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Berlin Blue

von Zbigniew Zbikowski (Autor:in)
320 Seiten

Zusammenfassung

West-Berlin, Agenten der Geheimpolizei, unsichere Freundschaft, schwierige Liebe. Und die bittere Rechnung zahlte für die Fehler der Jugend. Lohnt es sich, hinter den Vorhang der Vergangenheit zu schauen? Der Held des Romans, Verfolgender und Verfolgter zugleich, wird er schließlich zum Opfer jener Kräfte, die er selbst in Bewegung setzte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Es war ein normaler Werktag...


...im Mai. Nichts ließ den Blitz vorausahnen, der nur darauf lauerte, wutentbrannt, direkt vom klaren Himmel hinunterzusausen.

Heinz versprach, pünktlich Viertel vor fünf vor der Botschaft zu sein. Wenn ich es nicht schaffte, sollte er warten. Zum Glück war es nicht der Fall. Da ich diese Gegend nicht allzu gut kannte, habe ich, um mich nicht zu verspäten, die S-Bahn genommen und kam eine Dreiviertelstunde vor dem Beginn der Feierlichkeiten. Ich promenierte einen Augenblick am geschlossenen Tor, aber eine halbe Stunde vor einer diplomatischen Vertretung zu verharren, und mich von dem immer aufmerksamer zuschauenden Polizisten beobachten zu lassen, erschien mir doch zu dumm. Um die Zeit totzuschlagen, machte ich einen kleinen Spaziergang durch die umliegenden Straßen.

Grunewald sah, um diese Zeit von der hinter die Hausdächer absinkenden Sonne angestrahlt, wie eine in einen Märchengarten versetzte Stadt aus. Normal, zwanglos gekleidete Passanten gab es hier kaum. Genauso war es mit den Autos, meistens waren es bekannte deutsche Marken, sie huschten recht selten vorbei. Ich konnte also in aller Ruhe von einer Villa zur anderen schlendern, ihre auserwählten Formen bewundern und in die gepflegten, mit frischem Grün gekleideten Vorgärten hineinschauen.

In meinem leichten, eleganten Anzug, dem cremefarbenen Hemd, der Seidenkrawatte mit dezentem Muster und nagelneuen Schuhen, muss ich, in den normalen Alltag der Berliner Vorstadt hineingeworfen, etwas abstrus ausgeschaut haben. Der harte Schuhrand rieb seit einer Stunde, seitdem ich das Hotel verließ, immer schmerzhafter an meinem Knöchel. Gezwungenermaßen musste ich vorsichtig laufen, ab und zu habe ich regelrecht gehumpelt.

In meiner gemächlichen Schlenderei wurde ich plötzlich durch brummende Saxophonklänge angehalten. Sie erschallten aus dem offenen Fenster eines niedrigen, an die Straße anliegenden Hauses. Irgendjemand spielte life. Ich blieb für einen Moment stehen. Den rieselnden rhythmischen Brumm- und Grunztönen zulauschend, habe ich problemlos ein populäres deutsches Lied darin erkannt. Verblüffend war, dass der Musiker beim wiederholen der Melodie mit besonderem Gefallen manche Töne tiefer spielte und die Betonung so verschob, dass die Musik immer mehr in Jazznähe rückte. Ich stand einen Augenblick bewegungslos da und horchte mit einem, wie angeklebtem Lächeln zu.

Es gefiel mir.

"Guten Tag!", klang es hinter meinem Rücken.

Den alten, knochigen Mann, der mich grüßte, indem er das Ende des verzierten Krückstocks anhob, sah ich zum ersten Mal. Er kam sicher aus der Jugendstilvilla, die ich vor einem Augenblick aufmerksam beäugte. Er blieb ebenfalls stehen und horchte. Ich erwiderte seinen Gruß und wies mit dem Finger auf das Fenster, was ihm erklären sollte, weshalb ich hier stehe.

"Ich hatt’ einen Kameraden", sagte er. "Erkennen Sie es?"

Er wollte mir keinesfalls von seinem Kriegskameraden aus vergangenen Zeiten erzählen. Er meinte das Lied. Ich nickte. Es war ein altes preußisches Soldatenlied, das die Deutschen noch heute bei Bestattungen ihrer Soldaten spielen.

Wir standen still nebeneinander.

"Haben Sie einen Freund?", fragte er plötzlich, ohne geringste Ungeniertheit, als wären wir alte Bekannte.

Sich beim Gespräch maximaler Abkürzungen zu bedienen, gehörte zu den Privilegien von Menschen in seinem Alter. Er muss bestimmt so um die Achtzig gewesen sein.

"Schon", antwortete ich. Geleitet von im erwachsenen Leben erworbener Erfahrung fügte ich jedoch schnell zu: "Zumindest glaube ich, einen zu haben".

"Ich hatte auch einen", sagte er voller Nostalgie, den Saxophonklängen zulauschend. "Waren Sie bei der Armee?"

Entzückt davon, wie der Musiker immer freier improvisierte, hörte ich nicht zu lächeln auf. Wir hörten beide dem gleichen Lied zu und jeder von uns hörte etwas anderes. Er schien aus dem Strom der Klänge die Sätze zu erhaschen, die Erinnerungen in ihm wachriefen, was die Blitze in seinen Augen zeigten. Und ich verfolgte die nacheinander folgenden Variationen, ohne mich auf irgendwelche Bilder zu beziehen. Ich empfand beim Hören dieser synkopierten Musik reinstes Vergnügen.

Seine Frage erschreckte mich. Mit den Augen meiner Phantasie sah ich ihn als Teenager mit einem großen Gewehr, berufen in den letzten Kriegstagen, um Berlin vor der Roten Armee zu verteidigen. Vielleicht hat er beim Kampf seinen besten Freund verloren. Wie alt mag er damals gewesen sein? Sechzehn? Siebzehn? Oder kam er vielleicht als minderjähriger Soldat an die Front und dann in Gefangenschaft? Sollte ich ihm antworten, dass ich glücklicherweise dem Armeedienst entgehen konnte und nicht einmal weiß, wie Pulver riecht? Ich verneinte mimisch. Er spürte den Fremden in mir.

Als der Saxophonist still wurde, nickten wir beide voller Anerkennung. Wir lobten den Musiker, jeder von uns aus einem anderen Grund.

"Ich wünsche Ihnen, dass dieser Freund Sie nie enttäuscht", sagte der Greis.

Ich erwiderte, dass ich der Hoffnung sei, dass es so sein würde.

"Einen guten Abend", sagte ich zum Abschied.

"Und dass Sie ihn auch nicht enttäuschen", fügte er hinzu, stützte sich auf die Krücke und machte kehrt. "Vergessen Sie das nie."

Er entfernte sich mitsamt seiner nicht erzählten Geschichte über die Jugendfreundschaft zur Zeit des Totalitarismus.

Ich ging in die Nähe der Botschaft zurück. Ich versteckte mich auf der anderen Straßenseite und beobachtete eine Zeitlang den Eingang. Innerhalb kurzer Zeit gingen ein paar Leute hinein, Heinz bemerkte ich jedoch nicht unter ihnen. Einige Minuten vor fünf trat auch ich an die Eisenpforte. Dahinter lag der leere Wachraum. Ein bisschen weiter führten mehrere Granittreppen zu einer erhobenen, erstklassig sanierten zweistöckigen Villa, die sich gewiss noch an Kanzler Bismarck erinnern konnte.

Auf der dritten Treppenstufe stand der dienstlich lächelnde außerordentliche und ermächtigte Botschafter der Republik Polen, Wiktor Stachowicz. Er hatte einen hervorragend geschnittenen dunkelblauen Anzug und ein schneeweißes Hemd an, das scharf mit seinem braungebrannten Gesicht kontrastierte. Seine schlanke Figur verriet Sorge für körperliche Verfassung und Liebe zum Sport. Aber nicht seine Figur war es, die Aufmerksamkeit erweckte, es war vielmehr seine vorzeitig ergraute Haarmähne. Eigentlich müssten graue Haare einen Menschen älter erscheinen lassen, Botschafter Stachowicz machten sie aber vor allem distinguierter.

Ich kannte ihn nicht persönlich, nur aus Zeitungen und von einem kurzen Fernsehauftritt, bei dem er über die Stärkung der polnisch-deutschen Beziehungen sprach. Er sah nicht älter als vierzig aus, obzwar er auch etwas älter sein konnte. Er stand mit einem Bein auf der niedrigeren und mit dem anderen auf der höheren Stufe, was ihm die Gelegenheit bot, seine eleganten Lackschuhe besser zu exponieren. Er begrüßte jeden ankommenden Gast mit einem Händedruck.

Ich hielt ihm die Einladung entgegen. Er hat sie kaum angeschaut und zeigte mit der offenen Hand nach oben. Dort sollte ich hin.

Ich bewältigte die Treppe und befand mich vor dem Gebäudeeingang. Die davor befindliche Steinterrasse beschattete der von vier Säulen getragene Erker im ersten Stockwerk. Durch eine Glastür kam ich in eine kleine Halle, wo ich wieder von jemandem begrüßt wurde.

"Jakub Kubacki", stellte ich mich vor.

"Aus Berlin?"

"Früher ja. Jetzt aus Warschau".

"Sie sind sicher ein Bekannter von Herrn Topolski?", versicherte sich der recht junge, gut genährte und kurz geschorene Mann.

"O, ja", erklärte ich willig. "Wir haben einige Jahre zusammengearbeitet. Das heißt, er war Herausgeber und ich Redakteur", präzisierte ich.

"Verzeihen Sie, ich bin noch nicht lange Konsul hier. Ich kenne noch nicht alle", entschuldigte sich der Mann am Eingang. Ich möchte die hiesigen Polen näher kennenlernen. Sie haben bestimmt viele Bekannte in Berlin?"

"Zumindest denke ich es so", erwiderte ich vorsichtig. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich alle wiedererkenne. Ich war seit sechzehn Jahren nicht in Berlin.

Ich fragte ihn nach dem deutschen Journalisten, Heinz Kaltendorf.

"Nein, so jemand war noch nicht da", erwiderte der Konsul.

Ich begann, eine Gruppe lebhaft diskutierender Personen am anderen Hallenende, an der Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte, zu beobachten. Ich erkannte niemanden.

Ich drehte mich zu der verglasten Wand hin, hinter der die Granittreppe zu sehen war. Ich schaute sie einen Augenblick lang geistesabwesend an. In meinen Ohren erklang immer noch die preußische, in Jazz verwandelte Melodie. Ich dachte darüber nach, wie wenig verändert werden muss, damit Pathos in Traurigkeit und Optimismus in Nostalgie umschlägt.

Ich ging nach draußen. Der Botschafter begrüßte weitere Nachzügler. Heinz war immer noch nicht da.

Der Blitz, der bald einschlagen sollte, schien die Kräfte zu sammeln.

Ich befand mich auf diplomatischem Territorium der Republik Polen, wo sogar eine fünfzehnminütige Verspätung kein Grund für Besorgnis war. Aber Heinz war ja kein Pole, sondern ein Deutscher. Auch eine dreiminütige Verspätung kam bei ihm einfach nicht infrage, insofern nichts Außerordentliches geschah. Irgendwo, in meinem bisher regungslosen Inneren, leuchtete eine Befürchtung auf, dass so etwas Außerordentliches soeben geschehen ist. Der Impuls erwies sich jedoch als zu schwach, um eine regere Reaktion auszulösen. Ich habe nicht nach meinem Handy gegriffen, um mich davon zu überzeugen. Ich dachte, in einer ungewöhnlichen Situation lag es doch eher bei Heinz, mich anzurufen. Außerdem, dachte ich, ist die Sache jetzt nicht am wichtigsten. Es war sinnlos, mich damit zu befassen. Für die deutsche Presse war doch ein Event in der polnischen Botschaft kaum von Bedeutung.

Mit wachsender Unruhe erfüllte mich etwas anderes. Ich begriff nicht, wieso weit und breit kein Kornel zu sehen war. Als wichtigste Person dieses Nachmittages hätte er seit mindestens einer haben Stunde neben dem Botschafter oder dem Konsul stehen und die Gäste begrüßen müssen. Ich hoffte, dass er vielleicht doch hier sei und oben im Zimmer des Botschafters auf ein wirkungsvolleres Entrée wartet, was mir sogar einen Augenblick lang absolut zu ihm zu passen schien. In der Halle hat jemand so etwas halblaut angedeutet und ich habe es auch in Erwägung gezogen. Dann hielt ich es aber doch für absurd.

Kornel liebte es zu sehr, die Welt in Schwung zu bringen, um sich irgendwo, um eines verblüffenden Eintrittseffekts willen, vor den Leuten zu verstecken. Es wäre natürlicher, wenn er zwischen den Gästen flanierte, als leuchtendes Beispiel eines polnischen Immigranten, der in Berlin erfolgreich wurde und gleichzeitig zeigte, wie sehr eingedeutscht er bereits sei. Er müsste wie üblich, kluge, patriotische Bemerkungen machen, treffende politische Urteile anführen, zum Nachdenken inspirieren, Komplimente verstreuen und Glückwünsche einheimsen. Wir haben uns vor einigen Stunden gesehen. Er erzählte mir nichts von einer Überraschung für die Gäste.

Ich ging wieder rein und sah mich um. Der Konsul und einige Personen, die nach Mitarbeitern der Botschaft aussahen, schienen beunruhigt zu sein.





Ich schlenderte durch die Botschaft...


...und hielt noch nach einer Person Ausschau. Ich hoffte, dass Danka bei der Feier erscheint. Eine Einladung hat sie bekommen, dessen war ich mir sicher. Sie hat mir vor zwei Tagen davon erzählt. In ihrem Falle wäre aber auch eine halbstündige Verspätung nichts Ungewöhnliches, so verlor ich keine Hoffnung darauf, dass sie noch kommt. Diese Zuversicht schwand jedoch von Minute zur Minute. Ich fühlte nämlich, dass Danka, obzwar sie auf den Abend in der Botschaft durchaus Lust hatte, gleichzeitig alles dafür täte, um ein Treffen mit Roman zu vermeiden. Ich befürchtete, dass sie, auch wenn sie kommt, beim Anblick ihres Mannes unter den Gästen, sofort kehrt macht und verschwindet.

Ihre Scheidung lag Jahre zurück. Der Scheidungsgrund blieb für Leute aus ihrem Bekanntenkreis unbekannt. Sie trennten sich ohne Schuldzuweisung und ohne mit jemandem von unseren gemeinsamen Bekannten darüber gesprochen zu haben. Angesichts der Zeit, die seit damals verging, könnte man meinen, dass der Konflikt, wegen dem sie sich getrennt haben, erloschen sein müsste. Derweil schien ihre gegenseitige Abneigung immer noch zu lodern. Innerhalb der vier Tage seit meiner Ankunft wurde ich mir dessen mindestens zweimal bewusst. Zunächst sagte Roman, dass sie eher nicht befreundet seien und dass es nicht so aussieht, als würden sie sich anfreunden wollen. Dann hörte ich von Danka, dass sie nicht über Roman sprechen wolle, weil es ihr die Laune verderbe und dann wird auch unser Treffen nicht allzu angenehm.

Vielleicht hat sie von jemandem der hier Anwesenden erfahren - denn mich hätte sie wegen solch einer Auskunft nicht angerufen - dass Roman in der Botschaft ist und beschloss darauf hin, nicht zu kommen. Aber auch ihn konnte ich nirgends erblicken.

Danka war, ähnlich wie Kornel, keine politische Verbannte. Sie war in Polen nicht in der „Solidarność” aktiv. In die Bundesrepublik zog sie mit ihrer Familie, bevor der Verband entstand. Ihre Angehörigen haben sich in den Siebzigerjahren Papiere für die deutsche Abstammung beschafft. Die Beziehungen zum Elternhaus lagen jedoch etwas schief. Nach dem deutschen Abi ließ sie ihre Eltern in Rheinland zurück und ging zum Studium nach Westberlin, wo sie ihren Lebensunterhalt selbst verdiente. Darüber, was in der Familie vorgefallen ist, wollte sie mit niemandem sprechen. In meiner Gegenwart äußerte sie ein einziges Mal etwas, was mir zum Nachdenken gab: "Meine Eltern wurden Deutsche und ich nicht, ich bin eine Polin mit deutschen Papieren". Und als ich fragte, warum sie gerade nach Berlin gezogen ist, antwortete sie knapp: "Weiter wegziehen ging nicht".

Das damalige Berlin, voller junger Männer, die dem Bundeswehrdienst entfliehen wollten, Zugvögel, Asylanten, Immigranten, Pechvögel, Lebensschiffbrüchige, Anarchisten, Künstler, Andersliebender und Andersdenkender war ein Ort, der sich wie kein anderer zum Davonlaufen eignete. Eine freie Stadt unter Alliiertenbesatzung, röter, grüner und liberaler als die gesamte Bundesrepublik und gleichzeitig so anders, als die sowjetische Besatzungszone. Den anderen Städten im Westen ähnelnd und anders als der ganze Rest der Welt. Geteilt und zusammengeschweißt mit der Stadt hinter der Mauer, wie zwei entgegengesetzte Magnetpole.

In den Jahren, die seit der Vereinigung beider Teile Berlins in ein gemeinsames Gefüge verflossen sind, konnte Danka so Manches mit ihrem Leben angestellt haben. Sie hätte in eines der westlichen Bundesländer umziehen können, das nicht unbedingt in der Nähe des Wohnortes ihrer Eltern lag. Oder nach Köln, Hamburg oder gar nach Österreich oder in die Schweiz umsiedeln, was sie schon früher ernsthaft überlegte. Trotz der Wunden, die ihr in Berlin zuteil wurden, blieb sie hoffnungslos in dieser Stadt stecken, die zwar jenes Reizes entbehrt, die Paris oder Lissabon ausstrahlen, dafür aber einen prägnanten Charakter hat, der wie Kerzenlicht auf einen Nachtfalter wirkt. Oder wie das schwarze Loch, in das man leicht reinfällt, aber mit eigenen Kräften kaum rauskommt.

Und wieder ein Blick auf die Uhr: sieben nach fünf. Die Mitarbeiter tuscheln untereinander. Der Botschafter steht einsam und verlassen da, dann kommt sein Sekretär hinunter und flüstert ihm irgendetwas ins Ohr, wonach beide die Eingangstreppe hinaufsteigen. Der Sekretär bleibt zurück und bezieht den Posten am Eingang, um in die Rolle des Hausherren zu schlüpfen. Stachowicz läuft an mir vorbei, macht eine entschuldigende Geste und verschwindet hinter der Korridortür.

In diesem Moment gibt das Handy in meiner Jackettinnentasche einen leisen Summlaut von sich. Es ist eine Kurznachricht von Heinz: „In einer halben Stunde, Ecke Lassenstraße und Koenigsallee”.

Ich blickte durch die sauberen Scheiben hinaus. Der Himmel verdunkelte sich.





Also war ich wieder hier.


In der auf Sümpfen an der Mündung der Havel in die Spree gebauten preußischen Metropole. In der Stadt mit zwei Gesichtern, die wie ein heidnischer Götze mal das eine, disziplinierte und strenge, mal das andere, libertinische und lustige der Welt entgegenhält und die, obwohl sie in ewiger Zwietracht leben, niemals einander etwas antun werden. Diejenige, die gerade triumphiert, bewahrt, dem Hegelschen Dasein entsprechend, immer ein Samenkörnchen ihres Widersachers, das irgendwo abseits keimt, zu einer neuen Qualität heranwächst, bis nach einem kurzen Kampf der Gegensätze der nächste Umsturz erfolgt.

Als ich zum ersten Mal in Berlin war, hatten die Politiker gerade den misslungenen Versuch hinter sich, diese beiden Gesichter mit einem dicken Strich der Betonmauer voneinander zu trennen. Verlassen habe ich die Stadt zwei Jahre nachdem die Mauer weg war und die beiden Gesichter wieder ins Gefecht einstiegen, welches nun das wichtigere sei. Ich beschloss zurückzukehren, als in meinem Land der ehemalige Brigadier aus der Werft in Danzig und Friedensnobelreisträger Präsident wurde und als ich mir vormachte, dass wir gemeinsam am Ziel des Freiheitsmarathons angekommen sind. Das war kurz danach, als meinen Vater eine Krankheit befiel, die es in der damaligen Zeit nur wenigen Männern in seinem Alter zu besiegen gegönnt war. Meine Mutter konnte ihm für die Zeit des Sterbens keine Betreuung gewährleisten, weil sie selber pflegebedürftig war. Und meine Schwester, die einen Niederländer heiratete, meinte, dass jetzt sie mit der Emigration dran sei. Wir machten aus, dass sie bei ihrem Mann in Utrecht bleibt und ich zu meinen Eltern in unser altes, frisch zurückgewonnenes Haus bei Warschau ziehe. Es war für eine kurze Zeit. Unser Vater starb ein Jahr später und unsere Mutter, deren Erinnerungsvermögen allmählich aussetzte, kam in ein von Nonnen betreutes Pflegeheim.

In den Jahren, die seit meiner Rückkehr aus Berlin vergangen sind, war ich ein ganz anderer geworden. Ich betrachtete die Stadt nicht aus der Sicht eines armen Einwanderers oder politischen Flüchtlings, der den Tag für zehn Mark überleben und auf Schritt und Tritt überlegen muss, wie man nicht in die Kreise hinabsinkt, wo man zwar von Würde spricht, sie aber nicht praktiziert und dabei das Gefühl der moralischen Überlegenheit über den Rest der Welt aufrechterhält, die weder einen Landsmann an der Spitze der römischen Kirche, noch einen berühmten Arbeiter und Nobelpreisträger an der Spitze der demokratischen Opposition hat. Wo die Solidarität als Aushängeschild oder im Falle eines Angriffs als Schutzvorhang dient, aber im Alltag kaum Gebrauch davon macht.

Es war nicht mehr eine Reise aus kommunistischer Hölle ins kapitalistische Paradies. Keine Warterei an der Grenze, keine polnischen und DDR-Zöllner, keine bösen Blicke, unfreundliche Gesten, Stempel im Pass, illegal gekauftes, in der Kleidung verstecktes, zwischen die Seiten einer lässig hingeworfenen Zeitschrift eingeklebtes oder zusammen mit dem Gummi in die Schlüpfer eingenähtes Westgeld. Kein Gefühl, eine Grenze zwischen zwei Welten über oder unter der Berliner Mauer überschritten zu haben.

Ich hatte die Kreditkarte einer angesehenen deutschen Bank und musste nichts Besonderes entbehren, um mir ein Zimmer in einem preiswerten Hotel nehmen, um den für einen Besucher aus Polen teuren öffentlichen Verkehr zu zahlen, ins Café Einstein reinzuschauen und mir ein Bier zu leisten, ohne sich auf die Biergärten zu beschränken und ohne darauf zu hoffen, dass jemand für mich zahlt. Ich konnte völlig locker bleiben, wie ein freier Mensch und nicht wie eine abgehetzte Ratte, die immer auf der Hut bleiben muss.

Eine Idee, wie ich mir dieses Rattendasein entschädigen könnte, keimte in mir seit Jahren: ich fahre für eine Woche nach Berlin, völlig unabhängig, ich treffe ehemalige Bekannte, die dort geblieben sind und ich sehe mich in einem Taschenspiegel an, der mir sagt, dass es richtig war, wieder nach Polen zu gehen. Bei dieser Gelegenheit sagt er mir auch, dass ich endlich frei von der Berliner Vergangenheit bin, das kein Schatten jener Ereignisse mehr über mir hängt, die nach der Rückkehr nach Warschau wie Gips in der Sonne verhärteten. Sie haben mich in der Erinnerung festgehalten, in eine zerfressende Melancholie hineingeworfen und von der Welt abgekehrt, der ich einst das ganze von Gott geschenkte Talent hinopfern wollte. Sie machten mich zum Sklaven der Vergangenheit und es gab niemanden, der mich aus dieser Versklavung freikaufen würde. Niemanden, der die erlösende Wahrheit unterbreiten würde.

Die aufmüpfige Frage: "Was hat denn das für eine Bedeutung?" kannte ich allzu gut. Die Redaktion wurde vor zwanzig Jahren geschlossen, der Verein aufgelöst, der eiserne Vorhang war zerbröckelt, die Akten teilweise verbrannt oder unkomplett. Wozu die alten Geschichte aufwärmen, die Verhaltensweise der einzelnen Personen erforschen, sie einordnen, überlegen, Freunde und Bekannte verdächtigen? Wozu überhaupt die Wahrheit kennenlernen wollen, die wie eine in der Seele steckende Nadel bis ans Lebensende schmerzt. Das ist gefährlich und nicht rückläufig zu machen. Das kann nicht versuchsweise getan werden. Wenn man einmal die Wahrheit kennt, kann man nicht wieder ins Unwissen hineinschlüpfen. Wobei an die Stelle der behaglichen Ignoranz keine Sicherheit rückt – gewisse Fragen bleiben soundso unbeantwortet.

Diese superklugen, an mich selbst gerichteten Weisheiten, brachten immer neue Fragen hervor. Sollte man die Vergangenheit als Theater betrachten? Daran glauben, dass der Schauspieler wirklich Prinz Hamlet ist, Julia tatsächlich vergiftet tot umfällt und der Vorhang im richtigen Augenblick von selbst fällt und nicht nachgrübeln, was hinter der Staffage der mit dem Bühnenrand eingegrenzten Welt passiert?

Die intellektuelle Bewältigung dieser Kompulsion war einfach. Geistig war ich imstande, der Versuchung zu widerstehen, hinter die Kulissen der Schattenseite des Lebens zu blicken, wo sich einer Otternbrut gleichende Stränge verketteten, an denen unsichtbare Animierer zogen, um Freundschaften, Liebessbeziehungen und Hassgefühle wiederzubeleben. Aber der Verstand ist nicht immer oder eher selten fähig, Emotionen, versteckte Wünsche und unbewusste Bedürfnisse zu beherrschen. Auch dann, wenn sie ein eisiger Sarkophag umhüllt.

Diese einfache Idee hatte ich also, aber irgendetwas in mir bewirkte, dass ich immer noch nicht für eine Konfrontation bereit war und im Zustand einer emotionalen Hibernation verharrte. Aus diesem Grunde verließen mich immer wieder Menschen, die mir nahestanden, denn weder ihre Ermunterungen noch Provokationen befähigten mich dazu, den ersten Dominostein umzustoßen. Berlin wirkte auf mich immer noch wie ein Magnet, aber mit dem Gegenpol. Ich war unfähig, mich ihm zu nähern.

Bis eines Tages das Hegelsche Umschlagen erfolgte. Es wurde mir klar, dass der Kampf gegen Verborgenes sinnlos ist. Ich wollte nun wissen, was es ist, was mich derart quält, dass ich in Bezug auf Berlin weder rational zu denken, noch zu handeln fähig bin.

Der Eisklumpen regte sich, als die Botschaft mir unverhofft die Einladung zur Ordensverleihung an Kornel schickte. Ich erneuerte die abgebrochenen Kontakte, buchte ein Hotelzimmer und kaufte ein Zugticket. Und so stand ich an einem Maisonntag auf dem imposanten, neu gebauten, mir bislang unbekannten Berliner Hauptbahnhof. Er erinnerte mit gar nichts an den kleinen, verwahrlosten Bahnhof ZOO, auf dem ich 1983 landete, auch nicht an den Bahnhof Friedrichstrasse, von dem ich zehn Jahre später für immer nach Polen abreiste.

Es war mein vierter Tag in Berlin.

Kornel sollte derjenige sein, der das Bedürfnis befriedigt, das mir soeben bewusst wurde.





Die zur Feier eingeladene Gesellschaft...


...hat sich in sämtlichen Ecken der Botschaft verstreut. Ein Teil der Gäste stand in Grüppchen im Repräsentationssaal, wo die Ordensverleihung stattfinden sollte, einige gingen in den Bankettsaal, wo für einen kleinen Empfang gedeckt wurde, die anderen verzogen sich auf die Gartenterrasse. Der Frühling war in diesem Jahr kühl, aber dieser Maiabend schien dem zu widersprechen, es war recht warm und das Grün der Bäume, der blühende, wohlriechende Flieder, der gelb anschwellende Goldregen, die in Knospen zum Aufspringen bereiten Rhododendronknospen und die mit Frühlingsblumen regelrecht überstreuten Rabatten stimmten zu nichtssagenden Gespräche, bei welchen viele inhaltslose Worte gewechselt werden.

Auf der Terrasse stand auch Roman. Offensichtlich kam er eher als ich und hielt sich die ganze Zeit dort auf. Er hatte ein Glas Wasser in der Hand, weil bisher nichts, bis auf kalte Getränke, serviert wurde. Er war sogar passend für diese Angelegenheit gekleidet, er hatte einen dunkelbraunen, etwas aus der Mode geratenen Anzug an, trug eine Krawatte und einen leichten, weinroten Schal. In den Achtzigern hatte er langes Haar und jetzt eine kurzgeschnittene, graumelierte Frisur, so dass die hohe Stirn zu sehen war. Aus dem aufgeknöpften Jackett schaute nicht ein einziger Zentimeter Bauch raus. Seine sportliche Figur passte nicht zu dem eher unfeinen, faltenzerfurchten Gesicht und den auffälligen Augenringen. Er stand in Gesellschaft zweier mir nicht bekannter Deutscher, vermutlich waren es Kornels Mitarbeiter von der Uni. Als er aufblickte und unsere Augen sich trafen, hob er sein Glas leicht an, wie zu einem Siegestoast und sagte: "Sie kommt nicht."

Ich wusste, er meint Danka. Es huschte mir durch den Kopf, dass er mich seit Längerem beobachten haben muss und gemerkt hat, dass ich mich unentwegt nach jemandem umschaue. Obzwar wir in den letzten Tagen viele Stunden mit Gesprächen unter vier Augen verbrachten und behutsam die einst nahe, dann für eine längere Zeit unterbrochene Bekanntschaft wiederaufbauten und viele gemeinsame Themen hatten, wollte ich jetzt nicht mit ihm reden, insbesondere über Danka. Ich machte eine Mine "da kann man halt nichts machen", tat so als ob ich einen anderen Gast ansteuere und ging an ihm vorbei.

Am Geländer, das die Terrasse vom Garten trennte, erblickte ich in der Tat einen Gast, den ich ohne Weiteres erkannte. Wir kannten uns seit den Achtzigerjahren und haben uns ein paar Mal in Warschau getroffen. Der in Gedanken vertiefte Mann war der aus politischer Sicht wichtigste Gast an diesem Abend – der Senator der Republik Polen, Ryszard Jaremski. Ich wusste von Kornel, dass er eingeladen wurde, so hat mich seine Anwesenheit nicht überrascht. Er trug ein weißes Hemd, eine dunkelrote Krawatte und einen eleganten, gut geschnittenen Anzug, der aber nicht maßgeschneidert war, das sah man an den Knöpfen, die waren fake, die untersten ließen sich nicht zuknöpfen. Die Schuhe waren nagelneu und glänzend, anscheinend war es für ihn Alltag in diplomatisch-politischen Kreisen zu verkehren.

"Ich grüße Sie, Herr Senator", sagte ich lächelnd und streckte ihm die Hand entgegen.

"Jakub, ich freue mich, dich hier zu sehen!", entgegnete er mit hörbarer, vielleicht auch angelernter Herzlichkeit und drückte mir die Hand. "Für Kornel ist es bestimmt teuflisch wichtig, das wir beide aus Warschau hergekommen sind. Meinst du nicht auch?"

"Halten wir uns doch an die Fakten", wandte ich ein und bemühte mich im Rahmen eines belanglosen, höflichen Gespräches zu bewegen. "Du bist der wirklich Wichtige hier. Wie ich hörte, sollst du die Laudatio vortragen."

"Stimmt, das war geplant, aber der Botschafter und ich haben gemeinsam beschlossen, davon Abstand zu nehmen", belehrte er mich.

"Und wem wird diese Ehre zuteil?"

"Das soll eine Überraschung bleiben", wich er aus.

"Á propos der Wichtigkeit. Stimmt das, was in Warschau erzählt wird, dass du Vizemeister für Gesundheitswesen wirst?"

"Ach, diese Politik…", sagte er und winkte scheinbar lässig ab. "Müssen denn die Journalisten fortwährend daran denken, sogar hier?"

Er hatte recht betagte Informationen über mich.

"Ich merke, du hast etwas verpasst, obwohl du bestimmt Zeitungen liest. Wenn vielleicht auch nicht selbst, dann tut es mit Sicherheit jemand für dich. Ich befasse mich seit geraumer Zeit nicht mehr mit politischen Themen", erklärte ich ruhig.

Er schluckte die Sticheleien glatt runter.

"Wirklich? Schade. Du warst richtig gut darin. Nicht nur im Exil, auch in Polen. Wann war das? Ich glaube noch in den Neunzigern?" Er wartete auf meine Zustimmung. "Aber ja doch, ich kann mich sehr gut an deine passenden Kommentare und korrekte Analysen entsinnen. Möchtest du das nicht wieder aufgreifen? Die Polen haben gute politische Publizistik sehr nötig.

Mein Puls steigt immer, wenn irgendwelche Politiker angeblich im Namen aller Polen sprechen und so tun, als ob sie genau wüssten, was sie brauchen. Und wenn es jemand in so runden Sätzen tut, wie Ryszard Jaremski, beginnt er regelrecht zu rasen.

"Sie brauchen vor allem gute Politiker", sagte ich, auf eine heftige Reaktion eingestellt.

"Oh, ich sehe den Herrn Redakteur in ausgezeichneter Form für Polemik", rächte er sich. "Das ist sehr gut. Denn ehrlich gesagt" – fuhr er mit leiserer Stimme fort und näherte sich meinem Ohr – "wird es vermutlich auf diesem Feld bald neue Möglichkeiten geben und ich denke, du wärst der richtige Mann dafür".

"Willst du etwa in den Medienmarkt investieren?", wunderte ich mich und trat einen halben Schritt zurück.

"Hör auf, ich bin doch Parlamentarier, hast du es vergessen? Ich muss an das Land und an die Menschen denken und nicht an Privatinvestitionen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es jemanden gibt, der das vorhat", meinte er rätselhaft, immer noch flüsternd. "Und das kann wirklich ein starker Schlag werden. Wir müssen unbedingt darüber reden. Vielleicht nach der Feier? Oder eventuell morgen, wenn es dir lieber ist. Hotel Radisson, das an der Spree?"

Der Vorschlag war verblüffend. Ich wusste nicht, was ich antworten soll. Auf alle Fälle wollte ich Vorsicht walten lassen.

"Es lohnt sich nicht, jetzt darüber zu reden", brach ich ab. "Politik ist als Thema der Publizistik Vergangenheit. Ich bleibe lieber bei der Kultur. Literatur, Theater, Film, Kunst, solche Sachen. Und vor allem Musik.

"Du machst doch Spaß, oder?!" Er sah mir in die Augen und muss darin gelesen haben, dass ich doch nicht spaße. "Glaube mir, du vergeudest dein Schreibtalent", sagte er und ich wusste nicht, ob ich es als Lob oder Tadel verstehen soll. "Ich würde mich nicht wundern, wenn es um Ermittlungsjournalismus ginge, denn da scheinst du gewisse Erfahrungen zu haben, aber Kultur… Ich habe aber etwas anderes bemerkt." Er wechselte das Thema, er fühlte, dass er sich verrennt. "Wenn ich mir unsere Bekannten von damals anschaue, die hier erschienen sind, wird mir erst jetzt bewusst, dass du der einzige unter ihnen bist, der nach Polen zurückgegangen ist. Karol, der sich mit Geschichte befasste, ist in den Staaten, er kam nicht. Witek, der über die Wirtschaft schrieb, ist in Rom. Barbara in Paris…

"Beata", berichtigte ich.

"Stimmt, Beata. Literatur. Wer hat da noch mit euch zusammengearbeitet?"

Ich bewunderte ihn dafür, dass er uns fast alle noch beim Namen kannte und sich an uns erinnerte.

"Roman", sagte ich.

"Fedryna? Stimmt, er ist hier. Und diese Frau, wegen der ihr aneinandergeraten seid, Danuta, soll auch hier wohnen, obwohl ich sie noch nicht gesehen habe. Aber sie hat, scheint es mir, wenig mit „Zdanie” kooperiert. Seht ihr euch noch manchmal?

"Roman und ich sind nicht wegen ihr aneinandergeraten. Das war eine ganz andere Geschichte", erklärte ich und ignorierte seine Frage nach den Kontakten.

Ich hatte keine Lust, ihm diese Geschichte zu erzählen und er hatte auch keine Lust, sie zu hören.

"Aber die aus Berlin", fuhr er fort und wurde wieder leiser "die hier in der Botschaft rumschwirren, die haben, ehrlich gesagt eher keine Karriere in Deutschland gemacht..."

"Um Karriere in Deutschland zu machen, muss man erst Deutscher werden", ich brach schnell eine Sentenz übers Knie, die halbwegs zum Thema passte. Er schaute mich bedächtig an. Bevor er etwas sagen konnte, fügte ich schnell hinzu: "Und wer muss man erst in Polen werden, um Karriere zu machen?"

Ihm blieb das Grübeln über eine giftige Antwort erspart, denn vom Getränketisch eilte energisch die Frau Senatorin her, mit einem für ein offizielles Ereignis viel zu grellen Make-up, zu üppigem Schmuck, einem viel zu glitzernden silbergrauen Kleid und schwarzer, enger Kostümjacke. Wir kannten uns nicht näher, aber sie, mich neben ihrem Mann sehend, streckte mir ihre Hand in einer Position entgegen, die einen Handkuss abverlangte. Ich vergebe keine Handküsse, so charmant bin ich nun wirklich nicht. Ich nahm ihre Finger, hielt sie in der Ausgangsposition und verbeugte mich vornehm. Ryszard murmelte etwas in der Art: "Meine Frau Teresa, Redakteur Kubacki." Scheinbar hat er das Kapitel bei Knigge übersehen, wo die Umgangsregeln samt Reihenfolge bei der Vorstellung Unbekannter beschrieben sind.

"Sie kommen aus Warschau, ja?", stellte sie fest und versah die Feststellung mit einem dahingeworfenen Fragezeichen, mein Verhalten hat sie offenbar leicht überrascht. Ich hatte keine Ahnung, woher sie das gewusst haben konnte. "Schade, dass wir es nicht wussten, wir hatten einen freien Platz im Auto. Stimmt's Rysiu?"

Es ist seine zweite Frau. Etliche Jahre jünger als er. Sie heirateten vor drei Jahren, ihre Liaison begann aber bereits während er noch mit seiner ersten Frau verheiratet war. Sie hörten auf, ihre Beziehung zu verbergen, als die erste Frau Jaremska bei einem Unfall verunglückte. Sie fuhr allein, angeblich zu schnell, riss in einer Rechtskurve unerwartet das Lenkrad nach links und konnte die Fahrbahn nicht beherrschen, das überschlug sich und landete an einem Baum.

Der Unfall passierte einige Monate bevor Ryszard mitten in der Wahlperiode Senator wurde. Senatsmitglied wurde er infolge einer Zusatzwahl. Sein Vorgänger, Zygmunt Konopka, war ein zweitrangiger Politiker, dessen wichtigste Aufgabe darin besteht, für die Mehrheit in der Kammer mitzusorgen. Seine Wahl verdankte er der Tatsache, dass seine Kandidatur von der bei der Wahl erfolgreichen Partei vorgeschlagen wurde. Von den Pflichten eines Staatsmannes befreit, testete er nun, wie weit ein Bürger mit Immunität gehen kann. Mitten in der Wahlperiode verwickelte er sich in eine von den Medien abscheulich laut aufgegriffene Sittenaffäre, wonach ihn seine politischen Vorgesetzten zur Mandatsniederlegung zwangen.

Ich wusste, dass Ryszards Gattin seriöse Geschäfte in der Pharmaziebranche macht. Allerdings nicht in der Produktion, sondern eher im Arzneimittelvertrieb. Ihre Pilfarma entwickelte sich auf dem Medikamentenmarkt zu einem Potentaten.

Mein Wissen darüber verdankte ich hauptsächlich dem „Kurier”, jener Zeitung, bei der ich einige Monate nach meiner Rückkehr aus Berlin Einstellung fand, bevor ich ein paar Jahre später zur der seriösen, nicht nach Sensationen haschenden Wochenschrift "Welt" überwechselte. Insbesondere verdankte ich es aber Kinga Berent.

Kinga stieg ein Jahr nach mir beim „Kurier” ein. Sie war jung, ehrgeizig und regelrecht beutegierig. Sie begriff sofort, dass Journalismus weder ein Hobby, noch eine normale Arbeit – von hier bis da und nach Hause – bedeutet und nichts für diejenigen ist, die auf ein harmonisches Familienleben aus sind. Und sie war bereit, diesen Preis für ihre Karriere zu zahlen. Sie schuf immer ungewöhnliche Neuigkeiten heran und schrieb wie eine Maschine. In einer ihrer Artikelreihen beschrieb sie, wie sich die Firma Pilfarma, die der künftigen Frau Jaremska, damals Pilaszek gehörte, an ausländischen Medikamenten bereicherte. Sie korrumpierte Beamte und Ärzte. Die Beamten setzten die Arzneien auf die entsprechende behördlich anerkannte Liste und die Ärzte verschrieben sie, obwohl es ein preiswertes, polnisches Pendant dafür gab.

In gewissen Kreisen wurde angenommen, dass ich auch in den Ermittlungen zu Pilfarma mitgemischt habe, es war aber nicht so. Ich befasste mich lediglich mit der Redaktion der noch unbedarften und zuweilen extrem überzogenen Texte der angehenden Journalistin. Die Wahrheit lag anders – wir wurden damals ein Paar.

Mit diesen Artikeln wurde Kinga als Ermittlungsjournalistin bekannt, ließ Frau Pilaszek nicht mehr los und beschrieb ständig ihren weiteren Werdegang. Und als die Powerfrau Teresa Ryszard Jaremski heiratete, wurde auch er Thema dieser Artikel. Ryszard hat bestimmt vermutet, dass Kinga so manche Information über ihn von mir hatte. Auch wenn er nicht wusste, dass wir liiert waren, so sah er meinen Namen in derselben Zeitschrift. Er teilte also kaum die Sorge seiner Frau, dass wir nicht zusammen nach Berlin gekommen sind und machte nur eine ratlose Armgeste. Ich wollte der ansteigenden Spannung entgegenwirken und erklärte eilig:

"Ich bin schon seit Sonntag hier". Und als ich in ihren Augen etwas in der Art Verwunderung erblickte, fügte ich hinzu: "Ich nächtige in einem kleinen Hotel in Schöneberg.

"Sehr schön", entgegnete sie charmant, wobei es mir nicht klar wurde, ob ihr der ihr Name des Ortsteils etwas sagt oder nicht.

"Stimmt", sagte ich. Ich war in Kampfesstimmung. "Wissen Sie, dass es in den Zwanzigerjahren der Lieblingsstadtteil der Schwulen war?

"Wessen, bitte?", spitzte sie ihr Öhrchen.

"Der Schwulen und der Lesben. Korrekt ausgedrückt der Homosexuellen beider Geschlechter."

Sie lachte kurz und laut auf.

"Das Hotel heißt „Isadora”, fuhr ich fort. "Ich vermute, sein Besitzer ist von Jessenin fasziniert.

"Ach so?" lispelte sie desorientiert, das angeschlagene Thema war ihr ein Fremdwort. Richard hüstelte plötzlich, als wolle er etwas sagen, sprach aber kein Wort.

"Es geht um Isadora Duncan, die amerikanische Tänzerin, die dann Staatsbürgerin Sowjetrusslands wurde, erklärte ich, die Pose eines belehrenden Professors annehmend. "Es wird ihr nachgesagt, dass sie bisexuell war, obzwar einige daran zweifeln. Sergei Jessenin war ihr dritter Mann." Ich sah ihr direkt in die Augen und ergötzte mich an ihrer Verlegenheit. "Sie trug zu lange Schals und liebte es, in offenen Automobilen zu fahren. Und wissen Sie... in den Zwanzigern hatten die Autoräder Speichen und solche langen Schals verfingen sich leicht... Es war eine tragische Geschichte…"

Und da dachte ich plötzlich an den Unfall der ersten Frau von Ryszard. Ich wollte in keine verhäkelte Situation reintapsen. So entschuldigte ich mich und griff theatralisch nach meinem Handy. Ich tat so, als ob ich dringend jemanden anrufen müsse.

"Überlege dir die Sache, von der ich sprach!", sagte Ryszard schell und laut, als ich ihnen den Rücken zuwandte. "Wir reden nach der Feier darüber."

Ich entfernte mich in eine Saalecke.

Ich las erneut die rätselhafte SMS von Heinz. Ich müsste ihm schnellstens antworten, damit er weiß, dass ich die Nachricht gelesen habe, dachte ich. Ihr Inhalt war merkwürdig. Heinz fragte nicht, ob ich die Gesellschaft verlassen kann, fügte kein "wenn" hinzu, er forderte nur, dass ich mich in einer halben Stunde an der 300 m von der Botschaft entfernten Kreuzung zu stellen habe. Er hätte doch herkommen können. Warum kam er also nicht, sondern schrieb mir die Nachricht in dem Augenblick, als Kornel – theoretisch – seine Rede halten sollte. Der kategorische Ton dieser Nachricht ließ mir keine Wahl. Ich antwortete ihm mit drei Fragezeichen und zwei Buchstaben: OK.





Es war fast halb sechs, als der Sekretär...


...auf der Terrasse erschien und erklärte, dass der Botschafter alle hineinbitten lässt. Wir folgten ihm erleichtert, denn die Verspätung überstieg nun auch die polnischen Normen erheblich.

Der Botschafter wartete im Festsaal. Er lächelte nicht mehr amerikanisch, wie bei der Begrüßung. Neben ihm stand anstatt seiner Frau ein mir unbekannter pausbackiger Vierzigjähriger, der eine ordinäre Krawatte, eine sich eher zum täglichen Arbeitsgang als für diplomatische Meetings eignende Jacke und eine dunkle Hose trug. Er hielt eine Hand in der Tasche.

Kornel war immer noch nicht da.

Stachowicz zeigte mit einer Geste, dass er etwas sagen will.

"Sehr geehrte Damen und Herren", sagte er mit heiserer Stimme und als alle aufblickten, hüstelte er und sagte es noch einmal, zunächst auf Polnisch, dann kürzer gefasst auf Deutsch. "Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind hier alle aus einem Grund erschienen. Wir kennen ihn alle. Wir sollten an der feierlichen Übergabe des Verdienstordens der Republik Polen teilnehmen, der einem herausragenden Exil-Oppositionellen für die Unterstützung der demokratischen Opposition in der Zeit der VRP vom Präsidenten unseres Landes verliehen wurde. Unser Programm hat sich jedoch unverhofft verändert. Ich möchte Ihnen den Kommissar Schwalbe von der Berliner Kripo vorstellen. Er möchte uns etwas mitteilen.

Der Polizist zog die Hand aus der Tasche und erklärte kurz, bündig und sachlich:

"Ich weiß, dass Sie alle auf Herrn Kornel Topolski warten. Leider bin ich gezwungen, Sie darüber in Kenntnis zu setzten, dass Herr Topolski nicht kommen wird. Heute Mittag wurde er tot in seiner Wohnung aufgefunden.

Der Blitz, der sich seit frühem Nachmittag am heiteren Himmel abzeichnete, schlug doch noch ein.

Mein Handy summte wieder leise, unhörbar für die anderen. Ich griff in meine Tasche. Heinz fragte wieder, ob ich bestimmt pünktlich am verabredeten Ort bin. Der Augenblick war unpassend, ich konnte die Botschaft jetzt nicht verlassen. Ich antwortete ihm, dass ich in einer Viertelstunde da bin. Ich dachte plötzlich, dass Heinz es gewusst haben musste, das heißt das, was uns Schwalbe gerade eröffnete, und deswegen nicht erschienen ist. Bei seinen zahlreichen Kontakten in der Berliner und Brandenburger Polizei und sogar bei der Bundeszentrale in Wiesbaden, wäre es keine Überraschung für mich.

Bevor der Botschafter den Kommissar ins Polnische übersetzte, hat die versammelte Gesellschaft verblüfft und erschrocken reagiert, es verstanden ja fast alle Deutsch. Die meisten waren, wie ich, sprachlos. Es ist so ein Moment, wenn dich jemand in einer Fremdsprache anspricht und du weißt nicht, wie du dich verhalten sollst. Bitten, dass er es wiederholt? Ratlos mit den Händen flattern? Der neben mir stehende Engländer, mit einer Fliege und einem Jackett, das getreu britischer Eleganz leicht abgetragen wirkte, hat vermutlich noch nicht begriffen, worum es geht, denn er fragte seine polnische Frau: "What’s going on? What happened?" Und als er endlich erfuhr, was passiert ist, rief er entsetzt: "Oh, God! Incredible!"

"Ja, meine Damen und Herren", wiederholte Botschafter Stachowicz laut und die Leute beruhigten sich kurz. Herr Kornel Topolski ist tot. Diese traurige Nachricht erreichte mich vor zehn Minuten und ich kann selbst noch kaum daran glauben. nHerr Kommissar Schwalbe und ich möchten Sie herzlich bitten, dass Sie uns beim Verlassen der Botschaft Ihren Aufenthaltsort in Deutschland nennen. Das ermöglicht der Berliner Polizei, bei Bedarf Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Ich wiederhole, wird befinden uns auf polnischem Territorium und können Sie daher nur darum bitten. Wenn jemand es nicht will, weil er zum Beispiel die Bundesrepublik gleich verlassen wird, wird es ihm von niemandem übel genommen.


Selbstverständlich meldete jemand gleich seine Zweifel.

"Herr Botschafter, ich habe eine Frage", sagte der neben Ryszard stehende, füllige Mann in einem Kordjackett und offenem Hemdkragen. Mit seiner Kleidung demonstrierte er die Ablehnung der Bekleidungsnormen in der Diplomatie. Ich erkannte die Stimme. Es war Edek Skulski, genannt Edi, der vor Jahren gemeinsam mit Roman den Verein der Politischen Flüchtlinge aus Osteuropa in Westberlin gründete. "Unter uns befindet sich ein Senatsmitglied der RP. Er hat einen Diplomatenpass und genießt Immunität. Er muss sich doch nicht in die Liste eintragen?

Der Kommissar interessierte sich für die Frage. Der Botschafter übersetzte sie kurz. Schwalbe erwiderte etwas und Stachowicz nickte.

"Das versteht sich von selbst", sagte er auf Polnisch. "Herrn Senator muss es nicht tun. Es war nur eine Bitte des Kommissars."

"Edi als Sprecher des Senators?", ich war etwas überrascht. Ich erinnerte mich daran, dass Ryszard seinerzeit sein politischer Lehrmeister war. Edi bewunderte ihn dafür, dass er bereits als junger Oppositioneller, noch vor der Entstehung der „Solidarność” im Gefängnis saß und sich während des Krieges entschieden gegen das Regime stellte. Es war immer ein Fest für Edi, wenn Jaremski nach Berlin kam. Er begleitete ihn beinahe auf Schritt und Tritt, kutschierte ihn durch die Stadt, versorgte ihn und ließ ihn bei sich wohnen.

Trotz der Bewunderung, die er ihm entgegenbrachte, hat er sich, als ich ihn mal zu einem Bier einlud, über ihn beschwert.

"Ich war eine zeitlang so arm, dass ich mir keine Zigaretten leisten konnte", erzählte er. "Ehrlich, ich habe Zigarettenstummel von der Straße aufgelesen. Aber wenn Ryszard kam, sorgte ich dafür, dass der Kühlschrank voll ist. Er übernachtete, trank und aß bei mir, und hat nie gefragt, ob ich etwas brauche. Niemals. Und er bekam doch jedes Mal ein Honorar, das mehrfach höher als meine monatliche Beihilfe war..."

Ich dachte, dass Ryszard ihn jetzt vielleicht irgendwie unterstützt, wo er doch bedeutend vermögender ist. Edi sah nämlich nicht sehr wohlbetucht aus.

Von Heinz Kurznachrichten immer häufiger bedrängt, war ich so gescheit, dass ich als erster an dem kleinen Tisch erschien, wo man seine Angaben eintragen sollte. Ich schrieb den Namen und die Adresse meines Hotels auf meine Visitenkarte. Gleich darauf stand auch Roman neben mir.

"Gehst du schon?", fragte er, ohne sein Gesicht nur ein bisschen zu verziehen. Er sah genauso niedergeschmettert aus, wie alle anderen. "Soll ich dich irgendwohin fahren? Vielleicht ins Hotel? Ich fahre dran vorbei."

"Nein, nein!", widersprach ich heftig. "Ich muss erst zu mir kommen. Ich mache lieber einen Spaziergang, laufe zur U-Bahn und fahre so zurück, wie ich herkam", log ich.

"Wie du willst". Er protestierte nicht. "Ich bleibe hier. Vielleicht erfahre ich irgendwelche Einzelheiten, weil das, verdammt, irgendwie unbegreiflich ist. Andererseits ist es kaum zu glauben. Du bist erst seit vier Tagen in Berlin und es ist schon der zweite Mord, der in deinem Umfeld passiert", sagte er laut, als ich mich dem Ausgang zuwandte.

"Na eben", sagte ich. Seine Worte überraschten mich.

"Wenn irgendetwas ist, rufe mich an", rief er mir noch zu.



Als ich die Treppe...


...herunter lief, wusste ich nicht, was Roman sich eigentlich dabei dachte, als er diese beiden Morde mit mir in Zusammenhang brachte. Unter den in der Botschaft anwesenden Personen, war er der einzige, der auf eine solche Idee hätte kommen können. Nur er wusste von dem dramatischen Begebnis, das sich vor zweit Tagen im Hotel „Isadora” ereignete und dessen zufälliger Zeuge ich war. Und zwar von mir.

An diesem Tag war ich mit Roman zu einem Plauderstündchen verabredet. Wir hatten ausgemacht, uns um zwölf Uhr mittags beim Mexikaner zu treffen. Er hatte Zeit, weil er, wie er sagte, seinen Job beim Deutschen verloren hat und im Augenblick frei war. Als wir uns hinsetzten, erzählte ich ihm, dass in meinem Hotel, im Zimmer, das gegenüber meinem lag, irgendjemand einen Russen erschoss. Ein Tag früher hatte ich seinen Namen erfahren. Er wurde mit dem Namen Jurij angesprochen.

Meine Beziehungen zu Roman waren weder feindlich noch freundschaftlich, sie waren aber auch nicht belanglos. Sie waren schwer definierbar. Ich habe sogar überlegt, ob ich mich mit ihm treffen soll oder nicht. Ich konnte keinen triftigen und konkreten Grund für ein Treffen mit ihm finden. Ich nehme an, ich wollte ihm und auch mir selbst gegenüber demonstrieren, wie gleichgültig mir meine Berliner Vergangenheit nach all den Jahren ist, dass die Zeit Splitter entfernt und Wunden heilt, Schmerzliches vergessen lässt und wie großzügig ich doch sei, indem ich die lebende männliche Verbundenheit der verblassten Eifersüchtelei auf eine Frau bevorzuge. Es steckte eher intellektuelle Korrektheit als Ehrlichkeit dahinter. Wie es denn auch sei, habe ich drei Wochen vor meiner Berlinreise Kornel gebeten, mir seine E-Mail-Adresse zu schicken.

Als ich das Treffen plante, hoffte ich bestimmt auch auf etwas, was ich nie laut zugeben würde. Auch nach den vielen Jahren, ließ mich die Frage nicht los, warum mich Danka gerade für ihn verließ. Vielleicht wollte ich aber auch bei einem bei einem Tête-à-Tête die ungesunde Genugtuung genießen, dass sie auch ihn, noch bevor ich für immer nach Warschau zurückreiste, für einen anderen sitzen ließ?

Kornel antwortete, er kenne seine Adresse nicht. Anscheinend pflegten sie keinen Kontakt zueinander. Ich wunderte mich, denn Roman Fedryna gehörte zu dem redaktionellen Kreis, mit dem Kornel, als Chef von „Zdanie” am längsten zusammenarbeitete. Sie kannten sich, bevor ich dazu kam.

Einige Tage später wunderte ich mich noch mehr. Roman meldete sich von selbst bei mir. Er schrieb, dass er von meinem geplanten Berlinbesuch erfahren habe und dass er sich sehr darüber freue. Wir tauschten so an die zehn E-Mails, erst sehr reserviert und von kühler Freundlichkeit, dann wurden sie aber immer ehrlicher. Ich berichtete ihm über meine Pläne für den einwöchigen Aufenthalt, für den ich mich entschied, als die Einladung von der Botschaft kam. Ich äußerte den Wunsch, ihn zu treffen. Er schlug vor, dass wir gemeinsam ein Bierchen trinken und uns an die alten Zeiten erinnern.

Seine letzte Mail war bereits sehr freundschaftlich. Er begann sie mit "Grüß Dich, altes Eisenzyan" und verzichtete auf die distinguierte Anrede "Teurer Jakub”. Er erinnerte mich damit daran, dass er einst mein Pseudonym verdrehte, mit dem ich meine Kommentare im „Zdanie” unterzeichnete. Anfangs klang er recht prätentiös „Jan Cyprian Żelazo”*, dann kürzte ich es und unterschrieb mit „Jan C. Żelazo”. Fedryna, der chemische Begriffe kannte, da er vor der Flucht in den Westen an der Humboldt-Uni in Ostberlin Chemie studierte, las das Pseudonym rückwärts, was wie Eisen-Ce-Jan klang. Und seitdem nannte er mich so. Bis alles zwischen uns den Bach runter ging.

Jetzt erwies sich Roman jedoch als sehr hilfreich – er holte mich vom Bahnhof ab, fragte, ob ich etwas benötige, brachte mich ins Hotel und sorgte sogar dafür, dass ich kein unnötiges Geld für Ortsgespräche ausgebe, indem ich von meinem Handy über Polen anrufe. Er borgte mir eines mit der Karte eines deutschen Betreibers. Als ich protestierte, sagte er, er habe mehrere Handys und die Karte war billig und ist bald abgelaufen und ich müsse sowieso bald eine neue kaufen. Wenn ich wolle, könne ich ihm das Handy vor meiner Rückreise zurückgeben.

Diese Geste fand ich sogar echt rührend.

Jetzt aber, als ich zu dem von Heinz festgelegten Treffpunkt eilte, habe ich nicht die Beziehung zu Roman analysiert, ich war viel mehr mit dem Gedanken beschäftigt, was um mich herum geschah. Ich war noch nie in der Gegend der neuen polnischen Botschaft. Zu der ausgemachten Kreuzung führte zwar ein gerader Weg, aber ich wollte mich lieber an den Straßenschildern orientieren. Einige der hiesigen Straßen bogen nämlich plötzlich ab und gerade aus führte eine Straße mit einem völlig anderen Namen.

Die Koenigsallee sah wie eine der Hauptstraßen in diesem Ortsteil von Berlin aus. Wenn Heinz mit dem Auto herkam, muss er ein wenig abseits geparkt haben. Als ich mich der Kreuzung näherte, wählte ich seine Nummer. Als er sich meldete, und wie immer nur seinen Vornamen nannte, sagte ich ihm, dass ich da sei.

"Ich sehe dich im Spiegel", hörte ich. "Schau nach rechts, da siehst du meinen dunkelblauen Opel. Komm her und steige ein."

"Okay, Heinz. Aber verrate mir, machen wir bei irgendeinem Spionagefilm mit?" Zu dem Scherz hat er mich selbst provoziert, obwohl die Situation gar nicht spaßig war.

"Steig einfach ein", befahl er kurz, ohne auf meine Frage zu reagieren.

Ich ging auf die andere Straßenseite, wo sein Auto parkte. Andere dunkelblaue Opels standen hier nicht, so konnte ich ihn nicht verfehlen. Ich stieg ein. Heinz atmete erleichtert auf. Sein Gesicht war todernst.

"Saluto", sagte er farblos. "Du weißt es bereits?"

Ich nickte. Dann schwiegen wir. Drei Sekunden.

"Hast du keine Tasche mit?", fragte er.

"Nein, das was ich brauche, hab ich in meinen Jacketttaschen."

"Gut. Dann fahren wir los", sagte er, schaute immer noch nach Vorne und drehte den Zündschlüssel um.

"Gut, fahren wir los. Aber wohin?"

Erst dann drehte er sich zu mir. Die eine Hand auf dem Lenkrad, die andere an der Gangschaltung fragte er mich ernsthaft:

"Kuba, wir kennen uns seit Jahren. Vertraust du mir?"

"Glaube schon", antwortete ich unsicher.

"Grenzenlos?"

"Worum geht es aber?" Ich wurde unruhig.

"Ich sag es dir, bevor wir losfahren. Du wirst dich sicherlich wundern, aber du kannst nicht zurück ins Hotel."

"Warum?", fragte ich lauter.

"Das ist es eben. Das kann ich dir jetzt nicht erklären."

Mir wurde es irgendwie mulmig. Ich fühlte mich, als würde mir jemand meinen freien Willen rauben und das mag ich nicht. Grenzenloses Vertrauen, eine Eigenschaft, die eher zum Kind passt, war, als ich erwachsen wurde, nicht gerade mein Leibgericht.

"Willst du mir zeigen, worauf Vertrauen beruht, ja?", fragte ich vorwurfsvoll. "Du weißt doch aber, dass wenn du es mir nicht sagst, dann..."

Er unterbrach mich mit einer Handbewegung.

"Ich sage dir nur so viel: du kannst nicht dahin, wenn du nicht verhaftet werden willst. Den Rest musst du dir selbst zurechtbasteln."

Der Schlag saß. Ich war sprachlos.

Er fuhr los und bog gleich nach der Ampel nach rechts, in die Koenigsallee, ab.

"Außerdem muss ich zugeben, dass du heute sehr nobel aussiehst", fügte er höhnisch hinzu, wobei er sich an seiner langen Nase rieb.





Von dem Mord im Hotel „Isadora”...


...erzählte ich Heinz am Telefon kurz nachdem er passierte, noch bevor ich mich mit Roman traf. Die Hotelbedienung entdeckte die Leiche Jurijs am Dienstag früh, als ich noch die Strapazen des letzten Abends ausschlief. Als ich aufwachte, waren bereits die Polizei und der Gerichtsarzt da. Ich hörte zunächst für ein ruhiges Hotel ungewöhnliche Laute. Ich ging jedoch nicht raus, um sie zu lokalisieren. Erst als der Lärm und die Rufe nicht aufhörten, warf ich mir etwas über und öffnete die Tür einen Spalt weit. Das erste, was ich durch den Spalt zwischen Tür und Türrahmen sah, war die dunkelblaue Polizeiuniform. Ein junger Polizist drehte sich um und sagte, ich solle einen Moment warten. Er ließ mich zwar nicht raus, aber er verbot mir nicht, zuzuschauen. Ich steckte meinen Kopf raus. Ich sah, dass die Tür zum Zimmer gegenüber auf ist und dass die Sanitäter eine Trage rausschieben, worauf eine komplett zugedeckte Leiche lag. Als die Trage durch den Türrahmen in den Engen Korridor geschoben wurde, hat sich das Laken etwas verschoben und ich sah das Gesicht des Toten. Es war Jurij. Er sah so aus, als hätte die Kugel seinen Schädel ein Stückchen über der Nase durchbohrt. Seine Augen waren geöffnet.

Den vorangegangenen Abend verbrachte ich mit Heinz in einem kleinen Klub am Prenzlauer Berg. Es wurde Jazz gespielt und man konnte mehrere Biersorten probieren: helles, dunkles, grünes, das nur in Berlin serviert wird, Weizenbier, nicht pasteurisiertes Bier, aus der Flasche, vom Fass, jedem, wie er sich's wünschte. Mir gefiel beides. Dort, wo Jazz gespielt wird, trifft man Leute unterschiedlichen Alters, da fallen zwei noch ganz gut erhaltene Herren, aber doch schon im gereiften Alter nicht besonders auf. Außerdem ist Jazz in deutscher Fassung absolut genießbar.

Vier Musiker spielten Smooth Jazz, der sich angenehm anhörte, aber keine sonderlichen Gemütsbewegungen hervorrief. So konnten wir unser Bier trinken, Chips knabbern und konferieren.

Wir erinnerten uns, wie wir uns durch Zufall 1981 in Warschau kennenlernten. Heinz, damals ein zwanzigjähriger Student, kam mit einer Westberliner Theatergruppe, die sein Stück ausstellte, das mit einer Leidenschaft, die nur ein junger Autor an den Tag zu legen fähig ist, über das Böse dieser Welt berichtete. Die Schauspieler zeigten in der Manier von Zirkustricks wie das Böse nach entsprechender Transformation in den Medien und in der Politik wie höchstes Gut präsentiert wird.

Die Mitglieder der Truppe wollten nicht nur mit der Kritik der bürgerlichen Ordnung an der Warschauer Universität auftreten, sie wollten auch sehen, was in Polen los ist, wo es ja wegen „Solidarność” richtiggehend kochte. Sie begriffen nicht ganz, wie die Arbeiter sich gegen ihren eigenen Staat auflehnen können, der ihrer Ansicht nach die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit verwirklichte. Ich hatte als Student in der Schule erworbene Deutschkenntnisse und wurde sozusagen der Fremdenführer von Heinz. Ich versuchte ihm zu erklären, worum es in der polnischen Revolte geht und worauf die Unterdrückung in einem Staat beruht, der auf der Diktatur des Proletariats basiert. Er sog meine Erklärungen regelrecht auf, aber die Zeit, wo seine Utopie in die Brüche ging, muss für ihn sehr schwer gewesen sein. Er glaubte wirklich, dass in Kuba, China, Russland und auch hinter der Berliner Mauer Länder aufgebaut werden, in welchen soziale Gerechtigkeit herrscht. Aber auf meine Frage, warum sie also nicht mit ihrer ganzen Theatertruppe in die DDR umziehen, fand er keine plausible Antwort. Er stotterte, dass es nicht so einfach sei, dass der Kampf um die Bewusstseinsänderung dort geführt werden muss, wo man lebt, sonst könne man die bürgerliche Mentalität nie ändern. Er klang, wie ein Nachkomme von Mai achtundsechzig. Ich rechnete mir den Verdienst an, sein Bewusstsein umgebaut zu haben.

Ich bat ihn damals unverbindlich um seine Adresse, falls ich irgendwann in Berlin sein sollte... Ich ahnte nicht, dass ich drei Jahre später mit unabgeschlossenem Studium und einem One-Way-Ticket hinter der Berliner Mauer lande.

Eigentlich war es weder Flucht noch Verbannung. Ich bat Heinz um eine Einladung und ich reiste legal aus. Und ich kehrte nicht zurück. Die ersten drei Monate, bis ich keine Asylantenpapiere und kein Geld des deutschen Steuerzahlers bekam, wohnte ich bei ihm, in den nächsten drei Monaten bezahlten wir die Miete gemeinsam.

Erst herrschte zwischen uns volle Harmonie, dann kamen Spannungen auf. Die Teilung des gemeinsamen Lebensraums durch einen Polen und einen Deutschen, insbesondere wenn man jung und sich verschiedener Dinge nicht bewusst ist, ist die reinste Herausforderung an die Kultur. Zum Schluss ging's darum, dass ich nicht begreifen konnte, dass man die Flaschenverschlüsse aus Alu nicht in den normalen Müll wirft, sondern wochen- und monatelang in einem separaten Behälter sammelt, nur um sie dann doch wegzuschmeißen. Als er wieder einen Verschluss im Müllkorb fand, den ich nach meiner Warschauer Gewohnheit spontan hineingeworfen hatte, machte er mir eine Vorlesung zum Thema Müll, wobei er mich sanft auf die Kulturunterschiede in Mitteleuropa aufmerksam machte. Aber bevor die Bombe richtig zum Platzen kam, zog ich zu Danka. Heinz und ich konnten unsere Freundschaft fortsetzen und ich musste nicht mehr unter der Mülltrennung leiden, was für mich damals eine echte, zu große Herausforderung bedeutete.

Ich kam spät im Hotel an und schlief - bierbetäubt wie ich war - schnell ein. So hatte ich keine Ahnung, was in dem Zimmer gegenüber passierte. Das sagte ich auch den Polizisten, die alle im Hotel verhörten. Als sie erfuhren, dass ich ein Pole bin, wollten sie mir einen Dolmetscher stellen, ich sagte aber, ich bräuchte keinen. Ich erzählte ihnen, weshalb ich nach Berlin gekommen sei, unterschrieb das Protokoll und sie ließen mich in Ruhe. Sie informierten mich nur noch, dass ich zwecks weiterer Aussagen, vielleicht noch ins Polizeirevier müsste.





"Hast du erfahren, wie Kornel...


...umgebracht wurde?" fragte ich Heinz, als wir Richtung Stadtzentrum fuhren.

"Und, haben sie gesagt, dass er umgebracht wurde?", antwortete er mit einer Frage.

"Der Kommissar, ich glaube, er hieß Schwalbe, sagte, er wurde tot aufgefunden", präzisierte ich.

"Eben. Das heißt noch nicht, dass er ermordet wurde. Er hätte an einem Infarkt oder an einem Blutsturz gestorben sein können..."

"Ach ja, und deswegen hat sich die Kripo seiner angenommen?", entgegnete ich spöttisch.

"So so, sie sagten, sie seien von der Kripo?"

Ich antwortete nichts mehr.

"Er wurde erschossen", sagte Heinz nach einer Weile.

Ich schwieg weiter.

"So um eins in der Nacht", ergänzte er.

Ich hatte nichts hinzuzufügen.

"Kurz bevor die letzte U-Bahn fuhr."

In meinem Kopf explodierte eine kleine Bombe. Worauf wollte Heinz hinaus?

"Was hat das mit der Sache zu tun?", fragte ich.

"Keine Ahnung. Man weiß ja nie. Wenn der Mörder mit der U-Bahn gefahren ist, hat es schon damit zu tun. Sie werden die Fahrgäste suchen, die mit der letzten Bahn fuhren.

"Ziemlich gewagt", bemerkte ich.

"Nicht, wenn sie das im Fernsehen oder auf den Bildschirmen in der U-Bahn bekanntgeben."

Ich versuchte, den Gedankengang von Heinz zu nachvollziehen.

"Und deswegen denkst du, dass ich nicht ins Hotel kann?

"Ich weiß, dass du dich gestern mit Topolski treffen wolltest. Hast es mir selbst erzählt."

Ich konnte schlecht aus dem rasenden Auto aussteigen, aber ich fing zu kochen an.

"Und du denkst, ich könnte ihn erschossen haben?", lachte ich laut auf.

"Kuba, erzähl keinen Quatsch!", schalt er mich. "Das, was ich denke, ist jetzt Schnuppe. Wichtig ist, was die Polizei denken könnte. Wann bist du von Topolski weggegangen?"

Ich schüttelte erschrocken den Kopf. Es war unfassbar.

"Es sieht so aus, als sei ich der letzte, der Kornel lebendig sah..."

"Der vorletzte, Kuba, der vorletzte! Der letzte, der ihn sah, war der Mörder. Und daran hältst du dich. Für die Polizei wärst du aber der letzte. Was denkst du, wie lange brauchen Schwalbes Leute, um das zu erfahren?"

Er hatte recht.

"Es reicht, wenn sie mich noch einmal verhören", sagte ich resigniert.

Seit Anbeginn unserer Bekanntschaft hatte ich dasselbe Problem mit Heinz. Es resultierte aus seiner Vorliebe für Bühnenkunst. Nicht nur für Theater, auch für Illusion. Zaubertricks waren sein Hobby. Am Anfang dachte ich, es sei die Fortsetzung irgendeiner Faszination aus der Kindheit. Früher spielte er pausenlos mit Münzen, er ließ sie durch die Finger wandern, ließ sie verschwinden, er übte Spielkartentricks, vergeudete seine Zeit, um Nummern zu beherrschen, bei welchen kleine Gegenstände auftauchten und entschwanden. Solange er sich mit Amateurtheater befasste, mochte er es, Zirkuskunst in die Stücke einzubinden. Das merkte ich bereits damals, in Warschau. Nach Jahren gelangte ich zu der Schlussfolgerung, dass ein so unnützes Hobby mit seinem Charakter zu tun haben muss. Heinz liebte es, nein, er begehrte es, sein nächstes Umfeld zu überraschen, einen eindrucksvollen Effekt zu erzeugen, wobei er die Hintergründe geschickt zu verstecken wusste.

"Befasst du dich immer noch mit Zauberkunst?", fragte ich.

"Manchmal", entgegnete er teilnahmslos.

Ich passte nicht auf, wo lang wir fuhren. Die Berliner hatten Feierabend, wir standen oft im Stau. Zum Glück wechseln die Ampelphasen in Berlin schnell, so ist der Verkehr recht fließend. Um wieder zu mir zu kommen und die Situation neu einschätzen zu können, begann ich auf die Straße zu starren. Heinz verließ Grunewald und fuhr zum Kurfürstendamm und dann, über den Landwehrkanal, Kreuzberg links und Mitte links lassend, zielte er eindeutig eine der Spreebrücken an. Ich hätte denken können, dass er mich in seine Wohnung im Prenzlauer Berg kutschiert, aber in dem Moment war es mir gleichgültig, wohin wir fahren. Ehrlich gesagt war mein Kopf total leer.

"Das ist nicht das Schlimmste", fuhr Heinz fort.

"Was genau?"

"Dass du der letzte warst, der Topolski lebend gesehen hat. Sie könnten dich bis zur Klärung festhalten, würden dich dann aber schließlich laufen lassen. Sie finden doch keine Beweise. Hab' ich recht?

"Nehmen wir's an. Na und?"

"Es geht um diesen Russen. Zwei zeitlich naheliegende Morde, in die du irgendwie verwickelt bist..."

"Von wegen. Nichts mit verwickelt!"

"Bleib ruhig. Betrachten wir's aus der Sicht der Polizisten. Morde geschehen in Berlin vielleicht oft, aber nicht täglich. Man muss kein Columbo sein, um zu merken, dass du auf beiden Listen der zu verhörenden Personen stehst. Zu der ersten Sache wurdest du bereits angehört, stimmt's?"

"Stimmt. Ich hatte aber nicht viel zu sagen."

"Es kann sich herausstellen, insofern sie nicht auf die richtige Spur kommen, dass du noch einmal verhört werden musst, weil du vielleicht nicht alles gesagt oder irgendwelche Details verpasst hast. Vielleicht kommt jemand auf die Idee, dass diese beiden Sachen irgendwie zusammenhängen. Und bevor das passiert, müssen wir mehr über das Geschehene auskundschaften. Du musst mir alles noch einmal erzählen. Sonst bist du beim Verhör völlig ratlos.

"Heinz, erbarme dich! Du weißt doch, dass ich kein verdammter Ermittlungsjournalist bin! Ich befasse mich mit dem Schönen: mit Musik, Literatur, Kunst. Mit Hässlichem zuweilen auch, aber nicht mit Krimis!"

"Dann befasse dich also mit der Kunst und die Polizei wird sich mit dir befassen", quittierte er hart.

Erst da wurde ich mir meiner heiklen Lage bewusst. Und auch dessen, dass ich niemand anders an der Hand hatte, dem ich vertrauen könnte.

Heinz passierte die Spree und fuhr Richtung Friedrichshain. Zu DDR-Zeiten lag der Ortsteil an der Mauer. Dann fuhr er tatsächlich zum Prenzlauer Berg. Für mich lag dieser Stadtteil mental immer noch hinter der Mauer, in der Ostzone, also auf fremdem Gebiet, obzwar ich ihn schon etwas kannte. Immerhin habe ich eine zeitlang im vereinigen Berlin gelebt. Heinz zog nach der Vereinigung Deutschlands in den östlichen Teil Berlins, als manche Westberliner die Wohnungen jenseits der Mauer trendy fanden. Ein vereinsamter, unerfüllter Schriftsteller und freischaffender Journalist, passte in diese Kreise. Ich bemühte mich, ihn zu verstehen, obwohl ich selbst nichts Attraktives an einer Wohnung fand, die dort liegt, wo früher Kommunisten regierten. Auch wenn es der Lieblingsstadtteil der ostdeutschen Dissidenten war.

Auf der Suche nach einem Parkplatz irrten wir durch Straßen mit mir nicht viel sagenden Namen. Schließlich zwängten wir uns zwischen irgendeinen Trabi und einen grell lackierten alten Golf. Ich dachte, wir würden aussteigen, aber Heinz hielt mich fest.

"Warte bitte hier auf mich. Rühre dich nicht vom Fleck. Ich komme spätestens in einer halben Stunde zurück."

Er wollte mich eindeutig nicht in seine Wohnung lassen.





Obwohl ich ein paar Jahre mit Kornel...


...zusammenarbeitete, waren wir nicht befreundet. Eigentlich war er mit niemandem befreundet. Die einzigen zwei Gefühle, die er anderen entgegenbrachte, waren Achtung und Verachtung. Er konnte bis zur Unterwürfigkeit, bis zur platonischen Liebe hin estimieren und bodenlos, bis zu brennendem Hass verschmähen. Wenn er jemanden bewunderte, war er imstande, auch wenn er den Zuhörenden damit in Verlegenheit brachte, von diesem Menschen mit tränengefüllten Augen erzählen.

Bereits nach einem kurzen Wortwechsel spürte man seine innere Verspanntheit. Sie resultierte daraus, dass er die aufkommenden Gefühle mit aller Kraft zu tarnen versuchte. Er wollte gleichzeitig etwas mitteilen und für sich behalten. Er wollte bewundert werden und war zugleich bemüht, bescheiden und verschlossen zu wirken. Dadurch machte er einen recht rätselhaften Eindruck.

Als ein Mensch, der sich von Emotionen nährte, war er vor der Ordensverleihung wirklich aufgewühlt, so dass ihm die Verbergung seines Gemütszustands größte Schwierigkeiten machte. Die alte Heimat hat endlich, auch wenn erst nach zwanzig Jahren, seinen Beitrag in den Kampf gegen den Kommunismus und für die Wiedererlangung der Souveränität gewürdigt und das war für ihn sehr erquicklich. Bei dieser Gelegenheit wollte er der Welt seine ganze Wahrheit über die Achtzigerjahre vor die Füße knallen. Unwichtig, dass die Welt, die ihm zuhören sollte, nur aus dreißig Personen bestand.

Wir verbrachten die späten Abendstunden vor der Feier in der Botschaft gemeinsam. Er lud mich in seine kleine Villa ein, eigentlich war es ein Häuschen mit einem Gärtchen. Er wohnte am Rande Berlins, ein Viertelstunde Fußmarsch von der U-Bahn-Endhaltestelle entfernt. Wie immer sorgte er für die Form, wofür ich ihn immer bewunderte. Auch ein schlichtes kollegiales Treffen musste bei ihm die richtige Umrahmung haben: perfekte Weingläser, Kaffe in Tassen und nicht in Teegläsern, Servietten, korrekte Anordnung des Bestecks. Besucher aus Polen machte diese Zelebrierung zuweilen wahnsinnig.

Wir unterhielten uns bis in die späten Nachtstunden. Wir erinnerten uns an die Zeit vor dem Fall der Berliner Mauer, wir erwogen, die Erinnerungen aufzuzeichnen und verlegen zu lassen. Kornel, den ich für einen der rigorosesten Moralisten hielt, die ich je in meinem Leben traf, wiederholte mir aus anderen Gesprächen bereits bekannte, schroffe Ansichten über Politiker aus Warschau und Berlin. Nachsichtig war er gegenüber niemandem. Er war ein Intellektueller, für den sich die Versprechen einer Person des öffentlichen Lebens immer in ihren Taten widerzuspiegeln hatten, obzwar er sich dessen bewusst war, dass es im politischen Leben eher schwierig sein dürfte.

An die für die Feier in der Botschaft vorbereitete Rede knüpfte er mehrmals an. Es schien, er habe sie in kleinsten Details durchdacht. Er wollte unter anderem davon erzählen, wie die ersten Monate nach der Einführung des Kriegszustands in Polen in Berlin ausgesehen haben. In der heutigen Politik ist diese Zeit bereits Urgeschichte, aber für ihn war sie von maßgebender, fundamentaler Bedeutung. Er wollte kundmachen, wer die „Solidarność” und die normalen Polen damals wirklich unterstützte und welche deutschen Politiker und polnische Emigranten den Kopf im Sand versteckten. Darüber, wie er in den ersten Monaten des Kriegszustands die Monatsschrift „Zdanie” gründete, wie er die Redaktion und den Vertrieb nach Polen auf die Beine stellte, wer ihm dabei half und wer ihn daran hinderte. Und über die Menschen, mit welchen er in diesen Jahren zusammenarbeitete.

"Über die Zuträger auch?", fragte ich provokant.

Bereits zum dritten Mal versuchte ich in einem Gespräch mit ihm das Thema der Denunzianten anzuschlagen. Ich hatte früher niemals die Gelegenheit, ihn persönlich danach zu fragen, höchstens am Telefon. Ich merkte, dass Kornel in solchen Momenten sehr zurückhaltend war. Er griff das Thema ungern auf und beschränkte sich lediglich auf spaßige und allgemeine Floskeln, die das Gespräch abwürgten. Das, was er wusste, behielt er lieber für sich.

Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass es nur vernünftige Vorsichtsmaßnahmen waren, denn solange er über keine glaubwürdigen Unterlagen verfügte, konnte er alle, mit denen er in den Achtzigern zu tun hatte der Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei verdächtigen. Und ich benahm mich so, als wäre es die offensichtlichste Sache der Welt, dass ich nie Kontakte zur Stasi hatte und als müsse Kornel es einfach wissen.

Mich interessierte Eines: wer, wenn nicht ich, der Denunziant war. Und wessen? Dessen, dass wir in unserem Kreise einen Spitzel hatten, war ich mir sicher. Aus den Archiven der Stasi ist nichts in die Medien durchgesickert. Jedenfalls bekam ich nichts davon in die Hände. In Polen haben hingegen die Stasileute selbst in einer Nischenveröffentlichung damit geprahlt, dass sie darüber, was in „Zdanie” geschah Nachrichten aus erster Hand hatten. Damals suchte ich sofort im Web die Universitätsadresse Kornels und berichtete ihm von meiner Entdeckung. Auf die Mail hat er mir geantwortet. Auf die Nachricht reagierte er nicht.

Jetzt, als ich sein Haus verließ, fragte ich ihn, ob er wisse, um wen es sich in diesem Artikel gehandelt haben könnte. Eigentlich sprach ich ihn darauf an, ohne mir ein Blatt vor den Mund zu nehmen und meinte, er wisse es, nur wolle er es mir nicht verraten. Kornel sprang energisch auf. Er war zehn Jahre älter als ich, hatte schütteres Haar, sein etwas gelbliches Gesicht prägten zahlreiche Falten, aber er schien immer noch viel für seine körperliche Verfassung zu tun. Vollkommen in seiner Art hob er beruhigend seine Hand und erwiderte kurz:

"Morgen. Wir sehen uns morgen". Ich verstand es so, dass er am nächsten Tag, wenn er die Rede in der Botschaft hält, vielleicht nur beiläufig, irgendetwas über die geheimen Mitarbeiter in unserer Redaktion preisgibt. Zumindest hoffte ich darauf.





Langsam dunkelte es.


Auf einer niedrigen Mauer, die den Gehsteig von einem leeren, mit verwahrlostem Grün übersäten Feld trennte, saßen Jugendliche beider Geschlechter mit Bierdosen und -flaschen in den Händen. In Berlin darf Alkohol auch auf der Straße genossen werden, da greifen die Polizisten nie ein. Sie trugen nietenbesetzte Lederjacken, kunterbunte Frisuren, schwere Schuhe und konnten schon bedrohlich wirken, aber mir wurde versichert, dass der Prenzlauer Berg – ähnlich wie der mir gut bekannte Kreuzberg – kein gefährliches Viertel war. Übrigens fühle ich mich hier ein bisschen wie zuhause. Als sei ich von einer weiten Reise heimgekehrt. Ich fühlte mich in dieser Stadt immer sicher und wusste mich so zu verhalten, um unnötige Ärgernisse zu vermeiden. Es kann sich zwar nach dem Zusammenschluss beider Städte einiges geändert haben, insbesondere im Osten, aber mir war nicht danach, das zu checken. Mit Anzug und Krawatte mag ich in diesem Künstlerwinkel etwas eigenartig ausgeschaut haben. Ich blieb also reglos im Auto sitzen.

Und ich hatte genug nachzugrübeln. Es gelang mir jedoch nicht, einen geordneten Gedankengang aufzubauen. Stattdessen hetzten durch meinen Kopf Unmengen wirrer Bilder, aufgeschnappter Worte und ungeordneter Schussfolgerungen. Erst als in diesem Chaos der Gedanke an ein erneutes Verhör auftauchte, versuchte ich, die mit meinem Aufenthalt im „Isadora” verknüpften Ereignisse zu rekonstruieren.

Die Besitzer nannten den Ort Hotel-Pension. Ich entschied mich dafür nach der Empfehlung von Roman, der in der Nähe, jedoch bereits in einem anderen Viertel wohnte. Für mich war es wichtig, dass die Unterkunft im Westen Berlins, unweit der U-Bahn-Station lag, gemütlich war, erschwingliche Preise und eine Homepage hatte, über die man Zimmer buchen konnte. Es befand sich in einem alten, sanierten, vermutlich noch aus Kaisers Zeiten stammenden Haus und war direkt von der Straße zu erreichen. Die Übernachtung buchte ich zwei Wochen vorher.

Ich kam am Sonntagnachmittag. Roman fuhr mich zur gewünschten Straße, hielt in einer gewissen Entfernung vom Haus mit dem Leuchtschriftzug „Isadora” an und ließ mich stehen. Ein längeres Treffen machten wir in zwei Tagen aus.

Ich fand den Hoteleingang nicht auf Anhieb. Es war eine unauffällige Tür an der Frontseite. Um nach Innen zu gelangen, musste man den Knopf mit dem Schriftzug „Isadora” am Haustelefon drücken. Ich tat es. Es summte. Ich ging hinein. Wieder eine normale Tür, wie eine Wohnungstür. Erst im Inneren angelangt, aber auch nicht sofort, fand ich die Empfangstheke, an der eine junge Blondine saß. Ich stellte mich vor und hielt ihr den Computerausdruck entgegen. Sie war nett, sprach einen eigenartigen Akzent, eher östlich. Ich hielt ihr meinen Pass entgegen und sie begann mir die Hotelregeln und die Zahlungsmodalitäten zu erklären.

"Kann man mit Karte zahlen?", vergewisserte ich mich.

"Ja, man kann", erwiderte sie unsicher. "Aber besser wäre es, in Bar. Für Kartenzahlungen müssen wir eine Provision berechnen", entschuldigte sie sich. "Haben sie auch Bargeld?"

"Doch, schon", erwiderte ich, denn ich hatte bereits am Bahnhof am Bankautomaten etwas abgehoben. "Aber ich weiß nicht, ob es für den ganzen Aufenthalt reicht. Ich nahm nicht an..."

In diesem Augenblick kam durch die Seitentür, eine kleine, ältere Frau mit scharfen Gesichtszügen hinein und warf einen Blick auf den auf der Theke liegenden Pass.

"Sie können eventuell für die erste Nacht zahlen und morgen den Rest nachbezahlen", meinte sie. In ihrer Stimme war der östliche Akzent noch deutlicher zu hören. "Sie müssen auch die Kaution entrichten".

Ich machte große Augen. Sie dachte, ich verstünde kein Deutsch und sagte in meiner Muttersprache mit deutlichem russischen Akzent:

"Verstehen Sie Polnisch?"

"Sicher doch!" rief ich. Vielleicht ist es aber noch günstiger, wenn wir russisch sprechen?" - riskierte ich den nächsten Sprachenwechsel.

"Oh, sie sprechen Russisch?", wunderte sie sich. Ein Pole und Russisch... Und man sagt, mit Polen sollte man lieber nicht russisch sprechen."

"Vielleicht bin ich ein untypischer Pole?", scherzte ich.

Dann sprachen wir nur noch Russisch. Ich hatte den Eindruck, es hat den beiden gefallen.

"Und was hat es mit der Kaution auf sich?", fragte ich zwischendurch.

"Es ist kein sonderlich hoher Betrag, den Sie selbstverständlich bei der Abreise zurückerstattet bekommen. Sie können sich's nicht vorstellen, wie viele Leute beim Verlassen des Hotels vergessen, sich zu verabschieden und den Schlüssel abzugehen...", erklärte die ältere der Damen.

Als die Blonde mir zum Schluss den Schlüsselsatz überreichte, nahm ihn ihr die Brünette weg und gab dem Mädchen zurück.

"Nicht die", sagte sie auf Deutsch. "Gib dem Herrn die anderen".

Und nannte die Zimmernummer.

"Wieso?", fragte ich.

"Das Zimmer ist zum Hof hinaus. Dort ist es viel ruhiger. Da sind die Autos früh morgens nicht so laut".

Ich dachte, ich hätte ihre Zuneigung durch mein halbwegs korrektes Russisch gewonnen. Es war nicht das erste Mal in meinem Leben, als ich im Stillen meiner äußerst strengen Russischlehrerein und stellvertretenden Schuldirektorin insgeheim dankte. Sie vertrat und verwirkliche in der Schule die Devise die sich auf Russisch- und Deutschunterricht bezog, dass man die Sprachen der Freunde und Feinde gut beherrschen solle. Wie die Schüler es halt tun, provozierten wir sie, uns zu verraten, welche sie nun zu den Ersten und welche zu den Zweiten zählt, dazu schwieg sie jedoch beharrlich.

Die Schlüssel sollte ich immer bei mir tragen, bis zur Abreise. Der eine war für die Haupteingangstür, der zweite für die Tür meines Zimmers. Es war noch ein kleiner Schlüssel in dem Bund, für die Tür, die von der Straße ins Hotel führte. So konnte man das Hotel immer, wenn es einem danach war, verlassen und betreten. Einen klassischen Hotelempfang gab es hier nicht. Deswegen nannten die Inhaber „Isadora” eine Pension.





Ich machte das Autoradio an.


Ich war auf einigermaßen ruhige Musik aus. Heinz hatte einen Sender eingestellt, in dem viertelstündlich Nachrichten kamen, durchflochten von modernem Pop. Es war nicht gerade die Art Musik, auf die ich im Moment stand, abgesehen davon, dass ich mich auch sonst in diesen Tonkaskaden nicht besonders wohlfühlte. Je mehr Zeit verfloss, desto weiter war ich von den weltberühmten Pophits entfernt. Ich hatte weder Kraft noch Lust, die immer neuen Strömungen und Trends, die dem Hip-Hop entsprangen kennenzulernen und zu verfolgen. Ich drückte auf die Suchtaste und stieß nach einigen Versuchen auf die Frequenz, in welcher früher Radio RIAS – der Sender der amerikanischen Besatzungszone in Berlin sendete. Jetzt gehörte die Sendefrequenz dem Sender rs2. Ich vernahm Swing-Klänge, in der Art des Glenn-Miller-Orchesters. Das passte gut. Seit Heinz weg ist, sind erst zehn Minuten vergangen. Ich streckte mich auf dem Sitz aus, wobei mein elegantes Jackett etwas in Mitleidenschaft gezogen wurde und vergrub mich wieder in Erinnerungen. Besseres hatte ich ja soundso nicht zu tun.

Die Einladung, die mir Heinz 1983 schickte, war ein behördliches Dokument mit einem Stempel der polnischen Militärverbindungsmission in Westberlin. Es war so ein Papier, ohne welches man aus Volkspolen keine Privatreise in den Westen machen konnte. Indem er mich einlud, verpflichtete er sich, für sämtliche Kosten meines Berlinaufenthalts und für eventuelle Krankenleistungen aufzukommen. Nach einem viertägigen Kontakt in Warschau kannten wir uns kaum und siehe da - so ein Entgegenkommen. Es hat mich verblüfft. Er nahm es sicherlich in Kauf, dass ich im Westen bleiben will und dass diese Pflichtversprechen nur der Camouflage dienen und eine reine Formsache sind, aber er kam diesen Verpflichtungen recht lange sehr gewissenhaft nach. Er führte mich auch in seinen Bekanntenkreis ein, obwohl meine Deutschkenntnisse damals recht miserabel waren.

Er war ein angehender Journalist und Schriftsteller. Dadurch, dass er frei für Zeitungen schrieb, konnte er sich seiner wahren Leidenschaft hingeben – er verfasste formavantgardistische, einfache Botschaften vermittelnde Stücke. Sie erzählten überwiegend davon, dass die Menschen gut füreinander sein sollten und solidarisch gegen das Böse – wo es auch lauern mag – auftreten sollten. Leben konnte man zwar nicht davon, aber es gab einem das Gefühl, ein Künstler zu sein. Und mit dem Schreiben für die Presse verdiente er sich den Unterhalt. Mit der Zeit begann ihn der Journalismus mehr anzuziehen, als Literatur und Theater. Er verdiente besser und mietete sich eine Wohnung in einem besseren Viertel. Es war nicht mehr die verkommene Bude in Wedding für dreihundert Mark im Monat, die wir einst gemeinsam anmieteten, mit einem Gemeinschaftsklo auf halber Treppe und einer Bad-Attrappe in der Küchenecke und mit Fenstern, die sich noch an die Weimarer Republik und an die damals wehenden Winde erinnerte, sondern zwei renovierte Zimmer mit allen Attributen der Selbständigkeit. Er zog mit seiner Freundin Gabriele hin, die Schauspielern in seinem Alternativtheater war. Sie erinnerte mich vom Aussehen her, an Frauen aus der RAF. In dieser Zeit wurden unsere Kontakte lockerer, wir trafen uns aber weiterhin auf ein Bier oder in der Kantine der Redaktion der Zeitschrift „Das Leben”, wo er fester Mitarbeiter war. Ich konnte dort immer mit einer preiswerten Mittagsmahlzeit rechnen.

Wir waren beide voller Widersprüche. Wir empfanden Abneigung gegen den Moskauer Bolschewismus und gleichzeitig sympathisierten wir mit linken Bewegungen im Westen. Zuweilen besuchten wir zusammen lokale Versammlungen der Grünen. Normalerweise herrschte dort ein totales Chaos, der den Anschein direkter Demokratie machte. Die unendlichen Abstimmungen über die Korrekturen zu den Korrekturen zwecks Erarbeitung eines solchen Manifest- oder Aufruftextes, damit alle Fraktionen und Individuen zufriedengestellt werden, erinnerten mich ein wenig an die unabhängigen Studententreffen von 1981. Sie waren so anders, als die Appelle 'zu Ehren', die ich von früheren, offiziellen Meetings in Polen kannte, dass sie mir eine zeitlang sympathisch vorkamen. Aber nur sympathisch eben. Die Tatsache, dass innerhalb dieser Bewegung Schwulen- und Lesbenzirkel tätig waren, hinderte mich keinesfalls daran, jeden Sonntag die polnische Kirche zu besuchen, um die sich das politische und wirtschaftliche Leben des Emigranten aus Polen konzentrierte und blühte. Für Heinz stand es fest - ein Pole ist gleich Katholik. Er half mir sogar dabei, diesen Ort zu suchen. Dort traf ich auch Roman und so begann mein Kontakt mit „Zdanie”. In der Redaktion lernte ich Danka kennen, die sich zwar nicht mit Publizistik befasste, aber sich zuweilen an den von „Zdanie” organisierten Aktionen beteiligte.

Tief in den Sitz eingegraben, ordnete ich meine chaotischen Gedanken zu einer Ereigniskette, die einen Kreis schlug und mich wieder an diesen Ort brachte. Ich hörte plötzlich etwas hinter dem Auto klappern. Es war Heinz, der den Gepäckraum öffnete. Ich sah mich um.

"Komm, sieh dir das an", sagte er.

Ich schloss die Tür auf und ging hinters Auto. Heinz machte den Reisverschluss der mitgebrachten Tasche auf. Es waren Klamotten drin.

"Sie müssten dir passen", meinte er.





Der Abend sollte ganz anders ablaufen.


Zunächst der kleine Empfang in der Botschaft, dann ein Treffen im kleineren Kreise, wenn nicht in der Kneipe, dann nach polnischer Sitte, bei jemandem zuhause. Eher nicht bei Kornel, denn er sagte mir, er spendiere schon den Empfang, mehr könne er sich nicht leisten. Aber vielleicht bei Roman, bei dem ich trotz guter Beziehungen, nie gewesen war. Oder bei Edek Skulski, obzwar mir seine prekäre Lage bekannt war, so dass ich kaum damit rechnete. Oder vielleicht wollte sich der Herr Senator nachher mit alten Bekannten und Freunden treffen, die er so oft besuchte, um sich an die Zeiten des Kampfes zu erinnern und zu zeigen, wie erfolgreich man im freien Polen werden konnte? Keine dieser in der Botschaft erwogenen Varianten für einen angenehmen Abendausklang schien mir zwar reell, das war ja jetzt auch ohne Bedeutung. Anstatt mir Geschichten über das unglückliche Schicksal der Polen, Bezichtigungen für Verrat und Spionage, über Undankbarkeit dieses oder jenes Freundes, über die überheblichen Deutschen und böse Russen und ihre Machereien gegen die edlen Polen, saß ich mit Heinz in seinem Wagen und wir fuhren ins Unbekannte.

"Sagst du mir endlich wohin wir fahren?" Ich musste ihm einfach diese Frage stellen.

"Dorthin, wo dich niemand findet. Sag ich dir unterwegs", antwortete Heinz und schloss die Tür.

Ehrlich gesagt, am meisten hoffte ich, dass ich diesen Abend zusammen mit Danka beende. Nach der ersten Begegnung, die überraschend, turbulent und bitter war, hatte ich den Eindruck, dass sie irgendein schreckliches Geheimnis in sich trägt, das sie niemandem preisgeben will. Das ließ mir seit zwei Tagen keine Ruhe.

Danka war an und für sich ein geschlossenes Kapitel meines Lebens. Schmerzhaft zugeschlagen, was in der Seele hässliche Narben hinterließ. Die verrinnende Zeit und das Leben weitab von Berlin, machten, dass ich sie mir selten und mit immer größerer Verwunderung ansah. Als hätte ich vergessen, woher sie kamen. Ich nahm an, dass unsere Begegnung wie ein Gespräch zweier Erwachsener aussehen wird, die in ihrer Kindheit unschuldige Küsse austauschten und glaubten, dass sie für immer zusammenbleiben und die jetzt über diese Erinnerungen lachen.

Es kam jedoch anders. Als ich sie sah, hörte es auf, zu schmerzen, dass sie mich einst verließ. Da war keine billige Sentimentalität drin. Ich würde mich nicht trauen, zu behaupten, dass ich mich wieder verliebt fühlte, ich weiß ja nicht einmal, ob wir einander je geliebt haben. Vielleicht haben wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz einfach aneinandergeschmiegt, weil wir nebeneinander waren, als um uns ein Gewitter tobte. Wir verharrten so ineinander verflochten, durch die Angst miteinander verbunden, bis die Gefahr vorbei war und bis die Beschämung kam. Auf jeden Fall wachte in mir bei ihrem Anblick dieses Etwas auf, was in den Beziehungen zwischen Mann und Frau etwas mehr, als übliche Freundschaft und noch keine Liebe ist.

Wir verabredeten uns telefonisch in der Stadt, in einem kleinen Café in der Nähe der U-Bahn-Station Kleistpark. Ich kam, wie üblich, früher zum Treffort. Hinter einer Platane versteckt, konnte ich beobachten, wie sie von der U-Bahn-Station kommt. Sie war einige Monate älter als ich, also bereits über fünfzig. Ich wäre ein Heuchler, wenn ich behauptete, sie sähe jung aus. Sie hat jedoch ihre schlanke Figur behalten und durch ihr exotisches Aussehen, das sie von ihren karaimischen Vorfahren seitens der Mutter geerbt hat, hätte sie für eine Italienerin oder eine untypische Türkin gehalten werden können, was übrigens recht häufig der Fall war. Sie sah in ihrem lockeren, wadenlangen, geblümten Kleid, wie vom türkischen Basar, mit den schwarzen Schnürschuhen und der schwarzen Jeansjacke recht attraktiv aus. Den Gesamteindruck ergänzte die rabenschwarze, zweifelsohne gefärbte Haarpracht. Ich verließ mein Versteck.

"Grüß dich, da bin ich", sagte ich.

Als sie lächelte, sah ich die vielen Fältchen um ihren Mund und um die Augen.

"Grüß dich, Kuba!", erwiderte sie und zeigte beim Lächeln gesunde Zähne. Sie streckte mir ihre Hand entgegen und initiierte die Doppelkusszeremonie auf die Wangen.

"Du siehst phantastisch aus", sagte ich ehrlich.

"Danke", sagte sie mit einem traurigen Lächeln. "Aber... Mit dir steht es auch nicht am Schlechtesten. Gehen wir rein oder wollen wir lieber spazieren?", fügte sie sofort hinzu und übergab die Initiative mir.

Ich schlug für den Anfang einen kurzen Spaziergang vor, was wenig sinnvoll war, aber sie schlug, ohne zu protestieren, die von mir gewählte Richtung ein. Ich konnte mich nicht entscheiden, wie ich sie ansprechen soll: Dana? Danka? Danusia? Jede Fassung ihres Vornamens schien mir im Moment unangebracht. Ich wusste auch nicht, womit ich anfangen soll, damit es nicht blöd aussieht.

"Ich hätte wirklich nie gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen. Und du?" - quälte ich mir endlich die schmerzhaft banale Frage ab.

"Gedacht habe ich es nicht. Aber ich hielt es nicht für unwahrscheinlich. Die Welt ist doch nicht so groß", antwortete sie nüchtern.

Ich fügte noch hinzu, dass ich mich sehr freue, sie getroffen zu haben. Dass sich in den letzten Jahren so viel verändert habe, dass Berlin wie immer faszinierend und sie genauso, wie diese Stadt sei: rätselhaft und schön, insbesondere im Mai.

"Na, da hast du aber gewaltig übertrieben, du Schmeichler" - sie tat, als ob sie mir eine Rüge erteile.

Wir blieben stehen und kehrten wortlos, im vollen einvernehmen Richtung Café um.





Heinz verließ den Prenzlauer Berg...


...und vertiefte sich in Ostberlin, das mir – obzwar ich es kaum kannte, denn auch nach der Wende schaute ich hier selten vorbei – mir komischerweise immer wohlbekannt vorkam. Diese für viele Familien gebauten Großplattenbauten, Straßenbahnen, die es im westlichen Teil nicht gibt, neu bebaute breite Straßen und die sozialrealistische Bauweise. Das alles erinnerte so sehr an Warschau, dass ich mich wie in Polen fühlen konnte. Die Bebauung der Landsberger Strasse erinnerte total an den Warschauer Stadtteil Muranów, nur war das Maßstab etwas größer.

"Das ist die einstige Lenin-Allee", erklärte Heinz.

"Willst du mich hier verstecken?", fragte ich.

Er schwieg eine Sekunde.

"Wir fahren vierzig Kilometer nördlich von Berlin", begann er sachlich auszuführen. "Ich muss aber noch einmal anhalten. Bei dieser Gelegenheit werde ich etwas einkaufen. Kannst du mir deine Hotelschlüssel geben?"

Die Frage verblüffte mich.

"Die Schlüssel? Aber wozu?", fragte ich.

"Kann ich dir vorerst nicht sagen. Gib sie mir und basta. Es ist sehr wichtig."

"Vertrauen, ja?"

Er nickte und streckte die Hand aus. Ich wühlte in meiner Jackentasche und kramte das metallene Bündel hervor. Ich reichte es ihm zögernd, womit ich ausdrücken wollte, ich zeigte es ihm auch durch meinen Blick, dass das nicht selbstverständlich, sondern allenfalls bedingt ist. Heinz fuhr zum Parkplatz vor einem Lebensmittelmarkt und verschwand wieder.

Die Schlüssel hätte ich ihm ganz bestimmt nicht anvertraut, wenn ich zwei Tage zuvor daran geglaubt hätte, was mir Roman über Heinz erzählte. Ich würde die Tür zuknallen und zur nächsten U-Bahn-Station laufen. Ich tat es aber nicht.

"Erinnerst du dich noch daran, wie Heinz zu uns, in die Redaktion von „Zdanie” kam? Mindestens einmal im Jahr. Er fragte uns genau aus, was bei uns so los ist, was letztens passierte, welche Pläne wir haben und so?", fragte mich Roman. "Und kannst du dich entsinnen, ob er diese Infos wenigstens einmal für einen Artikel verwendete?"

"An ein Mal erinnere ich mich", antwortete ich ehrlich.

"Höchstens ein Mal", stimmte mir Roman zu. "In irgendeiner Notiz. So war es auch mit unserem Flüchtlingsverein. Er kam, stellte Fragen, machte Notizen und Fotos und es geschah nichts. Nichts davon wurde veröffentlicht. Ist das nicht merkwürdig?"

"Vielleicht recherchierte er nur? Wenn in unserer Redaktion oder in eurem Sitz eines Tages eine Bombe explodieren würde, hätte er fertiges Infomaterial. Erfahrene Journalisten tun so was oft."

"Vielleicht wurde er von jemandem beauftragt?", Roman warf eine Idee ein, die, als ich darüber nachdachte, für mich nicht annehmbar war, obwohl sie auch nicht absolut unwahrscheinlich war.

Ich wollte sie nicht weiterspinnen. Ich war der Meinung, Roman redet Unsinn. Er beschäftigte sich nicht mit Schreiben, so waren ihm journalistische Schreibregeln und Arbeitsweise völlig fremd. Bei „Zdanie” sorgte er für die technische Seite der Redaktion – für Schreibmaschinen, Telefone, Computer, er machte auch den Computersatz der Zeitschrift für die Druckerei und beaufsichtigte das Druckverfahren. Er wusste und konnte viel und war in vielen Sachen unersetzlich. Er kannte sich nicht nur in technischen Fragen und in Chemie aus, er hatte auch viel Ahnung von Geographie und Politik. Aber in Bezug auf Heinz wurde er paranoid. Einen Beweis dafür lieferte er einen Augenblick später, als er von den angeblich anrüchigen Kontakten Kornels zu reden begann.

"Ich kann mich noch an seine geheimnisvollen Telefonate erinnern, mal englisch, mal russisch. Manchmal telefonierte er auch nachts. Warum gerade nachts und warum holte er mich da in die Redaktion? Weil er zum Beispiel mit Washington sprechen musste. Und ich konnte damals fast kein Wort englisch.

"Vielleicht hat er Gelder für unsere Tätigkeit besorgt?", äußerte ich eine Annahme, die für mich eigentlich mit Sicherheit gleichsetzbar war.

"Von der CIA?", fragte er vorwurfsvoll. "Von der KGB? Vom Mossad? Von einem anderen Geheimdienst? Weißt du, dass er 1980 mehrere Monate in den Staaten verbrachte? Er hat nie erzählt, was er da gemacht hat.

"Ich weiß nicht, woher er das Geld bekam", sagte ich, obwohl ich einige Quellen kannte. "Ich habe mich nicht dafür interessiert. Hauptsache, es war da. Wir haben beide unseren Lebenshalt davon bestritten. Und so manch anderer auch.

"Stimmt, hier in Berlin und auch Polen. Ich weiß noch, irgendwelche Kuriere aus Polen kamen hierher, nahmen illegale Schriften und Geld mit und keiner sah sie danach, weder hier, noch in Polen. Davon hat sogar selbst Kornel erzählt.

"Hör auf. Das war nur ein paar Mal so. Vielleicht waren es Agenten."

"Soso, die zunächst spendeten und dann wegnahmen?"

"Die einen spendeten, die anderen nahmen es entgegen und wir waren lediglich Vermittler", entgegnete ich und versuchte Jux daraus zu machen.

"Du musst aber zugeben, dass wir nicht wissen, wer Kornel damals wirklich war", fuhr er fort. "Jeder normale Pole würde längst bei dieser Arbeit umkippen und sie in die Ecke werfen. Du weißt ja, wie oft wir am Ende waren. An der Existenzgrenze. Er nicht. Er erlitt keine Zusammenbrüche und fand immer einen Ausweg. Als würde ihn jemand dazu zwingen. Als würde er eine Aufgabe erfüllen, die abgerechnet werden muss und als ob er keine Möglichkeit hätte, darauf zu verzichten.

Die Gedankengänge Romans schienen mir so absurd, dass ich sie für eine Fiktion, ein Fabelspiel und harmlose Narretei hielt. Jetzt musste ich mir selbst beweisen, dass ich diese Verdächtigungen nicht ernst nahm. Deswegen machte ich widerstandslos alles, was Heinz mir vorschlug, obwohl ich keine Ahnung hatte, was er plant.





Als Heinz sich entfernte, stellte...


...ich wieder ruhige Musik ein und begann den Abend mit Danka nachzuvollziehen. Sie erzählte mir, dass sie nach der Trennung von Roman irgendeinen Deutschen heiratete. Sie sagte mir nur, er hieße Christian und sie haben eine fast siebzehnjährige Tochter zusammen. Susanne, die Tochter, wohnt jetzt weder mit ihr, noch mit ihrem Vater, sondern in Kreuzberg, zusammen mit ihrem Freund, der aus der Türkei stammt. Von Christian wusste ich schon, denn sie heiratete ihn kurz vor meiner Rückkehr nach Polen. Darüber, wie diese Beziehung endete, hatte ich keine Ahnung.

"Ich konnte sie nicht festhalten. Sie blieb bei mir, bis sie dreizehn wurde. Dann zog sie zu ihrem Vater", berichtete sie kurz. Sie wollte es und ich war einverstanden. Ich wollte nicht, dass die Sache vor Gericht kommt. Ich habe auch damit gerechnet, dass sie schnell zu mir zurückkommt. Aber ich hatte mich verrechnet. Sie hielt es bei ihm ganze drei Jahre aus, die gesamte Hauptschule. Danach zog sie mit diesem älteren Jungen zusammen. Er scheint einen guten Einfluss auf sie zu haben, denn seitdem sie mit ihm zusammen ist, treffen wir uns wieder. Sie ist nicht mehr so aufmüpfig.

"Und was ist mit deiner Ehe?", fragte ich, als sie nachdenklich wurde.

"Mit Christian war ich fünf Jahre zusammen", begann sie widerwillig zu berichten. "Dann war es aber sinnlos, diese Beziehung fortzusetzen. Wir hatten uns gegenseitig bewundert, oder vielleicht waren wir auch voneinander fasziniert. Abgesehen von allem war er ein begabter Mensch. Das ist aber zu wenig für die Liebe und eine gelungene Beziehung. Außerdem brauchte er immer wieder zufälligen Sex mit unbekannten Frauen. Das hielt ich auf die Dauer nicht aus."

"Bis du jetzt mit jemandem zusammen?", fragte ich, als wir beim Kaffee und einem Schoppen halbtrockenen Wein auf den hohen Hockern an der Theke saßen.

Es gefiel mir schon immer, dass die in Berlin auch in kleinsten Cafés wissen, welche Temperatur jede servierte Weinsorte haben muss.

Die Frage war sehr direkt, ich hatte irgendwie den Eindruck, sie zu früh gestellt zu haben.

"Mit niemandem ernsthaft", antwortete sie wie immer unumwunden, ohne zu nuancieren und ohne tausend Vorbehalte. "Und du?"

Ich fühlte, dass sie das nur der Symmetrie halber fragte.

"Ich habe es dreimal versucht. Aber ich brachte es nie fertig, eine Beziehung aufrechterhalten".

"Hast du nicht geheiratet?"

"Es kam nicht einmal zu einer Verlobung", erklärte ich, die Schuld ein wenig jemand anderem zuschiebend, aber nur, um mich nicht weiter in dieses Thema vertiefen zu müssen.

"Wie immer. Ein Mann, der sich davor fürchtet, zu hoch zu steigen, um nicht zu fallen und sch wehzutun. Rückversicherer."

"So gut kennst du mich? Vielleicht habe ich mich geändert?"

Ich griff plötzlich ihre Hand und hielt sie in meinen Händen fest.

"Was tust du da, Kuba?", fragte sie maßregelnd. Sie zog aber ihre Hand nicht hasti weg, sie befreite sie ganz sanft aus der meinen.

Ich musste schnell eine Rechtfertigung finden.

"Weißt du, wie man so was nennt?", fragte ich nach meiner Art.

"Sag es mir".

"Das nennt man Aufwärmung von Erinnerungen".

"Na eben", sagte sie lebhaft. "Und ich bin, mache es dir klar, keine Erinnerung, sondern eine reelle, nicht mehr ganz junge, verbitterte Frau. Du kannst dir jüngere leisten", fügte sie unverhofft hinzu.

"Eine reife Frau eben", wandte ich ein.

Ich glaubte, in ihrem Blick Dankbarkeit bemerkt zu haben.

Nachdem wir das Café verließen, schlenderten wir noch ein Stündchen im Kleistpark und durch die Straßen in Schöneberg. Sie warf mir Brocken aus ihrem jetzigen Leben zu: dass sie ein bisschen übersetzt, an Durchführung von sozialen Projekten verdient, gelegentlich in einem Verein arbeitet. Ich erzählte ihr, dass ich immer noch schreibe, dass ich eine eigene Kulturrubrik leite und dass ich mich mehr der Vergangenheit, als der Gegenwart widme... Banalitäten eben. Wir haben geschickt das Thema unserer Trennung vermieden auch das, dass sie mich verließ, um sich später mit Roman zu liieren, als wäre es ein Tabu. Wir liefen dicht aneinander, fassten uns an, berührten zufällig, bis sie sich plötzlich bei mir einhakte. Innerlich fühlte ich, als wären wir wieder dreißig.

So, ich gehe jetzt heim, von hier ist es nicht weit bis zu deinem Hotel und zu meiner U-Bahn auch nicht", sagte sie nach einer Weile.

"Ich bringe dich noch hin, erwiderte ich.

Sie hatte nichts dagegen. Wir waren in der Nähe der Station Bayerischer Platz, als es zu regnen begann. Eigentlich hätten wir jeder in seine Richtung fahren können, aber ihre Bahn kam zuerst. Also stieg ich mit ihr ein. Wir stiegen am Mehringdamm aus. Es war typischer Mai-Sprühregen. In Kreuzberg regnete es fast gar nicht.

"Weißt du noch?", fragte ich.

Sie nickte gleich zweimal. Einige hundert Meter von hier haben wir in den Achtzigern eine Wohnung angemietet.

"Und du solltest wissen", sagte sie "dass nichts zweimal geschieht".

Wir standen vor ihrem Haus. Wir waren kein Pärchen um die zwanzig, wie in den Achtzigern, als wir uns kennenlernten, sondern Fünfzigjährige, die nicht mehr verlegen vor der Tür stehen und überlegen, ob sie auf einen Tee reinschauen oder ob es aufgeräumt ist.

Wir gingen hinein.

Wir taten die ganze Zeit als ob. Wir spielten ein Spiel mit- und gegeneinander. Wir umarmten uns fest, als würden wir uns erst jetzt begrüßen. Die Umarmung dauerte zu lange. Normale Worte fielen: Kaffee oder Tee oder vielleicht lieber doch etwas Kaltes, ist Wein im Hause, nein Wein vielleicht doch nicht, es reicht Wasser oder Saft. In der Wohnung, voller recht verschlissener aber sichtlich nicht zufälliger Möbel und Sachen, die von Haushaltsauflösungen oder vom Gartenausverkauf stammten, herrschte Ordnung. Vielleicht setzt du dich, ich hole etwas. Ich setzte mich, dann stand ich auf. Ich trank drei Schlucke und wir begannen uns zu küssen.

"Bild' dir ja nichts ein", warnte sie mich.

Wenigstens jetzt war sie im Unrecht. Es gab in diesem Spiel keine Explosion der neu entdeckten Liebe, es war eine riesengroße Manipulation der Phantasie. Wir kuschelten uns an die Erinnerungen, an die in unseren Körpern gefangenen Geister der Vergangenheit. Wir suchten in uns diejenigen, die wir vor Jahren waren, als wir uns liebten oder zumindest zu lieben glaubten. Damals haben wir in dem fremden, tobenden Meer ein kleines, zerbrechliches Asyl für uns gefunden, in dem wir menschliche Gefühle retten wollten. Wir wollten, dass es die damaligen biegsamen Körper, die damaligen Bewegungen und Berührungen sind, die wir heute neu entdeckt haben. Wir machten uns vor, es sei ein Traum aus Erinnerungen.

Sie saß mit angezogenen Beinen am Sofarand, versteckte ihre Brust hinter verschränkten Händen, auf ihrem Rücken zeichneten sich einzelne Wirbel ab. Wir waren in der Realität.

"Gehst du jetzt?", fragte sie.

Ich reagierte nicht.

"Denkst du, die Vergangenheit ließe sich irgendwie reparieren?" Es war die erste Frage, die mir nach dem Schluck Wasser einfiel.

Sie schüttelte energisch den Kopf.

"Unsere Vergangenheit...", sie überlegte eine Weile. "Unsere Vergangenheit ist vergiftet."

"Es muss doch nicht so sein", versuchte ich zu widersprechen.

Sie schob ihre Finger in die Haare und versteckte ihr Gesicht.

"Sie ist vergiftet. Vergiftet sind die Worte, Bilder, Ereignisse. Und die Menschen auch. Wir sind vergiftet. Da lässt sich nichts Gesundes darauf aufbauen.

Ich legte meine Hand auf ihren nackten, feuchten, mit unzähligen Sommersprossen gesprenkelten Rücken.

"Geh schon", sagte sie.

"Ging etwas schief?", fragte ich.

'Wonach fragst du?", explodierte sie. "Nach meinem Leben? Ja, in meinem Leben ging alles schief."

"Nicht danach."

Sie wickelte sich in die Decke ein.

"Willst du das hören, bevor du gehst? Gut, dann sag' ich's dir. Du bist lieb und zärtlich. Du warst schon immer so und ich weiß wirklich nicht, warum du nicht glücklich verheiratet bist und warum du keine Kinder hast. Glaube mir, Männer wie dich gibt es nicht viele. Und jetzt zieh dich an und geh. Es ist alles in Ordnung.

"Vielleicht hast du recht. Vielleicht hat mich die Vergangenheit vergiftet und vielleicht ist es so, dass wenn ich Gefühle ausdrücken soll, Gift zu spritzen beginne. Sogar auf diejenigen, die ich liebe. Vielleicht hält es deswegen keiner mit mir lange aus." Ich ignorierte alle ihre Versuche, mich zum Teufel zu jagen und setzte das Gespräch, auf das sie absolut keinen Bock hatte, fort.

"Kuba, lass mich in Ruhe". In ihrer Stimme war der Hauch einer Bitte zu hören.

"Ich glaube nicht an auswegslose Situationen", sagte ich beim Ankleiden. "Denkst du, es gibt kein Gegengift dagegen? Dass nichts zu retten ist, das wir nicht von Vorn beginnen können?"

Sie mied es beharrlich, mich anzusehen. Auf einmal sagte sie heftig:

"Ich will diese Metapher nicht weiterspinnen, ich will nicht denken, ich will nicht leiden. Ich will dich nicht verletzen. Geh, bevor es noch schwieriger wird."





Heinz klopfte an die Scheibe...


...und unterbrach meine Grübelei. Er zeigte mir die Tasche mit den Einkäufen. Ich machte ihm die Hintertür auf, er warf die Tasche auf den Rücksitz, stieg ein, zündete den Motor an und sagte entschieden:

"Jetzt geht's geradewegs zum Ziel".

Und er verließ schnell den Parkplatz.

"Heinz, erkläre mir Eines. Warum tust du das alles? Machst du einen interessanten Artikel daraus oder geht es dir mehr um die deutsch-polnische Versöhnung?", fragte ich, als wir uns dem Verkehr anschlossen. Meine Stichelei maskierte ich mit leidenschaftslosem Ton.

Die Frage brachte ihn auf die Palme.

"Nur um deinen gefährdeten Hintern zu retten. Reicht das?", entgegnete er nicht allzu freundlich.

Ich war ebenfalls gereizt. Und resigniert. Und ich vertraute ihm immer weniger.

Er fuhr von der nach Osten führenden Allee runter und bog links ab. Er passierte einige Querstraßen und fuhr dann auf die Nordachse. Kurz danach, als wir in der Berliner Allee einen See passierten, las ich auf einem Straßenschild, dass wir nach Eberswalde fahren.

Je weiter wir uns im Dunkel vertieften und die Stadtbebauung aus den Augen verloren, desto schmerzhafter und beunruhigender wurde der Verlust des festen Bodens unter den Füßen. Ich fühlte, dass ich untergehe. Ich wollte noch einmal an die Oberfläche, Luft schnappen, den letzten Anker werfen. Ich griff nach dem Telefon.

"Was tust du da?', fragte Heinz, der mich beobachtete.

"Ich will anrufen", sagte ich trocken.

"Wen?"

" Danka", entgegnete ich im gleichen Tonfall.

Er streckte die Hand aus und legte sie aufs Handy.

"Ich würde es an deiner Stelle nicht tun", sagte er.

"Weil?"

Ich schob das Telefon weiter rechts, damit er nicht rankam und begann, die Kontaktliste zu checken. Viele waren es nicht. In den paar tagen sind es etwa zwölf geworden. Bei der Nummer von Danka habe ich die Taste "verbinden" gedrückt.

"Kuba, tu das nicht!", sagte Heinz scharf. "Hör mir lieber erstmal zu", fügte er milder hinzu.

Ich folgte seinem Wunsch. Die Verbindung kam nicht zustande.

"Ich bin ganz Gehör", sagte ich mit übertriebener Höflichkeit.

Es dauerte, bis er sich sammelte.

"Dass du hier bist, ist deine Wahl", sagte er mit einer Stimme, die er sicherlich auch im Radio spricht. "Dass du mir vertraut hast, ist ebenfalls deine Wahl. Dass ich diese Aktion in Kauf genommen habe, ist meine Wahl. Ich weiß aber nicht, wie sie endet. Für dich und für mich. Das ist fair. Wenn ich dich bitte, nicht anzurufen, habe ich meine Gründe dafür. Du musst sie nicht teilen."

"Vertrauen?"

"Auch, aber ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, deswegen nenne ich sie nicht".

"Dann sag' sie mir, verdammt, dann sind wir uns halt beide nicht hundertprozentig sicher."

Er überlegte eine Weile.

"Ich glaube, du lässt mir keine Wahl. Es geht um Danka", brach es endlich aus ihm heraus.

"Das weiß ich ja inzwischen. Du willst nicht, dass ich sie anrufe."

"Es geht darum, dass Danka eine Stasiagentin gewesen sein kann…"

Ich fühlte das Blut in mir aufwallen. In meinem Gehirn begann es zu kribbeln.

"Was?". Ich war perplex. "Heinz, was ist denn das für eine scheußliche, nicht hundertprozentige Wahrheit?!"

"Beruhige dich doch. Ich sagte ja, dass sie es gewesen sein kann. Denkbar wäre es. Sicher bin ich mir dessen erst in ein paar Tagen, vielleicht morgen schon. Deswegen wollte ich dir nichts darüber sagen. Ich bitte dich nur um die eine Sache: Rufe niemanden an, sage niemandem, wo du bist und was mit dir los ist."

Emotional war ich mit ihm nicht einverstanden, aber mein Verstand arbeitete unabhängig, autark.

"Und wenn sie anruft?"

"Dann hebst du nicht ab. Mach das Handy am besten ganz aus."

Er verlangte zu viel von mir.

"Und wenn jemand anders anruft? Zum Beispiel Roman?"

Er antwortete nicht sofort.

"Als Danka mit Roman Fedryna verheiratet war, wusste die Stasi immer über alles Bescheid, was seinen Verein der Politischen Flüchtlinge anbetraf."

"Die Stasi interessierte sich dafür?" Ich glaubte ihm nicht ganz. "Roman hat mir nie etwas davon erzählt."

"Ich glaube, du hast keinen blassen Schimmer davon, wofür alles sich die Stasi interessierte. Manchmal wussten sie mehr über polnische Emigranten, als euer Sicherheitsdienst. Romans Verein konnte ihnen gefährlich werden. Sie wollten die Kontrolle darüber behalten und sichergehen, dass er nicht in Ostberlin zu agitieren beginnt. Sie mussten wissen, was da los ist.

Und sie erfuhren es von Danka, ja? Nicht von jemand anders?"

"Ich sag ja, dass ich mir nicht sicher bin. Aber vieles weist darauf hin."

"Zum Beispiel?"

Er konnte mir kein Beispiel nennen.

"Der Tod von Topolski, gerade zu dem Zeitpunkt..." Er wollte anscheinend das Thema wechseln. "Das ist merkwürdig. Hat er etwas geäußert, was mit diesem Mord zu tun haben könnte?"

Ich hatte den Eindruck, als wolle er mich verhören.

"Sag du mir lieber zuerst, wie er verlief, wie es geschah?", ich war nun der Verhörende.

"Wenn es sich um einen Film handeln würde, würde ich sagen – banal. Der Mörder kann gut sein Bekannter gewesen sein, weil es aussieht, als Topolski ihm die Tür selbst öffnete. Andererseits würde ein Bekannter nicht gleich an der Tür schießen. Er hätte ja reingehen können. Topolski bekam zwei Nahschüsse, einen in den Kopf, den anderen ins Herz. Beide waren tödlich. Das war ein professioneller Killer. Er schleppte die Leiche ins Wohnzimmer, setzte sie in den Sessel und ging.

"Wurde etwas gestohlen?"

"Schwalbes Leute versuchen Einzelheiten zu klären. Das Haus wurde jedenfalls nicht geplündert."

"Warst du dort?"

"Nein. Ich weiß so viel, wie viel mir einer der Polizisten sagte."

"Und wie hat die Polizei davon erfahren?"

"Vom jungen Topolski. Er kam am Nachmittag, er wollte mit ihm zur Botschaft."

"Stimmt. Am Vorabend war Kornel allein", bestätigte ich. "Zumindest als ich wegging."

"Vielleicht hat der Mörder irgendwo am Haus gelauert und euch beobachtet. Als du weggingst, klingelte er an der Tür. Topolski dachte, du hättest etwas vergessen und öffnete, ohne nachzufragen. Und wurde überrascht.

"So kann es gewesen sein", gab ich zu.

Die Sache bedrückte mich immer mehr. Abel viel schwieriger war das zu bewältigen, was Heinz über Danka erzählte.





Wir fuhren zwischen den Autos...


...die Berlin verließen, der Verkehr wurde immer schwächer, die Häuser immer seltener und das Grün immer dichter. Ich fühle Hunger aufkommen.

"Fahren wir noch lange?", fragte ich.

"Noch eine halbe Stunde, höchstens vierzig Minuten", antwortete Heinz.

Und er schwieg weiter. Es vergingen weitere drei Minuten. Ich ertrug sein Schweigen immer schlechter.

"Ich hätte doch etwas merken müssen", sagte ich.

"Wie denn?"

"Ich habe zwei Jahre mit ihr gewohnt. Ich hätte etwas merken, Verdacht schöpfen müssen."

"Soso."

"Wir haben ganze Tage miteinander verbracht. Und Nächte, wenn ich genau sein will. Kann man sich denn so tarnen?"

"Wenn du keine Ahnung über Spionagearbeit hast, versuche kein Experte darin zu sein."

"Du scheinst ja Ahnung zu haben", spöttelte ich.

Anstatt zu antworten, machte er das Fach auf, worin zusammengerolltes Schreibmaschinenpapier lag.

"Schau' dir's an", ordnete er an.

"Was ist das?", fragte ich und glättete die bedruckten Blätter.

"Lies es."

Auf der ersten Seite sah ich irgendeine Liste mit Daten. Ich blätterte weiter. Es wurde düster, ich konnte nicht mehr so gut sehen. Ich brauchte mehrere Minuten, um zu merken, dass es Berichte von Stasioffizieren waren. Ich schaute auf.

"Ich arbeite seit fünf Jahren daran", erklärte Heinz, bevor ich etwas sagen konnte.

Ich hatte eine Menge Fragen: Woher hast du das? Wie bist du da rangekommen? Wer hat dir geholfen? Wie hast du sie zum Sprechen überredet? Ich hatte aber keinen Bock, sie zu stellen. Nicht in diesem Moment. Es wurde mir klar, dass er, wenn er seit fünf Jahren an einem Thema arbeitete, nicht nur die Arbeitsweise der Geheimpolizei kennt, sondern auch in diesen Kreisen steckt und viele Bekannte hat, die wiederum viele Bekannte haben.

"Warum habt ihr euch getrennt?" Heinz unterbrach wieder meinen Gedankenzug.

"Du meinst Danka und mich?", vergewisserte ich mich.

"Davon sprechen wir doch."

"Habe ich dir das nicht erzählt?"

"Doch. Eines Frühlingsabends, oder besser, eines recht späten Frühlingsabends, warst du so nett, bei mir vorbeizuschauen und mir zu erklären, dass mit Danka Schluss sei. Ich sagte, wenn du schon da bist, solltest du dich vielleicht hinsetzten und erzählen, was sich ereignet hat. Du sagtest darauf hin, dass es da nichts zu erzählen gäbe, sie sei weg und fertig. Ich fragte, ob du etwas trinken willst, du wolltest. Mein Abend mit Gabi war dahin, obzwar nicht definitiv, denn kurz nach Mitternacht bist du auf der Couch eingeschlafen. Gabi hat dich zutiefst bedauert, sie hat dich sogar zugedeckt, damit du nicht frierst. Das Thema hast du nie wieder aufgegriffen. Ich, feinfühlig, wie ich bin, auch nicht.

"Entschuldige."

"Hör auf. Es liegt ein Viertel Jahrhundert dazwischen. Worum ging es damals?

"Das weiß ich bis heute nicht. Zunächst dachte ich, mit mir stimme was nicht. Dann dachte ich, dass ich sie zu sehr zu einer Kirchentrauung bedrängt habe, denn, das weißt du ja, sie hatte es damals nicht so sehr mit dem Glauben. Es ist vermutlich auch heute noch so. Nicht, dass ich irgendwie fest am Altar klammerte, es war eher Brauch... Tradition, ich wollte es halt. Da dachte ich eben, dass sie Angst davor hat, sich für das ganze Leben an mich zu binden.

"Ach, ihr polnischen Katholiken. Dass ihr alles so verkomplizieren müsst. Aber wenn ihr euch liebtet..."

"Dessen bin ich mir nicht mehr sicher. Wir standen uns nahe, aber vielleicht doch nicht so sehr. Wenn wir uns wirklich lieben würden... Und du, warum hast du dich von Gabi getrennt?"

"Ganz einfach. Sie eröffnete mir eines Tages, dass Berlin eine schreckliche Stadt sei und ging in ihr geliebtes München zurück, und ich konnte mir ein Leben in Bayern kaum vorstellen. Ich kann ja nicht einmal deren Sprache richtig verstehen.

"So ratzfatz und fertig?"

"Was dachtest du denn? Ich weiß, dass ihr gleich ein Drama daraus machen müsst, eine Wunde muss her und tiefste Trauer. Warum es nicht einfacher halten?

"So ein Zyniker, den du mir hier vormachst, bist du nicht. Und ich bin mir nicht sicher, dass es so war, wie du's sagst. Aber es ist etwas dran, an dem, was du sagst. Eine Wunde, lebenslang."

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739406817
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Mauer Freundschaft West-Berlin Verrat Krimi Verbrechen Liebe Aktion Geheimdienst

Autor

  • Zbigniew Zbikowski (Autor:in)

Ein Absolvent der Fakultät für Mathematik, Physik und Chemie (Universität Opole). 1976 debütierte er als Schriftsteller. Seit 1978 arbeitete er als Journalist. In den 1980er Jahren in West-Berlin in der Zeitschrift "Pogląd"/„Meinung”. Er hat drei Romane über deutsche Themen veröffentlicht: „Berlin Blue” (2012, 2015, 2016), „Transprussia” (2013), „Berlin Indigo” (2015). 2015 war er mit dem Roman „Transprussia” unter den polnischen Finalisten des "Europäischen Preises für Literatur".
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Titel: Berlin Blue