versprachen ihm, ihn nicht zu enttäuschen. Er nickte nur leicht und ging dann wieder zu seinem Tisch.

Es war endlich soweit, ich würde in die Schlacht ziehen!

 

 

Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, Waffen und Rüstungen wurden überprüft und ausgebessert. Unsere Pferde bekamen noch einmal reichlich Futter und Wasser. Täglich trafen Späher ein, um über die genaue Lage des Feindes zu berichten. Fast stündlich erhielten wir neue Nachrichten, der Feind war wohl in ständiger Bewegung, um uns zu irritieren.

Hassprediger und Bettelmönche predigten auf den Märkten das Wort Gottes. Darunter waren einige, die den Weltuntergang prophezeiten, verursacht durch die schwere Schuld unserer Sünden. Sie wiegelten und hetzten ihre Zuhörer auf, die Ungläubigen zu töten und in den tiefen Schlund der Hölle zu stoßen. Sie drohten denjenigen, die nicht ihr Schwert gegen die Heiden erheben würden, mit dem ewigen Fegefeuer. Ihre Hasstiraden zeigten bei den Menschen Wirkung, was man an ihren wütenden Zurufen hören konnte.

Ich für meinen Teil gab nicht viel auf die Worte dieser selbst ernannten Prediger. Sie schürten den Hass und die Angst unter den Menschen. Sie verkündeten nicht das Wort Gottes, sondern das Wort des Krieges.

 

 

Am Abend vor dem Abmarsch begab ich mich in die Grabeskirche. Die Luft war noch erwärmt vom Tag, obwohl sich seit Stunden Wolken vor die Sonne geschoben hatten.

Ich kniete vor dem kleinen eingemeißelten Kreuz meines Vaters und betete. Ich bat Gott um Kraft und Mut und dass er mir meine Angst nehme, die in den letzten zwei Tagen Besitz von mir ergriffen hatte. Ich küsste den Ring meines Vaters, den ich an meinem Finger trug, bekreuzigte mich und ging.

Bero und Gilbert redeten am Abend nicht viel. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, bis Bero schließlich den unsichtbaren Bann brach. »Freunde, ich will nicht viel Worte verlieren. Aber tut mir einen Gefallen und passt während der Schlacht auf eure Ärsche auf.«

Gilbert grinste breit. »Und pass du auf deinen Kopf auf, unterscheidet sich ja nicht sonderlich von unseren Ärschen.«

Zwischen Beros Augen bildeten sich für einen kurzen Moment Zornesfalten, doch dann musste auch er schmunzeln. Ich lag bereits auf meinem Bett und hatte die Augen geschlossen.

»Lasst uns einfach mit allen unseren Körperteilen wieder heimkehren, wenn möglich lebend. Jetzt sollten wir schlafen.«

Doch ich schlief in dieser Nacht so gut wie gar nicht und wenn, dann träumte ich wieder von den Toten im Blut, die ihre Hände nach mir ausstrecken. Wie ein treuer Freund suchte mich dieser elende Traum manchmal nächtens auf.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739385518
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Mai)
Schlagworte
Kreuzritterroman Kreuzzüge Krieg Jerusalem Religion Ritterroman Kreuzritter Templer Normannenromane Mittelalterromane Roman Abenteuer Liebesroman Liebe Fantasy

Autor

  • Klaus Haidukiewitz (Autor:in)

Autor lebt in Süddeutschland und befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema Mittelalter. Er entschloss sich für dieses Erstlingswerk, nachdem er historische Orte aus der Epoche der Kreuzzüge in ganz Europa sowie in Syrien und Israel besucht hatte.
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Titel: Der Franke - Ewig in Stein