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Mordtiefe

von H.C. Scherf (Autor:in)
250 Seiten
Reihe: Spelzer/Hollmann-Reihe, Band 3

Zusammenfassung

»Da unten ist die Hölle« Die Taucher der Essener Wasserschutzpolizei müssen weit über ihre psychischen Grenzen hinausgehen, als sie das Depot eines Killers in der Tiefe räumen. Welcher Wahnsinnige versteckt die Toten im Essener Baldeneysee? Wieder einmal stehen Rechtsmedizinerin Karin Hollmann und ihr Freund, Oberkommissar Sven Spelzer vor Mädchenleichen, die ihnen viele Rätsel aufgeben. Wie weit geht ein skrupelloser Gangsterboss, um den gewaltsamen Tod seines Bruders zu rächen? Zwei scheinbar unabhängige Fälle bringen die Ermittler selbst in Lebensgefahr. Ein friedliches Naherholungsgebiet entpuppt sich als Spielwiese für einen irren Mörder. Obwohl die Handlungsabläufe in sich abgeschlossen sind, empfiehlt es sich, die Bücher in der Reihenfolge zu lesen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Mordtiefe

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

- Kapitel 1 -

Energisch zog Astrid den Reißverschluss ihrer Kapuzenjacke hoch, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen, der kräftig über den See trieb. Ihr Kajak schaukelte bedenklich, als sie sich in die Sitzluke quetschte und den Spritzschutz verschloss. Heute hielt Klaus nicht das Boot am Ufer, um ihr das Einsteigen zu erleichtern. Der Kundentermin war für ihn sehr wichtig, musste unbedingt in die frühen Abendstunden gelegt werden. Doch das wöchentliche Fahrvergnügen, das einen Teil ihres umfangreichen Fitnessprogramms ausmachte, sollte zumindest bei ihr nicht darunter leiden.

Die eintretende Dämmerung legte sich bereits wie eine Haut über das Wasser, durch den böigen Wind entstanden geheimnisvolle Pfeiftöne. Astrid liebte diese Ruhe am Wasser, die entstand, wenn sich die Besucher am Haus Scheppen allmählich an den heimischen Herd zurückzogen und das letzte Segelboot im kleinen Hafenbecken vertäut war. Es waren die ruhigen Schläge des Paddels, die sie runterkommen ließen. Sie vertrieben alle schlechten Geister, die sich im Laufe des betriebsamen Tages angesammelt hatten. Schlag für Schlag trieb sie das Kajak weiter hinaus auf den Baldeneysee, der sich mit seiner Strömung gegen die Spitze des Bootes stemmte. Die kleinen Wellen brachen sich am Bug und erzeugten ein beruhigendes Plätschern. In Gedanken sang sie diesen Ohrwurm Perfect von Ed Sheeran mit, der sie schon seit dem Frühstück begleitete und einfach nicht weichen wollte.

Nur schemenhaft konnte sie die Kampmannbrücke erkennen, da sich leichter Dunst über das Wasser legte, der die Umgebung in ein geisterhaftes Licht tauchte. Astrid fühlte sich wohl in dieser Stille des anbrechenden Abends. Sie summte jetzt das Lied laut mit und sah im Geiste wieder diese Szenen aus dem wunderschönen Musik-Video, als Sheeran mit seiner Freundin über den Skihang glitt, gefangen in unendlicher Glückseligkeit. Genau das hatte sie sich immer mal mit Klaus gewünscht, wenn der nur nicht diese verfluchte Höhenangst hätte. Keine zehn Pferde brachten ihn in einen Sessellift oder eine Gondel.

Der Gedanke verlor sich, als sie mit dem Bug gegen ein Hindernis stieß. Das Kratzen unter dem Boot endete so plötzlich, wie es gekommen war. Sie suchte die Wasseroberfläche ab und kam zu dem Entschluss, dass es sich um einen Ast gehandelt haben musste, der nun weiter mit der Strömung trieb. Sie entspannte sich wieder und vergaß den Vorfall. Sie umfasste ihr Paddel kräftiger und bereitete sich auf einen kurzen Sprint gegen die Strömung vor. Das Holz tauchte tief ein in das schwarze Wasser und erzeugte kräftige Wirbel. Die Front des Kajaks hob sich für einen Augenblick aus dem Wasser, um sofort wieder einzutauchen. Als sie zwei, drei Züge gepaddelt war, hatte sie das Gefühl, nicht einen Zentimeter von der Stelle gekommen zu sein.

Nein, nur das nicht! Spontan schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sich ihr Steuerblatt am Heck wieder einmal in dieser verfluchten Wasserpest verfangen hatte, die einen großen Teil des Sees befallen hatte. Diese schnellwachsenden Pflanzen hatte der Teufel als Plage auf die Menschheit losgelassen. Als sie das Steuerblatt mit dem Schnurzug hochklappte, war nichts von dem Grün zu sehen. Diese verfluchten Pflanzen waren zwar erst vor gar nicht langer Zeit mit einem Spezialboot gemäht und abtransportiert worden, doch sie musste natürlich genau eine Stelle erwischen, die vergessen wurde. Ganz großartig. Jetzt kann ich zusehen, wie ich diesen Mist wieder loswerde.

Astrid versuchte, durch Rückwärtsfahren das sperrige Gewächs wieder zu lösen. Keine Chance. Fluchend löste sie den Spritzschutz und drehte sich vorsichtig zum Heck. Ein Bad in dieser kalten Brühe war für den heutigen Abend eigentlich nicht eingeplant gewesen. Sie war sich jedoch nicht mehr so ganz sicher, als sie vorsichtig zum Heck kroch. Das Kajak schaukelte bedenklich. Jetzt konnte sie das Steuerblatt erkennen, das jedoch völlig frei vor ihr lag. Da war es wieder, dieses Scharren und Kratzen. Diesmal kam es von Backbord. Etwas bewegte sich unter dem Boot und erzeugte einen großen Schatten. Astrid hatte davon gehört, dass es große Welse in diesem See geben sollte, doch erzählt wurde viel. So groß konnte ein Fisch doch nicht sein, dass er einen derartigen Schatten im Wasser erzeugte. Jetzt befand er sich auf der anderen Seite und ... er erzeugte tatsächlich Luftblasen.

Bevor sich Astrid darüber Gedanken machen konnte, tauchte direkt neben ihr der Kopf mit der Tauchermaske auf. Reflexartig riss sie die Arme nach hinten, was dazu führte, dass sie rücklings im Wasser landete. Ihre Kleidung saugte das Nass begierig auf. Die Kälte des Wassers lähmte für einen kurzen Moment ihre Atmung, ihre Schwimmversuche drohten bei aufsteigender Panik zu versagen. Sie schluckte Wasser und ruderte wie eine Wilde mit den Armen. Verzweifelt versuchte sie, wieder die lebensspendende Oberfläche zu erreichen. Den trüben Himmel konnte sie durch die bräunliche Brühe nur noch schwach erkennen. Ihre Hände suchten verzweifelt nach einem Halt an dem Boot. Die Fingerspitzen fanden schließlich die Öffnung des Sitzes. Kurz bevor sie den Rand umklammern konnten, spürte Astrid eine feste Hand an ihrem rechten Fußknöchel. Mit aller Kraft trat sie nach unten, rang nach Luft, die ihren Lungen nun endgültig auszugehen drohte. Todesangst breitete sich wie eine lähmende Droge in ihr aus. Panik erfüllte sie, als das Wasser in die Lunge eindrang. Sie konnte nicht verhindern, dass immer mehr folgte und das regelmäßige Atmen verhinderte.

Das Gehirn gab den Gliedmaßen verzweifelt Befehle, die diese jedoch nicht mehr ausführen konnten. Mit angstgeweiteten Augen blickte sie nach unten und erkannte diesen großen Schatten, der sie immer tiefer in die Dunkelheit des Sees zog. Die Konturen verschwammen, alle Bewegungen erstarben. Ein erfüllender Frieden stellte sich ein, als Astrid verstand, dass sie ihren letzten Weg in ein nasses Grab einschlug. Eine einzelne Blase verließ noch ihren Mund, zerplatzte an der jetzt wieder ruhigen Oberfläche. Der Baldeneysee glättete sich, hatte sein Opfer dankbar aufgenommen.

Ein einzelnes Kajak trieb führerlos über den See. Erst das Stauwehr in Werden stoppte die einsame Fahrt.

- Kapitel 2 -

Peter Krüger, Leiter des Drogendezernats, hatte sich in den letzten Monaten zu Svens bestem Freund entwickelt. Die gemeinsame Ermittlung im Fall des ›Serben‹ schweißte die beiden Oberkommissare auf eine angenehme Art zusammen. Sven lehnte am Fenster und betrachtete das Treiben vor dem gegenüberliegenden Gerichtsgebäude, als ihn die Frage des Freundes wieder in die Realität zurückholte.

»Haben euch die drei Wochen in Thailand wenigstens was gebracht? Du hast noch kein Wort darüber verloren. Erzähl mal, wo habt ihr euch rumgetrieben? Vielleicht kenne ich ja den einen oder anderen Ort. War ja schließlich schon etliche Male dort unten.«

Ohne sich umzudrehen, fasste Sven seinen Urlaub mit wenigen Worten zusammen.

»War ganz gut. Wir hatten für eine Woche eine Gruppenreise gebucht, die von Bangkok ganz in den Norden bis zum Goldenen Dreieck führte und wieder zurück nach Hua Hin. Von Chiang Mai aus sind wir wieder nach Süden gefahren. Die zweite Woche in Hua Hin im Hilton hat uns ganz gutgetan.«

»Ja und? Ist das alles, was du zu berichten hast? Du hast eines der schönsten Länder dieser Erde besucht, tausend Tempel gesehen und kannst nicht mehr berichten, als dass die Reise ganz gut war? Verdammt, dann hättest du auch ins Allgäu fahren können. Was ist los mit dir, Sven? Da ist doch was. Hat es mit diesem Pehling zu tun, mit dieser Geschichte am Baldeneysee?«

Svens Körper straffte sich. Er spürte die fragenden Blicke in seinem Rücken, wollte dem Thema ausweichen.

»Ich weiß ja, dass es mich nichts angeht, aber die Sache mit Karin und diesem Killer hat uns verdammt noch mal alle sehr beschäftigt. Jeder hier im Präsidium hat sich seine Gedanken gemacht. Wir können ...«

»Ihr macht euch Gedanken? Schön, dass ihr euch alle solche Sorgen über unsere Zukunft macht. Doch damit werden wir schon alleine fertig.«

»Da bin ich aber anderer Meinung, Sven. Ob es dir passt oder nicht, du wirst es dir anhören müssen, was die Kollegen darüber denken. Dieser Pehling ist nicht nur euer Problem, mein Lieber, den sucht die halbe Nation. Keiner von uns kann sich ein Urteil darüber erlauben, warum Karin seine Flucht womöglich gedeckt hat. Außerdem ist es ja überhaupt nicht bewiesen, dass sie es wirklich tat.«

»Sie hat ihn nicht aufgehalten, hat uns nicht über seine Flucht informiert. Das reicht doch, oder?«

»So, so, dir reicht das, du eifersüchtiger Hahn. Wie schön für dich. Was hätte sie deiner Meinung nach tun sollen? Sie hatte doch keine Chance gegen das Tier. Sollte sie ihn mit bloßen Händen aufhalten, ihn mit ihren spitzen Schuhabsätzen bedrohen? Sie konnte ihm doch nur folgen und hilflos zusehen, wie er flüchtet. Anstatt dankbar dafür zu sein, dass sie den Vorfall überlebt hat, verurteilst du sie noch. Er hat sie verschont, mein lieber Freund. Dank dem Herrn dafür, dass er sie nicht mitgenommen und umgebracht hat. Du tust ja fast so, als hätte sie ihm ins Boot geholfen und seine Flucht vorbereitet. Hast du sie noch alle?«

Peter erkannte deutlich, wie sich Svens Hände in den Taschen zu Fäusten ballten, sich seine Gesichtszüge verhärteten. Er erwartete jeden Augenblick, dass er sich auf ihn stürzte. Krassnitz öffnete die Tür und blieb einen Moment abwartend stehen. Sie spürte deutlich das Knistern zwischen den Freunden. Vorsichtig klopfte sie an den Türrahmen.

»Hallo, Erde an die kämpfenden Truppen. Darf ich die Herren dienstlich ansprechen oder soll ich den Ausgang des Gefechtes abwarten? Hier gibt es noch ganz alltägliche Dinge zu erledigen. Wir hätten da möglicherweise einen kleinen Mord im Angebot.«

»Das ist Angelegenheit von diesem Sturkopf. Ich werde mich dann mal um meine Drogenkunden kümmern. Krassnitz, haben Sie Kernseife da? Dann waschen Sie diesem Trottel mal den Kopf. Und nicht vergessen, hinter den Ohren auch.«

Peter Krüger duckte sich geschickt unter dem heranfliegenden Locher weg und sortierte seinen Pferdeschwanz wieder über die Schulter. Grinsend verließ er das Büro. Krassnitz meldete sich noch einmal zu Wort.

»Chef, wir haben eine vermisste Frau in Werden.«

 

»Wo treibt sich Hörster rum? Ich brauch den Besitzer des Bootes. Der soll die Nummer überprüfen und herausfinden, wo der normale Liegeplatz des Kajaks war. Selbst wenn es zu Hause gelagert wird, muss es ja irgendjemandem gehören. Wer hat das Kajak gefunden?«

»Die Frau steht da hinten an der Bank neben dem Kollegen. Die hat wohl ihren Hund ausgeführt und das Boot vor der Staumauer entdeckt. Vorsicht bei dem Hund, der ist ziemlich nervös und fletscht die Zähne. Habe die Frau schon deutlich darauf hingewiesen, dass ihr Hund einen Maulkorb benötigt. Bin froh, dass die mich nicht anschließend selbst gebissen hat. Vielleicht haben Sie mehr Glück bei der Furie.«

»Lieber Kollege, Sie sollten etwas vorsichtiger mit Ihren Ausdrücken umgehen. Der Hund hat vielleicht nur auf Ihre Uniform reagiert, was häufig vorkommt. Und die Frau wird vielleicht nicht gerne von oben herab belehrt. Ich kümmere mich darum. Und Sie bemühen sich bitte um die Besitzer des Bootes.«

Sven war es egal, ob er nun einen Feind mehr unter den Polizeikollegen hatte. Er mochte es nicht, wenn man Menschen in dieser unziemlichen Weise bezeichnet. Es sei denn, sie hatten es auf Grund ihrer Taten verdient. Auch ihm rutschte bei seinen Kunden hier und da mal ein Schimpfwort raus. Am Boot fand er endlich seinen Stellvertreter Hörster.

»Was sagen denn die Ämter über die Fließgeschwindigkeit der Ruhr hier vor dem Wehr? Vielleicht können wir, wenn wir das Bootshaus gefunden haben, einen Zeitpunkt ermitteln, an dem das Boot führerlos wurde. Es besteht ja immerhin noch die Möglichkeit, dass sich das Kajak von allein selbstständig machte und der Besitzer es noch nicht bemerkte. Ich möchte jetzt noch nicht die Taucher rausschicken, bevor das nicht geklärt ist. Sagen Sie Krassnitz, sie möchte bitte sämtliche Vermisstenmeldungen aus der Nacht durchgehen. Das könnte uns ja Hinweise geben. Wie ich sehe, sind die Kollegen von der Wasserschutzpolizei schon fleißig und suchen das Ufer ab.«

»Der Kahn ist auf einen Klaus Wehring aus Wattenscheid zugelassen. Zumindest steht das auf dem Schild im Boot. Jetzt können wir nur hoffen, dass er es nicht zwischenzeitlich verkauft hat und der neue Besitzer vergaß, das Schild zu aktualisieren. Krassnitz sucht schon nach einem solchen Mann in der Vermisstenliste.«

»Gut, Hörster. Ich hatte das gerade auch in Auftrag gegeben. Adresse haben wir?«

Das Telefon unterbrach das Gespräch der beiden.

»Chef. Bingo. Dieser Klaus Wehring hat seine Frau noch in der Nacht als vermisst gemeldet. Sie wollte ihre übliche Kajaktour abreißen. Das gehörte zu ihrem Fitnessprogramm. Er selbst hatte gestern Abend eine geschäftliche Besprechung und konnte nicht teilnehmen. Soll ich Ihnen die Telefonnummer geben?«

»Danke Krassnitz. Dann können wir ja mit der Suche im Wasser beginnen. Hörster, Sie fordern bitte die Taucher an. Klären Sie bitte mit den Kollegen der Wasserschutzpolizei, wo die Frau ins Wasser gefallen sein kann, wenn wir die Fließgeschwindigkeit und die Zeit in Relation setzen. Natürlich bleibt immer noch der Unsicherheitsfaktor, wie lange das Boot schon hier liegt. Egal, ich fahre zu diesem Wehring.«

- Kapitel 3 -

Unbändige Wut stieg in ihm auf. Diese verfluchte Sensationspresse hatte einmal mehr einen Aufmacher geliefert, der Elmar Pehling in Rage versetzte. Irrer Mörder richtet mutmaßlichen Bandenboss. In dem Artikel beschrieb ein Journalist seine Sicht der weitestgehend erfolglosen Ermittlungen der Polizei bis zum gewaltsamen und schrecklichen Tod eines Mannes, den bisher noch kein Gericht schuldig gesprochen hatte. Eine eigens dafür gegründete Soko war nicht in der Lage, einen mutmaßlichen Gewaltverbrecher zur Strecke zu bringen. Erst ein langgesuchter Serienmörder machte kurzen Prozess mit einem Mann, dessen Schuld bisher nie bewiesen werden konnte. Welche stillen Verbindungen gibt es zwischen der Polizei und diesem irren Mörder? Handelt es sich bei dem brutalen Rächer, der Selbstjustiz übt, um den langgesuchten Massenmörder Pehling? Warum schont die Justiz diesen Irren? Alles Fragen, denen man seitens der Presse nun nachgehen würde.

Auf der gleichen Seite veröffentlichte man ein Statement eines Mannes, der eigens aus Serbien angereist war, um die Umstände des Todes seines geliebten Bruders zu hinterfragen. Für Hinweise, die zur Ergreifung des Killers führten, hatte er privat eine Belohnung in Höhe von siebzigtausend Euro ausgesetzt. Eine Telefonnummer, unter der man sich melden konnte, war ebenfalls abgedruckt worden. Die Jagd auf den Mörder eines bisher Unschuldigen war eröffnet. Der Journalist ließ in dem Artikel sogar zu, dass sich dieser Stojan Kladicz darüber ausließ, dass es zu einer Vorverurteilung seines Bruders in der Öffentlichkeit gekommen war, da er einen Migrationshintergrund besaß. In Deutschland erführe man allein damit schon eine Stigmatisierung.

Pehling fuhr sich über den noch ungewohnten Bart, den er sich in den letzten Wochen hatte wachsen lassen. An die Brille, die er mit Fensterglas hatte anfertigen lassen, konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Immer wieder rückte er sie auf der Nase zurecht. Wann immer es möglich war, verzichtete er auf das Tragen dieses Folterwerkzeugs, wie er sie nannte. Einige Gäste an den Nebentischen blickten entrüstet zu ihm rüber, als er heftiger als beabsichtigt die Zeitung auf die Tischplatte knallte. Man schätzte ihn als ruhigen, zufriedenen Gast, der immer wieder ein nettes Wort für das Personal übrig hatte. Niemals wäre man auf die Idee gekommen, dass sich hinter dem derzeit überall angesagten Rauschebart das Gesicht eines Massenmörders verbergen könnte.

Durch den Ärger, den er beim Lesen der Titelstory verspürte, verpasste er die kleine Meldung auf einer der folgenden Seiten, dass man im Baldeneysee seit gestern nach einer vermissten Frau suchte, die vom Bootsausflug nicht zurückgekehrt war. Die Mordkommission war eingeschaltet worden, da ein Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen werden konnte. Die Polizei ermittelte in alle Richtungen.

Die Suche im Internet, als er den Namen Stojan Kladicz eingab, ergab nichts, was ihm bei seiner Recherche weiterhalf. Es handelte sich bei dem Mann um ein ehemals hochrangiges Mitglied der serbischen Armee, das sich um die Befreiung des serbischen Volkes verdient gemacht haben soll. Das konnte alles oder nichts bedeuten. Auf die Verdienste ging man nicht im Besonderen ein. Lediglich seine Teilhaberschaft an etlichen in Deutschland und international tätigen Firmen weckte Pehlings Neugierde. Für ihn stand fest, dass sich auch die deutschen Behörden nach diesem Artikel mit dem Mann beschäftigen würden. Belohnungen aus privater Hand wurden nicht gerne gesehen, zumal in diesem Fall die Informationen nicht direkt an die Polizei geliefert werden sollten. Selbstjustiz war hier wie überall auf der Welt strafbar.

Pehling nahm sich vor, diesen ominösen Geschäftsmann genauer unter die Lupe zu nehmen. Einerseits konnte er verstehen, wenn Familienmitglieder Rachepläne schmiedeten, hierbei ging es schließlich um seinen Arsch. Doch zuvor wollte er eine Herzensangelegenheit erledigen.

 

Karin erkannte die hochgewachsene Gestalt schon lange, bevor sie den Mini in die Parklücke setzte. Es würde ihr immer ein Rätsel bleiben, woher dieser Mann stets wusste, wo sie sich genau in diesem Augenblick aufhielt oder aufhalten wollte. Es war kein angenehmes Gefühl, sich ständig beobachtet zu fühlen. Allmählich entwickelte sich bei ihr eine Phobie. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich eine Person fühlen musste, die permanent von einem Stalker bedrängt wurde. Sie hatte noch mindestens eine Stunde Zeit, bis ihre Freundin Katja zum Quatschen im Café erschien. Langsam ging sie auf den Mann zu, in dem sie auf Anhieb Pehling erkannte. Er konnte sich in das Kostüm eines Pottwals pressen, sie würde ihn immer darin spüren. Es existierte eine Ausstrahlung, die kein zweites Wesen für sie besaß. Karin konnte sich dieser nicht entziehen.

»Gehen wir ein paar Schritte?«

Sie widersprach ihm nicht, als er sich umdrehte. In stiller Erwartung folgte sie ihm zur Bank eines Spielplatzes.

»Woher wussten Sie, wo ...?«

Pehling überging die Frage und betrachtete sie von der Seite. Ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken, als er ihr die unerwartete Frage stellte.

»Hat er dich gut behandelt? Du trägst wieder ein Problem in dir – erzähl mir mehr davon.«

Karin hatte genau in diesem Augenblick aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen, warum dieser Mann auch ihre tiefsten Gefühle erkannte. Es machte ihr nichts aus, sich zu öffnen. Pehling wusste mehr von ihr als ihre beste Freundin.

»Wenn Sie Sven meinen – ja, er hat mich in diesen Wochen in Thailand gut behandelt. Er hat es vermieden, mich unter Druck zu setzen. Ich meine damit diese Szene am See. Doch ich weiß, dass er darunter leidet. Er kann sich Ihre Reaktion an diesem Abend genau so wenig erklären, wie ich es kann. Warum haben Sie wieder getötet? War es wieder dieser andere Elmar? Warum wehren Sie sich nicht gegen das Böse in Ihnen? Sie sind stark, Sie müssten es schaffen. Und ich frage mich immer wieder – warum ich?«

Immer noch betrachte er sie von der Seite fast mitleidig, schließlich amüsiert. Doch seine Stimme besaß plötzlich eine unüberhörbare Traurigkeit. Sie schmeichelte sich fast in sie ein, fesselte sie in einer besonderen Art.

»Du kennst ihn nicht. Er ist sehr schlau. Jetzt in diesem Augenblick hört er uns aufmerksam zu, sucht nach unseren Schwachstellen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass er dich ein wenig mag. Du wirst es dir nicht vorstellen können, aber dieser Mistkerl da drin mag dich tatsächlich. Verstehe das bitte nicht falsch, Karin. Ich mache dich jetzt nicht auf eine billige Art an. Nein. Ich freue mich tatsächlich darüber, dass du dich mit Sven so gut verstehst. Doch du hast ein Recht darauf, es zu erfahren. Dieser Teufel in mir schätzt dich. Und ich kann ihn gut verstehen.«

Karin sprang auf, wollte sich entfernen. Ihre Augen zeigten plötzlich Panik. Pehling zog sie am Arm zurück und sah ihr bittend ins Gesicht.

»Sei mir nicht böse, aber du wolltest doch die Wahrheit wissen. Jetzt hast du sie gehört. Damit müssen wir beide leben. Doch du bist mir ausgewichen. Was steht zwischen dir und Sven? Du musst darüber reden, sonst frisst es dich auf. Wir sprachen doch schon einmal darüber. Ich möchte dir helfen, weil auch du mir geholfen hast.«

»Ich habe Ihnen nicht geholfen. Sie verstehen das völlig falsch.«

»Du hättest schreien können. Du hättest zulassen können, dass er mich auf dem Boot erschießt. Du hast dich ihm in den Weg gestellt. Das werde ich dir niemals vergessen. Lass mich dir helfen, wie es mir möglich ist – bitte. Du hast es ihm erzählt?«

Die letzte Frage traf Karin völlig überraschend. Warum wechselte dieser Pehling immer wieder das Thema? Konnte er tatsächlich in ihren Gedanken lesen? Er legte seine Fingerspitzen zärtlich unter ihr Kinn, als sie sich abwenden wollte, drehte er ihr Gesicht zu sich. Sie blickte in Augen, die ehrliche Sorge ausdrückten.

»Er weiß von meinem Bruder. Es war nicht schlimm. Es tat gut, es ihm endlich sagen zu können.«

»Siehst du, ich habe es dir gesagt. Du musst Vertrauen zu denen haben, die dich mögen, die dich um deiner selbst lieben – ohne Vorbehalte. Dein Misstrauen ist grundsätzlich berechtigt, denn die Menschen sind egoistischer geworden. Sie nutzen deine Schwächen zu ihrem Vorteil. Doch richte dich an denen auf, die dich vorbehaltlos mögen. Nun genug philosophiert. Wie war deine Zeit in Thailand?«

Dankbar sah sie zu Pehling auf, der einmal mehr geschickt das Thema gewechselt hatte.

»Ich danke Ihnen für Ihre ehrlichen Worte. Aber die Antwort darauf müssen wir verschieben auf ein anderes Mal. Meine Freundin wird schon warten. Gibt es ein anderes Mal?«

Sein Lächeln genoss sie beim Weggehen, verpasste jedoch seine leise gesprochenen Worte.

»Lass Katja nicht warten. Es gibt immer ein nächstes Mal, Karin. Ich bin stets in deiner Nähe.«

Pehling ließ eine nachdenkliche Frau zurück.

- Kapitel 4 -

Der dunkelblaue Maserati Levante war in der breiten Auffahrt zum schicken Einfamilienhaus nicht zu übersehen. Sven parkte seinen Passat direkt daneben und lief eine Runde um diesen außergewöhnlichen SUV. In dem Augenblick, als er seine Nase an die Scheibe der Beifahrertür drückte, erreichten ihn die Worte vom Hauseingang.

»Ist erst sechs Wochen alt. Gefällt Ihnen das Auto?«

Sven erkannte einen sportlich gekleideten großgewachsenen Mann durch die Frontscheibe, der auf ihn zuschlenderte.

»Sie sind bestimmt der Oberkommissar, der sich angemeldet hat. Habe ich recht?«

»Sie haben recht. Und Sie sind Klaus Wehring. Freut mich. Ja, das ist wirklich eine Sahneschnitte. Das ist doch ein Levante, oder? Hatte mal das Vergnügen, das Werk in Modena besuchen zu dürfen. Wenn ich mich recht erinnere, hat man einmal mehr diesen Maserati nach einem Wind benannt. Ich glaube, dass Levante ein Ostwind ist, oder?«

»Wow, ich bin beeindruckt, Herr Spelzer. Das wissen die wenigsten, dass dieser Hersteller immer Windbezeichnungen für seine Typen aussucht. Der Schlitten hat mich von Anfang an begeistert. Gesehen und schon war es ein Must have. Doch Sie sind bestimmt nicht den weiten Weg gefahren, um sich meine Schwärmerei anzuhören. Gehen wir rein?«

Einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die teuren Alufelgen werfend, die alleine schon mehr kosteten, als sein Passat an Zeitwert besaß, folgte er dem Mittdreißiger ins Haus. Auch hier bewies die Familie Wehring ein gutes Auge für geschmackvolle und teure Einrichtung. Sven sank in die breite Wohnlandschaft, in der ihm Klaus Wehring einen Platz anbot.

»Wasser, Limo? Oder lieber was Alkoholisches?«

»Nur einen Kaffee, wenn es keine Umstände bereitet.«

»Kein Problem. Ich muss gestehen, dass ich zu den Müllschaffenden gehöre, die Kapseln benutzen. Dafür trenne ich allerdings sorgfältig den verbleibenden Abfall.«

Während Wehring für einen Augenblick in der Küche verschwand, studierte Sven die Inneneinrichtung. Als er eine kleine Bildergalerie auf dem weißen Sideboard erspähte, stand er auf und nahm eines der Fotos in die Hand. Eine wahre Schönheit, die ihr Gesicht lachend an das des Hausherrn gelegt hatte. Der freche Bubischnitt umrahmte ein feingeschnittenes Gesicht, das ihn spontan an die junge Audrey Hepburn erinnerte. Die anderen gerahmten Fotos zeigten vor allem Klaus Wehring mit allen möglichen Geschäftsleuten, von denen Sven der eine oder andere bekannt vorkam.

»Das ist der ehemalige Maserati General Manager Europa Giulio Pastore. Den habe ich einmal besucht, bevor er von Alberto Cavaggioni abgelöst wurde. Wir sollten eine Software für ihn entwickeln. Die neue Firmenleitung hat das damals abgelehnt. Schade eigentlich. Hätte unsere kleine Firma schon früher aus den roten Zahlen holen können.«

»Interessant. Ich nehme an, das hier ist Ihre Frau?«

»Natürlich, das ist Astrid. Setzen wir uns doch wieder. Sie können mir sicher schon Ergebnisse mitteilen, oder? Haben Sie meine Frau, ich meine Astrid, schon gefunden?«

Sven musste sich eingestehen, dass er seine anfangs positive Meinung über diesen attraktiven Mann mit dem gepflegten Dreitagebart korrigieren musste. Die gefühllose Art, wie er das Problem seiner vermissten Frau anging, stieß bei ihm auf Widerwillen. Coolness gehörte zwar zum Business, doch das konnte man doch nicht eins zu eins auf das Privatleben übertragen. Die Sorge um seine schöne Frau, wenn sie überhaupt vorhanden war, konnte Wehring hervorragend verbergen. Sven ging auf diese Frage nicht ein.

»Sie führen ein IT-Unternehmen, habe ich den Unterlagen entnommen. Erfolgreich?«

»Was meinen Sie damit, Herr Spelzer? Möchten Sie damit wissen, ob mein Unternehmen verschuldet ist und dringend eine Lebensversicherungssumme benötigt? Ist es das?«

Kein Muskel zuckte in Svens Gesicht. Er wartete geduldig auf die Antwort. Die anfängliche Freundlichkeit war bei seinem Gastgeber wie weggewischt.

»Nein, Herr Oberkommissar, wir können uns über fehlende Aufträge nicht beklagen. Ich sehe im Augenblick auch keinerlei Zusammenhang zwischen dem Verschwinden meiner Frau und der Auftragslage meines Unternehmens. Fallen Sie eigentlich immer in dieser Art über die Angehörigen her, die ein Familienmitglied als vermisst melden? Ich persönlich halte das für ziemlich taktlos. Während sich unsereins Sorgen um das Wohlergehen der Familie macht, recherchieren Sie mir gegenüber offen in Richtung einer Täterschaft. Kein guter Einstieg für Sie. Ich wiederhole deshalb meine Frage. Haben Sie irgendetwas Neues zu berichten, was mir eventuell die Sorge nehmen könnte? Wenn nicht, darf ich Sie bitten, erst wiederzukommen, wenn das der Fall ist.«

»Wo liegen Ihre Boote eigentlich? Ich nehme an, dass auch Sie eines besitzen, da ich Sie auf einem der Fotos neben Ihrer Frau gesehen habe. Also, wo sind die Boote stationiert?«

Wehring, der sich bereits erhoben hatte, setzte sich wieder und starrte Sven an.

»Unsere Kajaks haben wir im Yachthafen von Haus Scheppen deponiert. Einige Geschäftsfreunde haben ...«

»Warum sind Sie an diesem Abend nicht gemeinsam gefahren? War das nicht üblich bei Ihnen?«

»Das liegt an einem Geschäftstermin, einem sehr wichtigen, von dem viel für die Firma abhing.«

Sven zog den kleinen Notizblock aus der Jackentasche und sah Wehring fragend an.

»Wie gesagt, ein Geschäftstermin. Sonst noch was?«

»Sie werden mir sicher den Namen und die Telefonnummer Ihres Geschäftspartners nennen können. Ich höre.«

»Jetzt hören Sie mir mal genau zu, Herr Oberkommissar. Die Art, wie Sie mit mir umgehen, gefällt mir überhaupt nicht. Ich werde das mit meinem Anwalt ...«

Sven erhob sich, steckte die Schreibutensilien wieder weg und wandte sich zur Tür.

»Tun Sie das, Herr Wehring. Ihr Anwalt wird Ihnen bestätigen, dass Sie verpflichtet sind, mir diese Auskünfte zu geben. Sie dürfen mir dann alles auf dem Präsidium ... sagen wir so um 09:30 Uhr in meinem Büro ... darlegen. Ich denke, dass Sie ein hervorragendes Navi in Ihrem Superschlitten haben. Wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Kurz bevor Sven Spelzer die wuchtige Haustür öffnete, hielt ihn die Stimme von Wehring, jetzt schon wesentlich kleinlauter zurück.

»Es war eine Frau.«

Sven stoppte und drehte sich wieder Wehring zu.

»Name, Adresse? Warum machen Sie daraus so ein Geheimnis?«

»Es war ... also, meine Frau durfte ... verdammt, es war eine Freundin. Muss das denn unbedingt sein, dass dies an die große Glocke kommt? Wir machen doch alle mal was Falsches, oder? Hatten Sie denn noch nie eine Affäre? Das hat überhaupt nichts mit dem Verschwinden meiner Frau zu tun.«

»Wusste Ihre Frau von dieser Affäre? Könnte das der Grund sein, warum sie verschwunden ist? Das würde uns die Sache plausibler machen und die Suche eingrenzen. Vielleicht hat sie ihren Mann ja nur im Stich gelassen und fordert in ein paar Tagen die Trennung?«

»Astrid würde sich nie trennen. Dafür lieben wir uns zu sehr. Ihr muss was passiert sein.«

Ungläubig starrte Sven in Wehrings Gesicht, das den Eindruck vermittelte, als würde dieses Arschloch wirklich daran glauben, was er gerade daherfaselte. Wieder kramte er seinen Notizblock hervor.

»Also, Name, Adresse, Telefonnummer. Ach, darf ich Sie noch um etwas bitten? Dürfte ich mir ein Bild Ihrer Frau ausleihen. Wäre sehr hilfreich für die Suche.«

Noch lange saß Sven in seinem Wagen und betrachtete das große Haus, in dem ein Egomane wohnte, der in dem Wahn lebte, dass er mit Geld und beruflichem Erfolg seinen beschissenen Lebenswandel rechtfertigen konnte. Immer wieder begegnete er bei seinen Ermittlungen dieser erbärmlichen Dekadenz. Ihm wurde übel.

- Kapitel 5 -

Hörster hatte den Passat schon erkannt, als dieser sich neben den Einsatzfahrzeugen der Polizei einsortierte. Sven sah sich suchend um, bemerkte das Winken seines Kollegen im Uferbereich.

»Na, was gefunden?«

»Wir können uns vor Fundstücken kaum retten. Vier Fahrräder, zwei Mopeds, sogar drei Tresore. Noch einige Monate, und wir haben die Fahrrinne wieder sauber. Scheiße. Ich glaube nicht daran, dass wir hier in der Nähe des Bootes auch die Besitzerin finden werden. Die Leiche müsste ja dann ebenfalls vor der Wehrmauer auftauchen. Ich denke, dass wir weiter oben suchen müssen. Haben Sie denn herausfinden können, wo das Boot gestartet ist? Vielleicht finden wir was am Liegeplatz.«

»Das ging mir auch schon durch den Kopf. Wir verlegen die Suche zum Haus Scheppen und arbeiten uns von dort weiter vor. Diese Astrid Wehring könnte irgendwo flussabwärts im Gestrüpp hängen. Immer vorausgesetzt, die hat das Boot überhaupt betreten. Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass ein möglicher Täter uns nur glauben machen will, dass sie ertrunken ist? Vielleicht sogar sie selbst. Wir könnten noch Wochen nach ihr suchen, was wir natürlich nicht tun werden. Und genau darauf könnte der Täter hoffen. Tod durch Ertrinken. Leiche wurde nicht gefunden, trotzdem irgendwann für tot erklärt. Fertig.«

Hörster sah seinen Chef wortlos an und ließ das Gesagte sacken.

»Ein interessanter Aspekt. Der fast perfekte Mord, in der Tat. Was ist das denn für ein Typ, dieser Ehemann? Sie waren doch heute bei ihm. Leidet der wenigstens?«

»Ein komplettes Arschloch. Er leidet unter Selbstsucht.«

Mit dieser Bemerkung ließ Sven seinen Stellvertreter zurück und näherte sich dem Boot der Wasserschutzpolizei.

»Hi, Mertens. Bevor wir hier zu Müllsammlern werden, würde ich Sie darum bitten, Ihre Männer weiter oben am Haus Scheppen einzusetzen. Dort hat das Boot gelegen. Vielleicht ist die Frau, wenn sie denn tatsächlich über Bord ging, dort schon ins Wasser gefallen, und die Strömung hat sie irgendwo unter eine Wurzel gezerrt.«

»Das wäre gut möglich. Wir sind auch hier am Wehr durch. Hatte den Männern schon gesagt, dass wir jetzt flussaufwärts weitermachen. Also dann packen wir mal zusammen.«

»Ich fahr mit Hörster vor und befrage noch mal die Anlieger. Ich habe ein Gefühl, dass wir dort eher zur Lösung kommen. Kann mir vorstellen, dass Ihre Leute froh sind, mal wieder für kurze Zeit aus dem kalten Wasser zu dürfen.«

 

Sven wartete ab, bis der letzte Besucher am Imbissstand des ›Griechen‹ sein Essen in Empfang genommen hatte. Erwartungsvoll wendete sich der Verkäufer dem neuen Gast zu. Statt eine Bestellung aufzugeben, hielt Sven ihm den Dienstausweis unter die Nase.

»Polizei? Hier nix passiert, alles gut.«

»Ich bin von der Mordkommission Essen und möchte Sie nur etwas fragen.«

»Mo ... Mordkommission? Christos, komm mal her, hier Polizei von Kommission.«

Aus dem hinteren Bereich der Hütte erschien ein korpulenter Mann, der sich die fettigen Hände an der Schürze abputzte. Gleichzeitig drehten sich alle Köpfe der umstehenden Gäste zum Schalter. Der Ruf hatte aber auch jeden auf dem Vorplatz erreicht.

»Ja, was ich kann für Sie tun? Bei uns stimmt alles, Kasse in Ordnung.«

»Stopp, stopp, ich bin weder von der Steuerbehörde noch vom Gesundheitsamt. Wir suchen eine Frau, die sich möglicherweise gestern Abend hier aufgehalten hat. Kennen Sie das Gesicht?«

Noch bevor Sven das Foto auf die Theke gelegt hatte, schüttelte Christos den Kopf.

»Schauen Sie sich das doch wenigstens an, verdammt. Vielleicht war sie ja gestern an Ihrem Stand.«

»Astrid. Das ist auf jeden Fall Astrid.«

Die Stimme kam von der Seite und gehörte einem Kahlkopf, dessen untere Gesichtshälfte komplett zugewachsen war. Die Lederkluft wies ihn untrüglich als Biker aus, von denen sich jetzt drei weitere dem Schalter näherten. Dem allgemeinen Gemurmel ließ sich mit viel Fantasie eine Zustimmung entnehmen.

»Seid ihr euch sicher? Und war Astrid gestern Abend auch hier?«

Wieder zuckte der Bart des Bikers und ließ die Worte durch.

»Ob die gestern Abend hier war, können wir nicht sagen. Wir hatten Versammlung. Aber die ist mindestens drei- bis viermal in der Woche hier. Die kommt immer mit einem Kerl. Dann paddelt sie mit dem Arschloch etliche Runden auf dem See.«

»Wieso Arschloch?«

»Ach weißt du, wir erkennen diese verfickten Snobs schon an ihrer Nase. Astrid ist ja ganz in Ordnung und quatscht ab und zu mit uns. Aber der Kerl hat `nen Stock im Arsch. Für den existieren wir nicht. Der stellt seinen bepissten Maserati jedes Mal auf den Behindertenparkplatz und scheucht Astrid übers Wasser. Der Kleinen wird doch wohl nix passiert sein, oder? Hat die vielleicht den Typen gekillt? Dann wird die sofort Ehrenmitglied im Club.«

Allgemeines Gegröle bewies die volle Zustimmung der Kumpels. Sven grinste. Er mochte diese Sprache des Ruhrgebiets. Klar und ehrlich. Er legte die Hand auf die Schulter des Bikers.

»Ich schmeiß glatt `ne Runde Pommes, wenn ihr mir sagen könnt, welchen Wagen Astrid fährt, wenn dieses Arschloch nicht dabei ist.«

Der Kreis der Biker schloss sich um Sven. Jeder wollte einen Blick auf das Foto werfen. Endlich trat ein Mann nach vorne, dem die Lederkluft locker um den ausgemergelten Körper flatterte. Das Gesicht war mit Pickeln übersät, obwohl die Pubertät mindestens dreißig Jahre hinter ihm lag.

»Die kommt immer mit dem roten Mazda, so einen MX5, glaube ich. Der steht dann oben auf dem Besucherparkplatz. Die hat `ne total geile Figur. Wäre schon mein Typ.«

»Mensch Akne, die wird sich zum Ficken bestimmt was anderes als dich aussuchen. Die lässt dich Klappergestell bestimmt nicht ran.«

Das Gelächter der Männer erfüllte nun den gesamten Vorplatz. Gegenseitig schlugen sie sich auf die Schulter und nahmen Akne spielerisch in den Schwitzkasten.

»Christos, die Jungs bekommen `ne Portion Pommes mit Matsche. Die haben sie sich verdient. Ich danke euch. Das hat mir verdammt geholfen. Ach übrigens, wenn das Mädel hier plötzlich auftaucht, sagt ihr mir Bescheid? Hier ist meine Karte. Ihr habt einen gut bei mir. Danke.«

Sven warf einen Zwanziger auf die Theke und winkte Hörster herbei, mit dem er den Aufstieg zum Besucherparkplatz in Angriff nahm. Lange mussten sie nicht suchen, um den kleinen Sportflitzer zu finden.

»Ich würde sagen, wir bestellen mal Ruhnert hierher. Die Spurensicherung sollte sich den Wagen mal vornehmen. Sind die Taucher schon da? Sorgen Sie bitte dafür, dass die Uferzone während der Suchaktion komplett gesperrt wird. Ich sehe mich mal im Yachthafen um. Die Kajaks sollen ja dort gelagert worden sein.«

- Kapitel 6 -

»Stojan, es gibt keine Möglichkeit, an diesen Pehling ranzukommen. Seit Monaten sucht der gesamte Polizeiapparat in Deutschland nach dem. Wie sollen wir ihn dann finden? Wir müssen diesen Verrückten aus seiner Defensive locken. Jeder Mensch, wenn man bei dem überhaupt davon sprechen kann, muss eine Schwäche haben. Die müssen wir finden, sonst warten wir bis in alle Ewigkeit.«

»Was seid ihr denn für Pfeifen? Ich bezahle euch nicht dafür, dass ihr mir sagt, dass irgendwas nicht geht, sondern dafür, dass ihr Lösungen findet. Sag mir nie wieder, dass etwas nicht machbar ist ... nie wieder! Dobrica, du wirst genau diese Schwäche finden. Ich will diesen Kerl haben, koste es, was es wolle. Zur Not erhöhe ich die Prämie auf Hunderttausend. Ich zahle aber nur, wenn er lebt. Ist das klar? Die Szene wird alles daransetzen, mir das Schwein zu liefern.«

Dobrica entging einer Stellungnahme dadurch, dass er das große Fenster schloss, das der Männerrunde einen Blick in die riesige Halle erlaubte, in der die Schweinehälften von Heerscharen von Mitarbeitern tranchiert wurden. Der Maschinenlärm erstarb augenblicklich. Der Geruch von Tod, Blut und rohem Fleisch blieb jedoch im Raum und erzeugte Übelkeit.

»Wie kann man es bloß den ganzen Tag in einer solchen Umgebung aushalten? Das ist eine Scheißarbeit.«

»Wenn du mir diesen Pehling nicht in absehbarer Zeit vor die Füße legst, wirst du dort unten in Zukunft mitarbeiten, oder du wirst selbst an einem dieser Haken hängen. So langsam habe ich die Schnauze voll vom Warten. Bewegt jetzt eure Ärsche. Ich will wieder zurück in die Heimat, Deutschland gefällt mir nicht. Ich werde nie verstehen, warum Milan unbedingt in dieses verfickte Land ziehen musste.«

Stojans rechte Hand wusste aus Erfahrung, dass der Boss hier keine leeren Sprüche abließ. Er hatte selbst miterleben müssen, wie grausam dieser Mann im damaligen Kosovo-Konflikt mit Gefangenen umgegangen war. Ihn zum Feind zu haben, war das Schlimmste, was er sich vorzustellen vermochte. Dagegen war sein Bruder Milan ein Pfadfinder. Er beeilte sich, neue Ideen vorzutragen.

»Mir geht irgendwie nicht ein, warum dieser Pehling überhaupt gegen Milan tätig wurde. Er hatte doch überhaupt keinen Grund dafür. Der hat einem Bullen geholfen, der ihm selbst ans Leder wollte. Das macht für mich keinen Sinn. Da muss es irgendeine Beziehung zwischen dem Bullenschwein und Pehling geben. Ich denke, genau da müssen wir ansetzen.«

»Dann bewege deinen Arsch und finde es heraus. Freunde dich mit dem Kerl an, vögel ihn, seine Frau oder seine Kinder, aber liefer mir endlich Ergebnisse. Nimm dir so viele Männer, wie du brauchst. Nur, halte mich aus dieser Scheiße raus. Ich will hier keinen Ärger mit der Polizei provozieren. Wenn wir den Killer haben, wird der still beiseitegeschafft. Erst danach werden wir den Bullen die Überreste vielleicht zukommen lassen. Die werden das in der Öffentlichkeit als ihren Sieg feiern und nicht nachforschen, wer tatsächlich dahintersteckt. Ruhm und Ehre werden sie für sich einheimsen und die Wahrheit vertuschen. Soll mir egal sein. Die Hauptsache ist, dass ich mich mit dem Irren vergnügen konnte.«

Die Männer am Tisch grinsten und hoben die Gläser. Sie wussten, was Stojan mit Vergnügen meinte. Niemand von ihnen konnte ahnen, wie nahe ihnen das Unheil bereits gekommen war.

- Kapitel 7 -

Etliche Bootsinhaber standen in Gruppen zusammen und diskutierten heftig darüber, ob die Polizei das Recht besaß, ihnen die Ausfahrt auf den See zu verbieten. Davon völlig unbeeindruckt beobachteten Sven und Hörster die Luftblasen, die an verschiedenen Stellen im kleinen Yachthafen an die Oberfläche traten. Die Taucher bemühten sich, jeden Meter des Ufers und der Anlage des Haus Scheppen abzusuchen. Bisher ohne jedes Ergebnis. Sven glaubte schon nicht mehr an einen Unfall oder sogar an eine Gewalttat, als er auf eine Unruhe aufmerksam wurde, die einige Meter entfernt am Hardenbergufer entstand. Polizisten sperrten den Wanderweg gegen neugierige Besucher ab und winkten die beiden Kriopleute herbei.

»Ich glaube, die Taucher haben was gefunden. Kommen Sie mit Herr Oberkommissar.«

Der Beamte der Wasserschutzpolizei führte die zwei zu einer Buschgruppe, deren Zweige weit über das Wasser hinausragten. Die Köpfe von drei Tauchern waren an der Wasseroberfläche zu erkennen. Sie hatten die Masken abgenommen und diskutierten aufgeregt.

»Was ist los, Männer? Habt ihr was gefunden?«

Sven und Hörster halfen einem der Taucher ans steinige Ufer, der sich erschöpft ins Gras gleiten ließ. Als er seine Kapuze des Taucheranzugs nach hinten abstreifte, konnte Sven das Entsetzen deutlich in dessen Gesicht erkennen. Ohne weiter auf ihn einzureden, warteten die Ermittler geduldig, bis der Mann den Atem beruhigt hatte. Sven setzte sich still neben ihn ins Gras. Das Warten zerrte an den Nerven.

»Da unten ist die Hölle!«

Hörster verdrehte ungeduldig die Augen. Sven signalisierte ihm jedoch, dass er abwarten sollte, bis der Mann bereit war, einen brauchbaren Bericht abzuliefern.

»Was genau haben Sie gefunden? Erzählen Sie uns alles ganz ruhig. Wir haben Zeit.«

»Ich schätze, dass da unten mindestens sechs bis sieben Leichen ... Scheiße. Die sind teilweise schon total verwest und angefressen. Da hat sich jemand extra einen Unterstand gebaut, damit die Toten auch bloß nicht wegtreiben können. Die sind alle festgebunden worden. So was habe ich noch nie gesehen, solange ich tauche. Die haben uns angesehen, als wenn wir sie da unten ... ich geh da nicht wieder runter. Auf keinen Fall.«

Die Hand von Sven legte sich beruhigend auf die Schulter des Mannes, spürte das Zittern. Er konnte sehr gut verstehen, welche Wirkung diese Bilder auf einen Menschen haben konnten. Dieses Trauma zu überwinden, kostete Zeit. Selbst diese harten Kerle waren davor nicht gefeit.

»Hörster, Ruhnert soll mit seiner Mannschaft sofort hier antreten. Der dürfte immer noch oben am Parkplatz sein.«

»Soll ich auch die Frau Doktor ...?«

»Nein, nein, Hörster, das mache ich selber. Die hat heute dienstfrei und dürfte sich in der City bewegen. Wir müssen ja sowieso erst Bilder von unten haben und dann die Opfer bergen. Ich freu mich schon. Lassen Sie durch den Einsatzleiter das gesamte Gelände abriegeln – komplett. Ich will hier keinen Wanderer und auch keinen Pressefuzzi sehen.«

Hörster warf noch einen Blick des Bedauerns auf den Taucher, der die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und weinte. Sven stand auf und wandte sich an die beiden Taucher, die noch im Wasser standen und auf Befehle warteten.

»Haben Ihre Kollegen zufällig eine Unterwasserkamera an Bord, mit der wir das da unten dokumentieren können? Ich brauche unbedingt Aufnahmen davon.«

»Sagen Sie dem Kollegen da hinten am Anlegesteg Bescheid, damit der das Boot anfunken kann. Ich glaube, so was haben die. Aber der soll sich beeilen. Wir frieren uns den Arsch ab. Geht es dem Kollegen schon besser?«

»Wir werden ihn gleich in die Hände unseres Psychologen geben. Ich sage denen ebenfalls Bescheid. Keine Sorge.«

 

»Legt die vorsichtig hier auf die Plane. Langsam, damit ihr mir nichts kaputt macht!«

Einen Augenblick hielten die beiden Taucher inne, die etliche leblose Körper an die Oberfläche befördert hatten. Verständnislos blickten sie auf Ruhnert, der aufgeregt zwischen den Toten hin und her lief. Man benötigte viel Fantasie dazu, darin noch Menschen zu erkennen, die einmal gelacht, geweint, geatmet hatten. Die zumeist aufgeschwemmten, angefressenen Körper trugen teilweise noch Kleidung, woran auszumachen war, dass es sich ausschließlich um Frauen handelte.

Die Stimmung verfinsterte sich zusätzlich, als der Himmel seine Schleusen öffnete und sich ein langanhaltender Platzregen über den See ergoss. Die Männer der Spurensicherung fluchten, obwohl gerade sie durch die weißen Plastiküberzüge geschützt wurden. Alle anderen Uniformierten klappten die Kragen hoch und suchten sich einen schützenden Unterschlupf. Sven war in kürzester Zeit völlig durchnässt und wusste zu diesem Zeitpunkt schon, dass er sich heute eine kräftige Erkältung zuziehen würde. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, dass sich ein Minicooper einen Weg durch die vielen Polizeifahrzeuge suchte und nicht weit entfernt vom Ufer parkte. Unter dem breiten schwarzen Herrenschirm, den er ihr für alle Fälle im Auto hinterlassen hatte, erkannte er Karin. Sie ließ sich von einem Polizisten den Weg zeigen. Während der Kollege ihren Schirm schützend über sie halten musste, zog sie sich die Schutzfolie über und tauschte ihre Stöckelschuhe gegen bequeme Treter.

»Es tut mir leid, aber ich dachte, dass es besser wäre, wenn ...«

»Das ist schon in Ordnung, Sven. Das ist eben unser Job. Außerdem war ich sowieso auf dem Weg nach Hause. Wie viele Leichen haben wir bisher?«

»Ich glaube, die Männer sind fertig. Wir haben acht geborgen. Liegen alle drüben auf der Plane, wo Ruhnert rumwuselt. Der ist in seinem Element.«

Karin näherte sich dem Ort des Schreckens ohne jede weitere Bemerkung. Sven war es mittlerweile gewohnt, dass Karin das Private zurückstellte, wenn sie beruflich tätig war.

»Oh Gott, wie schrecklich! Die waren alle da unten? Da sind ja welche bei, die schon monatelang tot sind. Das sieht aus, wie das Futterlager eines Tieres. Wozu sind wir Menschen eigentlich noch fähig? Das ist ja unglaublich.«

Karin schritt die Reihe der Leichen ab und blieb an einer stehen. In diesem Augenblick war sie froh, dass es regnete und die relativ niedrigen Temperaturen eine weitere Verbreitung des Verwesungsgeruchs zumindest eindämmte. Mit einer Pinzette entfernte sie einige Egel aus der Mundhöhle des Opfers und strich damit auch Haarfetzen aus dem, was einmal ein Gesicht ausmachte. Der Tierfraß hatte bereits sein Werk beendet, sodass ihr lediglich ein kahler Schädel entgegenlachte. Ja, sie hatte wirklich das Gefühl, als würde dieser Knochenrest sie anlachen. Sie schrak hoch, als Svens Hand ihren Arm berührte.

»Die müssen ja schon lange da unten deponiert gewesen sein, oder irre ich mich da? Die haben ja schon teilweise keine Waschhaut mehr. Kannst du mir schon was zu der Ersten in der Reihe sagen? Das müsste diese Astrid Wehring sein, die wir suchen.«

»Ich habe mir die schon kurz angesehen. Die Frau liegt maximal zwei bis drei Tage im Wasser. Die hat erst eine minimale Waschhautbildung. Hattest du nicht ein Foto von der Frau? Das Gesicht hat sich noch nicht wesentlich verändert. So auf den ersten Blick konnte ich keinerlei äußere Verletzungen ausmachen. Allerdings drückt das Gesicht starkes Entsetzen aus, was auf einen langen Todeskampf hinweisen könnte.«

»Wir haben bisher auch keinerlei Abwehrspuren feststellen können. Keine Blut- oder Hautspuren unter den Nägeln, keine Prellungen durch Abwehr von Schlägen durch einen stumpfen Gegenstand. Nichts. Die Frau ist ertränkt worden. Was mir nur auffiel, ist eine Druckstelle am linken Fußgelenk. Es mag verrückt klingen, aber mir scheint, als wäre sie dort unter Wasser gezogen worden. Der Mörder hätte sich demnach unter ihr, also im Wasser befunden haben müssen. Um sie dann in dem Depot befestigen zu können, bedarf es einer Tauchausrüstung, zumindest eines Schnorchels.«

Ruhnert hatte sich zu den Beiden gesellt und seine Einschätzung dargestellt.

Die Vorstellung war derart abstrus, dass augenblicklich Ruhe einkehrte. Alle Beteiligten versuchten, sich diese Situation vor Augen zu führen. Einfach gruselig. Wieder war es Karin, die als Erste ihre Stimme zurückfand.

»Das klingt sicherlich verrückt, erklärt aber die Tatsache der Unversehrtheit recht gut. Klar, wir haben da noch die Möglichkeit, dass diese Frau schon tot ins Wasser geworfen wurde. Aber das werde ich erst zweifelsfrei nach der Obduktion sagen können. Dazu benötige ich Aussagen zur Lungenballonierung und eine Darstellung des Mageninhaltes. Bei den anderen Leichen sind weitere umfangreiche Untersuchungen notwendig. Schön, meine Herren. Dann werden wir ja in den nächsten Tagen kaum Langeweile verspüren.«

Den umstehenden Kollegen war deutlich anzumerken, dass sie den heutigen Fund erst verarbeiten mussten. Sie standen in kleinen Gruppen zusammen und diskutierten den Vorfall. Heute fehlte die übliche Frotzelei, die man bei der täglichen Routinearbeit an den Tag legte. Jedem wurde sehr deutlich bewusst, wie sehr diese Menschen vor ihnen gelitten haben mussten. Zusätzlich drückte die Tatsache auf das Gemüt, dass es kein Mensch verdient hatte, unter solch unwürdigen Umständen die letzte Ruhe zu finden. Der eine oder andere bekreuzigte sich, wenn er sich unbeobachtet sah.

Sven hatte sich näher an Karin herangeschoben, versuchte vorsichtig, nach ihrer Hand zu greifen. Es mochte Zufall sein, dass sie sich gerade in dem Augenblick bückte, als er sie fast berühren konnte. Enttäuscht versteifte sich sein Körper.

»Sieh mal, Sven, bei dieser Frau fehlt jegliche Bekleidung. Alle anderen Opfer sind noch bekleidet. Was könnte das bedeuten? Und ... einen Augenblick bitte.«

Karin stand auf und untersuchte die Kleidung der anderen Toten. Plötzlich schüttelte sie ungläubig den Kopf und kam auf Sven zu.

»Das ist völlig verrückt. Ich dachte schon, ich hätte mich getäuscht, aber es ist so.«

»Was ist so? Jetzt komm mal langsam raus damit.«

»Die haben zwar alle verschiedene Klamotten an, doch die sind alle von ein und demselben Hersteller. Der Mörder muss die Frauen neu eingekleidet haben, bevor er sie hier deponierte. Es gibt nur zwei Ausnahmen. Dazu gehören die nackte Person und die ganz frische Leiche. Nun liefert uns das viel Raum für Spekulationen.«

Ruhnert, der zufällig beim Näherkommen nur die letzten Worte verstanden hatte, mischte sich wieder ein.

»Was gibt es zu spekulieren? Meinen Sie die Klamotten der Toten? Das ist mir auch schon aufgefallen. Bei der Nackten fällt mir spontan kein Grund für ihre fehlenden Sachen ein. Aber bei der frischen Leiche besteht ja die Möglichkeit, dass diese Frau den Killer einfach nur gestört hat. Also, wie man so sagt: Sie war zum falschen Zeitpunkt am falschen Platz. Warum das Monster auch immer morden mag, ich weiß es nicht, aber da könnte ihn der Zufall zur Tat verleitet haben. Nur so ganz hypothetisch, Frau Doktor. Ich bin mal gespannt, wie die anderen Opfer getötet wurden.«

»Da müssen wir uns noch etwas gedulden, Ruhnert. Für mich ist es nun auch wichtig zu wissen, wer die Opfer überhaupt sind. Ich denke, dass wir wieder einmal wie im Fall Pehling die Vermisstenlisten der letzten Jahre durchgehen sollten. Ich hoffe, dass wir durch die Obduktionen auch einen Zeitrahmen erhalten werden. Wir müssen dann die DNA bestimmen und abgleichen. Krassnitz wird ihre helle Freude haben, wenn sie davon hört – ist ja schließlich ihr Spezialgebiet.«

»So, ich bin dann mit meinem Team hier fertig. Werde Ihnen den Bericht samt Fotos zukommen lassen. Die Leichenwagen stehen schon bereit. Habt ihr auch genug Platz in der Rechtsmedizin? Hoffentlich hat der Irre nicht noch mehr Depots eingerichtet. Ich brauche unbedingt etwas Urlaub. «

Ruhnert entfernte sich kopfschüttelnd und ließ Sven mit Karin zurück.

»Du siehst besorgt aus, Karin. Ist was passiert, von dem ich wissen sollte?«

Lange sah sie Sven an, schien nachzudenken, bis sie endlich das aussprach, von dem sie wusste, dass es Sven schockieren würde.

»Ich habe ihn gesehen, Sven. Er war einfach da.«

- Kapitel 8 -

»Trinken Sie, solange der Kaffee noch heiß ist, Herr Spelzer. Zucker ist schon drin und alles wurde umgerührt.«

Doktor Haller hob seine Tasse und prostete seinem Patienten zu. Über den Tassenrand hinweg beobachtete er den Oberkommissar.

»Haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, das Dezernat zu wechseln? Ich meine, dass die vielen Toten doch auf Dauer eine Belastung für Ihre angeknackste Psyche sein könnten. Da gibt es doch bestimmt ruhigere Jobs im Bereich Diebstahl, Betrug oder Sitte. Ich für meinen Teil würde sehr dazu raten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie im Augenblick schon wieder was mit sich rumschleppen, von dem ich eigentlich keine Details wissen möchte. Habe ich recht?«

»Was könnte einen Menschen, besser gesagt, was könnte einen Mörder dazu bringen, seine Opfer nach der Tat zu sammeln? Damit Sie wissen, wovon ich rede, möchte ich Ihnen den vorliegenden Fall schildern.«

Doktor Haller kannte Svens Art, Fragen unbeantwortet zu lassen, indem er Gegenfragen stellte. Diese Methodik hatte er aus der Verhörpraxis übernommen und zum festen Bestandteil seiner Gespräche werden lassen. Daher wunderte er sich gar nicht darüber, dass er plötzlich diesen grausigen Fund geschildert bekam.

»Das ist sehr komplex und kann zu vielen Hypothesen führen. Spontan kommt mir in den Sinn, dass er die Opfer als Trophäen sammelt. Das haben wir sehr oft bei Menschen, die eine ausgeprägte Machtbesessenheit besitzen. Die wiederum kann die unterschiedlichsten Ursachen haben. Das ist aber erst dann näher zu bestimmen, wenn wir klare Aussagen dazu haben, was er mit den Opfern angestellt hat. Meist stellen wir bei diesen Typen gewisse Ängste fest, die aber unterschiedlicher kaum sein können. Das zieht sich über Angst vor emotionaler Nähe, dieser geglaubten Vernichtung der eigenen Existenz bis hin zur Angst vor Alleinsein und Distanz. Diese Menschen suchen oft die Schuld für ihre Einsamkeit bei den Anderen. Häufig verarbeiten sie Trennungsschmerz. Aber wir finden auch Ängste vor Veränderungen, vor Neuem oder sogar Anarchie. Ich habe allerdings auch schon Menschen erlebt, die in einem psychopathologischen Zustand der Hysterie lebten. Man muss sich das so vorstellen, dass sie emotional außer sich sind, weil sie befürchten, in Regeln leben zu müssen, also den Verlust der Eigenständigkeit vermuten.

Lassen Sie uns aber nicht jetzt schon mutmaßen, bevor wir die Tat selber kennen. Der Tathergang ist oft die Tür zur Seele des Mörders. Hier toben sich seine tiefen Gefühle, seine inneren Ängste aus. Wie war Ihr Urlaub?«

Zwar hatte Sven gut zugehört, musste allerdings eingestehen, dass er nur die Hälfte von dem verstanden hatte, was Doktor Haller da vorgetragen hatte. Dennoch überraschte ihn die Frage des Doktors.

»Eigentlich hat uns der Urlaub ganz gutgetan.«

»Eigentlich? Höre ich da eine Einschränkung heraus? Was ist passiert?«

Sven hätte Haller gerne frei heraus gesagt, was er damit meinte. Doch er konnte es selbst nicht klar definieren. Die Dinge lagen in einem dichten Nebel, den weder er noch Karin durchdringen konnten – nein, besser ... nicht durchdringen wollten. Sie hatten vermieden, deutlich anzusprechen, was sie beide nicht erklären konnten. Ein Weg, der zu häufigen Missverständnissen führte und ihnen die Lockerheit nahm, mit der man eigentlich einen gemeinsamen Urlaub verbringen sollte.

»Die Landschaften waren wunderschön. Diese Traumstrände, die Inseln und nur freundliche Menschen. Wir sind viel rumgekommen auf unserer Fahrt nach Norden. Wir haben ...«

»Hallo, Herr Spelzer. Ich kenne Thailand sehr gut. Ich kann sehr gut verstehen, dass man sich in Land und Leute verliebt. Doch ich wollte eigentlich etwas ganz anderes hören. Was stimmt plötzlich nicht mehr mit den Menschen, die sich unsterblich ineinander verliebt haben und gemeinsam ins Paradies reisen wollten? Da steht etwas zwischen Ihnen Beiden, über das wir reden sollten. Wenn Sie es nicht mit mir tun, sollten Sie es auf jeden Fall mit Ihrer Frau Doktor versuchen. Probleme lassen sich nicht aussitzen. Es ist ein Mythos, dass Zeit das Unausgesprochene von sich aus heilt. Das Problem sollte einen Augenblick ruhen, ja, aber dann muss es irgendwann auf den Tisch. Also, ich höre.«

Sven nahm wieder seine Position ein, die er bei den Gesprächen mit Doktor Haller bevorzugte. Er stellte sich ans Fenster und starrte auf das Rathausgebäude.

»Es ist wegen Pehling.«

»Sie sprechen von diesem Serienmörder, der immer noch auf freiem Fuß ist. Was könnte der mit Ihrer Beziehung zu tun haben? Sie haben den Fall doch gar nicht mehr in Ihren Händen. Ist da nicht das LKA dran?«

»Ja, Sie haben recht. Eigentlich habe ich damit nichts mehr am Hut. Doch dieser Pehling ... er nimmt immer wieder Kontakt zu Karin auf.«

Sven spürte, dass es Haller, der auf seinen Rücken starrte, die Sprache verschlagen hatte. Er drehte sich zu ihm um.

»Der spricht mit Frau Hollmann? Was, worüber, wieso hält er den Kontakt aufrecht? Hat sie Ihnen davon erzählt?«

»Ja, das hat sie. Als wir die Reste von Milan Kladicz vor einigen Wochen in Pehlings Haus fanden, hatte sie dem sogar zur Flucht verholfen. Nein, warten Sie. Besser gesagt, sie hat ihn nicht aufgehalten. Er konnte in ihrem Beisein in einem Boot flüchten.«

Sven schilderte ausführlich die Situation.

»Was hätte sie denn Ihrer Meinung nach tun sollen, so als schwache Frau? Sie stand einem Serienkiller gegenüber. Sie war ihm völlig ausgeliefert.«

»Genau das ist ja das Problem. Warum hat er ihr nichts angetan? Zwischen den Beiden gibt es eine besondere Beziehung, die ich nicht zuordnen kann.«

»Nein, mein lieber Herr Spelzer. Jetzt bedienen Sie bitte nicht das Klischee des eifersüchtigen Freundes. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass sich Frau Hollmann in einen Killer verliebt hat und deshalb von ihm verschont bleibt. Entschuldigen Sie bitte meine offenen Worte, aber diese Erklärung ist Ihrer nicht würdig. Da muss etwas Anderes hinterstecken. Haben Sie das niemals angesprochen? Ist es das, was Sie beide im Augenblick trennt?«

»Es trennt uns nicht, Herr Doktor, wir ...«

»Hören Sie damit auf, mir Dinge erklären zu wollen, von denen Sie selbst nicht überzeugt sind! Sie wohnen zusammen, sie essen und schlafen miteinander, aber sie verstehen sich nicht mehr. Da hängt ein wichtiges Band lose herum, das wieder verknüpft werden möchte. Bevor das nicht geschehen ist, können Sie die Tage zählen, bis Ihre Beziehung sich in ein Nichts auflösen wird. Sprecht miteinander, sonst wird dieser Pehling Sie beide zerstören. Er wird Sie innerlich töten. Lieben Sie Frau Hollmann?«

»Natürlich liebe ich sie. Mehr als alles ...«

»Dann fahren Sie zu ihr, verdammt nochmal und sprechen Sie mit ihr darüber. Sagen Sie ihr, dass Sie sie lieben. Sie verliert sonst irgendwann den Glauben daran. Das soll einer verstehen. Ein Mann, der die gewalttätigsten Kerle vor den Kadi zerrt, ist nicht in der Lage, mit seiner Angebeteten ein konstruktives Gespräch zu führen. Verurteilen Sie diese Frau nicht, sondern helfen Sie ihr. Und jetzt erzählen Sie mir bitte, worüber dieser Pehling mit Frau Hollmann spricht.«

- Kapitel 9 -

Geduldig wartete Pehling in seinem VW-Bus, den er, einsam an einer Raststätte geparkt, organisiert hatte. Die im Laderaum eingebauten Sitzbänke kamen ihm wie gelegen, um die Zeit, bis er seine neuen Papiere bei einem Fälscher abholen durfte, zu überbrücken. Proviant für mehrere Tage fand er in den eingebauten Schränken. Schlafen und essen war für die kommenden Tage garantiert.

Vier Mal wurde er befragt und weiterverbunden, bevor er endlich einen Ansprechpartner für sein Anliegen fand. Schon einige Leute vor ihm hatten versucht, das Lösegeld für seine Ergreifung zu erhalten. Doch niemand wusste so gut Bescheid über den Aufenthaltsort des Serienkillers wie er selbst. Ein bösartiges Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht, als er an die vielen Fragen dachte, die er beantworten musste, bevor er endlich mit einem kompetenten Mann sprechen durfte. Dobrica, wie er sich nannte, wollte seinen Nachnamen nicht preisgeben. Er war nur erpicht darauf, den Hinweis zu überprüfen, der ihn zu dem Gesuchten führte. Nur noch wenige Minuten bis zum Treffen. Pehling beobachtete die Umgebung durch den Feldstecher.

Die Scheinwerfer mehrerer Fahrzeuge näherten sich über die Münsterstraße aus Richtung Gelsenkirchen-Resse. Hinter einem Speditionsfahrzeug scherten zwei dunkle Mercedes aus und hielten in einem Abstand von fast zwanzig Metern an. Das Licht der Scheinwerfer, das zuvor die Straße ausleuchtete, erstarb. Nichts geschah. Pehling wartete geduldig ab. Nach mehreren Minuten des Wartens öffneten sich endlich die Türen und zwei Männer stiegen aus, kamen langsam, sich ständig umblickend auf den Bus zu. Pehling sah die beiden vernarbten Gesichter an der Seitenscheibe auftauchen. Das Zeichen für ihn, die Tür aufzuschieben.

Da er nichts anderes erwartet hatte, sah er ohne jede Regung in die Läufe der Waffen, die auf ihn gerichtet waren. Auffordernd wies er mit der offenen Hand auf die gegenüberliegende Sitzbank, streckte dann aber die Hände über den Kopf. Gekonnt fuhren die großen Hände der Gangster über seine Kleidung. Erst als sie sich sicher waren, dass er keine versteckte Waffen bei sich trug, stiegen sie ein und schoben die Tür zu.

»Tut mir leid, Kumpel, aber das musste sein. So, da sind wir nun. Jetzt erzähle uns mal, was du über diese Drecksau weißt.«

»Langsam Männer, vorher will ich sicher gehen, dass ich auch die versprochene Belohnung kriege. Wer von euch ist denn dieser Dobrica, mit dem ich am Telefon sprach? Hast du die Hälfte der verabredeten Kohle dabei? Den Rest hole ich mir, wenn ihr den Penner habt. Also?«

»Hier sind die Mäuse. Fünfunddreißigtausend, wie abgesprochen. Aber wehe dir, mein Freund, wenn du uns jetzt ein Märchen servierst. Dann wirst du schneller bei den Würmern sein, als dir lieb ist. Du solltest ab jetzt ganz vorsichtig sein, denn ich bin sehr nachtragend. Stimmt alles, bist du saniert. Lügst du, bist du mausetot. Stellt sich raus, dass du ein Bulle bist, kannst du dich ebenfalls von dieser schönen Welt verabschieden. Ich höre.«

Elmar Pehling war sich darüber völlig im Klaren, dass er ab sofort auch nicht den kleinsten Fehler machen durfte. Er streckte die Hand aus, um die Geldtüte entgegenzunehmen. Dobrica zog sie zurück.

»Erst ein Schwätzchen, dann die Kohle.«

»Wartet dein Chef schon im zweiten Wagen, um den Kerl fertig zu machen? Habt ihr es so eilig?«

»Wie kommst du darauf, dass der Chef mitgekommen ist? Der hat Besseres zu tun, als sich mit dir die Zeit zu vertreiben. Jetzt mach mal hin, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit!«

Pehling umfasste den Griff der Machete, die er unter die Tischplatte geklebt hatte, fester. Er brachte Atmung und Puls auf Normalpegel und riss stumm die Waffe heraus. Die Hand des Mannes, der neben Dobrica saß, fuhr zur Manteltasche. Zu spät. Die Spitze der scharfen Klinge hatte längst seinen Kehlkopf durchtrennt. Nur ein Gurgeln verließ noch seinen Mund, dann kippte er rückwärts gegen den Sitz. Kurz vor Dobricas Hals stoppte Pehling die Machete und sah in zwei Augen, die ungläubig auf die Hand starrten, in denen der Griff dieser mörderischen Waffe ruhte. Mit dieser Attacke hatte er nicht gerechnet. Im Grunde hatte er überhaupt nicht damit gerechnet, in eine Falle zu laufen. Die einzige Gefahr hatte er darin gesehen, von Polizisten überrascht zu werden. Die pure Angst machte sich in ihm breit. Wer anders konnte Interesse daran haben, den Verrat zu vereiteln, als der Gesuchte selbst. Wenn dies derjenige war, gab er keinen Pfifferling für sein Leben. Aus den Augenwinkeln betrachtete er, wie ein Blutschwall langsam, aber stetig aus der breiten Wunde des Kumpanen gepumpt wurde. Der Körper des Verwundeten zuckte nur noch selten. Das anschwellende Zittern in seinem Körper konnte Dobrica nicht verhindern. Der Hals war wie zugeschnürt.

»Angst?«

Die Frage holte ihn zurück in die Realität. Er wagte nicht einmal zu nicken, da es die Nähe der Klinge nicht zuließ. Pehling nahm die Waffe etwas zurück.

»Ich habe mich schon seit Tagen gefragt, warum man so viel Geld auf den Kopf eines einzelnen Mannes aussetzt. Nun gut, dieser Milan war sein Bruder. Das kann ich ja noch halbwegs verstehen. Doch dein Boss ist doch bestimmt ein ähnliches Schwein wie sein verkackter Bruder. Der bringt laufend Menschen um. Doch trifft es einen aus ihrer Sippe, drehen die sofort durch und schreien nach Rache und Gerechtigkeit. Ich garantiere dir, du Laus, die wird er auch bekommen – Stück für Stück. Und mit euch fange ich an.«

Die letzte Silbe war gerade verklungen, da sah Dobrica die Klinge dieser furchterregenden Waffe auf sich zurasen. Es war nur eine kurze Bewegung mit der Machete, die den Kopf vom Hals trennte. Noch Sekunden später öffneten und schlossen sich die Hände des Gangsters, als würde er noch leben, nach etwas greifen wollen. Der Kopf war längst unter den Tisch gerollt, während der Rumpf über die Tischplatte kippte. Längst war Pehling zur Seite gerutscht, hatte nach einem kleinen Beutel gegriffen, der auf einer Ablage wartete. Dobricas ausströmendes Blut pulsierte genau dorthin, wo Pehling zuvor gesessen hatte. Er warf noch einen letzten Blick auf den Inhalt des Beutels, bevor er die Seitentür aufschob und den Wagen verließ.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752124798
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Wasserleichen Serienmörder Rechtsmedizin Baldeneysee Ruhrgebiet Krimi Ermittler

Autor

  • H.C. Scherf (Autor:in)

Der Autor begann nach Eintritt in den Ruhestand mit dem Schreiben von spannenden Romanen unter seinem Klarnamen Harald Schmidt. Da dieser durch TV bekannte Name falsche Erwartungen beim Leser weckte, übernahm er das Pseudonym H.C. Scherf zum Schreiben etlicher Thriller-Reihen.