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Tod im Schatten der Tower Bridge

John Mackenzies vierter Fall

von Emma Goodwyn (Autor:in)
232 Seiten
Reihe: John Mackenzie, Band 4

Zusammenfassung

Lahmgelegt durch einen Kreuzbandriss versinkt Beefeater John Mackenzie in Langeweile. Aus dieser wird er jedoch jäh herausgerissen, als eine junge Frau in Sichtweite des Towers auf einem Themseschiff stirbt. War es ein Unfall oder Mord? Die Ermittlungen führen John und seine Nichte Renie tief in die Welt von Shakespeare und zu den Geheimnissen der Lebensader Londons – der Themse.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Im Gegensatz zu den Schauplätzen

sind alle Personen und Ereignisse der Handlung rein fiktiv, mögliche Ähnlichkeiten zu echten Personen und Geschehnissen keinesfalls beabsichtigt.

 

 

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Besuchen Sie die Autorin unter

www.emma-goodwyn.com!

 

 

Copyright Text und graphische Gestaltung

Emma Goodwyn

c/o Hartmut Albert Fahrner

Am Tannenburganger 36

84028 Landshut

 

Kontakt: emma@emma-goodwyn.com

 

Veröffentlichungsdatum: 28. Juni 2014

 

Alle Rechte vorbehalten

(V4.1)


Prolog

 

Anne Boleyn saß aufrecht unter dem Baldachin ihrer prunkvoll geschmückten Barke und strich sich mit einem Lächeln über den runder werdenden Bauch, in dem die künftige Königin Elizabeth I. heranwuchs. Ihr goldgewirktes Kleid leuchtete in der Sonne. An diesem Frühsommertag des Jahres 1533 wurde die Themse zur Bühne eines wahrhaft royalen Spektakels.

 

Jahrelang hatte der Tudorkönig Henry VIII hartnäckig um Anne geworben. Schließlich hatte er um ihretwillen nicht nur seine Ehe mit Katharina von Aragon annullieren lassen, sondern auch mit der römischen Kirche gebrochen und sich selbst als Oberhaupt der neu gegründeten anglikanischen Kirche installiert. Nun sollten Gott und die Welt bei diesem Triumphzug sehen, wen der Herrscher erwählt hatte, Englands neue Königin zu sein.

Hunderte von Schiffen geleiteten Anne auf dem Weg zu ihrer Krönung vom Palast in Greenwich in das Herz der Stadt. Die einflussreichen Gilden der Stadt, allen voran die Händler von Tuchen und Pelzen, die Goldschmiede, Fisch- und Gewürzhändler hatten sich einen Wettstreit geliefert, wer sein Boot am prachtvollsten ausstaffierte. Kunstvoll bestickte Banner und Fahnen flatterten im Wind und gaben ein farbenprächtiges Bild. Die eigens kreierte Figur eines feuerspeienden roten Drachen – dem königlichen Emblem der Tudors – führte den Festzug an, dahinter folgte der Lord Mayor der Stadt, der sein Boot mit den Wappen der Familien Tudor und Boleyn geschmückt hatte. Trommelwirbel und Trompetenklänge erfüllten die Luft. Tausend Kanonen schossen ihr Salut.

 

Als die Barke auf das Ziel, den Tower von London zuglitt, wo Henry VIII sie bereits erwartete, hätte Anne Boleyn sich nicht träumen lassen, dass sie nicht einmal drei Jahre später abermals die Flussreise hierher antreten würde. Dann jedoch als Gefangene der Krone, unter dem Verdacht des Hochverrats.

Während auf sie, die dem König keinen Sohn gebären konnte, 1536 das Schafott wartete, rüstete die Stadt sich bereits für die nächste feierliche Flussprozession. Wiederum wählte Henry die Themse zur grandiosen Bühne, auf der er dem Volk die nächste Frau an seiner Seite präsentierte. Für Jane Seymour, genauso wie für seine späteren Ehefrauen, sollte es eine schicksalhafte Fahrt werden.

 

Fast ein halbes Jahrtausend später bestieg eine andere junge Frau ein Themseschiff, das sie von Greenwich zum Tower von London brachte. Eine Fahrt, die auch für sie voller Erwartungen begann, aber mit dem Tod endete.


Kapitel 1

 

Eine winzige Luftblase durchbrach die Oberfläche und zerplatzte. Dann verharrte die hellgrau-bräunliche Masse wieder regungslos. Langsamer als eine Schnecke kroch, wuchs sie um wenige Millimeter pro Stunde empor.

Trübsinnig starrte John durch den Glasdeckel in die Schüssel, in der der Sauerteig, einem Schlammtümpel nicht unähnlich, leise vor sich hin blubberte. Dann sah er aus dem Küchenfenster. Draußen im Innenhof des Towers konnte er um diese Zeit normalerweise seine Kollegen von den Yeoman Warders, gemeinhin Beefeater genannt, beobachten, wie sie Touristengruppen durch den Tower von London führten. Auch die neun Raben, um die John sich als Assistent des Ravenmasters George Campbell kümmerte, ließen sich immer wieder auf dem Tower Green blicken. Heute jedoch waberte wie schon seit Tagen vor der Fensterscheibe undurchdringlicher Nebel, der alles in seinem einförmigen Grau verschluckte.

Ein tiefer Seufzer entrang sich Johns Brust. Wie gern wäre er trotz der Nässe und Kälte jetzt draußen gewesen und seiner gewohnten Arbeit nachgegangen. Stattdessen saß er wie ein Gefangener in seinen vier Wänden. Zugegebenermaßen komfortabler, als die Heerscharen namenloser wie auch bekannter Inhaftierter, die in den letzten Jahrhunderten im Tower ihr Dasein gefristet hatten. Einige von ihnen hatten die Zeit hinter diesen Mauern sogar sinnvoll nutzen können, wie Sir Walter Raleigh, der in den dreizehn Jahren, die er Anfang des siebzehnten Jahrhunderts im Bloody Tower verbracht hatte, sein Werk History of the World verfasst hatte. John dagegen hatte bisher noch nichts gefunden, was ihn in diesen langen Tagen wirklich ausfüllte.

 

Dieser elende Kreuzbandriss. Drei Wochen war das nun her. Er konnte das Schnalzen immer noch spüren, mit dem die Bänder in seinem linken Knie nachgegeben hatten. Es war ein Dienstagmorgen gewesen. George hatte frei gehabt und John hatte den soeben gekauften Sack mit Trockenfutter für die Raben allein aus der Tiefgarage zur Voliere schleppen wollen. Auf der von einem der vielen Sturzregen in diesem elend nasskalten Spätwinter glitschigen Treppe aus der Garage war es dann passiert: Er war ausgerutscht und mit Wucht hingeschlagen, ein Bein unter sich verdreht.

„Totalschaden“, hatte der Arzt lakonisch festgestellt und eine schnelle Operation empfohlen. Danach war er eine Woche lang bei seinen Eltern in Kew gewesen, da er erst einmal lernen musste, ohne Hilfe mit seinen Krücken im Alltag zurechtzukommen. Er schaffte es nicht einmal, sich die Thrombosestrümpfe alleine anzuziehen und musste sich wohl oder übel von seiner Mutter dabei helfen lassen, die vermaledeit engen Dinger über seine langen Beine zu streifen. Eine recht würdelose Prozedur für einen Mittvierziger, wie er fand.

Abgesehen davon waren die ersten Tage bei James und Emmeline Mackenzie recht angenehm gewesen. Seine Mutter hatte sich über die Gelegenheit gefreut, ihn nach Strich und Faden zu verwöhnen. Beständig hatte sie ihn mit frischen Eisbeuteln für sein Knie versorgt und ihm alles gekocht, was er gern mochte. Mit seinem Vater gemeinsam hatte er sich die ersten Staffeln von Downton Abbey noch einmal auf DVD angesehen. Familienkater King Edward, der die zusätzlichen Streicheleinheiten genoss, war ihm kaum von der Seite gewichen. Am Wochenende waren seine beiden Geschwister mit ihren Familien zu Besuch gekommen.

 

„Na, Bruderherz, wie geht’s dir?“ Maggie drückte John einen Kuss auf die Stirn und setzte sich zu ihm auf das Wohnzimmersofa.

„Es geht schon. Die Schmerzen halten sich in Grenzen.“

„Wann startet die Krankengymnastik?“

„Ich hatte schon zweimal Lymphdrainage und am Mittwoch geht es nun richtig los mit den Übungen, vorerst dreimal die Woche. Es war gar nicht so einfach, eine Praxis aufzutun, die kurzfristig freie Termine hatte, sage ich dir. Ich habe wohl ein halbes Dutzend Praxen durchtelefoniert, bis ich endlich eine fand.“

„Ist sie in der Nähe des Towers?“, erkundigte sich Maggies Ehemann Alan.

„Nein, sie liegt in der Guilford Street. Das ist in dem Klinikviertel östlich vom Russell Square. Diese Woche hat Dad mich von hier aus hinkutschiert, aber das geht auf Dauer natürlich nicht –“

„Unsinn, Junge. Das macht er doch gern. Ich weiß wirklich nicht, warum du schon übermorgen zurück in die Stadt willst. Hier hättest du es doch viel bequemer. Warum bleibst du nicht hier, so lange du krankgeschrieben bist?“ Emmeline war mit einer Tortenplatte ins Wohnzimmer gekommen.

Bei der Vorstellung, weitere sechs Wochen in seinem alten Kinderzimmer zu verbringen, während seine Mutter wie eine besorgte Glucke um ihn herumflatterte, wurde John ein wenig flau.

„Mum, sieh mal, ich bin euch beiden sehr dankbar, dass ihr euch so großartig um mich kümmert. Aber ich muss wirklich wieder zurück in die Stadt. Bonnie versorgt meine Pflanzen zwar gut, aber ich möchte doch gerne selbst zuhause nach dem Rechten sehen. Du weißt ja, dass ich ein paar Exemplare habe, die viel Pflege brauchen.“

Bonnie Sedgwick, die rechte Hand des Kommandanten der königlichen Wachtruppe Chief Mullins, war eine gute Freundin von John. Ihr hatte er schon in der Vergangenheit die Versorgung seiner zahlreichen Zimmerpflanzen anvertraut, wenn er einige Tage weggewesen war.

Maggie zwinkerte ihrem Bruder zu. Beide wussten, dass ihre Mutter, die ein großes Herz für alles Grünzeug hatte, dieses Argument verstehen musste.

„Du hast recht“, räumte Emmeline ein. „Es wäre sehr schade, wenn dir eine von deinen Raritäten eingehen würde. Aber wie willst du zur Krankengymnastik kommen? Jemand wird dich fahren müssen.“

„So lange ich das Bein noch nicht belasten darf, werde ich mir einfach ein Taxi nehmen. Oder einer meiner Kollegen fährt mich“, entgegnete John gleichmütig. „Und später kann ich dann selbst mit der U-Bahn hinfahren. Die Haltestelle ist gleich in der Nähe.“

„Genau. Du musst nur mit der Circle nach King’s Cross und dann mit der Piccadilly Line noch eine Station zum Russell Square und schwupps bist du schon da“, mischte Renie sich nun ein.

Johns älteste Nichte war bisher erstaunlich still gewesen. Nun erhob sie sich vom Boden, wo sie mit ihrem kleinen Cousin Christopher gespielt hatte und holte tief Luft. Mit einem Blick auf ihre Eltern sprudelte sie dann heraus, „Vielleicht kann auch ich John öfters dort hinfahren. Ganz in der Nähe am Torrington Square ist nämlich mein Schauspiellehrer. Da werde ich in den nächsten Wochen viel Zeit verbringen.“

Die Wirkung ihrer Worte war durchschlagend. Bis auf ihre Eltern, die offenbar in Renies Pläne eingeweiht waren, starrten alle im Raum die junge Frau an.

Bella, Renies zehnjährige Schwester, erholte sich als erste. „Du wirst Schauspielerin? Das ist ja cool. Kannst du mir dann ein Autogramm von Miley Cyrus besorgen?“

Ihr Bruder Tommy, bekennender Technik- und Medienfreak, fiel ein, „Echt abgefahren. Pass auf, dann werde ich dein Kameramann. Oder noch besser gleich Regisseur.“

Renie wehrte lachend ab. „Immer langsam. Bis jetzt wissen wir ja noch gar nicht, ob ich es überhaupt schaffe, an der Schauspielschule genommen zu werden. Momentan bereite ich mich erstmal auf die Aufnahmeprüfung Ende April vor. Dann sehen wir weiter.“

„Auf welche Schule möchtest du? Auf die Royal Academy of Dramatic Art? Die ist ja dort gleich um die Ecke, soviel ich weiß“, erkundigte sich Johns jüngerer Bruder David, der mit seiner Frau Annie und dem kleinen Christopher aus Cambridge gekommen war.

Renie schüttelte den Kopf. „Dahin würde ich es niemals schaffen. Chris – also Chris Fuller, mein Lehrer – hat einen Lehrauftrag an der Academy. Er hat uns klipp und klar gesagt, dass wir dort keine Chance haben werden. Die meisten von uns wollen es erstmal am Drama Centre versuchen. Das ist auch eine sehr renommierte Schule, aber nicht ganz so elitär wie die Academy.“

„Es sind also mehrere junge Leute, die bei diesem Mr. Fuller unterrichtet werden?“, fragte David.

„Chris hat massenhaft Schüler, die ganz bunt gemischt sind. Dabei sind fertige Schauspieler, die er bei der Vorbereitung auf eine bestimmte Rolle coacht, genauso wie Akademiestudenten, die sich von ihm den letzten Schliff holen wollen. In unserem Vorbereitungskurs sind wir zu sechst. Die anderen haben schon Anfang des Jahres damit angefangen, ich bin jetzt als letzte noch mit eingestiegen. Chris hat uns von Anfang an gesagt, dass wir uns nicht zu große Hoffnungen machen sollen, es im ersten Anlauf auf die Schule zu schaffen. Wenn es ihm gelingt, dass einer oder zwei von uns aufgenommen werden, wäre das schon ein riesiger Erfolg, sagt er.“

Emmeline Mackenzie hatte ihre Sprache wiedergefunden. „Und was machst du, wenn es nicht klappt?“

Renie zuckte die Achseln. „Das überlege ich mir dann, wenn es soweit ist. Wenn ich in den kommenden Monaten merke, dass die Schauspielerei wirklich etwas ist, was mir liegt, dann kämpfe ich solange, bis mich irgendwo im Land eine Schule annimmt. Und falls sich herausstellt, dass das für mich doch nichts ist, studiere ich eben etwas anderes.“

Emmeline sah ihre Tochter an. „Maggie, was sagst du dazu?“

Maggie und Alan tauschten einen Blick. „Wir haben unser Einverständnis dazu gegeben und werden Renie auch finanziell unterstützen. Bedingung dafür war aber, dass sie nebenher arbeitet, um zumindest einen Teil zu den Gebühren beitragen zu können.“

„Genau. Und deshalb jobbe ich weiterhin im Natural History Museum, zwanzig Stunden die Woche. Wer weiß, vielleicht gefällt es mir ja auf Dauer so gut, dass ich dann doch auf Biologie oder so etwas umschwenke“, fuhr Renie fort.

„Oder du gehst vielleicht doch wieder zurück zur Anthropologie? Da könntest du auf den Grundstock aufbauen, den du dir in den ersten beiden Semestern erarbeitet hast“, ließ sich ihr Großvater hoffnungsvoll vernehmen. Er selbst hatte jahrzehntelang als Kurator in der Saurierabteilung des Naturhistorischen Museums gearbeitet.

„Vielleicht auch das, Granddad. Ich habe wirklich keinen Schimmer. Ich weiß nur, dass ich das mit der Schauspielerei gerne ausprobieren möchte. Wann, wenn nicht jetzt, solange ich jung bin.“ Sie schielte zu ihrem Onkel hinüber, der bis jetzt geschwiegen hatte. Auf seine Meinung legte sie viel Wert.

„Was denkst du, John? Wenn ich sehe, dass andere in meinem Alter schon ihren Bachelor in der Tasche haben und ich habe noch gar nichts und nicht einmal eine richtige Ahnung, was ich mit meinem Leben anstellen will …“

„Du hast viele unterschiedliche Talente, Renie. Da verstehe ich, dass es dir schwerfällt, dich zu entscheiden“, sagte er bedächtig. „Du wirst dich irgendwann auf einen Weg festlegen müssen. Aber anders als viele andere hast du – auch dank deiner Eltern – die Möglichkeit, Verschiedenes auszutesten. Also nutze die Chance.“

„Das gleiche hat Geoff auch gesagt“, strahlte Renie. „Er unterstützt mich voll, meint aber, dass ich mich im Lauf des Jahres für etwas entschließen und das dann auch durchziehen muss.“

„Ein Hoch auf Geoff“, murmelte Maggie. Während Renie den anderen in epischer Breite erklärte, wie die ersten Stunden ihres Schauspielunterrichts abgelaufen waren, beugte Maggie sich zu ihrem Bruder.

„Ich finde Geoff wirklich toll. Er ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von Renies Exfreund. Höflich, bodenständig, verlässlich. Obwohl sie erst ein paar Monate zusammen sind, habe ich das Gefühl, dass er schon einen positiven Einfluss auf sie hat.“

Dr. Geoffrey Tomlinson war Insektenkundler am Natural History Museum und einige Jahre älter als Renie.

John grinste. „Umgekehrt gilt dasselbe. Renie hat ihn ganz schön aus seinem Schneckenhaus geholt. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, hätte ich ihn kaum wiedererkannt. Er hat ein ganz anderes Auftreten jetzt.“

Maggie nickte. „Ich hoffe, die beiden bleiben länger zusammen. Renie hat zwischendurch schon fallen lassen, dass sie vielleicht sogar zu ihm ziehen will. Aber warten wir’s ab.“

„Wie findest du ihre Idee mit der Schauspielerei? Ich muss sagen, ich war überrascht vorhin. Sie hat zwar schon manchmal anklingen lassen, dass es ihr gefallen würde, auf der Bühne zu stehen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es ihr damit wirklich ernst ist.“

„Ach, John, du kennst doch unser Mädchen. Man weiß bei ihr nie, wie lange ihre Begeisterung für etwas anhält. Aber wir wollen ihr keine Steine in den Weg legen. Wer weiß, vielleicht ist so ein Beruf mit seinen ständigen Herausforderungen und der Möglichkeit, in immer neue Rollen schlüpfen zu können, ja wirklich etwas für sie. Das wird sich in den nächsten Monaten schon zeigen.“

 

Als John nun, einsam mit seiner Sauerteigschüssel in der Küche sitzend an dieses Gespräch zurückdachte, musste er lächeln. In den vergangenen Wochen hatte Renie sich mit ihrem üblichen überschäumenden Ausmaß an Energie in das Schauspielprojekt gestürzt. Sobald sie einen neuen Text zu lernen hatte, kam sie zu ihrem Onkel, um sich von ihm abhören zu lassen oder auch einen Dialog zu üben.

„Du hast momentan ja sowieso Zeit ohne Ende. Bestimmt langweilst du dich. Also kannst du mir ebenso gut helfen“, hatte sie festgestellt und ihm eine Kopie ihres Textes in die Hand gedrückt.

John musste eingestehen, dass er froh um die Abwechslung war. Momentan erlaubten die Ärzte ihm nicht mehr als dreimal die Woche je eine Stunde Krankengymnastik. Jedes der neuen Bücher, die Maggie und David ihm mitgebracht hatten, war ausgelesen. Aus der kleinen Bibliothek der Beefeater hatte er bereits zwei Abhandlungen über die Geschichte des Towers im Mittelalter durchgeackert. Seine Pflanzen waren bestens gepflegt, selbst das letzte Körnchen Staub, das es gewagt hatte, sich auf einem Blatt niederzulassen, war beseitigt. Er hatte seine CDs und die alten Schallplatten sortiert und alle seine Fotoalben durchgesehen. Zu kochen brauchte er sich auch nichts, da seine Mutter bereits zweimal vorbeigekommen war, um sauberzumachen und ihn mit einer Unmenge fertig gekochten Essens in Gefrierboxen zu versorgen, das er sich nur aufzuwärmen brauchte.

Einmal hatte er versucht, George bei der Arbeit im Rabenhaus ein wenig zur Hand zu gehen, hatte aber einsehen müssen, dass er für den Ravenmaster keine Hilfe war, solange er auf die Krücken angewiesen war. Außerdem hatte Chief Mullins John gleich nach dem Unfall, als er ihn im Krankenhaus besucht hatte, eindeutig zu verstehen gegeben, dass er ihn nicht bei der Arbeit sehen wollte, so lange er krankgeschrieben war.

Er hatte einzig und allein – und nur mit Bauchgrimmen – zugestimmt, dass John den schon lange geplanten Testlauf seiner speziellen Rabenführungen für Schulklassen durchführen durfte. Dabei durfte er jedoch nur den Part im Schulungsraum des Towers übernehmen, wo er mit hochgelegtem Bein vor der Klasse sitzen konnte, während George dafür zuständig war, den Kindern das Rabenhaus zu zeigen und sie draußen herumzuführen.

Bei diesem ersten Probelauf, der kommende Woche stattfinden sollte, würde John zu seiner Erleichterung eine überaus nette und tatkräftige Frau an seiner Seite haben: Sophie Nichols, Lehrerin an der Primarschule im Stadtteil Tottenham, die ihre Klasse mit Freuden als Versuchskaninchen für das neue Konzept angeboten hatte, das John im Sommer entwickelt hatte.

John hatte Sophies Mann Mike, Vogelforscher am Naturhistorischen Museum, einige Monate zuvor kennengelernt, als beide bei den Nachforschungen zu dem spektakulären Mordfall im Museum geholfen hatten. Die Männer hatten sich schnell angefreundet. John freute sich schon darauf, dass Mike morgen zu Besuch kam. Er hoffte, ihm dann sein erstes selbstgebackenes Sauerteigbrot vorsetzen zu können.

 

Den Teigansatz wie auch das Rezept hatte er von einer Nachbarin seiner Mutter bekommen, als er in Kew gewesen war.

„Nicht vergessen: Jede Woche muss er mit einem Löffel Roggenmehl und einem Esslöffel Wasser gefüttert werden, damit er sich hält“, hatte sie ihm eingeschärft und ihm feierlich ein Marmeladengläschen mit einer unansehnlichen schlammfarbenen Masse darin übergeben. „Dann werden Sie dauerhaft Freude an ihm haben.“

Johns Mutter hatte ihm zugezwinkert und nachdem die Nachbarin gegangen war, hatte sie gemeint, „Du wirst es nicht glauben, John, aber Elsie behandelt dieses Zeug hier wie ein Haustier. Ich habe sogar schon einmal gehört, wie sie mit ihm gesprochen hat. Sie nennt ihn Georgie.“ Sie kicherte. „Aber ich muss zugeben, das Brot, das sie damit bäckt, schmeckt ausgezeichnet.“

 

Also hatte John sich die restlichen Zutaten – Roggen- und Dinkelmehl sowie Brotgewürz – von Renie besorgen lassen und beschlossen, sein erstes Brotexperiment zu wagen. Heute Morgen hatte er den Teigansatz in die Rührschüssel umgefüllt und ein erstes Mal Mehl und Wasser zugesetzt, sechs Stunden später ein zweites Mal. In der Zwischenzeit hatte er nicht viel mehr gemacht, als wechselweise in den Topf und aus dem Fenster zu schauen, dazwischen ein wenig Zeitung zu lesen und Musik zu hören.

Gott, dieses Nichtstun hing ihm wirklich zum Hals heraus. Als das Telefon klingelte, stürzte er sich geradezu begierig darauf.

„Hallo Jungchen, wie geht es dir? Ich höre, du hattest einen kleinen Unfall?“

„Tante Isabel! Wie schön, von dir zu hören“, rief er, ehrlich erfreut, als die Stimme der betagten Patriarchin des Mackenzie-Clans, die in den schottischen Highlands lebte, an sein Ohr drang. Wenn er aber erwartet hatte, sie hätte ihn angerufen, um ihm Trost zu spenden, hatte er sich getäuscht.

„Jungchen, nun hab dich nicht so“, beschied sie ihm, nachdem er ein wenig lamentiert hatte. „Ich bin schon mit vierzig Grad Fieber und Lungenentzündung draußen in der Scheune gestanden und habe bei der Schafschur geholfen. Erst einen stärkenden Schluck – Mit Whisky trotzen wir dem Satan, wie unser großer Robert Burns schon wusste, und los ging’s. Geschadet hat es mir offenbar nichts, sonst wäre ich nicht so alt geworden, oder?“

John stimmte seiner Großtante, die mit ihren über neunzig Jahren immer noch voller Tatkraft steckte, kleinlaut zu.

„Außerdem hast du in deinen Jahren bei der Armee wohl gravierendere Verletzungen gesehen. Dagegen ist so ein dickes Knie ja wohl lächerlich“, fuhr sie schonungslos fort.

John schluckte und kam sich nun endgültig wie ein jämmerliches Weichei vor. In seinen zwanzig Jahren beim psychologischen Dienst der britischen Armee hatte er bei seinen Auslandseinsätzen wahrlich Schlimmeres gesehen.

„Du hast vollkommen recht, Tante Isabel. Lass uns nicht weiter darüber reden. Nun erzähl, wie geht es dir?“

Darauf hob Isabel an, ihn in aller Ausführlichkeit über die Arthrosebeschwerden in Sir Walter Scotts Hüfte zu informieren. Walter gehörte mittlerweile wohl zu den ältesten Scotch Terriern des Vereinigten Königreichs. In jüngeren Jahren hatte er ebenso wie seine Vorgänger aus Tante Isabels Terrierzucht etliche Championatstitel errungen.

„Aber wenn Dr. Flynn Walter mit diesem horrend teuren neuen Medikament wieder einigermaßen fit bekommt, werde ich mit ihm dieses Frühjahr noch ein letztes Mal zu einem Wettbewerb gehen“, schloss sie.

„Du willst den alten Burschen wirklich noch einmal aus seinem Ruhestand reißen? Ihn wieder aufputzen wie eine Laufstegschönheit und zu einer Hundeschau schleppen, wo er stundenlang in seiner Transportbox sitzen muss?“, rutschte es John heraus.

„Erstens, mein lieber John, lass dir gesagt sein, dass ein Champion vom Rang eines Sir Walter Scott kein „Aufputzen“ benötigt, wie du es zu nennen beliebst“, erwiderte Isabel kühl. „Seine Klasse, sein edler Körperbau und seine Ausstrahlung sprechen für sich. Zweitens liebt er es, in den Ring zu gehen. Du solltest ihn sehen, wie er vor dem Richter auf- und abparadiert. Da ist er wie ein altes Zirkuspferd, das wieder zum Leben erwacht, wenn es die Musik spielen hört. Und drittens wird er in der Superveteranenklasse antreten, wo die Konkurrenz sehr klein ist und es daher keine langen Wartezeiten gibt. Genauer gesagt, sind außer ihm nur zwei andere Hunde gemeldet.“

John musste grinsen, bemühte sich aber um einen ernsthaften Ton. „Dann hat er ja schon einen Pokal sicher.“

„Genau. Und mit diesem letzten Auftritt für uns beide könnte seine glänzende Karriere einen würdigen Abschluss finden. Aber nun genug davon. Der Grund, warum ich dich anrufe, ist folgender: Ein alter Freund von mir, Dr. Michael Arbroath, einer unserer Abgeordneten im Parlament in Edinburgh und Historiker an der Universität in St. Andrews, ist kommende Woche in London und würde sich über die Gelegenheit freuen, sich im Tower ein wenig genauer umzusehen, als man dies als Tourist kann. So eine Hinter-den-Kulissen-Führung wäre schön, verstehst du?“

„Was meinst du genau, Tante Isabel? Wenn er sich die Kronjuwelen in Ruhe betrachten möchte, muss ich dich enttäuschen. Um dort gesonderten Zutritt zu erhalten, müsste er schon ein Staatsgast sein.“

„Pah! Die Insignien eurer imperialistischen Bestrebungen – von wegen, Rule, Britannia und so weiter – sind für Michael mit Sicherheit kein Grund, den Tower zu besuchen. Darauf kannst du Gift nehmen.“

John seufzte unhörbar. Isabel Mackenzie war eine glühende schottische Patriotin, die auch eine der großen Vorkämpferinnen für das Regionalparlament in Edinburgh gewesen war. Es hatte Jahrzehnte gedauert, bis sie Johns Vater verziehen hatte, dass er aus Inverness fort „in den Süden“ gegangen war und zu allem Überfluss auch noch eine Engländerin geheiratet hatte.

„Was möchte er denn dann sehen?“, fragte er geduldig.

„Die Räume, in denen König John Balliol drei Jahre lang gefangengehalten wurde, bevor er ins Exil gehen musste.“

John kramte in seinem Gedächtnis.

„Warte mal. Er war im Salt Tower untergebracht. Das ist kein Problem, dort kann ich oder einer meiner Kollegen durchaus eine Besichtigungstour mit deinem Bekannten machen. Warum interessiert er sich speziell dafür?“

„Er ist Historiker und schreibt an einem neuen Buch über die schottischen Unabhängigkeitskriege, die euer schrecklicher Edward über uns gebracht hat. Es reichte diesem … ruchlosen Schuft ja nicht, dass er Wales unter das Joch der englischen Krone gezwungen hatte, nein, er musste seine gierigen Finger auch zu uns herauf in den Norden ausstrecken, unzählige Männer, Frauen und Kinder abschlachten und unseren Krönungsstein stehlen.“

Isabel geriet immer mehr in Fahrt.

„Der Hammer der Schotten – diesen Beinamen hat er sich redlich verdient. Aber wenigstens haben wir ihm in Bannockburn ordentlich den Hintern versohlt“, schloss sie befriedigt. „Also kann ich Michael sagen, dass er dich anrufen kann? Und vielleicht könntest du ihm ja noch weitere Orte im Tower zeigen, wo unglückselige Landsleute von mir eingekerkert waren?“

„Ich muss natürlich erst mit Chief Mullins darüber sprechen, wenn es um Räumlichkeiten geht, die normalerweise nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Aber ich werde sehen, was ich tun kann“, versprach er.

Nachdem er aufgelegt hatte, rief er auch sogleich in Mullins’ Büro an. Der Kommandant zeigte sich wie so oft entgegenkommend.

„Nun, wir wollen einen angesehenen Wissenschaftler selbstverständlich in seiner Arbeit unterstützen“, versicherte er. „Ich habe tatsächlich schon zwei von Dr. Arbroaths Büchern gelesen. Sie stehen hier irgendwo bei mir herum, falls Sie sie ausleihen möchten.“

„Sehr gern, Sir.“

„Und dann könnten Sie einmal mit dem Kollegen Armstrong reden. Es gibt wohl keinen unter uns Beefeatern, der mehr über die Geschichte des Towers weiß. Er wäre sicher der geeignete Mann, unseren Gast herumzuführen, vor allem, da Sie ja durch Ihr Bein immer noch gehandicapt sind.“

„Das ist eine gute Idee, Sir.“

„Und geben Sie mir Bescheid, wann Dr. Arbroath hier sein wird. Wenn ich es einrichten kann, würde ich ihn gern persönlich begrüßen. Nun sagen Sie mir noch, wie geht es bei Ihnen voran?“

„Ich hoffe, dass ich die Krücken bald los bin. Momentan darf ich das Bein nur mit bis zu vierzig Pfund Gewicht belasten. Übermorgen habe ich wieder einen Termin beim Arzt, dann wird entschieden, ab wann ich es wieder voll belasten darf. Dann bekomme ich eine Schiene, die das Knie vorerst noch stützen soll.“

„Wenn alles gutgeht, wann können wir damit rechnen, Sie wieder auf den Dienstplan zu setzen?“

„Ursprünglich sprach der Doktor von sechs Wochen, dann verblieben jetzt noch drei, aber vielleicht geht es ja doch ein wenig schneller –“

„Papperlapapp, Mackenzie. Ich werde einen Teufel tun und Sie täglich stundenlang mit Touristengruppen kreuz und quer und treppauf, treppab durch den Tower jagen, falls Sie nicht vollkommen genesen sind. Also seien Sie ein braver Patient, tun Sie das Ihrige, damit Sie wieder fit werden und üben Sie sich ansonsten in Geduld.“

„Ja, Sir“, antwortete John seufzend.


Kapitel 2

 

Wenig später klingelte das Telefon abermals.

„John, ich stehe in einer halben Stunde bei dir auf der Matte. Wir müssen einen neuen Text üben, es ist brandeilig. Und ich würde mich freuen, wenn du etwas zu essen für mich hättest, ich muss mir dringend was hinter die Kiemen schieben. Also bis gleich.“

John legte kopfschüttelnd den Hörer hin. Seine Nichte hatte ihn nicht einmal zu Wort kommen lassen. Er machte sich daran, seine Vorräte zu sichten.

Bereits nach fünfundzwanzig Minuten stand Renie vor der Tür. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss, warf ihren Rucksack auf einen Stuhl und ließ sich häuslich am Küchentisch nieder.

„Puh, ich bin fix und fertig. Seit sieben heute früh bin ich nur am Rumfetzen. Im Museum bereiten wir gerade das Abschiedsfest für unseren Direktor vor. Das macht zwar total Spaß, aber ist auch unglaublich viel Arbeit. Also: Was hast du uns Feines gekocht?“

John ließ sich vorsichtig auf einen Stuhl sinken, legte die Krücken weg und grinste seine Nichte an.

„Ich dachte, du bekochst deinen armen invaliden Onkel wenigstens, wenn du schon hier bist. Ich hätte sehr gern zur Abwechslung etwas Frisches statt immer die eingefrorenen Sachen von Mum. Die Zutaten für Spaghetti Marinara habe ich schon hergerichtet, das geht ganz schnell.“

Er wies auf die Arbeitsplatte, wo ein Paket aufgetaute Meeresfrüchte, Zwiebeln und Tomaten bereitlagen. „Du kennst ja das Rezept.“

Renie warf ihm einen gespielt entsetzten Blick zu, stand aber mit einem Grunzen auf und machte sich daran, einen Topf mit Wasser für die Nudeln aufzusetzen.

„Was ist das denn für ein Zeug?“ Sie zog die Nase kraus, als sie die Schüssel mit dem Sauerteig erspähte.

„Daraus backe ich morgen früh ein Brot. Und jetzt erzähl, warum musst du so dringend einen Text lernen?“

„Stell dir vor, ich soll für Natalie einspringen. Sie hatte gestern einen Fahrradunfall und muss jetzt einen Riesengips tragen, die Arme. Ich soll am Freitag eine Hofdame in Henry VIII spielen, ist das nicht toll?“

John räusperte sich. „Ähem, nicht, dass ich dein Talent schmälern möchte, Renie, aber ist eine Rolle in einem Shakespeare-Drama nicht eine Nummer zu groß für dich? Und wie willst du dir das Stück in so kurzer Zeit aneignen?“

„Keine Sorge, John. Wir führen ja nicht alle fünf Akte auf, sondern nur ein paar ausgewählte Szenen, wobei ich selbst nur in einer einzigen vorkomme. Und auch nicht in einem Theater, sondern auf einem Ausflugsschiff.“

„Wie bitte? Wer möchte sich denn auf einem Bootsausflug ein Theater ansehen? Ich würde mir da lieber in Ruhe die Gegend betrachten.“

„Was wir machen, ist ein sogenannter Theater-Dinnercruise. Eine ganz neue Idee des Tourismusverbands speziell für die dunkleren Monate, um mehr Besucher auf die Themseschiffe zu locken. Dabei wird auch nicht besonders weit gefahren, nur von Greenwich bis hierher. Während wir das Stück aufführen, liegen wir direkt vor dem Tower vor Anker.“

Sie begann, die Zwiebeln in der Pfanne anzubraten. „Natürlich muss sich erst zeigen, ob das Angebot angenommen wird oder nicht. Vorerst sind nach der Premiere am Freitag vier weitere Fahrten geplant.“

John wog nachdenklich den Kopf.

„Ich könnte mir schon vorstellen, dass so etwas Interesse weckt. Jetzt, wo die Tage immer noch kurz sind und es um vier, fünf Uhr oft schon stockdunkel ist, dümpeln die Touristenschiffe am Nachmittag oft halbleer vor sich hin. Da könnte eine zusätzliche Attraktion durchaus für mehr Zulauf sorgen.“

Renie kippte die gewürfelten Tomaten in die Pfanne.

„Natürlich wollten die Veranstalter für die ganze Sache möglichst wenig Geld ausgeben und haben deshalb keine Profis engagiert.“ Sie grinste. „Preislich sind wir unschlagbar: Wir bekommen nämlich überhaupt keine Gage bis auf ein Essen an Bord.“

„Überhaupt keine Gage? Da opfern eine Menge junge Leute ihre Freizeit, um ein Stück einzustudieren und aufzuführen und bekommen gerade mal ein Essen dafür? Und das, obwohl der Veranstalter wahrscheinlich gesalzene Eintrittsgelder von den Leuten kassiert?“

Renie zuckte gleichmütig die Schultern.

„So ist das nun mal in diesem Business. Chris sagt, die Bühnenerfahrung ist ungeheuer wertvoll für uns. Außerdem muss jeder Bewerber am Drama Centre einen kurzen Film vorlegen, der einen Einblick in seine bisherige Schauspielpraxis gibt. Also wird ein Teil der Auftritte aufgezeichnet, damit wir Material dafür haben. Und was meinst du, wer das für uns macht?“

„Tommy?“, riet John.

„Genau. Echt cool, dass mein Bruderherz jetzt diesen Medienkurs an der Schule belegt. Eigentlich ist der Kurs nur für die höheren Jahrgangsstufen offen, aber als er dem Lehrer den Rabenfilm gezeigt hat, den er letzten Sommer für dich gemacht hat, war der so begeistert, dass er ihn trotzdem aufgenommen hat. Und nachdem Dad ihm jetzt diese Superausrüstung gekauft hat, ist er der perfekte Mann für den Job. Er kommt mit Mum und Dad zur Premiere und zeichnet alles auf. Sag mal, hast du Tomatenmark da?“

„Im Kühlschrank ist noch eine offene Tube.“

Renie rührte das Mark ein. „Für uns ist das echt praktisch, dass Tommy das übernehmen kann. Chris hätte zwar einen Kameramann an der Hand gehabt, aber es wäre uns natürlich teurer gekommen, einen Profi mit den Aufnahmen zu beauftragen. Tommy bekommt zwar schon etwas Geld dafür, aber natürlich nicht sehr viel. Und er selbst hat auch etwas davon, weil er das Material für seinen Kurs an der Schule verwenden kann.“

„Das hast du wieder mal gut eingefädelt, Renie. Wie kommt deine Truppe zu diesem Auftrag auf dem Schiff?“

„Chris kennt die Leute vom Tourismusbüro. Er und ein Teil seiner Schüler haben auch beim Thames Festival im September mitgewirkt. Sie haben einige Walking Acts gemacht und das kam wohl sehr gut an.“

John sah seine Nichte verständnislos an. „Was ist ein Walking Act?“

„Da stehen die Schauspieler nicht auf einer Bühne, sondern mitten unter den Leuten und es wird viel improvisiert, oft in Richtung Comedy oder Pantomime. Ein weiterer Grund, dass die Tourismus-Leute sich für Chris entschieden haben ist, dass er einen guten Namen als Shakespeare-Darsteller hat. Gut, er ist nicht Kenneth Brannagh, aber in der Szene ist er sehr bekannt. Und ich sage dir, er ist auch wirklich ein Shakespeare-Aficionado, unglaublich. Er bewirft uns ständig mit Zitaten und erwartet dann, dass wir sie sofort zuordnen können. Nicht nur zu dem Stück, aus dem es stammt, nein, auch noch zu der Szene und der entsprechenden Person. Und nicht nur so einfache Sprüche, die jeder kennt, wie Sein oder Nichtsein oder Ein Königreich für ein Pferd, nein, ganz vertrackte Dinger müssen es sein. Heute zum Beispiel: Weinen kann ich nicht, aber mein Herz blutet.

Erwartungsvoll sah sie ihn an.

John zuckte ratlos mit den Schultern.

„Wintermärchen, 3. Aufzug, 6. Szene, es spricht Antigonus“, dozierte sie in oberlehrerhaftem Ton und kicherte dann. „Ich hatte auch keinen blassen Schimmer. Okay, neuer Versuch. Das kennst du bestimmt: Das erste, was wir tun, lasst uns alle Anwälte töten.

John grinste.

„Auf jeden Fall weiß ich, dass Simon und auch deine Mutter sofort dafür wären. Und dass der Ausspruch ursprünglich von Shakespeare stammt, war mir auch bewusst, aber ich habe keine Ahnung, aus welchem Stück.“

Renie seufzte. „Heinrich VI, 2. Teil, 4. Akt, 2. Szene. So, jetzt kriegst du noch eine letzte Chance: Auch du, Brutus?

John musste lachen. „Jetzt hast du es mir aber einfach gemacht. Das muss ja wohl aus Julius Cäsar sein.“

Renie klatschte spöttisch Beifall.

„Na, wenigstens ein bisschen was weißt du. Damit ich nicht genauso blank bin wie du, bin ich gerade dabei, mir jede Woche mindestens zwei Stücke von unserem Großmeister reinzuziehen.“

„Respekt, Renie. Ich habe eine Gesamtausgabe seiner Werke im Wohnzimmer stehen, die kannst du dir gerne ausleihen“, bot John seiner Nichte an.

Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

„Ich habe mir längst alles auf meinen E-Reader geladen. Die Klassiker werden einem oft für 99 Pence bei den Online-Shops nachgeworfen. Einen Teil höre ich mir auch an oder schaue mir Aufzeichnungen von Theateraufführungen an. Gerade dieses Jahr kommt man an Shakespeare ja sowieso nicht vorbei und es war auch der ausdrückliche Wunsch der Veranstalter, etwas von dem alten Will aufzuführen. Na, auf jeden Fall hat Chris angeboten, ein passendes Stück für die Aufführung auf dem Schiff auszusuchen und mit ein paar von seinen Schülern von der Academy und uns einzustudieren. Nachdem ich viel später als die anderen in den Kurs eingestiegen bin, waren da schon alle Rollen besetzt und ich habe bisher lediglich bei den Proben zugesehen und ein wenig souffliert.“

Sie schüttete als letztes noch die Meeresfrüchte in die Pfanne.

„Ich finde, es wirkt schon ganz professionell, was Chris da auf die Beine gestellt hat. Das liegt sicher auch an den phantastischen Kostümen. Chris kann als Mitglied des Lehrerkollegiums auf den Fundus der Royal Academy zurückgreifen. Das ist eine wahre Schatzgrube, sage ich dir. Ich durfte mit seiner Assistentin Julie dort hingehen und die Kostüme, die wir für Henry VIII brauchen, abholen. Es ist der Wahnsinn, was dort alles lagert. Für jede einzelne Epoche nicht nur die Kleider, sondern auch das passende Schuhwerk und Perücken und Schmuck und Fächer und was weiß ich noch alles.“

Sie schmeckte die Soße ab und gab noch ein paar Kräuter dazu.

„Fast alle anderen bei mir im Kurs können schon auf Erfahrung auf der Bühne oder vor der Kamera verweisen. Veronica Fitch – wir nennen sie Bitch, weil sie echt ein Biest ist – arbeitet als Model und hat schon in einigen Musikvideos mitgemacht. Natalie Sinclair – das ist die, die jetzt diesen Unfall hatte – spielt seit ihrer Kindheit Theater in einer Laientruppe. Sie hat bei Chris schon einen Riesen-Stein im Brett, weil sie genauso ein Shakespeare-Freak ist wie er. Beim Zitate-Quiz hat sie meistens sofort die Antwort parat. Dann Harry Morland, der in unserem Stück Henry VIII spielt. Er moderiert seit zwei Jahren bei einem Radiosender. Frankie Byrd –“ Sie kicherte.

„Frankie ist die letzten Jahre mit einer Truppe so ähnlich wie die Chippendales durch Europa gezogen. Er ist es also gewöhnt, auf einer Bühne zu agieren, aber dabei hatte er bis jetzt keinen Text zu sagen. Und dann ist da noch Lily Carruthers. Soweit ich weiß, ist sie ausgebildete Krankenschwester. Sie ist eigentlich ziemlich schüchtern, hat aber Balletterfahrung und eine phantastische Stimme. Chris sagt, sie wäre wie geschaffen fürs Musical.“ Sie verstummte kurz.

„Dagegen habe ich nicht viel zu bieten. Weder kann ich tanzen noch besonders gut singen oder sehe aus wie ein Model. Ich habe gerade mal im Schultheater mitgespielt, sonst nichts“, fuhr sie dann ein wenig bedrückt fort.

„Als Schaf in der Weihnachtsgeschichte warst du aber großartig“, meinte John ernsthaft. „Ich weiß es noch genau. Du musst etwa in der dritten Klasse gewesen sein. Ich hatte in dem Jahr Heimaturlaub über den Jahreswechsel und die ganze Familie war gemeinsam bei der Aufführung in deiner Schule. Alle waren nachhaltig beeindruckt von deiner Darstellung. Das tiefgründigste, beste und schlicht … schafsartigste Schaf, das London je gesehen hat.“

Renie brach in Gelächter aus.

„Danke, John. Du kannst meine empfindliche Künstlerseele wirklich immer wieder aufbauen. Und jetzt lies dir doch schon mal den Text durch. Zweiter Akt, dritte Szene. Du bist Anne Boleyn. Nach dem Essen üben wir.“

 

 

„Trotz eurer süßgewürzten Heuchelei: Ihr, die Ihr alle Reize habt des Weibs, … äh …“ Renie stockte.

„Habt auch ein Weiberherz“, half John.

„Okay, nochmal. Trotz eurer süßgewürzten Heuchelei: Ihr, die Ihr alle Reize habt des Weibs, habt auch ein Weiberherz, das immer noch nach Hoheit geizte, … verdammt.“

„Reichtum, Herrschermacht.“

„Okay. Nochmal von vorn.“

Diesmal schaffte Renie es, den Satz fehlerfrei zu Ende zu sprechen.

„Nein, auf Treu“, las John seinen nächsten Part vor. Dann sah er Renie erwartungsvoll an.

„Äh, bin ich schon wieder dran?“

„Mhm. Jetzt käme: Treu’hin, Treu’her, Ihr wärt nicht gerne Fürstin?“

Renie schlug sich an die Stirn.

„Mist, Mist, Mist. Allmählich kriege ich echt Zweifel, ob ich das hinbekomme. Chris sagte, ich müsste den Text morgen schon beherrschen, damit wir eine Durchlaufprobe machen können. Es ist zwar nur diese eine lange Szene mit Anne Boleyn, in der ich vorkomme, aber was, wenn ich das vergeige?“

Sie sprang auf und schritt erregt in der Küche hin und her.

„Chris will mir diese Chance geben, obwohl ich ganz neu dabei bin und er die Rolle genauso gut mit einer anderen hätte besetzen können.“

Sie fuhr sich frustriert durch ihre kurzen roten Haare.

„Und Bitch, also Veronica, die macht mich platt, wenn der Dialog nicht klappt. Sie spielt die Anne und ich sage dir, sie genießt es in vollen Zügen, die Frau darzustellen, die den König so weit gebracht hat, dass er sich sogar gegen den Papst gestellt hat und seine eigene Kirche gründen musste, um sie zu heiraten. Echt eine Glanzrolle für sie. Wenn ich ihr diesen Auftritt vermassle, dann gute Nacht. Und was, wenn ich es zwar in der Probe kann, aber dann vor den ganzen Leuten einen Blackout habe? Ich schwöre dir, ich versinke auf der Stelle in den Erdboden.“

„Wenn, dann höchstens in die Themse“, gab John trocken zurück. „Komm, wir versuchen es noch einmal ganz von vorn.“

Aber diesmal verlor Renie schon beim ersten Satz den Faden.

„Oh Mann, ich bin total konfus, John. Das wird nichts mehr“, klagte sie und ließ den Kopf auf den Küchentisch sinken.

John sah seine Nichte einen Augenblick nachdenklich an. Dann sagte er entschieden, „Pass auf, du musst jetzt erstmal ein bisschen zur Ruhe kommen. Ich weiß, dass du es schaffst, diesen Text zu lernen, aber dafür brauchst du volle Konzentration. Deshalb legen wir jetzt eine kleine Pause ein –“

„Nein, wir haben keine Zeit für eine Pause. Sonst werden wir ja nie fertig“, fuhr sie auf.

John nahm wortlos seine Krücken und stand auf.

„Du kommst jetzt mit ins Wohnzimmer. Dort legst du dich auf den Boden und ich leite dich bei einer kleinen Achtsamkeitsübung an. Das wird dir helfen, wieder voll bei der Sache zu sein, glaub mir.“

„Achtsamkeitsübung? So was Ähnliches haben wir an der Uni schon mal gemacht. In so einem Seminar, das hieß Antistresstraining für Studenten oder so. Na gut, wenn du meinst.“

John setzte sich auf das Sofa. Renie streckte sich auf dem Teppich aus und schloss die Augen. Während er sie instruierte, in Gedanken durch ihren Körper zu wandern und wahrzunehmen, wo Spannungen zu spüren waren und diese bewusst zu lösen, merkte er, wie die Worte, die er in seinem früheren Leben als Psychologe bei den Streitkräften der britischen Armee unzählige Male gesprochen hatte, wie selbstverständlich zu ihm zurückkamen.

„Richte deine Aufmerksamkeit nun auf deinen Atem. Versuche nichts zu verändern oder zu kontrollieren. Dein Atem hat seinen eigenen Rhythmus. So wie dein Atem kommt und geht, ist es gut. Nur spüren und wahrnehmen …“

Nach einigen Minuten beendete er die Übung mit einem „Und nun strecke und dehne dich kräftig und kehre mit deiner Aufmerksamkeit wieder in diesen Raum zurück.“

Renie tat wie ihr geheißen, räkelte sich wohlig, öffnete die Augen und lächelte ihren Onkel an.

„Du könntest dich echt für einen Nebenjob als Sprecher für Entspannungs-CDs oder Einschlafgeschichten für Kinder bewerben. Ich hätte es ja nicht für möglich gehalten, aber jetzt glaube ich, bin ich wieder fit im Kopf.“

Tatsächlich dauerte es nicht einmal eine halbe Stunde und Renie beherrschte den gesamten Text fehlerlos.

„Gut. Und nun holst du eine Orange von der Anrichte“, wies John sie an.

Renie stand auf. „Soll ich dir auch ein Messer bringen?“

„Nein, ich will sie nicht essen. Du stellst dich jetzt da vorn neben die Tür und wir werfen uns die Orange zu, während du den Text sprichst.“

„Häh? Was soll das?“

„Wart’s ab. Also nochmal. Stichwort: Oh, ’s ist zum Erbarmen und rührt wohl Ungeheu’r.“

Nach kurzem Zögern warf Renie ihm die Frucht zu, so dass er sie im Sitzen fangen und zurückwerfen konnte und begann, „Die härt’sten Seelen zerschmelzen in Wehklage.“ Fangen, zurückwerfen. „Arme Fürstin!“ Fangen, zurückwerfen. „Zur Fremden ward sie wieder.“ Sie kicherte, als die Orange unter den Tisch rollte, fing sich aber gleich wieder. „Ja, Zufriedenheit ist unser bestes Gut.“

Sie erreichten das Ende des Dialogs, ohne dass in der Küche etwas zu Bruch ging oder Renie einen Hänger hatte. Triumphierend streckte sie die Faust in die Luft. „Yihaa, das ging super.“

Auch John nickte zufrieden. „Dass du den Text auch konntest, während du dich zusätzlich auf die Orange konzentrieren musstest, zeigt, dass du ihn schon gut verinnerlicht hast.“

„Du bist echt der beste Coach, den man sich wünschen kann, John. Hey, doch ganz praktisch, wenn man einen Onkel hat, der mal Seelenklempner war. Und jetzt ziehen wir uns diese Orange rein.“

Renie holte ein Messer und einen kleinen Teller und machte sich daran, die Frucht von der Schale zu befreien, während John müßig das Textbuch durchblätterte.

„Ich finde, das Stück ist gut gewählt für den Anlass und den Ort der Aufführung. Gerade bei Anne Boleyn wird der enge Bezug zum Tower und auch zur Themse deutlich.“

„Du meinst, weil Anne hier im Tower hingerichtet wurde?“

„Nicht nur das. Henry hat hier einen Palast extra für sie bauen lassen, der heute nicht mehr erhalten ist. Er befand sich neben dem White Tower, in etwa dort, wo heute die Wiese hinter dem Rabenhaus ist. Von hier aus trat sie, wie es die Tradition war, ihre Prozession nach Westminster an, wo sie 1533 gekrönt wurde. Nachdem sie bei Henry in Ungnade gefallen war, ließ er sie mit einem Boot von Greenwich hierherbringen, auf derselben Strecke, die sie auf dem Weg zu ihrer Krönung zurückgelegt hatte. Hier in diesen Mauern verbrachte sie die letzten Tage ihres Lebens. Und sie fand ihre letzte Ruhestätte keine zwanzig Schritte von meinem Küchentisch entfernt in unserer Kapelle.“

Renie sah überrascht auf. „Sie ist in St. Peter ad Vincula begraben? Das wusste ich gar nicht. “

„Genauso wie ihre Cousine Katherine Howard, die Henrys fünfte Ehefrau war und dasselbe Schicksal erlitt wie Anne.“

„Dieser Henry! Das war wirklich ein – bleib sitzen, John, ich hole dir das Telefon.“ Renie sprang auf, als ein Klingeln aus dem Flur drang.

Sie sprach kurz und reichte dann den Hörer weiter.

„Simon!“, zischte sie und zog eine Grimasse „Ich muss jetzt sowieso los, John. Bis bald und danke nochmal.“ Sie schnappte sich die Hälfte der Orange, winkte und war schon draußen.

John fragte sich, warum sein Cousin, Scotland Yard-Superintendent Simon Whittington, wohl anrief. Seit der spektakuläre Museumsmord aufgeklärt war, hatte er bis auf eine Postkarte, die Simons Frau, die Ehrenwerte Patricia Whittington-Armsworth an Weihnachten aus Barbados geschickt hatte, nichts von ihm gehört. An diesem Zustand hätte sich nach Johns Meinung auch vorerst nichts zu ändern brauchen.

„Hallo, Simon. Schön, von dir zu hören“, meldete er sich dennoch freundlich.

„Guten Abend, John. Du darfst mir gratulieren“, verkündete sein Cousin ohne Umschweife.

„Ah ja?“ Hatte Simon wieder eine neue Golf- oder Segeltrophäe errungen? Hatte er bei einer der zahllosen Wohltätigkeits-veranstaltungen, die Patricia organisierte, das große Los gezogen und war nun stolzer Besitzer eines brillantbesetzten Füllfederhalters? War er von irgendeinem Klatschblatt zum bestgekleideten Mann des Jahres gewählt worden?

„Der Commissioner hat mich für die nächste Beförderungsrunde vorgeschlagen. Damit habe ich gute Chancen, in absehbarer Zeit Chief Superintendent zu werden.“

„Herzlichen Glückwunsch! Das ist ja großartig“, gratulierte John aufrichtig. Er wusste, dass Simon mit Leib und Seele Polizist war. Im letzten Jahr hatte sein Cousin sich beruflich mit einigen Widrigkeiten herumschlagen müssen – die größte davon war der schottische Kriminalermittler Ian Briarson gewesen, mit dem Simon eine herzliche Abneigung verband und dem es fast gelungen wäre, die Karriere des Superintendenten in Gefahr zu bringen – und John vergönnte Simon nun diesen Triumph, der ihn auf Augenhöhe mit dem verhassten Schotten brachte. Als Simon weitersprach, schwand Johns Wohlwollen jedoch zunehmend.

„Damit wäre ich der Jüngste, der bei der Metropolitan Police je in diesen Rang aufgenommen worden wäre, wie schon damals, als ich zum Superintendent ernannt wurde. Nun ja, ich habe mir diese Beförderung auch redlich verdient. Meine Aufklärungsquote ist unerreicht und ich darf wohl behaupten, die Täter der kniffligsten und aufsehenerregendsten Mordfälle der jüngeren Geschichte eigenhändig zur Strecke gebracht zu haben – mit der mir eigenen Effizienz, Hartnäckigkeit und Raffinesse. Der Commissioner dürfte sich durchaus bewusst sein, dass ich quasi im Alleingang dem in letzter Zeit manchmal doch ramponierten Image von Scotland Yard wieder zu alter Größe verholfen habe.“

Der Telefonhörer triefte geradezu vor Selbstgefälligkeit, während Simon Whittington sich in seinem eigenen Glanz sonnte. John fuhr sich über die Stirn und überlegte kurz, ob er seinen Cousin daran erinnern sollte, dass er mehrere seiner Fälle im letzten Jahr nur mit tätiger Mithilfe einiger Familienmitglieder zum Abschluss gebracht hatte. Dann entschied er sich dagegen. Mit Sicherheit hätte Simon ohnehin nur entgegnet, dass er die Täter nicht wegen, sondern trotz der Einmischung des Mackenzie-Clans gefasst hatte.

Stattdessen fragte er, „Was meinst du damit, du wärst dann der Jüngste? Steht die Beförderung noch nicht fest?“

„So gut wie. Ich muss nur noch einen einwöchigen Lehrgang hinter mich bringen. Dort wird man von hochkarätigen Referenten geschult, die am Ende bei jedem Kandidaten die Eignung für die nächste Führungsebene beurteilen. Allerdings dürfte das eine Formsache sein. Bisher ist noch jeder, der zu so einem Lehrgang gefahren ist, hinterher auch tatsächlich in der Hierarchie nach oben gerückt. Der einzige Nachteil bei der Sache ist, dass ich ab Montag die ganze Woche in einem ganz abgelegenen Hotel oben in Northumberland festsitzen werde. Früher fanden diese Vorbereitungslehrgänge immer hier in London statt, aber diesmal haben sie sich für so ein gottverlassenes Nest entschieden, angeblich, damit wir uns besser auf die Inhalte der Seminare konzentrieren können. Pff, in Wirklichkeit hat die Regierung wieder mal den Rotstift angesetzt. Eigentlich ein Skandal, dass gerade bei den Leistungsträgern dieser Gesellschaft gespart wird …“

John zog ein Kreuzworträtsel heran, während Simon erst über die in seinen Augen mangelnde Wertschätzung seitens der Regierung lamentierte, um dann nahtlos die gesunkene Qualität in seinem karibischen Fünfsternedomizil zu beklagen, in dem er zum Jahreswechsel zehn Tage Golfurlaub verbracht hatte.

„Ich sage dir, die Zigarrenauswahl war unter aller Kanone. Die Schirme am Strand hatten einen widerlichen knallbunten Bezug und das Schlimmste war, dass es am neunten Loch einen Fleck mit mehreren Yards Durchmesser gab, wo das Gras vollkommen vertrocknet war. So richtig gelb war das, unglaublich. Und dann diese Amerikaner mit ihrer hemdsärmeligen Art! Einfach schrecklich. Nein, also für nächstes Jahr müssen wir uns wirklich eine neue Destination suchen. Du hättest da wohl keinen Tipp für uns, oder? Nein, vermutlich nicht. Die Gegenden, in denen du warst, dürften für uns kaum reizvoll sein. Und die Unterkünfte, die unsere Army für die Auslandsaufenthalte zur Verfügung stellt, hatten wahrscheinlich nicht mal einen Einsterne-Standard. Dafür musstest du dich zum Dinner aber auch nicht umkleiden.“

Simon amüsierte sich köstlich über seinen eigenen Scherz. John schwieg und dachte nach, welcher der zehn längsten Flüsse der Erde sechs Buchstaben hatte. Ah, Mekong. Er griff nach einem Kugelschreiber. Jüngste Tochter von Queen Victoria, zweiter Buchstabe ein E …. Hm …

„… Selbstmanagement, Evaluation gruppendynamischer Prozesse, Mitarbeitermotivation, lauter Unsinn ist das, wenn du mich fragst. Dann noch transformationale Führung – was soll das denn wieder für ein Quark sein?“

John hatte während der letzten Minuten von Simons Monolog eine Strategie angewandt, die er und seine Geschwister schon als Kinder perfektioniert hatten, wenn ihnen das Geschwätz ihres eingebildeten Cousins zu sehr auf die Nerven ging: Er hatte auf Durchzug geschaltet. Nun brauchte er einen Moment, um zu kapieren, wovon Simon sprach. Dann merkte er, dass der Superintendent offensichtlich aus den Seminarinhalten seines Lehrgangs vorlas.

„Und dann soll es auch noch teambildende Maßnahmen geben, bei denen zu allem Überfluss so eine Psychotante unsere Interaktionen beobachtet und Chancen optimaler Ressourcennutzung und Persönlichkeitsentwicklung aufzeigt. Grundgütiger!“

John gluckste unhörbar. Die kommende Woche versprach, für den Superintendenten eine strapaziöse Erfahrung zu werden.

„Sei einfach du selbst, Simon“, empfahl er ernsthaft.

Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, konnte er nicht mehr an sich halten und brach in schallendes Gelächter aus. Dann fiel ihm unvermutet das fehlende Wort des Kreuzworträtsels ein: Beatrice.


Kapitel 3

 

Am nächsten Tag betrachtete John mit Spannung, wie Mike Nichols eine Scheibe Brot mit Butter bestrich und einen herzhaften Bissen davon nahm. Mike kaute und schloss genießerisch die Augen.

„Mensch, das schmeckt ja hervorragend.“ Mit gespieltem Erstaunen sah er John an. „Respekt, Kumpel, ehrlich. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

Während John geschmeichelt lächelte, wurde Mikes Gesicht nachdenklich.

„Warte mal. Dieser Geschmack kommt mir irgendwie bekannt vor. Wann habe ich mal so etwas gegessen?“ Er schob sich ein weiteres großes Stück in den Mund. „Jetzt fällt es mir wieder ein! Du weißt ja, dass ich als Junge in Texas gelebt habe, bevor ich mit meiner Mutter nach Kalifornien zog?“

John nickte.

„Die Ranch meines Vaters lag südlich von Austin, vielleicht dreißig Meilen oder so. In der Gegend gibt es eine Menge Nachfahren deutscher Einwanderer. In einem Ort namens New Braunfels gibt es da jährlich ein riesiges Volksfest, das nennen sie Wurstfest. Wir waren nur einmal da, aber ich sage dir, da steppt der Bär. Massenhaft Leute in diesen ulkigen Trachten und dann Bier ohne Ende.“

Er schüttelte lachend den Kopf.

„Mein Vater hatte da vielleicht einen in der Krone. Wir haben ihn auf den Rücksitz gepackt und dort hat er die ganze Heimfahrt gesungen. So ausgelassen habe ich ihn sonst nie erlebt.“

Er sah einen Moment aus dem Fenster.

„Aber eigentlich wollte ich ja von dem Brot erzählen. Eine deutsche Familie hatte im nächsten Ort eine Bäckerei, wo Mum manchmal eingekauft hat. Und deren Brot hat genauso geschmeckt wie das hier!“

„Das könnte am Sauerteig liegen. Damit wird auf dem Kontinent traditionell viel mehr gebacken als bei uns. Ich war ja jahrelang in Deutschland stationiert, dort habe ich solches Brot oft gegessen. Bei uns bekommt man es nur selten. Es freut mich, dass der erste Versuch gleich gelungen ist.“

„Könnte ich noch eine Scheibe haben?“

„Aber gern! Erzähl mal, wie läuft es im Museum?“

„Ganz gut. Das Konzept für die neue Sonderausstellung nimmt allmählich Formen an und es sieht so aus, als könnte mein Antrag auf eine Forschungsexpedition nach Kolumbien im nächsten Jahr genehmigt werden. Neben der normalen Arbeit halten mich momentan die Vorbereitungen für die große Abschiedsparty von Sir Edward und seiner Sekretärin auf Trab.“

„Ah ja, Renie sagte bereits etwas davon. Sir Edward und Ms. Evans gehen Ende des Monats in den Ruhestand, nicht wahr?“

Mike nickte.

„Beide sind sehr beliebt. Du weißt ja, dass Ms. Evans ein Urgestein des Museums und seit über dreißig Jahren im Haus ist. Also haben die Mitarbeiter beschlossen, eine Party für die beiden auf die Beine zu stellen, zusätzlich zur offiziellen Verabschiedung. Und irgendwie ist die Aufgabe, das Ganze zu organisieren, mir in den Schoß gefallen.“

John lächelte. „Bestimmt trittst du dabei auch mit deiner Band auf und bringst ordentlich Schwung in die Bude.“

„Aber logisch. Das Programm wird ziemlich vielfältig, jede Abteilung trägt etwas bei. Die Paläontologen machen zum Beispiel ein Schwarzlichttheater, bei dem natürlich Saurier die Hauptrolle spielen. Und etliche von uns Biologen haben sich zusammengetan und bilden einen Chor. Wir singen für jeden der beiden ein extra getextetes Lied zu einer bekannten Melodie.“

Mike goss sich Tee nach und fuhr fort, „Renie ist mir bei dem Ganzen eine große Hilfe. Sie hängt sich echt voll rein. Sie hat klasse Ideen und bringt auch etwas voran. Momentan interviewt sie alle möglichen Leute vom Personal zu ihren Erinnerungen an Ms. Evans und Sir Edward und sie gräbt auch in den Archiven nach alten Fotos. Aus all dem gestaltet sie dann Abschiedsbüchlein für die beiden. Die ersten Entwürfe habe ich schon gesehen, das wird wirklich sehr schön.“

Plötzlich grinste er.

„Das Mädel ist echt ein Phänomen. Obwohl sie erst seit ein paar Monaten für das Museum arbeitet und nur eine Teilzeitstelle hat, ist sie im ganzen Haus schon bekannt wie ein bunter Hund.“

John schnaubte belustigt. „Das glaube ich dir aufs Wort.“

Als ob sie geahnt hätte, dass gerade von ihr die Rede war, klingelte in diesem Moment das Telefon und die soeben Gelobte war dran.

„Hallo, lieber Onkel! Wie geht’s dir heute? Ich hoffe, du bist wohlauf“, flötete sie.

John zog die Augenbrauen nach oben. „Gut, danke, liebe Nichte. Könnte es sein, dass du etwas von mir willst?“

„Wie kommst du denn darauf? Ich rufe nur an, weil ich mich nach deinem Wohlbefinden erkundigen möchte“, empörte sie sich. „Tatsächlich hätte ich etwas für dich, damit es dir noch besser geht.“

„Ah ja?“

„Ja! Ich weiß doch, dass du dich langweilst, weil du momentan nichts Vernünftiges zu tun hast, wenn du mir nicht gerade beim Textlernen hilfst. Wenn du eine sinnvolle Aufgabe hättest, wärst du besser drauf und das würde deine Genesung sicher beschleunigen.“

Bei John läuteten die Alarmglocken.

„Jetzt rück schon mit der Sprache raus, Renie. Was versuchst du gerade, mir aufs Auge zu drücken?“

„Hah, als ob ich dir schon jemals etwas aufs Auge gedrückt hätte! Ich möchte dir nur die Chance geben, deine brachliegenden, aber hervorragenden beruflichen Kompetenzen wieder einmal einzusetzen. Also pass auf: Wir hatten heute früh Probe und es hat wirklich gut geklappt. Chris hat mich vor versammelter Mannschaft gelobt, wie schnell ich den Text gelernt habe und mich in die Rolle einfinden konnte. Und so ein Lob ist selten, kann ich dir sagen. Er ist wahnsinnig anspruchsvoll. Na, ehrlich wie ich bin, habe ich erzählt, dass du mir dabei geholfen hast. Dann haben auf einmal alle gesagt, sie hätten auch gerne so einen Coach. Du weißt schon, so was wie einen Mentaltrainer, wie ihn auch Leistungssportler haben. Chris war total interessiert und hat mich gebeten, dich anzurufen. Vielleicht könntest du vorbeikommen und dir alles einmal ansehen und mit ihm sprechen? Der Fairness halber muss ich aber gleich dazusagen, dass wir ja alle arm sind wie die Kirchenmäuse und es sowas wie ein Ehrenamt wäre. Also, was meinst du?“

John war schon im Begriff, abzulehnen. Dann jedoch hielt er inne und sagte lediglich, „Lass mich kurz nachdenken, Renie. Ich rufe dich gleich zurück.“

Er legte den Hörer weg und erzählte Mike, der in der Zwischenzeit sein drittes Brot verdrückt hatte, von Renies Vorschlag.

Mike, spontan wie immer, meinte, „Hey, mach das, John. Die Idee klingt doch gut. Du kommst ein bisschen aus deiner Bude raus und kriegst einen Einblick in die Schauspielszene. Außerdem kommst du dadurch wieder mal back to the roots, nicht wahr?“

John nickte langsam.

„Du hast recht. Ich habe es zwar bis heute nicht bereut, umgesattelt zu haben – der Beruf eines Beefeaters ist großartig und nach bald zwanzig Jahren im Ausland ist es wundervoll, wieder in England zu sein – aber … manchmal vermisse ich meine Arbeit als Psychologe auch.“ Er verstummte.

„Und nun kannst du mit dem, was du gelernt hast, ein paar jungen Leuten weiterhelfen. Also, ruf an und sag, du bist dabei.“

„Nicht so schnell, Mike“, bremste John. „Ich muss erst einmal mit Chief Mullins darüber sprechen, ob ich während der Zeit, in der ich noch krankgeschrieben bin, überhaupt außerdienstlichen Aktivitäten nachgehen darf.“

„Dann ruf ihn an.“

Nach einem Moment des Überlegens griff John zum Hörer und wählte Mullins’ Nummer. Der Kommandant beschied ihm energisch, „Was Sie in Ihrer Freizeit machen, Mackenzie, ist Ihre Sache. Solange Sie Ihre Genesung und damit die möglichst schnelle Wiederherstellung Ihrer Diensttauglichkeit nicht gefährden, ist es mir vollkommen schnurz, was Sie tun. Es handelt sich ja auch nicht um eine bezahlte Tätigkeit, wenn ich das recht verstehe?“

„Nein, Sir.“

„Also, dann sehe ich keinen Hinderungsgrund. Cheerio.“

 

 

Zwei Stunden später stand John vor einem stattlichen Gebäude am Torrington Square. Nach der Stunde Krankengymnastik, zu der Mike ihn gefahren hatte, war er das kurze Stück hierher zu Fuß gekommen. Ein Blick auf die Klingelschilder sagte ihm, dass hier neben einem Dentallabor und einigen Arztpraxen auch das private Schauspielstudio von Chris Fuller, M.A. im obersten Stock residierte. Erleichtert sah er, dass es einen Aufzug gab. Er fuhr hinauf. Oben am Treppenabsatz gab es nur eine Tür. Da sie halb offen stand, ging er nach kurzem Zögern hinein.

Drinnen erstreckte sich ein schier endlos langer Flur, von dem zu beiden Seiten Türen abgingen. Aus verschiedenen Räumen waren gedämpft Stimmen zu hören, aber niemand war zu sehen. Eine der langen Wände war mit schwarzem Stoff bespannt. Eine Unzahl Fotos hing dort. Bei den meisten handelte es sich offenbar um Bühnenaufnahmen. Winzige Bildunterschriften gaben das Stück und das Aufführungsjahr an. John ging langsam den Gang hinunter und besah sich die Aufnahmen.

Hamlet 1985, Der Sturm 1994, Richard III. 1999, Der Kaufmann von Venedig 2010, Warten auf Godot 1967 … 1967! Wenn die Fotos Chris Fuller zeigten, musste Renies Schauspiellehrer ja schon ein älterer Herr sein, annähernd im Alter von Johns Vater.

„Tat dir was weh?“, erklang hinter ihm eine volltönende Stimme.

John wandte sich um. „Äh, Verzeihung?“

Erstaunt musterte er den recht jugendlich wirkenden schlanken Mann, der vor ihm stand. Er war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Sein volles, graumeliertes Haar reichte ihm bis zu den Schultern.

„Ihr Einsatz als Wladimir wäre gewesen: Weh! Er fragt mich, ob mir was wehtat.“ Der Mann bemerkte Johns verwirrten Blick und wies auf das Foto von 1967 mit den beiden etwas abgerissenen Gestalten, vor dem John stand. „Sie wollen ja wohl nicht sagen, dass Sie Becketts Bühnenklassiker nicht kennen? Ich war Estragon. Meine erste Hauptrolle. Das waren Zeiten damals, sage ich Ihnen.“

Er hielt John die Hand hin. „Chris Fuller. Nennen Sie mich Chris. Beim Theater sind wir nicht so förmlich. Und Sie müssen Renies Onkel, der Wunder-Coach sein.“

John ergriff die dargebotene Hand. „John. John Mackenzie. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, aber ich fürchte, Renie hat Ihnen ein falsches Bild von mir gezeichnet –“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Renie ist zwar eine immens begeisterungsfähige und temperamentvolle junge Frau, aber gewiss hat sie keinen Hang zum Schwindeln. Sie sind doch Psychologe, oder nicht?“

„Das ist wahr.“

„Na also. Kommen Sie in mein Büro, dann unterhalten wir uns ein wenig.“

John folgte Chris Fuller den Gang hinunter. Da öffnete sich eine der Türen und eine junge Frau, die sich auf zwei Krücken lehnte, spähte heraus.

„Chris! Ich dachte mir schon, ich hätte deine Stimme gehört. Pass auf: Simon sollte in der Sommersonne sieben Säcke Saat säen. War das gut?“

„Hervorragend, Natalie. Mach so weiter.“

Die junge Frau lächelte beglückt und zog sich in das Zimmer zurück. John begann sich allmählich wie in einem surrealen Stück zu fühlen. Fuller spürte offenbar die Verunsicherung seines Besuchers und lächelte leicht.

„Das war eine Übung für das stimmhafte S.“

Er öffnete eine Tür und sie betraten ein etwas chaotisch aussehendes Büro. Fuller setzte sich hinter seinen Schreibtisch und bedeutete John, im Besuchersessel Platz zu nehmen.

„Professioneller Sprechunterricht ist einer der Grundpfeiler der Schauspielausbildung“, fuhr er fort. „Sie würden gar nicht glauben, wie viele Menschen Probleme mit ihrer Aussprache haben. Im Alltag fällt das häufig gar nicht auf, aber für die Bühne ist eine makellose Artikulation unabdingbar. Dafür beschäftige ich eigens eine Logopädin, die mit meinen Schülern die Feinheiten herausarbeitet. Aber genug davon. Kommen wir zu Ihnen –“

Es klopfte an der Tür, die gleich darauf aufging.

„Chris, ich bringe dir das Textbuch zurück – oh …“ Ein Poltern war zu hören. Das Mädchen, das in der Tür stand, hatte ein Buch fallen lassen und stand nun mit aufgerissenen Augen da, die Hände vor den Mund gepresst.

John rätselte, ob dieser Auftritt wieder Teil einer Schauspielübung war. Wenn die junge Frau „ungläubiges Erstaunen“ ausdrücken wollte, war es ihr hervorragend gelungen. Dann aber machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand. Chris sah ihr einen Moment stirnrunzelnd nach, dann stand er auf. „Entschuldigen sie mich einen Augenblick. Ich muss kurz nach Deborah sehen.“

Wenige Minuten später war er wieder zurück, ein breites Grinsen im Gesicht.

„Das kleine Gänschen hat Sie nur im Profil gesehen und glatt mit einem Oscarpreisträger verwechselt. Deswegen wäre sie eben fast in Ohnmacht gefallen.“ Er gluckste erheitert. Dann studierte er John aufmerksam. „Naja, eine gewisse Ähnlichkeit haben Sie tatsächlich mit ihm.“

„Oscar für The King’s Speech, ich weiß“, erwiderte John ergeben. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Rentierpulli-Witze ich schon gehört habe.“

Fuller lachte. „Ah ja, die Rolle des Mark Darcy, in der ihm alle Frauenherzen zugeflogen sind. Wussten Sie, dass Colin am Drama Centre studiert hat? Genau die Schule, für die Renie sich bewirbt. Aber lassen wir das. Ich freue mich auf jeden Fall sehr, dass Sie so kurzfristig gekommen sind. Wenn ich Renie recht verstanden habe, hätten Sie in den kommenden Wochen krankheitsbedingt etwas Zeit?“

John nickte. „Ab nächsten Montag werde ich jeweils halbtags zur Reha sein, aber ansonsten bin ich momentan relativ frei in meiner Zeiteinteilung. Allerdings habe ich keine rechte Vorstellung, wie unsere Zusammenarbeit aussehen könnte.“

„Renie sagte, Sie wären ausgebildet, Entspannungsverfahren durchzuführen?“

John nickte abermals.

„Sehr gut. Viele meiner Schüler, die ja noch am Anfang ihres Schauspielerlebens stehen, leiden unter Auftrittsängsten. Nun ja, das ist natürlich, denn Erfahrung wird aus Fleiß und Müh erlangt, wie schon unser unsterblicher Dichter sagte. In ‚Die beiden Veroneser‘“, setzte er mit einem Blick auf John hinzu. „Nun, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, sind Entspannungsverfahren sehr hilfreich, um mit Lampenfieber umzugehen und sich vor einem Auftritt zu zentrieren. Vielleicht könnten Sie einige Gruppenstunden anbieten?“

„Das wäre kein Problem. Allerdings werden die Schüler innerhalb der rund drei Wochen, in denen ich noch krankgeschrieben bin, weder die Progressive Muskelentspannung noch das Autogene Training wirklich erlernen können. Dafür ist nach meiner Erfahrung eine Zeitspanne von rund zwei Monaten regelmäßigen Übens notwendig.“

„Selbstverständlich. Das erwarte ich auch gar nicht. Ich sehe den Sinn eher darin, den jungen Leuten einen ersten Einblick zu geben und einen Einstieg in die Techniken zu ermöglichen.“

„Das ist sicher möglich“, stimmte John zu.

„Damit haben die jungen Leute auch eine gute Grundlage für das, was sie – sofern sie es auf eine anerkannte Schule schaffen – noch viel vertiefter lernen werden. Gerade im method acting spielen Entspannungs-, Konzentrations- und Visualisierungsübungen als fundamentales Handwerkszeug für das Schauspielen eine große Rolle.“

„Tatsächlich?“, fragte John interessiert.

„Sind Sie mit den Lehren des großen Stanislawski vertraut?“

„Nein. Ich habe den Namen schon gehört, aber das ist auch schon alles.“

Fuller warf ihm einen schmerzvollen Blick zu und murmelte, „Bedauerlich, höchst bedauerlich …“ Dann hob er an zu einem Schnelldurchlauf über Schauspieltheorien vom achtzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahrhundert unter besonderer Betonung der schöpferischen Schauspielästhetik im Naturalismus. Johns Blick wurde zunehmend glasig. Er war froh, als Fuller seine Abhandlung endlich beendete und ihm ein Buch in die Hand drückte.

„Hier, tun Sie etwas für Ihre Bildung und lesen Sie das. Ein Klassiker.“

John sah den dicken Wälzer in seiner Hand an – Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski – und murmelte, „Faszinierend.“

Fuller fuhr fort, „Ich würde es auch begrüßen, wenn Sie einigen meiner Schützlinge Einzelcoachings anbieten würden.“ Er schwieg einen Moment.

„Sehen Sie, ich will ehrlich sein. Ich kann und will mich nicht zu sehr mit dem Geisteszustand meiner Schüler beschäftigen. Das ginge auch gar nicht. Jeder Psychiater wird Ihnen bestätigen können, dass die Häufigkeit von Störungen jeglicher Couleur gerade in den darstellenden Berufen relativ hoch ist. Wie schon der große Aristoteles feststellte: Nie gab es ein großes Genie ohne einen Anflug von Wahnsinn. Nicht wahr? Ich sage Ihnen, da könnte ich stundenlang aus dem Nähkästchen plaudern. Mein alter Monologlehrer am Lee Strasberg-Institute in New York zum Beispiel. Der war in den Sechzigern ein absoluter Star und hat an allen bedeutenden Theatern der Welt gespielt. Der hatte eine Präsenz auf der Bühne, der hatte eine Ausdruckskraft, das hat einem schier den Atem genommen. Aber er hatte auch schwer einen an der Klatsche, wenn ich das so sagen darf. Komplett durch den Wind, der Mann. Vom Wahnsinn umnachtet … Sie verstehen, was ich meine.“

John unterdrückte ein Grinsen. „Sie drücken sich sehr klar aus.“

„Na, wie dem auch sei. Zurück zu meinen Schülern. Ich will, dass sie sich auf ihre Aufgabe fokussieren und ihr gesamtes Potenzial abrufen. Einigen von ihnen gelingt dies jedoch nach meiner Einschätzung nicht. Konkret würde ich Ihnen drei aus meinem Vorbereitungskurs ans Herz legen: Da wäre zum einen Harry Morland. Er hatte bis vor kurzem eine Beziehung zu einem der Mädchen, Veronica Fitch. Offenbar hat sie diese Beziehung beendet und nun leidet er wie ein Hund. Ich habe gehört, dass sogar bei dem Radiosender, bei dem er arbeitet, Anrufe eingegangen sind, weil er seit Tagen beständig melodramatische Liebeslieder über den Äther schickt. Auch hier ist kaum etwas mit ihm anzufangen. Das muss sich schnell ändern. Immerhin habe ich ihm die Rolle von Henry VIII gegeben und da kann ich ihn nicht als winselndes Hündchen gebrauchen. Dann Lily Carruthers. Sie hat eine unglaubliche Singstimme und eine großartige, zerbrechliche Ausstrahlung. Aber sie kommt nicht richtig aus sich heraus. Es fehlt ihr wohl an Selbstvertrauen. Und schließlich Natalie Sinclair, die Sie eben kurz gesehen haben und die momentan so etwas wie eine Leidensgenossin von Ihnen ist.“

Er wies auf Johns Krücken.

„Natalie könnte eine wirklich gute Darstellerin werden, wenn sie ihre Rivalitätsgefühle nicht so in den Vordergrund stellen würde. Gerade Veronica ist ein rotes Tuch für sie. Ich muss zugeben, ich war fast erleichtert, als das Mädchen sich nun das Bein gebrochen hat. Die beiden hätten die Szene zwischen Anne Boleyn und ihrer Hofdame spielen müssen. Es war von Anfang an ein Fiasko, weil die gesamte Situation derart mit Emotionen aufgeladen war, dass die Luft schon flirrte.“ Er beugte sich vor und sah John eindringlich an.

„Was denken Sie? Können Sie den dreien helfen?“

„Das kann ich vorab nicht sagen. Es hängt natürlich davon ab, ob die Betreffenden überhaupt ein Interesse an Gesprächen haben.“

In Fullers Augen blitzte es auf.

„Die werden Interesse haben. Dafür sorge ich schon. Und dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre Einschätzung mitteilen könnten.“

John lächelte den Schauspiellehrer milde an.

„Bei allem Respekt, Sir, aber dazu wird es definitiv nicht kommen. Das Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Klient ist heilig. Wenn die Schüler über die Ergebnisse der Sitzungen mit Ihnen sprechen möchten, steht ihnen dies selbstverständlich frei. Von mir jedoch wird absolut niemand etwas darüber erfahren. Und ich erkläre mich ausschließlich dazu bereit, mit jemandem zu arbeiten, der dies von sich aus möchte, ohne jeglichen Zwang. Das sind meine Bedingungen.“

Er lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme.

Einen Moment herrschte Schweigen. Dann lächelte Fuller plötzlich und stand auf.

„In Ordnung. Ich respektiere Ihre professionelle Einstellung, John. Nun lassen Sie uns hinübergehen, damit Sie die Rasselbande kennenlernen können.“

Er schritt voran bis zum Ende des Ganges.

„Sie proben gerade unter Leitung meiner Assistentin Julie die letzte Szene des Stücks. Wir gehen hinein und setzen uns hin, solange das Geschehen auf unserer Probenbühne läuft.“

Behutsam öffnete er die Tür. Dahinter lag ein langgestreckter Raum. Das entgegengesetzte Ende diente offensichtlich als Bühne und war hell erleuchtet. Im Halbdunkel davor standen einige Reihen Stühle. Weiter vorne konnte John den Rotschopf seiner Nichte ausmachen, die auf einem Stuhl neben einem Mädchen mit langem schwarzem Haar fläzte. Die beiden Männer setzten sich ganz hinten hin und lauschten.

John fiel auf, dass er der Einzige im Raum war, der nicht komplett in Schwarz gekleidet war. Als hätte Fuller seine Gedanken erraten, flüsterte er, „Ich bestehe darauf, dass alle meine Schüler relativ einheitlich gekleidet sind. Es soll nichts Ablenkendes geben. In einem tollen Kostüm ist es nicht schwer, einen großen Auftritt hinzulegen, aber so ist die Wahrnehmung ganz auf den darstellerischen Ausdruck reduziert.“

John nickte verstehend.

„Das ist Harry Morland“, raunte Fuller nach einigen Minuten und deutete auf einen mittelgroßen und etwas untersetzten jungen Mann, der umringt von einigen anderen das Schicksal pries, das ihm königlichen Nachwuchs – hier in Gestalt einer Plastikpuppe – beschert hatte. Besonders beglückt wirkte er dabei jedoch nicht.

„Und das Mädchen, das das Baby hält, ist Lily Carruthers. Sie spielt mehrere weibliche Nebenrollen im Stück.“

John beobachtete eine blasse junge Frau in einem übergroßen Pullover, die hingebungsvoll an Henrys – oder Harrys? – Lippen hing.

„Wer sind die anderen?“, wisperte er.

„Der Lord Mayor ist Frankie Byrd, unser Stripperkönig. Sicher nicht das hellste Licht am Firmament und auch kein Oscaranwärter, aber mit seinem Äußeren und dem nötigen schauspielerischen Handwerkszeug wird er sicher sein Geld bei irgendwelchen Daily Soaps verdienen können. Renie und Veronica haben in dieser Szene keinen Auftritt. Die anderen Jungs dort vorn sind Studenten der Royal Academy. Ich habe sie gebeten, hier einzuspringen, weil ich noch einige männliche Darsteller brauchte. Ich selbst spiele auch in einigen Szenen mit, unter anderem als Kardinal Wolsey.“

Heut soll keiner des Hauses warten, alle bleibt als Gäste. Durch diese Kleine wird der Tag zum Feste“, sprach der König auf der Bühne schließlich den letzten Satz.

Eine junge Frau, die mit einem Textbuch ein wenig abseits gesessen war, stand auf. „Gut gemacht, Leute. Ohne Hänger durchgekommen. An den Feinheiten arbeiten wir noch.“

Das halbe Dutzend Leute, das im Zuschauerraum saß, applaudierte begeistert.

Chris Fuller jedoch seufzte vernehmlich. „Wir haben noch viel zu tun bis zur Premiere übermorgen“, meinte er halblaut und stand auf. Er ging nach vorn und klatschte in die Hände.

„Danke, Julie. Ich übernehme jetzt wieder. Herrschaften, die Szene machen wir gleich nochmal. Da ist noch einiges zu optimieren. Aber, um es mit den Worten des unsterblichen Dichters zu sagen: Glücklich sind, die erfahren, was man an ihnen aussetzt und sich danach bessern können.“

Renie fuhr in ihrem Stuhl herum und rief triumphierend, „Viel Lärm um nichts!“

Fuller lächelte beifällig. „Gut, Renie. Bevor wir mit der Arbeit fortfahren, möchte ich euch nun jemanden vorstellen.“


Kapitel 4

 

Zwei Abende später saß John über den Aufzeichnungen, die er sich zu seinen neuen Schützlingen gemacht hatte. Gestern und heute hatte er bereits mit den sechs jungen Leuten aus Fullers Vorbereitungskurs die ersten Einheiten des Entspannungstrainings hinter sich gebracht. Da Chris Fuller die Gruppe darauf eingestimmt hatte, dass das Erlernen einer Entspannungstechnik zum Rüstzeug eines Schauspielers gehörte, waren alle motiviert bei der Sache und hatten sich auch bereit erklärt, die notwendigen Übungen zu Hause durchzuführen. Ob sie diese guten Vorsätze auch umsetzen würden, blieb abzuwarten.

„Genauso wie das Zehnfingersystem beim Tippen oder das Fahrradfahren oder Schwimmen ist diese Entspannungstechnik von so gut wie jedem Menschen erlernbar. Die einzige Voraussetzung ist, dass ihr übt, übt und nochmal übt“, hatte John ihnen am Ende der ersten Sitzung eingeschärft.

„Nehmt euch nun am Anfang täglich mindestens eine Viertelstunde Zeit dafür. Keine Sorge, je mehr euch die Technik in Fleisch und Blut übergeht, desto mehr könnt ihr die Übung verkürzen. Am Ende werdet ihr in der Lage sein, innerhalb weniger Minuten den Körper auf Entspannung umzuschalten und den Kopf freizukriegen. Also: Sucht euch zum Üben einen ruhigen Ort, wo ihr möglichst nicht gestört werdet und schaltet euer Handy aus.“ Hier hatte es entsetzte Blicke gegeben. „Dann braucht ihr nur noch einen halbwegs bequemen Stuhl und es kann losgehen.“

„Warum machen wir das im Sitzen? Im Liegen wäre es doch viel bequemer?“, fragte Natalie Sinclair.

„Die Übung soll es euch ermöglichen, im Alltag kurze Pausen effizient zur Entspannung zu nutzen. Und da wir zwar in vielen Situationen sitzen, uns aber selten richtig hinlegen können, sollt ihr es von Haus aus im Sitzen lernen. Außerdem seid ihr so schon auf die sogenannte Stuhlübung vorbereitet, die in der Schauspielausbildung eine Rolle spielen wird. Das zumindest habe ich in dem Buch gelesen, das Chris mir geliehen hat.“

Das leuchtete offenbar allen ein.

„Könnten Sie uns eine CD oder eine Audiodatei geben, wo die Anleitung für die Übung gesprochen wird? Ich finde, damit kann man sich besser konzentrieren“, meinte Harry Morland. „Sie könnten sogar selbst eine einsprechen. Bei uns im Sender wäre das kein Problem, das könnte ich schon deichseln –“

John schüttelte entschieden den Kopf. „Ich möchte, dass ihr total unabhängig seid von äußeren Hilfsmitteln. Ihr bekommt das hin, wenn ihr euch den Ablauf selbst im Kopf vorsagt und euch nicht auf die Stimme eines Anderen, sondern auf euch selbst und das, was ihr spürt, konzentriert.“

„Aber ich kann nicht so lange bei der Sache bleiben. Mir geht ständig etwas anderes im Kopf herum“, wandte Lily Carruthers zaghaft ein.

John lächelte sie freundlich an.

„Das ist am Anfang völlig normal. Aber jeder von euch kann es lernen, sich soweit zu fokussieren, dass für eine gewisse Zeit alles andere ausgeblendet wird. Passt auf, ich erzähle euch von einem Kurs, den ich für Truppenangehörige zur Vorbereitung auf einen Auslandseinsatz durchgeführt habe. In der ersten Sitzung beschwerte sich einer der Teilnehmer, dass die Uhr in meinem Behandlungszimmer so laut tickte, dass er sich nicht konzentrieren könnte. Um des Friedens willen nahm ich die Uhr ab. Einige Wochen später dann gab es direkt unter meinem Fenster einen kleinen Unfall im Kasernengelände, während wir die Übung gemacht haben. Ein Rekrut hatte seinen Wagen beim Einparken gegen einen Pfosten gesetzt und es schepperte ziemlich. Ich dachte, jetzt ist es vorbei und alle sind aus der Entspannung herausgerissen. Aber nein, keiner zuckte auch nur mit der Wimper. Nachdem wir am Ende angelangt waren und alle wieder die Augen geöffnet hatten, fragte ich in die Runde, ob niemand etwas gehört hätte. Alle waren sehr erstaunt, tatsächlich hatte kein Einziger etwas mitbekommen.“

„Hey, das wäre ja toll, wenn ich das auch könnte, dann würde ich vom Geschnarche meines Freundes nichts mitbekommen“, kicherte Veronica.

„Von welchem deiner aktuellen Lover sprichst du?“, zischte Natalie giftig, während Harry den Kopf senkte und vor sich auf den Boden stierte.

„Nur keinen Neid, Miss Hinkebein“, gab Veronica lässig zurück, warf ihre lange schwarze Mähne nach hinten und stand auf.

„Ich muss jetzt weg. Castingtermin für das neue Video von – ach nein, das sage ich euch lieber nicht, sonst rennt ihr vielleicht auch alle dorthin und steht euch sinnlos die Beine in den Bauch. Traumtypen sind das auf jeden Fall, das kann ich euch verraten. Also bis morgen, Leute. John – ich freue mich schon auf die nächste Stunde mit Ihnen.“ Sie suchte ihre Sachen zusammen, unter anderem die Thermoskanne, die sie stets mit sich herumschleppte, schenkte ihm ein routiniertes Lächeln und verschwand.

Kaum war sie aus der Tür, fauchten die drei restlichen Mädchen wie aus einem Mund, „Bitch“ hinter ihr her. Dann hob Natalie eine ihrer Krücken in die Höhe und fuchtelte drohend hinter Veronica her.

Du schlechtes Hundepack! Des Hauch ich hasse wie fauler Sümpfe Dunst; des Gunst mir teuer wie unbegrabner Männer totes Aas, das mir die Luft vergift't. Ich banne dich!“

„Nicht schlecht“, meinte Renie. „Gefällt mir. Wo hast du das her?“

„Coriolanus“, erwiderte Natalie.

Offensichtlich wollte Lily beim Zitatenwettstreit nicht hintenanstehen. „Oh Schlangenherz, von Blumen überdeckt. Wohnt in so schöner Höhl’ ein Drache je?“, deklamierte sie.

Natalie murmelte, „Romeo und Julia“ und nickte anerkennend. Renie hob grinsend den Daumen nach oben. „Volltreffer, Lily. Gut gebrüllt, Löwe.

Alle drei Mädchen brachen in Kichern aus. Frankie war dem Wortwechsel mit leicht ratlosem Blick gefolgt, während Harry immer noch mürrisch vor sich hinstarrte.

Lily legte eine Hand auf seinen Arm. „Sei froh, dass du sie los bist. Du siehst ja, was für ein Biest sie ist.“

Harry schüttelte sie ab und stand ebenfalls auf. „Ich muss jetzt auch los, zum Sender.“ Auch Frankie erhob sich. „Bei mir steht heute noch ein Fotoshooting an. Ciao, Mädels. Wiedersehen, John.“

„Veronica ist wirklich eine Zimtzicke, die führt sich schon wie eine richtige Diva auf. Ich frage mich, wie du es mit ihr aushältst, Lily“, meinte Renie. „Lily und Veronica teilen sich nämlich eine Wohnung“, erklärte sie John.

„Naja, es ist so verflucht schwierig, in London allein etwas Bezahlbares zu finden. Sonst hätte ich mir schon längst etwas Eigenes gesucht.“ Lily wandte sich John zu. „Denken Sie, Sie hätten ein bisschen Zeit für mich? Ich … würde mich gern mit Ihnen unterhalten, unter vier Augen.“

„Ich auch“, ließ Natalie sich vernehmen. „Wir können uns darauf verlassen, dass Sie mit niemandem darüber reden?“

„Hundertprozentig. Egal, was ihr mir erzählt, es bleibt alles ausschließlich bei mir. Da kann selbst meine neugierige Nichte mich löchern, so lange sie will.“ Er warf einen bedeutungsvollen Blick zu Renie hinüber. Die grinste unschuldig. „Ich, neugierig? Wie kommt ihr nur darauf?“

 

 

Zugrundeliegende Geschwisterrivalität? notierte John sich abschließend zu Natalie Sinclair. Mit ihr und Lily Carruthers hatte er bisher zweimal einzeln in Fullers Studio gearbeitet, wo Chris ihm einen der zahlreichen Räume zur Verfügung gestellt hatte.

Beiden Mädchen war bewusst, dass sie sich in irgendeiner Art selbst im Weg standen und sie waren ehrlich daran interessiert, etwas über sich zu lernen und sich weiterzuentwickeln. John war zuversichtlich, dass er über die nächsten Wochen mit beiden etwas voranbringen konnte.

Harry Morland dagegen hatte sein Gesprächsangebot mit den Worten, „Ich weiß, dass Chris meint, ich soll mit Ihnen reden. Aber ich glaube nicht, dass ich einen Seelenklempner nötig habe, echt. Nichts für ungut, John“, abgelehnt. „Aber das mit dem Entspannungstraining ist ’ne gute Sache. Gestern Abend habe ich die Übung nochmal gemacht und dann hab ich zum ersten Mal seit längerem wieder mal richtig gut geschlafen“, hatte er noch hinzugefügt, bevor er zur abschließenden Kostümprobe verschwunden war.

 

John legte den Stift weg und machte sich daran, sein Abendessen herzurichten. Bei der Untersuchung heute früh hatte der Arzt entschieden, dass das Gelenk nun stabil genug war, um wieder voll belastet zu werden. Nun, da er die Krücken nicht mehr brauchte, ging alles wieder wesentlich leichter. Dafür trug er nun eine Schiene, die über Ober- und Unterschenkel ging und das Bein fixierte. Während er Salatzutaten schnitt und mischte, schaltete er seinen Laptop ein und rief das Video-Telefon-Programm auf. Just als er sich an den Tisch setzte, blinkte auf dem Bildschirm „Pauline online“ auf. Freudig drückte er die Verbindungstaste und erblickte Pauline Murray, die soeben nach einem Stück Käse griff.

Seit einiger Zeit trafen sich beide jeden Freitagabend zum Essen – wenn auch nicht persönlich, da eine Entfernung von zweihundert Meilen sie trennte. Zu Johns Leidwesen war Pauline zu Beginn des Herbsttrimesters von Richmond nach York gewechselt, wo ihr der Posten als stellvertretende Schulleiterin angeboten worden war.

 

„Ich habe die Prüfung geschafft“, erzählte sie stolz, nachdem sie sich begrüßt hatten und hielt ein rundes Abzeichen in die Kamera, auf dem die Silhouette der Kathedrale von York zu sehen war und dazu das Kürzel YMV. „Nun bin ich geprüfte Gästeführerin der York Minster Volunteers.“

„Gratuliere, Pauline! Allerdings hatte ich daran auch keinen Zweifel. Als Geschichtslehrerin bist du ja wirklich prädestiniert für diese Tätigkeit.“

„Trotzdem kann ich beim Detailwissen noch lange nicht mit einigen aus unserer Gruppe mithalten, die zum Teil seit Jahrzehnten ehrenamtlich den Besuchern unsere wunderbare Kathedrale näherbringen. Ich habe in den letzten Wochen unglaublich viel gelernt. Allein schon über die drei verschiedenen Stile der Gotik, die man bei uns in einem einzigen Kirchenbau sehen kann, könnte ich mittlerweile eine Abhandlung schreiben.“

Sie schnitt sich eine Scheibe Brot ab.

„Aber unsere Kathedrale ist nicht nur ein Eldorado für jemanden mit Interesse an Kultur und Architektur, sondern auch für jeden, der sich auch nur ansatzweise für Geschichte interessiert. Wir haben eine grandiose Ausstellung in den Gewölben unterhalb der Kirche, wo man Spuren aus allen Epochen der Bevölkerungsgeschichte sehen kann. Von den Römern über die Wikinger zu den Normannen und Angelsachsen, alle waren sie hier in York.“

Ihre Augen leuchteten.

„Es ist einfach ein erhabenes Gefühl, genau an der Stelle zu stehen, wo Konstantin der Große im Jahr 306 zum römischen Kaiser gekrönt wurde. Dort umweht dich förmlich der Atem der Geschichte.“

John musste über ihren Enthusiasmus lächeln.

„Wann wirst du deine erste eigene Führung machen?“

„Gleich nächsten Donnerstag geht es los. Dann habe ich den ersten Termin für einen eineinhalbstündigen Rundgang. Ich bin schon ganz kribbelig, sage ich dir.“

John grinste. „Das wird sicher eine angenehme Abwechslung für dich. Da tappt dann ein Dutzend Leute hinter dir her, die sich wirklich dafür interessieren, was du zu sagen hast.“

Pauline lachte. „Da hast du recht. Wenn ich bedenke, welche Schwerstarbeit ich gerade leiste, um meine Mittelstufenschülerinnen für die Hintergründe der Rosenkriege zu begeistern, wird das eine richtige Erholung für mich werden. Oh, apropos Schüler: Hattest du nicht in der Zwischenzeit deine erste Rabenführung?“

„Ja, das war heute. Und es lief einfach perfekt, ich war überrascht. George hat Sophies Klasse erst einmal das Rabenhaus gezeigt und den Kindern einiges über die Pflichten des Ravenmasters erzählt. Dann ist er mit ihnen über das Gelände spaziert, damit sie Ausschau nach unseren Rackern halten konnten. Buchstäblich den Vogel abgeschossen hat natürlich wieder einmal Gworran.“

Gworran, der jüngste Rabe der neunköpfigen Gruppe, hatte zu John eine besonders enge Bindung aufgebaut. Mike Nichols, der am Naturhistorischen Museum Papageien erforschte, hatte im letzten Herbst einige Lernexperimente mit ihm gemacht und Gworran eine selbst für Rabenvögel außergewöhnliche Intelligenz bestätigt.

„Er hat eine richtige Show abgezogen, draußen auf dem Tower Green. Zuerst hat er sein übliches Repertoire an Geräuschen abgespult, die er nachahmen kann und zur Krönung hat er dann einen Spruch geschmettert, den Tommy ihm offenbar klammheimlich beigebracht hat, als er im Sommer einige Male hier war, um Aufnahmen zu machen: „Schule ist doof.“ Spätestens da hatte er natürlich die Herzen aller Kinder gewonnen. Danach kam die Klasse zu mir in unseren Schulungsraum und ich zeigte ihnen den Film, den Tommy gemacht hat und erzählte ihnen etwas über das Leben der Raben. Hinterher ließ ich sie das Wissensquiz machen – du kennst es ja – und so gut wie alle konnten es fehlerfrei lösen.“

Pauline hatte ihm bei der Entwicklung der Quizfragen für verschiedene Altersstufen geholfen.

„Die Kinder haben ein dickes Lob von Sophie bekommen und waren natürlich mächtig stolz auf sich. Ich glaube, da haben wir etliche Freunde für unsere Vögel gewinnen können. Alle wollten zum Abschluss unbedingt in den Shop und Rabensouvenirs kaufen.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Als ich im vorletzten Jahr mit meiner Klasse im Tower war, war es genauso, wenn du dich erinnern kannst.“

Oh ja, John hatte die denkwürdige Führung, die er für Paulines Schülerinnen gemacht hatte, noch bestens im Gedächtnis. Damals hatten sie sich zum ersten Mal getroffen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739354583
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Shakespeare London Krimi Familie Themse Thriller Spannung

Autor

  • Emma Goodwyn (Autor:in)

Hinter dem Pseudonym Emma Goodwyn verbirgt sich eine erfolgreiche Psychologin, die mit John Mackenzie, dem Helden ihrer Cosy Mysteries nicht nur den Beruf teilt. Neben einer Vorliebe für die asiatische Küche und Darjeeling-Tee verbindet beide die Leidenschaft fürs Gärtnern und das Lösen von Rätseln.
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Titel: Tod im Schatten der Tower Bridge