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Tod in Westminster

John Mackenzies fünfter Fall

von Emma Goodwyn (Autor:in)
243 Seiten
Reihe: John Mackenzie, Band 5

Zusammenfassung

Der Herbstwind fegt durch die Straßen Londons und auch das Leben von Beefeater John Mackenzie wird kräftig durcheinandergewirbelt. Die bevorstehende Junggesellenversteigerung hängt wie ein Damoklesschwert über ihm. Tante Isabel reist aus den schottischen Highlands an, um in den Adelsstand erhoben zu werden. Dann jedoch stirbt ein Mitglied ihrer Delegation unter mysteriösen Umständen. Während die Polizei im Dunklen tappt und die unbezähmbare Renie wie immer für Überraschungen sorgt, ist es an John, das Geheimnis hinter diesem Mord zu lüften

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

Westminster Palace, im Sommer des Jahres 1239: Ein Knabe wird geboren, der den Lauf nicht nur der englischen Geschichte maßgeblich beeinflussen wird.

Sein Vater: König Henry III Plantagenet, ein großer Verehrer von Edward dem Bekenner, dem für seine Mildtätigkeit und Frömmigkeit berühmten und nach seinem Tod heiliggesprochenen König. Ihm zu Ehren lässt Henry Westminster Abbey im gotischen Stil neu erbauen und gibt einen prächtigen neuen Schrein in Auftrag, in den die Gebeine des Heiligen umgebettet werden sollen.

Und er benennt seinen Erstgeborenen nach ihm.

Der Sprössling, ausgestattet mit ungestümer Energie und brillanten Geistesgaben, wächst zu einem vielversprechenden jungen Mann heran, der sich mit seiner stattlichen Körpergröße von mehr als sechs Fuß bald den Beinamen „Edward Langbein“ verdient. Als er mit fünfunddreißig Jahren zum König gekrönt wird, eilt ihm ein Ruf als furchtloser Krieger und geschickter Heeresführer voraus, den er sich bei den Kreuzzügen im Heiligen Land erworben hat.

Er schafft, was seinem Vater nicht gelungen ist: Den englischen Adel hinter sich zu vereinen und dem Land damit Stabilität zu geben. Gleichzeitig räumt er dem Parlament vorher nicht dagewesene Rechte ein. Er reformiert erfolgreich das Rechtswesen und die Verwaltung und baut die Armee zu einer schlagkräftigen Truppe auf. Als seine Frau Eleanor nach sechsunddreißig Jahren Ehe stirbt, wird das ganze Volk Zeuge, wie sehr der König um die geliebte Gefährtin trauert. An jedem der zwölf Orte, wo die Prozession mit ihrem Sarg zwischen Lincoln und ihrer letzten Ruhestätte in Westminster Abbey Halt macht, lässt er ein Kreuz zum Gedenken an Eleanor errichten, eines davon im Dörfchen Charing unweit von Whitehall – unwissend, dass Charing Cross sich im Lauf der Jahrhunderte zum Mittelpunkt der Metropole London entwickeln würde.

 

Jedoch trägt der König auch ein anderes Gesicht: rachsüchtig, grausam, erbarmungslos. Die gesamte jüdische Bevölkerung wird auf seinen Befehl hin exekutiert oder vertrieben. Mit dem konfiszierten Vermögen finanziert Edward seine Kriegszüge auf der britischen Insel. Als er es geschafft hat, Wales nach blutigen Kämpfen der englischen Krone einzuverleiben, richtet er sein Augenmerk auf Schottland.

Nachdem er König John Balliol gefangen, gedemütigt und ins Exil gezwungen hat, sieht er sich bereits als Sieger. Doch er hat den Freiheitsdrang des Volkes aus dem Norden unterschätzt. Immer wieder kommt es zu Aufständen gegen das englische Joch, die von Edwards Truppen aufs Blutigste niedergeschlagen werden. Die Leichen fallen wie Herbstlaub, schreibt ein Chronist, der Zeuge wird, wie die Grenzstadt Berwick-on-Tweed förmlich ausradiert wird.

Als Edward den charismatischen Anführer der Schotten, William Wallace, in die Finger bekommt, ist dessen Schicksal besiegelt. Nach einer grausamen Tortur wird er getötet, sein Kopf auf einem Spieß an der London Bridge zur Schau gestellt. Doch schon erhebt sich der nächste Rebell: Robert the Bruce.

Trotz seines hohen Alters macht Edward sich auf, seine Mannen nach Norden in die Schlacht gegen die Aufständischen zu führen. Auf dem Weg dorthin stirbt er achtundsechzigjährig.

Sein Verlangen, Schottland endgültig unterworfen zu sehen, reicht über den Tod hinaus: Noch zu Lebzeiten hat Edward verfügt, seine königlichen Gebeine mögen bei zukünftigen Feldzügen stets mitgeführt und erst dann zur Ruhe gebettet werden, wenn die Schotten endgültig besiegt seien. Doch dieser Wunsch sollte ihm nicht erfüllt werden. Nach seinem Tod wird der König in einem schlichten Steinsarkophag – für ein aufwändigeres Grabmal ist kein Geld mehr da – in Westminster Abbey beigesetzt.

 

Dass gut siebenhundert Jahre später just an diesem Ort ein weiterer aufrührerischer Highlander den Tod findet, hätte Edward I, dem „Hammer der Schotten“, sicher grimmiges Vergnügen bereitet.


Kapitel 1

 

„Hör dir das an, John.“ Renie schlug ein sichtbar abgegriffenes Taschenbuch auf, ‚Wie ich Livingstone fand‘ von Henry Morton Stanley.

Am 16. Oktober im Jahr unseres Herrn 1869 befand ich mich in Madrid, frisch vom Blutbad von Valencia. Um zehn Uhr vormittags übergab Jacopo mir ein Telegramm. Darin stand, ‚Kommen Sie nach Paris, dringliche Angelegenheit.‘ Das Telegramm kam von Mr. James Gordon Bennett jun., dem jungen Verleger des New York Herald. Dann ein bisschen blablabla und hier wird’s interessant.

Mr. Bennett fragte mich, ‚Wo, denken Sie, ist Livingstone?‘

‚Das weiß ich wirklich nicht, Sir.‘

‚Denken Sie, er ist am Leben?‘

‚Das könnte sein, es könnte auch nicht sein‘, antwortete ich.

‚Nun, ich denke, dass er lebt und dass er gefunden werden kann – und ich werde Sie ausschicken, ihn zu finden.‘“

Mit leuchtenden Augen ließ Renie das Buch sinken und sah ihren Onkel an.

Das wäre mein Traum. Was für eine Aufgabe! Allein in ein kaum erforschtes Gebiet zu ziehen und einem seit Jahren verschollenen Missionar nachzuspüren – das waren noch echte Abenteuer.“

„Naja, allein dürfte Stanley in Afrika wohl kaum gewesen sein. Wahrscheinlich hatte er eine Heerschar einheimischer Helfer. Und ein romantisches Abenteuer war die Expedition inmitten von Raubtieren, feindseligen Stämmen und allen möglichen tropischen Krankheiten sicher auch nicht“, erwiderte John trocken.

Seine Nichte ignorierte ihn. „Und tatsächlich hat Stanley ihn im November 1871 am Tanganjika-See gefunden, ist das nicht der Hammer?“

„Mit den legendären Begrüßungsworten, ‚Dr. Livingstone, nehme ich an‘, ich weiß. Stanley ist also zwei Jahre lang kreuz und quer durch Afrika gereist, bis er Livingstone entdeckt hat?“

„Nein, die eigentliche Expedition dauerte nur gut ein halbes Jahr. Morton schreibt hier in seinem Buch, dass sein Verleger ihn zuerst noch zur Einweihung des Suez-Kanals schickte, danach sollte er Ägypten durchqueren und einen Reiseführer für amerikanische Touristen schreiben. Anschließend sollte er von Ausgrabungen in Jerusalem berichten und von irgendwelchen politischen Auseinandersetzungen in Konstantinopel, bevor er weiter auf die Krim reiste …“

Während Renie munter weiterschwatzte, kippte John einen Berg kleingeschnittener Apfelstücke von seinem Schneidbrett in eine Schale und griff nach einem weiteren Apfel. Seine Nichte war an diesem verregneten Septembernachmittag in den Tower gekommen, um John über die Schulter zu sehen, wie er ihr Lieblingsgericht Apple Crumble zubereitete.

„Der schmeckt nirgends so gut wie bei dir. Ich möchte endlich mal hinter dein Geheimnis kommen“, hatte sie erklärt und extra einen Block mitgebracht, um jeden Schritt minutiös zu notieren. Bisher hatte sie jedoch kein Wort aufgeschrieben. Sie war viel zu sehr gefangen in ihren neuesten Karriereplänen.

 

„Jetzt weiß ich endlich, was ich will“, hatte sie vor einiger Zeit bei einem Familienabendessen, zu dem auch John eingeladen war, verkündet. Woraufhin ihr Vater Alan amüsiert eine Augenbraue hob, während ihre Mutter, Johns Schwester Maggie, sich fast an einem Blumenkohlröschen verschluckt hätte.

„Was ist es diesmal, Liebes?“, fragte sie ihre Tochter in einem bemüht neutralen Ton, nachdem sie wieder Luft bekam. Dann zählte sie an den Fingern auf, „Was hatten wir schon alles? Anthropologie, zwei Semester – abgebrochen. Dann Bandmanagerin der, wie hießen sie doch noch? Rude Pipers? Imbecile Pipers? Ear-Piercing Pipers? –“

„Atomic Pipers“, grollte Renie.

„Ach ja, wie konnte ich das nur vergessen“, fuhr Maggie süffisant fort. „Diese großartige Band mit ihrem charismatischen Drummer Andy, diesem Ausbund an rustikalem Charme, der uns wochenlang den Kühlschrank leergefuttert hat, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Tiraden gegen uns alte Spießer loszulassen.“

Renies jüngste Schwester Bella kicherte los. Renie dagegen fand die spitzen Bemerkungen ihrer Mutter sichtlich wenig erheiternd. Ihre Miene verfinsterte sich zunehmend, als Maggie weitersprach.

„Lass mich überlegen, was kam dann? Ah, genau, dann hast du dir eine Auszeit genommen, um dich zu orientieren –“

„Damals habe ich schon angefangen, im Naturhistorischen Museum zu arbeiten und außerdem habe ich dort ganz nebenbei geholfen, einen Mord aufzuklären!“, begehrte Renie auf.

„Einspruch stattgegeben“, gestand Maggie ihr, ganz die Staatsanwältin, zu. „Dann hattest du eine Phase, wo dein größter Traum war, die Bühne zu erobern. Monatelang hast du uns mit Shakespeare bombardiert, bis wir alle eine Überdosis davon hatten.“ Sie griff nach einer Pampelmuse, die in einer Obstschale auf dem Tisch lag, stierte sie an und deklamierte pathetisch, „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.“

Renie lachte auf. „Mum, es ist gut, dass sich deine Auftritte auf den Gerichtssaal beschränken. Du gibst einen grauenhaften Hamlet ab. Selbst die Pampelmuse in der Rolle als Yoricks Schädel ist glaubwürdiger.“

„Das mit der Schauspielerei war cool, fand ich“, meldete sich der fünfzehnjährige Tommy zu Wort. „Wieso wolltest du das eigentlich plötzlich nicht mehr? Es lief doch super, du warst kurz vor der Aufnahmeprüfung an der Uni, hattest schon alle möglichen Connections aufgebaut –“

Renie funkelte ihren Bruder an. „Ja, klar, Connections, die du zu gern als Türöffner in die Medienwelt nutzen wolltest. Na, immerhin hab ich ein Praktikum bei Star Radio One für dich klargemacht. Also lass mich zufrieden, Kleiner.“

Sie sah sich in der Runde um und fuhr dann ungewohnt nachdenklich fort.

„Ihr müsst verstehen, für mich war diese Welt auf Dauer einfach nichts. Da geht es immer irgendwie mehr um Schein als ums Sein. Es … hat in meinen Augen keine wirkliche Bedeutung, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Nach einer Weile habe ich gemerkt, dass ich die Leidenschaft, die man für diesen Beruf, für das Spielen braucht, nicht in mir habe. Ich … möchte irgendetwas Substanzielleres, … Nachhaltigeres schaffen, als Leute nur für einen Abend mit einer tollen Vorstellung von ihrem Alltag abzulenken …“

Während sie weitersprach, bemerkte John, dass Maggies sarkastisches Lächeln schwand und ihre Gesichtszüge weich wurden.

„Trotzdem“, schloss Renie. „Es war keine vertane Zeit auf der Schauspielschule. Ich habe da unheimlich viel Spannendes gelernt, ich konnte mich ausprobieren und dazu habe ich noch einige interessante und nette Leute kennengelernt – und ein paar Freaks –“

Sie sah zu ihrem Onkel hinüber, der zustimmend nickte. Da Renie ihn als eine Art Coach und Mentaltrainer für die Schauspielschüler in ihrem Kurs engagiert hatte, hatte er ebenfalls einen Einblick in die Welt des Theaters erhalten.

Rückblickend mochte er jene, wenn auch anstrengenden und dramatischen Wochen nicht missen. Die Arbeit mit den jungen Leuten hatte ihm klargemacht, dass ihm seine frühere Tätigkeit als Psychologe doch ein wenig fehlte. Gut zwanzig Jahre lang hatte er Truppenangehörige der Britischen Armee bei Auslandseinsätzen betreut, bevor er sich entschieden hatte, einen klaren Schnitt zu machen. Er mochte seinen neuen Beruf als Mitglied der Königlichen Wachtruppe der Yeoman Warders, gemeinhin Beefeater genannt, sehr, und auch das Leben direkt in den Mauern des Tower of London gefiel ihm. Das Tüpfelchen auf dem i war es gewesen, als er zum Assistenten des Ravenmasters ernannt worden war und nun einen großen Teil seiner Zeit der Pflege der neun Raben des Towers widmen konnte. Die Tiere, besonders das Nesthäkchen der Gruppe, Gworran, waren ihm sehr ans Herz gewachsen. Dennoch … Im Nachhinein war er Renie geradezu dankbar, dass sie ihn dazu gebracht hatte, seine alten Kenntnisse wieder auszugraben. Als sein Einsatz an der Schauspielschule zu Ende gewesen war, hatte er sich auf die Suche nach einer Stelle gemacht, wo er ehrenamtlich mitarbeiten konnte. Vor kurzem war er fündig geworden: Ein Nachbarschaftszentrum in Shoreditch mit einem engagierten Team Freiwilliger hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen und nun verbrachte er zweimal im Monat ein paar Stunden dort. Kaum war bekannt geworden, dass ein gut ausgebildeter Psychologe nun regelmäßig zur Verfügung stand, war die Warteliste zum Bersten voll. Und so kümmerte sich John um verzweifelte Teenager, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdachten, Mütter, die Angst hatten, ihr Sohn würde zum islamistischen Terroristen mutieren, Lehrer, die keine Ahnung hatten, wie sie den Drogenproblemen ihrer Schüler begegnen sollten, Frauen, die ihr blaues Auge schamhaft verdeckten und einen Rat wollten, wie sie ihren Ehemann vom Trinken abhalten konnten. Wenn er mit der U-Bahn quer durch London zurückfuhr, war er jedesmal bis in die Knochen erschöpft. Er wusste, dass es nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein war, was er für diese Leute leisten konnte, aber dennoch machte es ihn zufrieden, wenigstens das tun zu können.

 

„Ich denke, wir haben verstanden, warum du die Schauspielkarriere nicht weiterverfolgen wolltest. Also, was hast du jetzt vor?“ Alan lehnte sich zurück und sah seine Tochter erwartungsvoll an.

„Lass mich raten“, platzte Bella heraus. „Du machst irgendwas mit Tieren, so wie Geoff.“

Dr. Geoffrey Tomlinson war Insektenkundler am Natural History Museum, wo Renie ebenfalls seit knapp einem Jahr arbeitete. Aus einem Aushilfsjob war eine feste Teilzeitstelle in der Pressestelle des Museums geworden, seit sie vor etlichen Monaten die Schauspielschule an den Nagel gehängt hatte. Darüber freute sich besonders Renies Großvater James Mackenzie, der jahrzehntelang als Kurator in der Saurierabteilung des Naturhistorischen Museums tätig gewesen war und auch jetzt nach seiner Pensionierung noch häufig dort zu finden war.

„Hui, das wäre doch toll – dann könntet du und Geoff zusammen arbeiten und euch immer sehen“, plapperte Bella begeistert weiter.

Renie grinste. „Ach Spätzchen, du hast ja noch romantische Vorstellungen. Nee, ich weiß nicht, ob das für eine Beziehung auf Dauer so gut ist, wenn man Tag und Nacht beieinander hängt. Das merke ich selbst jetzt schon, wo ich meistens bei Geoff übernachte und wir morgens gemeinsam ins Museum fahren. Abgesehen davon finde ich Biologie faszinierend, aber studieren möchte ich es nicht. Hat sonst noch jemand eine Idee?“

„Vielleicht Psychologie, wie John?“, riet Tommy.

Renie schüttelte den Kopf. „Auch ein toller Beruf, aber nichts für mich.“

„Jura?“, ließ Maggie sich hoffnungsvoll vernehmen. „Du würdest eine hervorragende Anwältin abgeben –“

„Oh, Mum, bitte, nicht die alte Leier.“ Renie rollte mit den Augen. „Nein, ich möchte in keinerlei familiäre Fußstapfen treten, das ist mal glasklar. Ich merke schon, ihr kommt nicht drauf. Also gut, ich sage es euch jetzt.“

Sie machte eine Kunstpause. Fünf Augenpaare waren gespannt auf sie gerichtet.

„Ich werde Journalistin.“

Nach dieser feierlichen Ankündigung sah sie ein wenig unsicher ihre Eltern an. „Wie findet ihr das?“

Maggie und Alan wechselten einen Blick.

„Hm. Grundsätzlich keine schlechte Idee, finde ich“, meinte Alan.

„Dieser Beruf könnte zu dir passen“, pflichtete Maggie ihm bei. „Wie bist du darauf gekommen?“

„Ihr wisst doch, dass ich zusammen mit ein paar Kollegen ein Erinnerungsbuch für unseren Museumsdirektor gestaltet habe, das wir ihm bei der großen Verabschiedungsfeier überreicht haben? Ich habe Weggefährten von Sir Edward interviewt, seine wichtigsten Forschungsergebnisse zusammengefasst und die Entwicklung des Museums unter seiner Führung beschrieben.“

John nickte. „Ich habe von mehreren Seiten gehört, dass du dabei einen exzellenten Job gemacht hast.“

Renie lächelte geschmeichelt. „Also, auf jeden Fall war Sir Edward hellauf davon begeistert. Er hat das Buch einem Bekannten gezeigt – und dieser Bekannte war Mark Taylor.“

Mark Taylor? Mark Taylor? Bei John fiel der Groschen als erstes. „Vom Guardian? Ich habe heute Morgen erst einen Artikel von ihm gelesen –“

„Natürlich! Über die möglichen Auswirkungen genmanipulierten Getreides! Den habe ich auch gelesen“, fiel Maggie ein und sprang auf. In Windeseile war sie zurück und breitete die Zeitung auf dem Tisch aus.

„Das ist er!“ Sie deutete auf ein kleines Foto neben dem Artikel. „Sieht ein bisschen wie Richard Gere in jüngeren Jahren aus, nicht wahr? Ziemlich lecker, finde ich.“

„Uäh, Mum, wie kannst du sowas sagen“, meinte Bella angewidert, während Alan erheitert die Augenbrauen hochzog. Sie musterte das Bild. „Außerdem ist der voll alt. Seine Haare sind ja schon grau.“

„Ähem, mein Kind, dieser Mann ist genauso alt wie dein Onkel John und damit sogar etwas jünger als ich. Und graue Schläfen geben einem Mann etwas sehr Distinguiertes“, entgegnete Maggie in spitzem Ton.

„Was ist distinguiert?“

„Mann, ist doch egal. Müssen wir jetzt über das Aussehen von diesem Typen da diskutieren?“, mischte Tommy sich ungeduldig ein. „Was hat er jetzt mit dir zu tun, Renie?“

„Er ist Ressortleiter für Wissenschaft und Technologie beim Guardian, also ein ziemlich einflussreicher Mann dort. Und nachdem er das Buch gesehen hat und der liebe Sir Edward ihm erzählt hat, dass das meiste darin von einer jungen, aber hochengagierten Mitarbeiterin in der Presseabteilung des Museums stammt, die sich über ihren zukünftigen beruflichen Weg noch nicht recht klar ist, hat er mich tatsächlich angerufen.“ Sie atmete tief durch.

„Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen, sage ich euch. Mark Taylor! Erst habe ich gedacht, da nimmt mich jemand auf den Arm und als ich gecheckt habe, dass er es wirklich ist, war ich so perplex, dass ich kaum ein Wort rausgebracht habe.“

„Donnerwetter. Dass es dir einmal die Sprache verschlägt, habe ich ja in zweiundzwanzig Jahren nicht erlebt“, warf Maggie ein.

Renie fuhr ungerührt fort. „Er hat mich gelobt, dass ihm mein Stil gefällt und meine Recherchen sehr gründlich wären. Und er hat mich gefragt, ob ich abgesehen von dem Buch noch mehr geschrieben habe, was er sich ansehen könnte.“

„Deswegen hast du kürzlich im Speicher nach den alten Ausgaben eurer Schülerzeitung gekramt!“, fiel es Maggie ein.

„Genau. Da waren ein paar Artikel von mir drin, die ich heute eher peinlich finde. Aber da ich ansonsten nur noch ein, zwei Fachaufsätze aus meiner Zeit an der Uni und ein paar Pressemitteilungen fürs Museum hatte, habe ich ihm einfach alles geschickt. Und schon zwei Tage später hat er sich wieder gemeldet und mich in sein Büro eingeladen.“

„Und?“, fragte Bella gespannt.

„Er hat mich gefragt, ob ich Interesse hätte, in den Print- und Online-Journalismus hinein zu schnuppern. Ich hätte Talent fürs Schreiben. Er bot mir an, den Mitarbeitern in seinem Ressort für ein paar Tage über die Schulter zu schauen. Das habe ich letzte Woche gemacht. Und jetzt ist mir klar: Das ist genau mein Ding.“

Einen Moment herrschte Schweigen am Tisch.

„Offensichtlich beschäftigst du dich also schon seit einiger Zeit mit diesem Gedanken. Du hast bis jetzt gar nichts darüber erzählt. Das kenne ich gar nicht von dir“, äußerte Maggie verwundert.

„Ich weiß, Mum. Ich wollte nicht wieder mit irgendeiner halbgaren Idee herausplatzen, sondern erst dann etwas sagen, wenn ich mir hundertprozentig sicher bin. Auch wenn ich mir dafür einige Male ganz schön auf die Zunge beißen musste.“

John räusperte sich.

„Auch ich kann mir vorstellen, dass der Beruf etwas für dich ist. Dennoch: Dir ist klar, dass es in dieser Branche oft genug sehr schmutzig zugeht? Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie nach dem Mordfall im Tower die Reporter wie ein Heuschreckenschwarm über uns hergefallen sind. Die hatten überhaupt keine Skrupel, wenn es darum ging, irgendeine Information zu erhaschen, aus der sie sich eine Schlagzeile zusammenschustern konnten.“

„Natürlich, du hast recht, John“, stimmte Alan ihm zu. „Es gibt genügend schwarze Schafe, die vor nichts zurückschrecken, um mit irgendwelchen Sensationsmeldungen ihre Auflage zu erhöhen. Da muss man nur an den Abhör-Skandal bei News of the World denken. Diese Leute sind wirklich über Leichen gegangen.“

Maggie schüttelte sich. „Meine Kollegen, die in dem Verfahren ermitteln mussten, können ein Lied davon singen, mit welchen Bandagen da gekämpft wird. Was im Murdoch-Imperium abgelaufen ist, ist wirklich unterste Schublade.“

„Und wer hat die ganze Sache aufgedeckt?“, fragte Renie mit einem überlegenen Lächeln. „Natürlich Nick Davies vom Guardian. Und wer hat Edward Snowden geholfen, seine NSA-Enthüllungen an die Öffentlichkeit zu bringen – Glenn Greenwald, damals Redakteur beim Guardian. Dort arbeiten einfach die besten Investigativjournalisten im ganzen Land.“ Sie lehnte sich im Stuhl zurück.

„Das ist es, was ich langfristig will. Seriöse, tiefgründige Recherchen zu wichtigen Themen. Die Leute dazu bewegen, über ihren Tellerrand zu schauen. Aufrütteln. Definitiv will ich keine Klatschgeschichten schreiben, von wegen wie das nächste royale Baby wohl heißen wird oder wer der heißeste Spieler von Chelsea ist.“

Maggie lächelte. „Nichts anderes hätte ich von dir erwartet, Schatz. Wie soll es nun also weitergehen? Soweit ich weiß, gibt es ganz verschiedene Wege, in den Journalismus einzusteigen.“

Renie nickte.

„Mark Taylor zum Beispiel hat Biologie und Chemie studiert und dann einen Master in Journalismus draufgesattelt. Ähnlich haben es auch andere Redakteure gemacht, mit denen ich schon sprechen konnte. Erst ein Fach- und dann ein Aufbaustudium. Ein anderer Weg ist, direkt einen Bachelor-Studiengang in Journalistik zu belegen. Das ist das, was ich gern tun würde. Die City University hat einen sehr guten Ruf, dort möchte ich mich bewerben.“

Alan runzelte die Stirn. „Bist du damit nicht zu spät dran? Das Herbsttrimester steht vor der Tür.“

„Für dieses Jahr wäre es ohnehin zu spät gewesen. Man muss die Bewerbung schon im Januar abgeben, um im darauf folgenden September starten zu können.“

Maggie seufzte. „Was hast du dann für die nächsten zwölf Monate vor?“

„Keine Sorge, ich werde nicht auf der faulen Haut rumliegen. Geht ja auch gar nicht, wenn Geoff und ich irgendwann zusammen in eine Wohnung ziehen wollen, die größer als sein jetziges Kämmerchen ist. Schließlich will ich nicht einen auf „Tochter aus besserem Hause“ machen und euch auf der Tasche liegen.“

„Gute Einstellung, mein Fräulein“, kommentierte Alan trocken.

„Aber die Studiengebühren übernehmt ihr doch, oder?“ Renie sah ihren Vater bittend an.

„Natürlich – wenn du dir diesmal wirklich sicher bist, dass es das ist, was du willst.“

„Das sagte ich doch schon. Ich bin mir sicher. Hundertprozentig. Tausendprozentig.“

„In Ordnung. Nun hast du uns aber immer noch nicht gesagt, was du in nächster Zeit tun willst.“

Renie kicherte. „Genau, weil ich mir das Beste für den Schluss aufheben wollte.“ Sie zog schwungvoll ein Papier aus ihrer Tasche, die neben ihrem Stuhl stand.

„Also, liebes Volk, höret und staunet: Mark Taylor hat sich für mich eingesetzt und nun habe ich einen Vertrag als Trainee für ein Jahr beim Guardian. Zwanzig Stunden die Woche. Zwar mit einem Mini-Gehalt – das reicht gerade mal fürs Kantinenessen und deswegen werde ich auch weiter Teilzeit im Museum arbeiten müssen, was einigermaßen stressig werden dürfte – aber das ist völlig egal, denn dies hier bedeutet eine Wahnsinnschance. Und die ist mir einfach so in den Schoß gefallen, das ist das Schärfste. Dafür –“ Sie wedelte mit dem Dokument herum – „würden Hunderte, wahrscheinlich Tausende junger Leute, auch solche, die ihren Bachelor bereits in der Tasche haben, Gott weiß was tun.“

Während Tommy und Bella ihre Schwester beeindruckt ansahen, zogen im Gesicht ihrer Mutter Gewitterwolken auf.

„Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Was denkst du, warum sich dieser Mark Taylor so sehr für dich ins Zeug legt?“, fragte Maggie skeptisch.

Renie stöhnte auf. „Oh, Mum, du witterst schon wieder hinter jeder Ecke einen neuen Jimmy Savile. Glaub mir, Mark ist definitiv kein Mann, der irgendwelche finsteren Absichten hegt, er ist ein ganz integrer Typ. Mir sagte er, ich würde einfach alle Voraussetzungen erfüllen, die man für den Journalistenberuf braucht: Wissbegierde in möglichst allen Bereichen, ein lebhaftes Interesse an Menschen, Kontaktfreudigkeit, eine gute Allgemeinbildung, einen ansprechenden Schreibstil, natürlich eine wasserdichte Rechtschreibung, die Bereitschaft, zu ungewöhnlichen Zeiten und unter dem Druck einer Deadline zu arbeiten und zuletzt noch eine gute Portion Hartnäckigkeit.“ Sie sah strahlend in die Runde. „Das habe ich doch echt alles, oder?“

Dem ließ sich wirklich nicht widersprechen.

 

 

„Und das Beste: Geld spielte bei diesem Unternehmen überhaupt keine Rolle. Bennett sagt weiter zu Henry Morton Stanley: ‚Nun, ich will Ihnen sagen, was Sie tun werden. Holen Sie sich tausend Pfund; und wenn diese verbraucht sind, holen Sie sich wieder tausend Pfund, und wenn diese ausgegeben sind, holen Sie sich wieder tausend, und wenn diese fort sind, holen Sie sich abermals tausend – und so weiter. Aber: FINDEN SIE LIVINGSTONE!‘ Ha, von so etwas kann ein Journalist heute nur träumen – ein unbegrenztes Spesenkonto!“, schnaubte Renie.

In der Zwischenzeit hatte John die Äpfel fertig geschnitten und mischte sie nun mit Rohrzucker und etwas Zimt. Er sah auf.

„Wie wäre es, wenn du die Streusel gleich selbst machst? So lernst du es am besten.“ Während sie nach seiner Anleitung zimmerwarme Butter und Zucker vermischte und danach mit den Fingern Mehl hineinknetete – nicht, ohne ein paar der entstehenden Bröckchen gleich zu probieren – erzählte sie John von dem Projekt, an dem sie derzeit arbeitete.

„Mark will nächstes Jahr, wenn sich David Livingstones Aufbruch zu seiner letzten Afrikareise zum hundertfünfzigsten Mal jährt, ein paar Sonderseiten über Livingstone herausbringen. Er hat mich und noch zwei andere Praktikanten darangesetzt, Material zusammenzutragen.“ Sie grinste. „Was für ein Glück, dass ich im Museum sozusagen an der Quelle sitze. Kannst du dich erinnern, dass Mike letztes Jahr eine Sonderausstellung ‚Expeditionen einst und jetzt‘ konzipiert hat?“

John nickte. Dr. Mike Nichols, Ornithologe am Natural History Museum, war ein guter Freund.

„Naja, außer den Forschungsreisen von Darwin und Wallace war da auch Livingstones besessene Suche nach den Nilquellen ein Thema. Also kann ich aus einem reichen Fundus schöpfen.“ Renie seufzte glücklich. „Connections muss man einfach haben. Wenn ich Glück habe, darf ich sogar ein paar Absätze für die Beilage selbst schreiben. Ach, und noch was Witziges: Als Gary Flanders, einer der Politikredakteure, mitbekommen hat, dass ich mit Isabel Mackenzie verwandt bin, hat er mir aufgetragen, Tante Isabel bei ihrem Besuch nächste Woche um ein Interview zu bitten.“

Die hochbetagte, aber immer noch sehr vitale Patriarchin des Mackenzie-Clans kam zusammen mit einer schottischen Delegation nach London. Höhepunkt des Aufenthaltes würde die feierliche Investitur im Buckingham Palace sein, bei dem Isabel in den Rang einer Dame Commander of the British Empire erhoben werden sollte.

„Gary sagt, dass ein Gespräch mit ihr und wenn möglich auch mit anderen Mitgliedern ihrer Abordnung gerade jetzt, so kurz nach dem Schottland-Referendum, interessant sein könnte.“

John lachte. „Wenn Isabel immer noch so fit und kämpferisch ist wie letztes Jahr, kann sich der Redakteur auf ein spannendes Interview einstellen.“

Renie kippte die Streusel auf die Apfelmischung und schob die Auflaufform in den Ofen. „Ich freue mich so auf die Tage mit Tante Isabel. Ich hatte eine tolle Zeit, als ich ihr in Edinburgh geholfen habe, das große Clantreffen zu organisieren. Unglaublich, dass das schon wieder über ein Jahr her ist. Seither haben wir uns nicht gesehen.“

John nickte.

„Sie ist schon eine einzigartige Frau. Ich hoffe wirklich, dass sie noch ganz die Alte ist.“


Kapitel 2

 

Davon konnte John sich wenige Tage später aus erster Hand überzeugen.

„Du Hasenfuß, nun stell dich nicht so an“, ermahnte Isabel ihn, nachdem sie sich ein paar Lachtränen aus dem Gesicht gewischt hatte. „Du tust ja gerade so, als müsstest du allein einem hungrigen Löwenrudel entgegentreten.“

John überlegte im Stillen, ob ihm diese Alternative nicht wesentlich lieber gewesen wäre im Vergleich zu dem, was ihm am nächsten Samstag bevorstand. Selbst der vorzügliche Lachs, den sie soeben als Vorspeise serviert bekommen hatten, wollte ihm beim Gedanken daran nicht mehr recht schmecken.

Im Bankettsaal des altehrwürdigen Royal Victoria Hotels wurde an diesem Abend ein großes Galadinner veranstaltet, zu dem auch die Mackenzies eingeladen waren. An der Stirnseite des Raums prangte ein Banner: Die Whisky Association Scotland heißt euch in London willkommen: Isabel Mackenzie und Angus Macgregor! Wir sind stolz auf euch!

Nachdem Downing Street vor Monaten als Zeichen guten Willens gegenüber den Schotten das Regionalparlament in Edinburgh ersucht hatte, zwei Kandidaten für den Ritterstand vorzuschlagen, war die Wahl auf die beiden streitbaren Veteranen gefallen.

Die Aussicht, einen der höchsten Orden des Landes aus der Hand der Königin höchstselbst verliehen zu bekommen, hatte Isabel keineswegs vor Freude in Ohnmacht fallen lassen. Erst nach langem Zögern hatte sie sich bereiterklärt, die Ehrung anzunehmen. Heute Nachmittag war sie nun gemeinsam mit der dreißigköpfigen schottischen Abordnung in London eingetroffen. Das Willkommensdinner des Whiskyherstellerverbands stellte den Auftakt zu einem dichtgedrängten gut einwöchigen Programm dar.

Zu Johns Leidwesen drehte sich das Tischgespräch jedoch nicht um Isabels bevorstehende Ehrung, sondern um einen Auftritt, zu dem er sich in einem Anflug von geistiger Umnachtung von seiner Mutter hatte breitschlagen lassen.

Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten der Königlichen Gärten in Kew sollte eine Junggesellenauktion stattfinden und Emmeline Mackenzie hatte alle Register gezogen, um ihren Sohn dazu zu bewegen, sich dafür zur Verfügung zu stellen. Seither plagten John nächtliche Schweißausbrüche und Albträume, in denen wechselweise Meuten von Frauen „Ausziehen, ausziehen“ kreischten oder ihn mit mitleidigen Blicken maßen, um dann 50 Pence zu bieten.

„Ansehnlicher Mittvierziger – ein Mann mit einem großen Herzen, der großartig zuhören kann und an dessen Schulter man sich gerne anlehnt; in jeder Lebenssituation ein echter Fels in der Brandung“, hatte Renie vollmundig in das Programmheft geschrieben, das sie in Emmelines Auftrag verfasst hatte und nun herumzeigte.

Simon verdrehte die Augen und murmelte, „Das klingt wie eine ausnehmend verzweifelte Annonce in einer drittklassigen Partnerschaftsbörse.“ Er grinste John boshaft an. „Aber wer weiß, wenn du dich auf der Bühne gut darstellst – vielleicht findet sich da ja endlich eine Frau, die mit unserem alten Junggesellen nicht nur einen Abend verbringen möchte. Wäre das nicht erfreulich?“

Während Renie und Maggie, die diese gehässige Bemerkung gehört hatten, empört dreinsahen und selbst Simons Ehefrau, die Ehrenwerte Patricia Whittington-Armsworth, indigniert eine Augenbraue hob, blieb John gelassen.

„Nun, ich habe nicht vor, mich als etwas darzustellen, was ich nicht bin. So etwas rächt sich auf lange Sicht doch immer, nicht wahr, … Superintendent?“

Der Schuss hatte gesessen. Sein Cousin zuckte zusammen. Patricia, die mit Ausnahme von John als einzige wusste, warum Simon vor einiger Zeit die erwartete Beförderung zum Chief Superintendent bei der Metropolitan Police verwehrt blieb, tupfte sich geziert den Mund ab und wechselte das Thema.

„Emmeline, ich bin sehr gespannt auf eure Erfahrungen mit einer solchen Art von Veranstaltung. Wir vom Förderverein des St. Bartholomew Krankenhauses denken auch beständig über neue Wege nach, wie wir Gelder generieren könnten …“

Während sie weitersprach, raunte Renie ihrer Mutter zu, „Simon, dieses Rabenaas. Wieso sind die beiden überhaupt zu diesem Essen eingeladen?“

Maggie seufzte leise. „Naja, Simon ist nun mal unser Cousin. Und natürlich lässt er sich die Gelegenheit, sich mit einer künftigen Dame Commander of the British Empire sehen zu lassen, nicht entgehen.“

„Klar, er ist publicitygeil wie eh und je. Dabei war seine Visage sowieso in den letzten Wochen ständig in allen Zeitungen zu sehen, nachdem er dieses entführte Ministerskind retten konnte. Er platzt ja vor Stolz gleich aus seinem feinen Zwirn heraus. Widerlich“, knurrte Renie.

„Patricia, Liebling, ich habe eine Idee für euren Verein“, hob der Superintendent wieder an. „Ihr könntet auch eine Auktion auf die Beine stellen – allerdings mit attraktiveren Objekten als … nun ja“, er warf einen Blick zu John hinüber.

Patricia sah ihn stirnrunzelnd an. „Was meinst du?“

„Nun ja, ihr könntet eine Celebrity-Auktion daraus machen. Du hast ja schließlich hervorragende Kontakte, da könntest du doch sicher einige Hochkaräter für ein Meet-and-Greet, eine Partie Golf, ein Essen oder was auch immer gewinnen.“ Er strich über seine Hundertfünfzig-Pfund-Krawatte. „Und den ersten Kandidaten hättest du auch schon, für den sich gewiss ein hübsches Sümmchen erlösen ließe. Ich selbst würde mich zur Verfügung stellen.“

Simon sah Beifall heischend in die Runde. Als die Reaktionen lediglich von bemühtem Lächeln bis zu einem gemurmelten „Ich glaube, mir wird schlecht“ von Renie reichten, widmete er sich beleidigt wieder seinem Lachs.

Isabel lächelte amüsiert.

„Soweit ich weiß, verspricht unser Programm für den Samstag nichts besonders Spannendes. Ich denke, ich werde mich für einige Stunden ausklinken und sehen, wie mein Großneffe sich bei dieser Auktion schlägt.“

„Oh ja, Tante Isabel“, freute sich Renie. „Das wird ein Kracher. Mum kommt auch. Und ich werde sowieso da sein, weil Grandma mich zwangsverpflichtet hat, die Auktion zu moderieren.“

„Ich werde mir das auch nicht entgehen lassen“, kündigte Johns Schwägerin Annie an. „David, du kannst dich doch am Samstag um Christopher kümmern?“

Ihr Mann nickte und warf einen mitfühlenden Blick zu seinem älteren Bruder hinüber. John schloss gequält die Augen. Nun würde auch noch ein Auflauf seiner weiblichen Verwandten Zeuge werden, wie er sich zum Affen machte. Wie peinlich würde diese Geschichte wohl noch werden?

 

Während der Hauptgang aufgetragen wurde – ausgerechnet das schottische Nationalgericht Haggis, das außer bei James Mackenzie bei niemandem für Begeisterung sorgte – erkundigte David sich, „Bist du hier im Hotel gut untergebracht, Tante Isabel?“

Isabel verzog das Gesicht. „Nun ja. Mein Zimmer ist sehr komfortabel und hübsch eingerichtet, das muss ich zugeben. Aber der dauernde Lärm von der Straße ist selbst im fünften Stock sehr unangenehm. Bei einigen meiner Mitreisenden ist es noch schlimmer – ihre Fenster gehen zur Victoria Station hinaus. Lautsprecherdurchsagen von den Bahnsteigen, kreischende Zugbremsen, ein Höllenlärm, einfach grässlich.“

Sie warf einen unfreundlichen Blick zu Emmeline hinüber, die am entgegengesetzten Ende des Tisches saß.

„Bei euch in Kew wäre es wesentlich ruhiger gewesen. Aber dort wurde mir ja keine Herberge angeboten.“

„Hättest du nicht darauf bestanden, Walter mitzubringen, hättest du gerne die Tage bei uns verbringen können“, entgegnete Emmeline steif.

Isabel sah sie entsetzt an. „Wie stellst du dir das vor? Hätte er ohne mich für so lange Zeit auf meinem Hof bleiben sollen? Unmöglich! Mein Verwalter hätte sich zwar um ihn gekümmert – aber so eine lange Trennung würde ich Walter nie zumuten.“

„Der alte Kläffer wäre bestimmt nicht an gebrochenem Herzen gestorben.“

Alter Kläffer! Alle am Tisch hielten den Atem an. Geoff, der den ganzen Abend recht still neben Renie gesessen hatte, sah geradezu verschreckt drein.

Isabel richtete sich voller Entrüstung auf.

„Sir Walter Scott ist eine Zierde der Scotch-Terrier-Rasse. Nicht umsonst hat er vor einigen Monaten noch den Superveteranenpokal bei der nationalen Hundeausstellung geholt –“

„Jetzt fängt sie wieder damit an“, murmelte Emmeline und verdrehte die Augen.

„ – und darüber hinaus ist er ein äußerst wohlerzogenes Tier, das sich überall zu benehmen weiß. Was man von eurem Katzenbiest nicht behaupten kann.“

Nun war es an Johns Mutter, sich empört aufzuplustern.

„Katzenbiest? King Edward ist –“

„Hah! King Edward!“, fuhr Isabel auf. „Wahrscheinlich hast du ihn nach eurem Edward I, diesem Berserker, benannt. Kein Wunder, dass das Vieh so ein Haustyrann ist.“

James Mackenzie, der erkannte, dass seine Frau ein Brötchen beäugte und offensichtlich überlegte, ob dieses sich als Wurfgeschoss eignete, sah sich bemüßigt einzugreifen.

„Meine Lieben, meine Lieben. Nun lasst uns doch diesen schönen Abend nicht durch so einen sinnlosen Streit trüben. Einerseits wäre es natürlich schön gewesen, dich bei uns zu haben, Isabel. Aber du weißt ja, dass es immer Hickhack zwischen unseren jeweiligen Haustieren gibt.“

Sehr diplomatisch, Dad, dachte John. Tatsächlich waren die Plänkeleien zwischen Hund und Katze nichts im Vergleich zu den Gefechten, die regelmäßig nach kürzester Zeit zwischen den beiden Frauen ausbrachen.

„Außerdem ist es ganz gut, dass du hier direkt bei deiner Delegation untergebracht bist, denke ich. Wir werden uns in den nächsten Tagen sicher dennoch viel sehen.“ James Mackenzie spähte auf Johns Teller. „Isst du das nicht mehr?“

„Nein, Dad, ich … bin voll. Das kannst du gerne haben.“

„Wie sieht euer Programm für die nächsten Tage aus, Tante Isabel? Soweit ich es verstanden habe, werdet ihr eine Menge Besichtigungen machen?“, erkundigte sich Alan.

Isabel warf einen letzten bösen Blick ans andere Tischende, atmete tief durch und nickte.

„Unsere Tage hier sind vollgepackt bis zum Letzten. Fiona Macintyre, unsere Parteisekretärin“, sie nickte zu einer energisch wirkenden rotblonden Frau am Nachbartisch hinüber, „hat alles im Voraus geplant. Morgen Nachmittag um fünf werden wir zum Beispiel eine Führung durch Westminster Abbey haben – ganz exklusiv für uns, wenn das Gotteshaus für normale Besucher schon geschlossen sein wird. Das wird sicher sehr interessant. Möchte vielleicht von euch jemand mitkommen? Fiona sagte mir, dass wir noch zwei, drei Leute mehr unterbringen können.“

Renie beugte sich begierig nach vorn. „Oh, das wäre perfekt für mich – da könnte ich mir das Grab von David Livingstone ansehen und mich für meinen Artikel inspirieren lassen.“

Auch John und sein Vater wollten sich gerne anschließen.

„Sehr schön. Wir sprechen nachher noch mit Fiona darüber.“ Isabel, die ihren Teller ratzeputz leergegessen hatte, legte ihr Besteck weg. „John, ich danke dir nochmals, dass du dich bereiterklärt hast, übermorgen eine Spezialführung durch den Tower für unsere Gruppe anzubieten.“

„Das ist doch Ehrensache, Tante Isabel.“

„Einige der anderen Programmpunkte werde ich mir wohl sparen und es etwas ruhiger angehen lassen. Es gibt Theaterbesuche, verschiedene Museen, Stadtführungen und dazu natürlich Treffen mit mehreren Unterhausabgeordneten.“

„Was sind das für Leute in deiner Gruppe, Isabel? Alles Vertreter der Scottish National Party?“, fragte Annie.

„Nicht nur. Wir haben zwar einige hochrangige Funktionäre dabei, aber fast die Hälfte der Truppe besteht aus Verwandten, Geschäftspartnern und Mitarbeitern von Angus Macgregor. Seine Familie besitzt eine der letzten unabhängigen Whiskydestillerien des Landes, er selbst ist seit Jahrzehnten sehr aktiv im Verband der Produzenten. Daher auch dieses gesponserte Essen heute Abend. Die Whisky Association Scotland veranstaltet gerade ihr jährliches Treffen hier im Hotel und lädt uns nachher noch zu einem Whisky-Tasting ein. Dann werde ich euch mit einigen meiner Mitreisenden bekanntmachen.“

Whisky-Tasting? Tommy hob interessiert den Kopf.

„Vergiss es“, beschied Maggie ihrem Sohn.

„Oh, Mum, in ein paar Wochen werde ich sechzehn, da werde ich doch wohl –“

„Diskussion beendet, junger Mann.“ Maggies Ton war freundlich, aber eisern.

„Ach, ein Tröpfchen schadet dem Jungen sicher nicht. Whisky ist für einen Schotten ebenso harmlos wie Milch für den Rest der Menschheit, wie es bei uns heißt“, merkte Isabel an.

„Mein Enkel ist kein Schotte, sondern Engländer, nimm das doch endlich zur Kenntnis, Isabel“, knurrte Emmeline.

Isabel verdrehte die Augen. „Was für eine traurige Tatsache.“ Sie zwinkerte Tommy zu. „Keine Sorge, mein armer Junge. Nachdem ich ja weiß, dass John ein Verächter unserer edlen Tropfen ist, habe ich dafür gesorgt, dass es neben all den herrlichen Single Malts auch eine schöne Auswahl anderer Getränke gibt. Der Barmann hat mir versichert, dass er einen Caipirinha ganz ohne Schnaps im Repertoire hat, der sich gewaschen hat.“

John klopfte seinem Neffen auf die Schulter. „Wir beide werden uns durch sämtliche alkoholfreien Varianten probieren, nicht wahr?“

David grinste. „Wir drei! Seit dem großen Clan-Treffen in Edinburgh halte ich Abstand vom Whisky. Damals wollte ich mich am liebsten hinlegen und sterben.“

Alan lachte. „Es war aber wirklich lustig, wie du vorher noch umringt von einer Horde eingefleischter Kiltträger ein total schräges God save the Queen geschmettert hast.“

„Erinnere mich nicht daran.“ David zog verlegen den Kopf ein.

„Oh, Isabel, du Ärmste“, kam es da in zuckersüßem Ton vom Ende des Tischs. „Du musst ja am Boden zerschmettert sein, dass deine Landsleute euren patriotischen Parolen nicht aufgesessen sind und sich bei der Abstimmung klugerweise für einen Verbleib im Vereinten Königreich entschieden haben.“ Emmeline summte mit heiterem Gesichtsausdruck ein paar Takte von Rule, Britannia, bis ihr Mann sie mit einem halblauten, „Em, bitte. Du musst nicht noch zusätzlich Salz in die Wunde reiben“ zum Schweigen brachte.

Isabel machte ein Gesicht, als hätte sie in eine ausnehmend saure Zitrone gebissen, erwiderte aber in beherrschtem Ton, „Ob diese Entscheidung klug war, wird sich herausstellen.“ Sie hielt einen Augenblick inne.

„Ja, es ist wahr, dass ich enttäuscht war. Dass so viele von uns nicht mutig genug waren, diese einmalige Chance am Schopf zu ergreifen … Aber mittlerweile habe ich den Ausgang der Abstimmung verdaut, denke ich. So ist es nun einmal in einer Demokratie: Die Meinung der Mehrheit ist zu akzeptieren.“

John warf seiner Schwester einen Blick zu und spürte, dass beide in diesem Moment das Gleiche dachten: Tante Isabel wurde erstaunlich altersmilde!

„In diesem Jahr ist in unserem Land vieles in Gang gekommen“, sprach sie nachdenklich weiter. „Viele junge Leute interessieren sich plötzlich für Politik und werden aktiv. Das gefällt mir. Und ich meine auch, dass Westminster nicht darum herumkommen wird, uns nun mehr Autonomie zuzugestehen –“

„Hah! Autonomie! Ich verwette meinen Arsch darauf, dass das alles nur hohle Versprechungen waren.“

Neben Tante Isabel war ein beleibter älterer Mann aufgetaucht, aus dessen zerfurchtem Gesicht eine rotgeäderte Nase leuchtete.

„Diese Imperialisten aus dem Süden meinen vielleicht, sie hätten uns erfolgreich eingewickelt und die Sache mit der Unabhängigkeit wäre vom Tisch – aber nein, nein, nein, wir werden nicht aufgeben.“ Er schwankte leicht und hielt sich an Isabels Stuhllehne fest. Dann warf er sich in Positur und deklamierte:

„So lange auch nur einhundert von uns am Leben sind, wird man uns niemals – unter welchen Bedingungen auch immer – unter englische Herrschaft zwingen. Denn wir kämpfen wahrhaft nicht für Ruhm, Reichtümer oder Ehre, sondern einzig und allein für die Freiheit, die kein ehrenhafter Mann aufgibt, wenn nicht zugleich mit dem Leben.“

Er unterdrückte dezent einen Rülpser.

Isabels Lippen umspielte ein halb amüsiertes, halb resigniertes Lächeln. „Meine Lieben, darf ich vorstellen: Angus Macgregor, künftiger Commander of the British Empire.“


Kapitel 3

 

„Der alte Angus ist schon … ein Original“, bemerkte eine halbe Stunde später Dr. Michael Arbroath, der sich im Kaminzimmer des Hotels zu John gesellt hatte. Die beiden Männer waren sich vor einigen Monaten erstmals begegnet, als der schottische Historiker wegen Recherchen zu seinem neuen Buch den Tower besuchte.

John lächelte. „Ein kämpferischer Mann, ohne Zweifel. Ich kann mich an den Spruch erinnern, den er vorhin zitiert hat. Der hing in gestickter Form bei meiner Tante Isabel im Esszimmer, soweit ich es noch weiß. Stammt er nicht aus der schottischen Unabhängigkeitserklärung?“

„Sie haben recht. Es war der bekannteste Teil der Deklaration von Arbroath aus dem Jahr 1320, der ältesten heute bekannten Unabhängigkeitserklärung einer Nation – auch wenn es mit der Unabhängigkeit letztlich bis zum heutigen Tag nichts geworden ist.“

John hob eine Augenbraue. „Arbroath?“

Der Schotte lachte und nickte. „Mit einem Namen wie diesem konnte ich es wohl gar nicht vermeiden, Geschichtswissenschaftler zu werden, nicht wahr? Meine Vorfahren stammen tatsächlich aus der Nähe der Abtei, in der die Deklaration verfasst wurde. Ein wahrhaft historischer Ort. Wussten Sie, dass sich dort auch zeitweise unser Schicksalsstein befand?“

John schüttelte den Kopf. „Ich dachte, er hätte seit Ewigkeiten seinen Platz in Westminster Abbey gehabt, bevor er vor einigen Jahren zurück nach Edinburgh gegeben wurde.“

Arbroath beugte sich nach vorn. „Das stimmt auch. Seit Edward I ihn aus der Abtei von Scone geraubt und als Kriegsbeute nach London gebracht hatte, lagerte er unter dem Sitz des Krönungsstuhls. Aber an Weihnachten 1950 gelang es einigen Studenten, ihn von dort zu entführen. Sie können sich vorstellen, dass es einen riesigen öffentlichen Aufschrei im ganzen Land gab. Obwohl die Polizei sofort eine aufwändige Suchaktion startete, schafften die jungen Leute es, den Stein nach Schottland zu bringen. Unglücklicherweise zerbrach er auf der Flucht jedoch in zwei Teile und musste von einem Steinmetz repariert werden. Zur Aufbewahrung wurde er dann unter dem Hochaltar in der Abtei von Arbroath deponiert. Als die englische Polizei davon Wind bekam, wurde er flugs nach London zurücktransportiert, bis John Major ihn 1996 schließlich zurückgab. Er hatte sich davon wohl ein paar Tory-Stimmen aus Schottland erhofft. Dieser Plan ist nicht aufgegangen. Bei den Wahlen im darauffolgenden Jahr konnte sich in keinem einzigen Wahlbezirk der konservative Kandidat durchsetzen.“

Arbroath grinste, dann wanderte sein Blick in die Ferne.

„Ich kann mich noch sehr gut an den 30. November 1996 erinnern, als der Stein zu uns zurückkam. Es gab eine riesige Parade in Edinburgh. Hunderte von Soldaten geleiteten den Stein die Royal Mile hinauf zu unserer Burg, viele tausende Menschen standen am Straßenrand, um zu sehen, wie ein Stück Geschichte an ihnen vorbeizog.“ Er blickte durch die weit offenen Flügeltüren in den angrenzenden Raum, wo der Großteil der Delegation sich, um kleine Stehtische herum gruppiert, am Whisky gütlich tat.

„Viele von denen, die heute hier sind, waren auch an jenem Tag dabei. Es war die heiße Phase, in der wir für unser eigenes Parlament kämpften. Isabel war in all den Jahren eine unserer Mitstreiterinnen, immer in vorderster Reihe dabei. Schon lange, bevor Downing Street sie für würdig befand, zur Dame Commander ernannt zu werden, war sie unsere Grande Dame.“ Er lächelte versonnen.

„Und natürlich Angus Macgregor. Jahrzehntelang eines unserer Zugpferde, scharfsinnig, einer unserer klügsten Köpfe. Ein Mann mit Energie und Durchsetzungsvermögen. Wenn er damals nicht ein klein wenig zu jung für solche Eskapaden gewesen wäre, wäre er bei dem Husarenstück der Studenten 1950 mit Sicherheit dabei gewesen. Nun, in den letzten Monaten allerdings …“ Arbroath schüttelte leicht den Kopf und ließ den Satz in der Luft hängen.

In diesem Moment trat Geoff Tomlinson zu ihnen und ließ sich in einen der mächtigen Ledersessel fallen. Dr. Arbroath entschuldigte sich mit einem gemurmelten „Der Barmann schenkt einen fünfundzwanzigjährigen Bowmore in Fassstärke aus, da muss ich mir unbedingt ein Tröpfchen sichern“ und strebte zum Ausschank.

Geoff streckte die Beine von sich. „Isabel hat Renie gebeten, eine Runde mit Sir Walter um den Block zu gehen. Ich … hatte keine Lust, mitzukommen.“

John sah ihn prüfend an. Er hatte schon den ganzen Abend das unbestimmte Gefühl gehabt, dass zwischen Renie und ihrem Freund irgendetwas nicht stimmte. Aber nun war wohl kaum der geeignete Moment, den Status von Geoffs Beziehung zu Johns Nichte zu erörtern. So fragte er lediglich mit einem Blick auf Geoffs Glas, das augenscheinlich Cola enthielt, „Du verschmähst auch die schottischen Genüsse?“

Der junge Biologe nickte etwas verdrießlich. „Ich muss morgen ganz früh raus, um auf einer Konferenz in Exeter einen Vortrag zu halten. Außerdem mache ich mir nicht viel aus Whisky. Wobei ich zugeben muss, dass ich außer mal einem Johnnie Walker oder einem Famous Grouse noch nie einen getrunken habe.“

„Guter Gott, Junge, das meinst du doch nicht ernst! Wo soll diese Welt noch hinkommen?“ Angus Macgregor starrte, einen halbvollen Whiskytumbler in der Hand, mit offensichtlicher Abscheu auf den Tisch, wo Geoffs Colaglas in trauter Eintracht neben Johns Wasserglas – der angepriesene alkoholfreie Caipirinha hatte ihm nicht zugesagt – stand.

Macgregor schüttelte sich, setzte sich dann neben John auf das Sofa und patschte ihm mit der Hand aufs Knie. „Sag mir, was stimmt mit dir nicht? Du könntest dich nach Herzenslust durch all unsere wunderbaren Whiskys probieren – und du trinkst Wasser? Na, du bist mir ja ein schöner Mackenzie.“

Eingedenk der Tatsache, dass er einen Mann vor sich hatte, der in Kürze in den Ritterstand erhoben werden würde, bemühte John sich um ein Lächeln und rutschte ein wenig zur Seite. Die plumpe Vertraulichkeit und die Fahne, die ihm aus dem Mund des Alten entgegenschlug, stießen ihn ab.

„Die Geschmäcker sind verschieden, nicht wahr?“, bemerkte er unverbindlich. „Was ich immer schon faszinierend fand, ist die Vielfalt der Whiskys allein in Schottland. Sie als Experte können uns sicherlich erklären, wie es gelingt, aus wenigen immer gleichen Grundzutaten so viele verschiedene Geschmacksrichtungen zu kreieren.“

Macgregors Augen leuchteten auf.

„Das kann ich wohl, junger Mann, das kann ich wohl. Meine Familie kann auf eine über zweihundertfünfzigjährige Tradition in der Whiskyherstellung zurückschauen. Nicht einmal die Wuchersteuern, die London uns im achtzehnten Jahrhundert aufzwang, schafften es, die Produktion lahmzulegen. Meine Vorfahren waren findig darin, den Steuereintreibern zu entkommen. Sie waren Teil eines erfolgreichen Schmugglerrings.“ Er zwinkerte vergnügt.

„Seit 1823, als das House of Lords endlich kapitulierte und eine vernünftige Besteuerung einführte, führen wir eine ehrbare Existenz als Whisky-Produzenten. Ob diese Tradition jedoch weitergeführt wird, wenn ich einmal nicht mehr bin, steht leider in den Sternen.“

Er runzelte die Stirn und deutete zu einem Tisch im nächsten Raum hinüber, an dem einige Männer standen, die in Johns Alter sein mochten. Isabel hatte ihre Familie nach dem Essen wohl zwei Dutzend Leuten aus ihrer Reisegruppe vorgestellt, allerdings hatte John in kürzester Zeit vergessen, wer wie mit wem in Beziehung stand.

„Der da mit dem karierten Sakko ist mein Sohn, Patrick. Gavin, mein Neffe, steht daneben. Ob die beiden wirklich den nötigen Geschäftssinn mitbringen, bezweifle ich. Und dazu streiten sie sich andauernd, wie Hund und Katze.“ Macgregor verzog das Gesicht. „Aber lassen wir das. Man kann nur beten, dass sie sich zusammenraufen und letztlich unseren Familienbetrieb weiterführen werden, wie mein Bruder – Gott hab ihn selig – und ich es die letzten fünfzig Jahre getan haben. Wenigstens um die darauf folgende Generation ist mir nicht bange.“

Er wies auf ein ausnehmend hübsches Mädchen mit langen roten Locken. Sie war in ein Gespräch mit Tommy vertieft. Von dessen vorhin noch so mürrischer Miene war nichts mehr zu sehen, obwohl er ein Glas Orangensaft in der Hand hielt, das der Barmann ihm unter Maggies wachsamem Blick eingeschenkt hatte.

„Gavins Tochter Megan, meine Großnichte“, erklärte Macgregor stolz. „Gerade erst sechzehn, aber ein patentes Mädel. Sie kommt eher nach ihrer Mutter, Jean – was eine Frau wie sie an unserem Gavin findet, ist mir immer noch schleierhaft. Megan hat jetzt schon mehr Verstand und Chuzpe als ihr Vater jemals haben wird. Bei ihr wird unsere Firma einmal in den besten Händen sein. Und ich bin stolz darauf, dass ich ein bestens bestelltes Haus hinterlassen kann.“

Plötzlich kicherte er. „Wenn man bedenkt, dass wir ohne die Reblaus heute immer noch kleine Schafzüchter wären, die ohne Gelder von der EU nicht überleben könnten – ich muss dem kleinen Biest wirklich dankbar sein.“

Während John verständnislos dreinschaute, beugte Geoff sich interessiert nach vorn.

„Viteus vitifoliae aus der Familie der Phylloxeridae. Natürlich. Sie wurde aus Amerika eingeschleppt und vernichtete in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Weinberg um Weinberg in Europa.“

„So ist es, junger Freund, so ist es. Die ganze Wein- und Branntweinindustrie war auf dem Boden. Bis die sich wieder aufgerappelt hatte, hatte unser guter Whisky sich schon längst als Getränk der Wahl auch auf dem Kontinent etabliert. Und so entstand das Fundament für unser Familienunternehmen und unser GlenMara ist bis heute bekannt als Single Malt ersten Ranges.“

Zufrieden lehnte der Alte sich in das Lederpolster zurück und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. Dann fixierte er abermals Johns Mineralwasser.

„Trinkst du denn gar nichts, Jungchen? Eine Schande ist das, eine Schande.“ Trübselig schüttelte er den Kopf.

John seufzte innerlich. „Sie wollten uns Unwissenden einen kleinen Einblick geben, wie die Vielfalt der Whiskys entsteht …“

„Wollte ich das? Natürlich, natürlich. Wo soll ich beginnen, damit ihr Greenhorns etwas von der Magie versteht, die hier drin steckt?“ Er ließ den verbleibenden Fingerbreit bernsteinfarbener Flüssigkeit im Glas kreisen.

„Erst einmal brauchen wir natürlich Wasser. Und hier gibt es schon enorme Unterschiede, je nachdem, aus welcher Gesteinsart das Wasser heraustritt. Wir in den nördlichen Highlands haben Sandsteinböden, die dafür sorgen, dass unser Wasser zehnmal so viele Mineralien enthält wie das weiche Wasser an der Speyside, das aus Granit entspringt. Auf den westlichen Inseln haben wir Lavagestein, was wiederum ganz andere Geschmacksnuancen erbringt. Unser Wasser läuft über große Heideflächen, wo es eine wunderbar blumige Note annimmt. Dann die Gerste: Ich bin Traditionalist, verwende nach wie vor nur die Sorte Golden Promise, die auf den Äckern rund um unsere Destillerie angebaut wird. Meiner Meinung nach ist seit dieser Züchtung nichts Besseres nachgekommen. Mein Neffe, Gavin – er steht da drüben, daneben, der mit dem karierten Sakko, das ist mein Sohn Patrick, die beiden sind leider die meiste Zeit am Streiten – also Gavin, das ist so ein ganz ökologisch angehauchter, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Er rollte mit den Augen.

„Der hat vielleicht neumodische Ideen. Er bildet sich ernsthaft ein, wir sollten nur organisch erzeugtes Getreide einkaufen. Firlefanz, sage ich. Gut, alle heiligen Zeiten mal hat er auch vernünftige Vorschläge. So erzeugen wir die Hitze, die wir für die Destillation brauchen, mittlerweile mit einem kleinen Biomasseheizkraftwerk. Dafür gabs Fördergelder von der EU. Und einen äußerst günstigen Kredit von unserer Hausbank noch dazu, hehe.“

Er nickte zu einem gutgekleideten Mann hinüber, der am Rand einer Gruppe stand und auf seinem Smartphone herumtippte. „Craig Hamilton, der Banker meines Vertrauens. Genauso ein Gauner wie alle Bankfritzen, sage ich euch, aber den Umgang mit diesen Brüdern habe ich im Verlauf meiner Karriere gelernt. Na, und zuletzt haben wir noch einen schönen Profit durch die Anlage, weil wir den Überschuss zu guten Konditionen an die Gemeinde verkaufen, die damit die Schule heizt.“

Er zwinkerte schelmisch. „Wenns dem Profit nicht im Weg steht, können wir von mir aus auch etwas für die Umwelt tun. Na, und wenigstens muss man Gavin zugutehalten, dass ihm wirklich etwas an unserem Unternehmen liegt. Bei meinem Herrn Sohn bin ich mir da nicht sicher. Ich habe den Verdacht, dass er GlenMara am liebsten an einen der großen Konzerne verscherbeln und sich vom Erlös ein schönes Leben mit seiner … Freundin machen würde. Ein Miststück, wenn ihr mich fragt. Nur aufs Geld aus. Und er merkt es nicht mal, dieser Hanswurst.“ Er kippte den Rest Whisky mit einem Zug in sich hinein. „Worüber sprachen wir gerade?“

„Über das Getreide, das für Ihre Produktion verwendet wird“, gab Geoff das Stichwort.

„Ah ja, natürlich. Die Gerste kommt nach der Ernte in die Mälzerei im nächsten Ort, wo sie im ersten Schritt zur Keimung gebracht wird …“

Angus Macgregor setzte zu einem längeren Referat über die Kunst des Mälzens an. Während Geoff zunehmend fasziniert lauschte und immer neue Zwischenfragen stellte, spürte John, wie seine Aufmerksamkeit nachließ. Nur noch vage drangen Worte wie beta-Amylase und Phenolgehalt an sein Ohr. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, in dem gutgelauntes Stimmengewirr herrschte.

Seine Eltern saßen mit einigen älteren Mitgliedern der schottischen Delegation zusammen und unterhielten sich angeregt. Simon schien Tante Isabel, Annie und David gerade einen – wahrscheinlich vollkommen überzogenen – Bericht seiner Heldentat zu geben, die zur unversehrten Rettung der entführten Tochter eines Kabinettsmitglieds geführt hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte John, wie die junge Megan Macgregor mit Tommy im Gefolge durch eine Seitentür verschwand und unterdrückte ein Grinsen. Tommys Eltern hatten davon nichts mitbekommen. Alan ließ sich an der Bar gerade etwas einschenken und Maggie führte ein offenbar sehr vergnügliches Gespräch mit einer kurzhaarigen Frau, die einen Anstecker der Whisky Association am Revers trug. Er überlegte, ob er zu ihr hinübergehen sollte, wollte jedoch nicht unhöflich erscheinen. Also versuchte er, sich wieder auf Macgregors Ausführungen zu konzentrieren.

Nachdem der Schotte sich lang und breit über den Prozess des Maischens und der zweifachen Destillation ausgelassen hatte, war er nun bei der Rolle der Lagerung angelangt, der offenbar ebenfalls eine entscheidende Bedeutung für den Charakter des Whiskys zukam.

„Der neue Trend, den Whisky zur Endreifung in ein anderes Fass abzufüllen, ist für mich Humbug. Bei uns bleibt er in Sherryfässern aus spanischer Sommereiche – so war es immer und so soll es auch bleiben. Zumindest so lange ich das Sagen habe. Was danach kommt, wer weiß.“ Missmutig blickte er zu den Stehtischen hinüber.

„Sehen Sie, die beiden Männer da drüben? Der mit dem karierten Sakko ist mein Sohn, Patrick. Daneben, der, der so ein bisschen ökomäßig daherkommt, das ist mein Neffe, Gavin. Gerade sind sie friedlich, ansonsten sind sie oft wie Hund und Katz, die beiden. Man kann nur beten, dass sie sich zusammenraufen, wenn es soweit ist. Allerdings habe ich da keine allzu großen Hoffnungen. Dagegen mein Bruder, Gott hab ihn selig, und ich – wir waren ein perfektes Team. Er hat sich um die betriebswirtschaftliche Seite gekümmert und ich mich um die Produktion. Wir haben uns großartig ergänzt – aber ein solches Duo werden Gavin und Patrick nie sein. Manchmal denke ich, es wäre besser, die Firma ginge gleich an meine Großnichte Megan über, das ist mal ein patentes Mädel. Jammerschade, dass sie noch zu jung ist, um das Unternehmen zu führen. Ihr müsst sie wirklich kennenlernen. Momentan sehe ich sie allerdings gar nicht –“ Sein Blick wanderte suchend durch den Raum.

Geoffs Blick flackerte zu John hinüber. War dem Alten tatsächlich nicht bewusst, dass er ihnen nun schon zum dritten Mal von seinen Verwandten erzählte? John zuckte leicht mit der Schulter.

Macgregors Blick schweifte dorthin, wo Johns Eltern saßen – ihre Tischgenossen waren der Bürgermeister von Macgregors Heimatgemeinde und seine Frau, soweit John sich erinnern konnte – und blieb dann an dem Tisch hängen, an dem Maggie immer noch mit der Vertreterin der Whisky Association stand. Die Frauen hatten mehrere Gläser vor sich stehen und Maggie hatte ihre Nase gerade tief in einen der Tumbler gesteckt.

„Familie …“, murmelte Macgregor mit rätselhaftem Gesichtsausdruck. „Was gibt es Komplizierteres? Aber vielleicht gibt es noch eine ganz andere Lösung …“

Geoff räusperte sich und brachte Macgregor wieder zum Thema zurück. „Sie verwenden also Quercus robur. Haben Sie je mit einer anderen Art von Eiche experimentiert, etwa Quercus alba oder Quercus petraea?“

Schon waren die beiden wieder auf einem naturwissenschaftlichen Exkurs. John merkte, wie er wieder wegdriftete. Wo mochten Tommy und die junge Schottin hin sein? Wahrscheinlich hatten sie sich in ein ruhiges Eckchen zurückgezogen, um sich gegenseitig die neuesten Apps auf ihren Smartphones vorzuführen.

„Mit ungefähr sechsundsechzig Prozent kommt der Feinbrand dann ins Fass. Dort verliert er aber während seiner Lagerung etliche Prozent, weil ein Anteil des Alkohols verdunstet. Je nach der Beschaffenheit des Fasses, der Art des Lagerhauses, der Temperatur und der Höhe, in der das Fass im Regal liegt – bei uns gibt es allerdings lediglich drei Reihen übereinander und damit nur geringe Temperaturunterschiede – und natürlich der Zeitdauer, die der Whisky im Fass reift, fällt der Alkoholgehalt bis zum Ende oft auf fünfzig Prozent oder sogar darunter. Wir nennen das, was verschwindet, den Angel’s Share. Aber selbst die Engel müssen sich dem Diktat aus London beugen: Mehr als exakt 2.5 Prozent im Jahr dürfen sie sich nicht nehmen.“ Macgregor stieß ein grimmiges Lachen aus.

„Unser Whisky ist einer der Gründe, warum diese englischen Blutsauger ihre Krallen nicht aus unserem Fleisch nehmen wollen.“ Er knallte sein leeres Glas auf den Tisch. „Ohne die gut vier Milliarden Pfund jährlich, die der Whiskyexport erwirtschaftet, sähe die Außenhandelsbilanz des verdammten Vereinten Königreichs mies aus. Und der Finanzminister hätte eine Milliarde – lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen – eine Milliarde weniger in seinem Steuersäckel. Nein, da musste natürlich mit aller Macht dagegen gekämpft werden, dass wir unabhängig werden. Und dazu war der Regierung jedes Mittel recht, wie immer. Sogar die neuen, gigantischen Ölfunde, die Schottland zu einem der reichsten Länder auf der Welt gemacht hätten, wurden natürlich verschwiegen, bis das Referendum vorüber war. Stattdessen wurde immer und immer wieder betont, wir wären wirtschaftlich allein nicht überlebensfähig. Hah! Dass ich nicht lache!“ Er redete sich immer mehr in Rage. „Diese Arschgeigen in der Downing Street –“

Er hieb mit der Faust auf den Tisch. Immer mehr Augen richteten sich auf ihn. Sein Sohn und sein Neffe kamen näher.

„Nun, Dad …“, begann Patrick Macgregor, aber sein Vater brachte ihn mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen.

„Sei still. Wenn du dich für deinen alten Herrn schämst, geh woandershin.“

„Aber Angus, wir wollen doch an diesem schönen Abend nicht ins Politisieren kommen, nicht wahr?“ Der Vorsitzende der Whisky Association Scotland, der zu Beginn des Abends eine kurze Begrüßungsrede gehalten hatte, war herangetreten.

„Alistair Ross!“, rief Macgregor höhnisch aus. „Von dir lasse ich mir schon gar nichts sagen, du Verräter. Ich werde auf keinen Fall den Kampf um die Freiheit aufgeben. Wenn die hier meinen, dass sie mich mit ihrem gottverdammten Adelstitel mundtot machen können, dann werden die schon sehen, dass sie sich geschnitten haben!“

Er erhob sich ein wenig mühselig. „So, und jetzt brauche ich was zu trinken. Wie schon unser großer Robbie Burns sagte: Freiheit und Whisky gehören zusammen!“

Nach seinem Abgang herrschte peinlich berührtes Schweigen. In diesem Augenblick kam einer der Kellner näher, sah entschuldigend in die Runde und meinte, „Gehört der Teenager draußen zu Ihnen? Ich fürchte, es … geht dem jungen Mann nicht gut.“

John sprang auf. Auch Maggie hatte mitbekommen, was der Kellner gesagt hatte. Sie sah sich beunruhigt um, registrierte, dass Tommy nicht hier war und kam eilig herüber.

John nahm ihren Arm. „Lass uns nachsehen. Wo ist er?“

„Ich bringe die Herrschaften zu ihm.“ Eilfertig wandte sich der Kellner zur Tür, dann hielt er noch einmal inne. „Es gäbe da auch noch … nun ja, etwas Finanzielles zu regeln. Aber darüber wird der Concierge mit Ihnen sprechen.“

Maggie winkte Alan herüber und zu dritt folgten sie dem Bediensteten durch die imposante Eingangshalle mit ihren Marmorsäulen und Kristalllüstern, eine Freitreppe hinauf auf die Galerie. Dort gab es etliche Nischen, in denen Chaiselongues und Sessel gruppiert waren, daneben kleine Tische mit Tageszeitungen. Während sie über den dicken Teppich hasteten, hörten sie plötzlich das unverkennbare Geräusch, wie jemand sich übergab. Der Kellner verzog schmerzlich das Gesicht und murmelte, „Oje, hoffentlich hat ihm Layla schon den Eimer gebracht.“

Dann standen sie vor einem mit mintgrünem Samt überzogenen Sofa, dessen Farbton gut zu Tommys Gesichtsfarbe passte. Gerade hob er den Kopf, den er über einen Champagnerkühler gebeugt gehabt hatte. Beim Anblick seiner Eltern würgte es ihn erneut. Neben ihm auf dem Sofa saß betreten Megan Macgregor und zwirbelte ihr langes Haar um einen Finger. Das Tableau wurde vervollständigt durch ein Zimmermädchen, das einen unansehnlichen Fleck auf dem Teppich betupfte und dem Concierge, der mit versteinerter Miene und verschränkten Armen da stand.

Maggie kniete sich vor Tommy. „Wie geht es dir? Sollen wir einen Arzt rufen?“

Er schüttelte leicht den Kopf und krächzte, „Nein, es geht schon. Ich …will nur noch in mein Bett.“

Maggie erhob sich und fixierte Megan. „Habt ihr getrunken?“

Das Mädchen schluckte, warf Maggie aber einen trotzigen Blick zu.

„Und wenn schon? Da ist doch nichts dabei. Wie hätte ich ahnen sollen, dass Ihr Söhnchen schon bei der geringsten Menge vom Hocker fällt?“

Maggie sah aus, als hätte sie die junge Schottin am liebsten geohrfeigt. Alan trat vor und legte seiner Frau warnend eine Hand auf den Arm. Sie schüttelte ihn ab und beugte sich drohend über Megan.

„Vielleicht bist du ja mit Schnaps aufgezogen worden“, zischte Maggie erbost. „Mag sein, dass das bei euch da oben selbstverständlich ist. Meine Kinder sind nicht so aufgewachsen. Mit welcher Menge hast du ihn abgefüllt?“

Megan schob schmollend die Unterlippe nach vorn. „Ehrlich, so viel war es gar nicht –“

Wie viel“, donnerte Maggie. Grummelnd zog Megan einen Flachmann aus ihrer Tasche.

„Wie viel davon hat er getrunken?“

Megan zuckte mit den Schultern. „Wir haben es uns geteilt. Also schätze ich, die Hälfte.“

„Verzeihen Sie, Madam. Vielleicht kann ich bei der Mengenbestimmung behilflich sein.“ Der Concierge trat vor und griff nach der Flasche. Nachdem er sie geschüttelt hatte, meinte er nachdenklich, „Leer. Da dürften zwei Deziliter hineingehen, also dürfte der junge Herr umgerechnet rund fünf Kurze zu sich genommen haben.“

Maggie warf einen Blick zu ihrem Bruder. „Was denkst du, kann er mit der Menge eine Alkoholvergiftung haben?“

John schüttelte den Kopf. „Bei Kindern und Jugendlichen kann es zwar schneller dazu kommen als bei Erwachsenen, gerade bei Schnaps. Aber ich glaube nicht, dass die Menge gesundheitsgefährdend war. Wenn das wirklich alles ist, was er getrunken hat.“

Megan nickte. „Ehrenwort, ich habe ihm sonst nichts gegeben.“

„Dann wollen wir dich mal nach Hause schaffen, Tommy“, meinte Alan.

In diesem Moment ertönte hinter ihnen eine besorgte Stimme. „Was ist mit meinem Enkel los? Tommy, was ist mit dir? Bist du krank?“ Emmeline hatte sich auf die Suche nach ihrer Familie gemacht und zog James hinter sich her, der ebenfalls beunruhigt aussah. Hinter ihnen kam Gavin Macgregor die Treppe nach oben, im Schlepptau eine attraktive Frau, die wie eine ältere Ausgabe von Megan aussah. Sie erfasste die Situation mit einem Blick.

„Megan, du hast dir wohl mit deinem jungen Freund hier einen genehmigt.“ Bevor das Mädchen antworten konnte, kam auch noch ihr Großonkel herangeschnauft.

„Hier seid ihr. Wieso habt ihr euch hier versteckt? Ihr hättet doch an der Bar einen nehmen können.“

Megan kicherte. „Ja, Onkel Angus, das weiß ich. Aber Tommy meinte, seine Mutter würde einen Aufstand machen, wenn er etwas trinkt.“

Maggie sog empört die Luft ein. „Einen Aufstand! Jawohl, ich mache einen Aufstand! Und zu Recht, würde ich sagen. Was bei der Trinkerei herauskommt, das sieht man ja hier.“

Angus Macgregor würdigte sie keines Blickes. „Ich hoffe, es war ein ordentlicher Tropfen, Megan? Was hattest du Gutes in deinem Fläschchen?“

„Einen Ardbeg, allerdings nur den zwölfjährigen.“

Macgregor schürzte die Lippen. „Nicht kältefiltriert, mittelschwer, vielleicht ein bisschen ölig im Abgang. Nun ja, nicht der beste Tropfen, aber auch nicht der schlechteste, nein, absolut nicht der schlechteste.“

Megan nickte. „Du weißt ja, dass ich auf die torfigen Sorten aus Islay stehe, Onkel Angus.“

Emmeline hatte den Wortwechsel mit offenem Mund verfolgt. Nun stemmte sie die Hände in die Hüften und rief empört, „Das schlägt ja wohl dem Fass den Boden aus. Diese rothaarige Sirene, dieses Früchtchen verführt meinen unschuldigen Enkel, sich hochprozentige Spirituosen hineinzukippen, bis er fast bewusstlos ist – und Sie diskutieren hier in aller Seelenruhe, welche Sorte wohl die beste ist!“

Megans Mutter fuhr auf, „Wie bitte? Mit Früchtchen meinen Sie ja wohl nicht meine Tochter? Und was heißt da verführen? Offensichtlich wollte der Junge den Whisky kosten und nur, weil er wegen seiner repressiven Mutter, dieser typisch englischen Zicke, keine Trinkkultur kennenlernen durfte –“ Sie zeigte anklagend auf Maggie, die hochrot angelaufen war und an deren Stirn eine Ader wütend pochte.

Sie ist doch schuld an dieser Situation. Hätte sie ihr schmales Handtuch von Sohn durch ihre unsinnigen Verbote nicht dazu getrieben, sich hier mit meiner Tochter zu verstecken, sondern gepflegt in der Bar einen Drink zu nehmen, wäre dies hier nicht passiert.“

John meinte, ein Zähneknirschen von seiner Schwester zu hören, die sich offensichtlich nur mit allergrößter Mühe davor zurückhalten konnte, ihrer Gegnerin an die Gurgel zu gehen. Stattdessen verschränkte sie die Arme und sprach mit eiskalter Stimme.

„Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie gerade eine Anwältin der Krone als Zicke bezeichnet haben. Wir werden morgen mit Tommy zum Arzt gehen. Sollte mein Sohn, der noch nicht einmal sechzehn Jahre alt ist, auch nur die geringsten Schäden von dieser Eskapade davongetragen haben, werde ich Sie und Ihre Tochter vor Gericht bringen. Da geht es mindestens um Verletzung der Aufsichtspflicht und fahrlässige Körperverletzung – und natürlich um Beleidigung, das wollen wir doch nicht vergessen. Und selbstverständlich werden Sie für alle etwaigen Schäden hier aufkommen.“

„Beleidigung?“, kreischte Mrs. Macgregor. „Die alte Schachtel hier hat doch meine Tochter ein Früchtchen genannt! Und bezahlen werden wir keinen Penny, wenn Ihr Sohn hier den Teppich vollkotzt.“

Nun wurde es Johns Vater zu bunt. „Niemand bezeichnet meine Frau als alte Schachtel.“

Der Concierge, der offensichtlich Angst um sein edles Mobiliar hatte, sollte hier gleich eine Massenschlägerei ausbrechen, trat zwischen die Frauen.

„Nun, nun, meine Damen und Herren. Ich würde vorschlagen, alle begeben sich nun zur Ruhe. Am besten teilen Sie mir mit, wie ich Sie erreichen kann. Wir werden uns morgen um die Verschmutzungen hier kümmern und das Ausmaß feststellen. Dann werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen. Wir werden schon eine Lösung finden, da bin ich sicher.“

Wortlos nahm Megans Mutter das Mädchen bei der Hand und zog sie den Gang hinab, während der alte Angus leise in sich hinein kicherte. „Ein famoses Temperament, die gute Jeanie. Das ist mal eine Frau mit Pfeffer im Hintern. Sie erinnert mich an meine Betty, Gott hab sie selig. Gavin, das war wirklich das einzig Gute, was du je zustande gebracht hast, dir diese Frau zu schnappen.“

Gavin Macgregor lächelte gezwungen und streckte Maggie die Hand hin.

„Es tut mir leid. Meine Frau ist … leicht erregbar. Ich hoffe, Sie nehmen es ihr nicht krumm. Und ich entschuldige mich auch für Megans Verhalten –“

„Herrje, Gavin, du Lusche. Bring doch einmal den Mumm auf, dich hinter deine Tochter zu stellen“, fiel Angus ihm ins Wort. Er ignorierte den hasserfüllten Blick seines Neffen und wandte sich an Maggie.

„Die jungen Leute wollen eben einfach ihren Spaß haben. Da muss man doch keine große Sache daraus machen, oder? Denken Sie an das, was John Lennon sagte: Neunzig Prozent der Menschen auf diesem Planeten verdanken ihre Existenz einer Flasche Whisky in einer Samstagnacht.“ Er zwinkerte Maggie zu, der es offensichtlich die Sprache verschlagen hatte und meinte dann heiter, „So. Die Nacht ist jung. Wer nimmt sich jetzt mit mir noch einen zur Brust?“


Kapitel 4

 

„Und ich habe die ganze Action verpasst, ist denn das zu glauben?“, klagte Renie am nächsten Tag, als sie in der Warteschlange an der Einlasskontrolle zu Westminster Abbey standen.

„Gott, wie gern hätte ich Mum gesehen, wie sie zur Furie wird. Wahrscheinlich hat ihre Ader wieder gepocht, was?“ Sie tippte sich auf die Schläfe.

John nickte grinsend. „Aber sie hat sich großartig beherrscht, muss ich sagen. Wie ging es Tommy heute Morgen?“

„Eigentlich gar nicht so schlecht, ein bisschen blass um die Nase vielleicht. Es war gut, dass er das Meiste gleich wieder von sich gegeben hat. Ich glaube, was ihm heute eher zu schaffen macht, ist der Gedanke an das große Gespräch, das ihm Mum für heute Abend angedroht hat.“ Sie kicherte. „Es passt gut, dass ich heute sowieso zuhause übernachte, weil Geoff auf dieser Konferenz im Norden ist. Bella und ich haben schon ausgemacht, dass wir uns dann in den Flur schleichen und lauschen. Das lassen wir uns nicht entgehen.“

John schüttelte lächelnd den Kopf. „Der Arme. Ich möchte nicht in Tommys Haut stecken.“

„Jungs in dem Alter sind eigentlich arme Wichte“, meinte Renie mit der ganzen Weisheit ihrer zweiundzwanzig Jahre. „Ich kann mir schon vorstellen, dass beim Anblick dieser schottischen Zirze sein Hirn ausgesetzt hat.“

Aus ihrer Tasche ertönten die ersten Takte von Bohemian Rhapsody. Sie fischte ihr Handy eilig heraus und trat ein paar Schritte zur Seite. „Mark! Hallo.“

Während sie telefonierte, hielt John nach seinem Vater Ausschau. Da trat Tante Isabel zu ihm. „Guten Tag, mein Junge. James müsste gleich kommen. Er hat mich vorhin angerufen, dass er erst ein wenig später als geplant vom Museum losgekommen ist. Offenbar gibt es einen Saurierknochen, der begutachtet werden muss und man hat ihn um seinen Rat gebeten. Oh, apropos Saurier –“ Sie beugte sich näher zu ihm und fragte nach einem Blick auf die Umstehenden halblaut, „Ist es wahr, dass die gute Emmeline sich gestern von Jean Macgregor als alte Schachtel beschimpfen lassen musste?“

Als John nickte, biss Isabel sich auf die Lippen, offenbar im Bemühen, ein Lächeln zu unterdrücken. „Wie … ungehörig von Jean. James sagte mir, Emmeline habe sich furchtbar aufgeregt. Nach dem, was ich gehört habe, war die ganze Szene ziemlich unerfreulich gestern.“

„Das kann man so sagen. Beide Seiten waren etwas erregt …“

Isabel schmunzelte. „Etwas erregt ist noch höflich formuliert, schätze ich. Während die Frauen sich angefaucht haben, seid ihr Männer herumgestanden wie die Ölgötzen, habe ich recht? Nun ja, ich habe mich auf jeden Fall heute bemüht, die Wogen etwas zu glätten und mit dem Hotel vereinbart, dass ich für den entstandenen Schaden aufkomme.“

„Das ist sehr nett von dir, Tante Isabel.“

Sie winkte ab. „Wenn ich gestern etwas von der Geschichte mitbekommen hätte, hätte ich beide Seiten zur Räson bringen und dafür sorgen können, dass keine bösen Worte fallen. Aber leider war ich mit Fiona nach oben gegangen, weil sie unbedingt einiges Organisatorische besprechen wollte.“

Isabel verzog das Gesicht.

„Offenbar gibt es Unmengen von Interview-Anfragen hiesiger Medien für mich und Angus. Das meiste habe ich abgeblockt. Ich werde mit diesem Mann vom Guardian sprechen, weil Renie mich darum gebeten hat. Aber ansonsten habe ich keine Lust, meine Zeit hier mit irgendwelchen Pressefritzen zu verbringen, die einem sowieso das Wort im Mund umdrehen.“ Sie hielt kurz inne und fuhr dann leise fort, „Und Angus müssen wir wohl soweit wie möglich von allen Medienvertretern fernhalten. Was wir mit ihm machen sollen, das weiß der Himmel. Es wird wirklich immer schlimmer mit ihm.“

Auch John senkte die Stimme. „Könnte es sein, dass bei ihm eine dementielle Entwicklung vorliegt?“

„Dementielle Entwicklung, hah!“ Isabel schnaubte. „Der Kalk rieselt, und das nicht zu knapp. Und dazu ist er ein unverbesserlicher Schluckspecht. Beides zusammen macht ihn immer unberechenbarer.“

Sie sah sich um, registrierte, dass der gesamte Macgregor-Clan in sicherer Entfernung von ihnen ganz vorn in der Wartschlange stand und fuhr fort.

„Gestern muss es noch eine ziemlich hässliche Szene gegeben haben. Ich war schon zu Bett gegangen, aber etliche waren noch zusammengesessen. Michael hat mir berichtet, dass Angus eine lautstarke Auseinandersetzung mit Patrick und Gavin vom Zaun gebrochen hat. Und heute beim Frühstück hatte er schon wieder einen Mordsstreit, diesmal mit jemandem aus der Gruppe. Er hatte sich nicht zu seiner Familie gesetzt, sondern an einen Tisch mit Leuten aus seinem Ort, aber auch hier krachte es nach kurzer Zeit. So, wie er sich aufführt, ist er auf dem besten Weg, es sich wirklich mit so gut wie jedem zu verderben.“

„Worum ging es denn?“

Isabel verzog das Gesicht. „Offenbar wollte er seinen Tee mit einem ordentlichen Schluck Whisky versetzen. Er trägt ja immer seinen Flachmann mit sich herum und hatte ihn offenbar gerade herausgezogen, als einige am Tisch anmerkten, dass das nun doch etwas unpassend wäre zu so früher Stunde. Daran entzündete der Streit sich dann. Angus keifte, dass er sich nicht von Leuten bevormunden ließe, die allesamt Dreck am Stecken hätten. Ich bin dann hin und habe die Flasche kurzerhand konfisziert und sie mitgenommen, damit endlich Ruhe war.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es kam mir vor, als müsste ich einem renitenten Kleinkind ein Spielzeug entreißen, wirklich traurig. Dann, zehn Minuten später, klopfte es an meiner Tür: Angus. Er schien die ganze Geschichte vom Frühstück komplett vergessen zu haben – er schien sogar recht aufgeräumt und meinte, die junge Megan würde gern einen kleinen Spaziergang mit Walter machen, er würde sie dabei begleiten. Nun ja, nachdem meine Hüfte mir in letzter Zeit etwas zu schaffen macht und wir in diesen Tagen viel auf den Beinen sind, willigte ich ein. Von der Flasche erwähnte er gar nichts, also behielt ich sie einstweilen bei mir und gab sie später Patrick. Ich gab Megan noch genaue Instruktionen, dass sie ja gut auf meinen Hund aufpassen soll – schließlich ist er so eine Großstadt nicht gewöhnt – und sie zogen ab. Megan versprach mir, nur eine Runde um den Block zu gehen, damit Walter sein Geschäft erledigen konnte. Aber als wir um halb zehn zu einem Gespräch mit ein paar unserer schottischen Labour-Abgeordneten aufbrechen wollten, waren die drei immer noch nicht zurück. Wir überlegten schon, ob wir eine Suchmannschaft losschicken oder die Polizei alarmieren sollten, da trudelten sie endlich ein.“

„Hatten sie sich verlaufen?“

Angus hatte sich verlaufen“, gab Isabel in spitzem Ton zurück. „Megan erzählte uns, dass sie schnell etwas in einem Souvenirladen kaufen wollte, da ist er mir nichts, dir nichts mitsamt meinem Walter davonspaziert und wusste offenbar schon nach ein paar Metern nicht mehr, wo er war. Und an den Namen des Hotels konnte er sich auch nicht erinnern. Megan sagte, sie hätte die ganze Umgebung abgesucht, als sie merkte, dass er fort war. Gefunden hat sie ihn schließlich am Tor zum Gelände des Buckingham Palace, umringt von einer Schar Bobbys. Und was denkst du, was er denen gesagt hat? Lizzy wäre eine gute alte Freundin von ihm und sie erwarte ihn zu, na sagen wir mal, einer Privataudienz – auch wenn das nicht ganz die Worte waren, die er gewählt hatte. Meine Güte, er kann noch froh sein, dass er nicht gleich eine Anzeige wegen Majestätsbeleidigung bekommen hat.“

Sie schüttelte fassungslos den Kopf, um gleich darauf die Stirn zu runzeln, als es an der Spitze der Warteschlange zu einem Aufruhr kam. „Was ist nun schon wieder los?“ Energisch marschierte sie nach vorn.

„Ihr haltet uns wohl für Terroristen? Denkt ihr etwa, wir wollen eure Scheißkirche in die Luft sprengen? Ein Skandal ist das, ein Skandal!“

John konnte Angus Macgregors hochroten Kopf inmitten der Menge ausmachen. Die Umstehenden, allen voran sein Sohn und sein Neffe, versuchten ihn zu beruhigen, aber ohne Erfolg. Isabel redete auf ihn ein, woraufhin das Zetern des Alten wenigstens leiser wurde. Nun trat ein freundlich lächelnder glatzköpfiger Herr im langen Gewand eines Kirchendieners vor die Gruppe, klatschte in die Hände und rief, „Meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Ich bin Ewan Fraser und es ist mir eine besondere Ehre, die schottische Delegation durch unsere wunderbare Kirche führen zu dürfen. Was für eine Freude, einmal wieder den herrlichen Dialekt der Highlands zu hören. Mein Vater stammt übrigens aus Inverness“, setzte er mit einem Lächeln hinzu.

Dr. Arbroath trat nach vorn. „Schön, Sie kennenzulernen. Gestatten, dass ich mich vorstelle: Michael Arbroath von der Universität St. Andrews.“

„Dr. Arbroath! Selbstverständlich kenne ich Ihren Namen. Ich habe auch schon einige Ihrer Bücher gelesen. Geschichte ist sozusagen mein Steckenpferd.“ Fraser strahlte.

„Ich danke Ihnen. Darf ich Ihnen nun die beiden Herrschaften vorstellen, deren Erhebung in den Ritterstand Anlass unserer Reise ist? Isabel Mackenzie und Angus Macgregor.“

Fraser schüttelte den beiden die Hand.

„Es ist mir wirklich eine große Freude und Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Er wandte sich an die Gruppe. „Damit wir zügig mit unserer Führung beginnen können, darf ich Sie nun höflich ersuchen, unseren Sicherheitsvorschriften Folge zu leisten. Bitte erlauben Sie den Herrschaften unseres Wachpersonals, einen Blick in Ihre mitgebrachten Taschen und Rucksäcke zu werfen. Dann passieren Sie einzeln die Sicherheitsschleuse.“

„Selbstverständlich, Mr. Fraser. Uns ist bewusst, dass wir ein nationales Kulturgut betreten und da sind gewisse Sicherheitsvorschriften einzuhalten – und zwar von jedem Besucher“, erwiderte Isabel mit einem scharfen Blick auf Angus Macgregor. Dann trat sie nach vorn und öffnete ihre Tasche. Nachdem diese oberflächlich inspiziert worden war, schritt sie durch die Schleuse, die ähnlich aussah wie die Passagierkontrolle am Flughafen. Von der anderen Seite winkte sie auffordernd. Immer noch brummelnd setzte Macgregor sich in Gang. Piiieeep, erscholl ein heller Ton.

„Sir, darf ich Sie bitten, beiseite zu treten? Tragen Sie etwas Metallisches bei sich?“

„Ne Knarre, oder was? Natürlich nicht. Unverschämte Unterstellung“ raunzte Macgregor. Obwohl John mindestens zehn Schritte entfernt stand, hatte er dennoch das Gefühl, dass sich hinter dem barschen Verhalten des Schotten Nervosität verbarg.

„Vielleicht eine Gürtelschnalle? Oder Sie tragen Ihren Geldbeutel oder einen Schlüssel mit sich?“ Der Wachmann blieb geduldig.

„Ich habe Hosenträger, wenn Sie es genau wissen wollen. Der Schlüssel für mein Zimmer ist so eine neumodische Plastikkarte. Und Geld habe ich heute keines eingesteckt.“

Die Sicherheitsleute warfen sich einen Blick zu. „Sir, ich muss Sie bitten, die Arme zur Seite auszustrecken, dann werde ich Sie abtasten.“

Macgregor fuhr zurück und öffnete schon den Mund, um heftig zu protestieren, da ertönte eine helle Stimme hinter ihm.

„Dein Flachmann, Onkel Angus. Du hast ihn in der Jackentasche.“

Macgregor stutzte. „Du hast recht, Megan. Eine kleine Stärkung zwischendurch wird einem ja wohl zustehen.“ Er zog eine Metallflasche mit dem eingravierten Logo GlenMara aus einer Innentasche seiner Tweedjacke und reichte sie dem Wachmann. „Aber vergreifen Sie sich nicht dran, Jungchen. Ich weiß genau, dass die noch voll ist. Heute bin ich noch gar nicht dazu gekommen, ein Schlückchen zu nehmen, nachdem erst diese Lady dort –“, er nickte mit einem grimmigen Lächeln zu Isabel herüber, „– und dann mein Herr Sohn sie die ganze Zeit bewacht haben wie ein Zerberus.“

Isabel knurrte leise und raunte John zu, „Hätte ich das Ding nur behalten – aber ich bin schließlich nicht seine Kindergärtnerin.“

Angus schritt nun abermals durch die Schleuse. Diesmal blieb es still. Triumphierend nahm er seine Flasche wieder in Empfang und schüttelte sie prüfend. Dann nickte er und bedeutete dem Rest der Gruppe ungeduldig, ihm zu folgen. „Nun bringt schon diesen Affenzirkus hinter euch, damit wir anfangen können.“

Es dauerte nicht lange und alle hatten die Kontrolle passiert. Auch James Mackenzie war in letzter Minute zu ihnen gestoßen. Renie hatte ihr Telefonat endlich beendet und begrüßte ihren Großvater überschwänglich. John bemerkte ihre geröteten Wangen und warf ihr einen forschenden Blick zu, als sie sich zu ihm gesellte.

„Alles okay?“

„Natürlich“, erwiderte sie leichthin.

Ewan Fraser wartete, bis es ruhig wurde.

„Meine Damen und Herren – noch einmal herzlich willkommen in Westminster Abbey. Wir haben heute Nachmittag eine schöne Führung vor uns, in der ich Ihnen die Höhepunkte unseres Bauwerks nahebringen darf. Ein besonderes und seltenes Privileg, das Sie genießen dürfen, ist: Wir haben die Kirche ganz für uns. Für normale Besucher sind wir nun geschlossen und zum Abendgottesdienst werden die Tore erst wieder um halb sieben geöffnet.“

„Das ist wunderbar, Mr. Fraser. Die wenigsten von uns hatten je Gelegenheit, diese Kirche zu besuchen und nun freuen wir uns sehr auf den Rundgang mit Ihnen“, sagte Isabel.

„Sehr schön. Ich werde Ihnen gerne einen Abriss über die Baugeschichte und die Bedeutung unserer Kirche geben, aber das machen wir ein wenig später, wenn Sie sich gemütlich in unserem Chorgestühl niederlassen können. Starten werden wir jedoch, wo traditionell auch jeder Besuch eines ausländischen Staatsoberhaupts beginnt: Am Grabmal des Unbekannten Soldaten.“

Wenig später standen sie vor der von seidenen Mohnblumen umfassten schwarzen Marmorplatte, die in das Längsschiff eingelassen war. Die Gruppe verharrte einen Moment schweigend. Dann hob ihr Guide an, „Aus den Schlachtfeldern in Frankreich wurde er heimgebracht und hier zur Ruhe gebettet. Weder sein Name noch sein Rang sind uns bekannt, aber er hat es verdient, hier an diesem würdigen Platz inmitten der Könige zu liegen. Ein sehr passender Ort für die Gedenkandacht, die wir letzten Monat, am vierten August, zum Ausbruch des ersten Weltkriegs vor hundert Jahren abgehalten haben. Und nun lassen Sie uns zu einem unserer Prunkstücke kommen: dem Krönungsstuhl. Bitte folgen Sie mir.“

Hinter einer schützenden Glasscheibe erblickten sie einen hölzernen Thron, an dem der Zahn der Zeit sichtlich schon genagt hatte. Unter der Sitzfläche ließ sich durch die hölzerne Verzierung ein leeres Fach erkennen.

„Da war er wohl drin, unser Schicksalsstein, nachdem Edward, der Schurke, ihn uns geraubt hatte.“ Angus Macgregors anklagender Ton prallte an dem Kirchendiener ab. Freundlich erklärte er, „Exakt. Dieser Stuhl wurde von Edward I. eigens dafür in Auftrag gegeben, den Stein von Scone, auch Schicksals- oder Krönungsstein genannt, aufzubewahren. Seit rund siebenhundert Jahren ist so gut wie jeder Monarch auf diesem Stuhl, sozusagen auf dem Stein sitzend, gekrönt worden.“

Frasers Blick wurde etwas wehmütig. „Wie Sie sehen können, hat dieses geschichtsträchtige Möbelstück schon bessere Zeiten gesehen. Von der ursprünglichen Goldbeschichtung und den Malereien ist kaum noch etwas zu sehen. Dies liegt daran, dass früher nicht gerade achtsam mit dem guten Stück umgegangen wurde. So konnten Besucher der Kirche für einen kleinen Obolus darauf Platz nehmen. Die Jungs aus unserer angegliederten Schule haben sich darauf verewigt, zum Beispiel ein gewisser P. Abbott, der in den Stuhl einritzte, dass er hier die Nacht vom fünften auf den sechsten Juli 1800 verbracht hat. Im Kampf um das Frauenwahlrecht ließ eine der Suffragetten sich 1914 zu einer etwas fehlgeleiteten Protestaktion hinreißen und zündete eine Bombe, die sie über die Rückenlehne des Stuhls gehängt hatte. Glücklicherweise wurde er dabei jedoch kaum beschädigt, lediglich eine der Spitzen brach ab.“

Aus seinem voluminösen Gewand zog Fraser ein zusammengerolltes Bild, das Elizabeth II. bei ihrer Krönung auf dem Stuhl sitzend zeigte. „Hier sehen Sie eine Aufnahme von 1953.“

„Oh, ich weiß es noch wie heute“, schwärmte die Frau des schottischen Bürgermeisters, die gestern Abend mit Johns Eltern zusammengesessen hatte. „Ich war ein junges Mädchen und saß mit der ganzen Familie vor dem Fernseher, als die Feierlichkeiten übertragen wurden. Was für ein prächtiges Ereignis.“

Fraser nickte mit einem Lächeln. „Auch ich kann mich daran erinnern. Ich war noch ein kleiner Bub damals und die ganze Straße hatte sich bei dem Nachbarn versammelt, der als einziger ein Fernsehgerät hatte. Nun, natürlich hoffen wir, dass unserer Regentin noch ein langes, gesundes Leben beschert ist und der nächste Einsatz unseres Krönungsstuhls damit noch in weiter Ferne liegt. Wie Sie sicher wissen, wird der Schicksalsstein, der sich seit 1996 in der Burg von Edinburgh befindet, zu diesem Anlass wieder hierher zurückkehren.“

Er steckte das Bild wieder weg und fuhr fort. „Die Feierlichkeiten zur Inthronisation von Königin Elizabeth waren vorher bis ins letzte Detail geprobt worden und klappten auch wie am Schnürchen. Bei früheren Krönungen dagegen gab es auch das eine oder andere Missgeschick. Das ging schon am Weihnachtstag 1066 los, als sich William der Eroberer nach der Schlacht bei Hastings zum König krönen ließ. Es gab so laute Beifallsbekundungen hier in der Kirche, dass die Wachsoldaten draußen dachten, es wäre ein Aufstand ausgebrochen und in ihrer Verwirrung die umstehenden Häuser in Brand setzten. Die arme Queen Victoria musste 1838 einige Schmerzen erleiden, als der Erzbischof versuchte, ihr den Krönungsring an den falschen Finger zu stecken. Das größte Spektakel aber gab es 1821. Als George IV. auf den Thron kam, waren er und seine Frau Caroline bereits seit einiger Zeit, nun sagen wir, entfremdet. Caroline hatte England verlassen, war aber fest entschlossen, ihren Platz als Prinzgemahlin einzunehmen, sobald George König wurde. Sie reiste zur Krönung an, was ihrem Ehemann aber nicht gefiel. Er wollte sie auf keinen Fall dabeihaben. Das Volk, das draußen stand, wurde also Zeuge, wie eine äußerst erzürnte Caroline von eigens engagierten Wachleuten davor zurückgehalten werden musste, in die Krönungszeremonie hineinzuplatzen. Ein veritabler Skandal.“

Er zog eine neue Papierrolle aus seiner Robe. „Nachzulesen war das Ganze damals auf einer der Flugschriften, die für einen Penny verkauft wurden und sicher an diesem Tag reißenden Absatz fanden. Klatsch und Tratsch rund um die königliche Familie hat die Menschen zu allen Zeiten interessiert.“

Neugierig drängte Renie sich nach vorn und warf einen Blick auf das Papier. „Was ist das?“

„Eine Kopie des damaligen Flugblatts. Ich habe sie von meinem Vater bekommen, der vor langer Zeit in der schottischen Nationalbibliothek arbeitete. Dort lagern bis heute rund eine Viertelmillion dieser alten Schriftstücke. Wenn Sie möchten, dürfen Sie sich den Bericht gern durchlesen.“

Renies Augen leuchteten. „Das ist ja spannend. Einen direkteren Einblick in die damaligen Ereignisse kann man kaum bekommen. Mr. Fraser, Sie bringen mich auf eine Idee …“

Während die Gruppe sich langsam an den mächtigen gotischen Pfeilern entlang durch das Kirchenschiff bewegte, erklärte Renie dem Kirchendiener ihr Interesse an zeitgenössischen Berichten.

„Vielleicht lässt sich auch etwas über das Begräbnis von David Livingstone finden. Das wäre etwas für meinen Artikel.“

Ewan Fraser sah sie nachdenklich an. „Möglicherweise kann ich Ihnen dabei helfen. Wir haben ein Archiv mit Zeitungsartikeln, die sich mit wichtigen Ereignissen rund um Westminster Abbey beschäftigen. Mir ist so, als wäre da auch etwas über Livingstones Beerdigung dabei. Wenn Sie möchten, können wir einen Termin vereinbaren und gemeinsam ein wenig das Material durchforsten.“

Renies begeistertes Quieken hallte durch das gewaltige Kirchengewölbe. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Verzeihung. Würden Sie das wirklich tun?“

Fraser lächelte. „Natürlich. Nun, und wenn Sie sich für Livingstone interessieren, sind wir hier genau richtig. Dies ist sein Grab.“

„Ah, einer unserer großen schottischen Landsleute“, meinte Angus Macgregor beifällig.

Ehrfürchtig beäugte Renie die Grabplatte. „Von getreuen Händen über Land und über See hierher gebracht, ruht hier David Livingstone, Missionar, Reisender, Philantrop“, las sie leise die Inschrift vor.

„Genauer gesagt ruht hier nur der Großteil von ihm“, erläuterte der Kirchendiener. „Wie er es gewünscht hatte, wurde sein Herz unter einem Baum vergraben, dort wo er gestorben ist, in seinem geliebten Afrika. Seine beiden treuen Diener, Chuma und Susi, machten sich dann mit dem Leichnam in seine Heimat auf. Es muss für die beiden eine unglaubliche Odyssee gewesen sein, die fast ein Jahr dauerte. Aber sie haben es geschafft und so hat er 1874 seine letzte Ruhe hier in bester Gesellschaft anderer großer Forscher gefunden.“

Er wies auf einige Marmorstatuen, die in eine von vergoldeten Holzornamenten gezierte Wand eingelassen waren, die mitten im Längsschiff vor ihnen aufragte.

„Dies ist die Rückwand des Chores. Über ihr sehen Sie die Pfeifen unserer Orgel aufragen. Hier haben wir die Grabmonumente unter anderem von Charles Darwin und Isaac Newton. Und das sind nur zwei der über sechshundert Denkmäler in diesem Gebäude. Insgesamt sind mehr als dreitausend Menschen hier drin begraben oder haben zumindest Gedenksteine erhalten. In diesem Abschnitt des Kirchenschiffs sind in erster Linie Männer versammelt, die sich um die Naturwissenschaft und Technik verdient gemacht haben, wie zum Beispiel die Herren Rutherford, Faraday und Lister.“

Renie stand immer noch am Grab David Livingstones. „Dürfte ich ein Foto machen?“, fragte sie.

„Tut mir leid, junge Dame. Fotografieren und Filmen ist in den Innenräumen strengstens verboten, nur draußen im Kreuzgang dürfen Aufnahmen gemacht werden. Aber wir haben eine ganze Reihe von hochwertigen Postkarten im Shop. Der hat nun zwar geschlossen, aber wenn Sie mich wegen des alten Artikels noch einmal besuchen, können Sie sich diese ansehen.“

Renie, die ihr Handy bereits gezückt hatte, steckte es folgsam wieder weg. Sie folgten Ewan Fraser durch einen üppig verzierten Spitzbogen und fanden sich gleich darauf in einer Art Kirche-in-der-Kirche wieder, mit dreireihigem Chorgestühl zu beiden Seiten.

„Hier beteten die Mönche des Klosters in früheren Jahrhunderten. Heute können Sie hier zu ausgewählten Messen unseren hauseigenen Chor hören – ein ganz besonderes Vergnügen, sage ich Ihnen. Auch Konzerte auf unserer hervorragenden Kirchenorgel finden hier statt. Bitte nehmen Sie Platz, meine Damen und Herren. Ich nutze die Gelegenheit, Ihnen einen Überblick über die rund tausendjährige Geschichte unserer Abteikirche zu geben.“

John meinte ein paar unterdrückte Seufzer von den Umsitzenden zu hören. Die Sorge, nun einen endlosen, langatmigen Vortrag erdulden zu müssen, erwies sich jedoch als unbegründet. John, dessen Arbeit im Tower zu einem guten Teil ebenfalls darin bestand, Besuchergruppen die Geschichte der Festung nahezubringen, musste neidlos zugestehen, dass Fraser der Bogen zwischen Wissensvermittlung und Unterhaltung hervorragend gelang.

Renie schien derselben Meinung zu sein. „Der Mann versteht sein Geschäft“, wisperte sie ihm zu. Gleich darauf stieß sie ihn mit dem Ellbogen in die Seite. „Auch wenn das wohl nicht jeder so empfindet.“ Sie nickte andeutungsweise nach hinten. In der hintersten Reihe saß Angus Macgregor, das Kinn auf die Brust gesunken, selig entschlafen. Megan neben ihm starrte ausdauernd nach unten. Wahrscheinlich spielt sie mit ihrem Handy, dachte John und schüttelte leicht den Kopf. Auch ihr Guide hatte gemerkt, dass ein Teil seiner Zuhörerschaft nicht mehr bei der Sache war und kam zum Ende.

„Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, vereint unsere wunderbare Kirche eine Fülle von Funktionen: Natürlich ist sie in erster Linie ein Platz des Gebets und der Andacht. Aber sie ist auch ein einzigartiges Symbol der Verbindung von Kirche und Staat. Sie ist der Ort, in dem königliche Häupter gekrönt werden und wo eine Vielzahl unserer Monarchen den Bund fürs Leben geschlossen haben wie zuletzt der Herzog und die Herzogin von Cambridge. Und sie ist die letzte Ruhestätte für viele große Persönlichkeiten, wie wir im Verlauf unseres Rundgangs noch weiter sehen werden. Schlussendlich gibt es auch eine dramatische Geschichte, die sich just hier, wo Sie gerade sitzen, zugetragen hat.“

Fraser machte eine Kunstpause. Nun hatte er wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe, selbst Angus Macgregor war wieder erwacht.

„Nach mittelalterlichem Recht konnten Verfolgte, selbst Kriminelle, den Schutz der Kirche in Anspruch nehmen und waren vor dem Arm des Gesetzes geschützt, sobald sie sich hier drin befanden. Nun, es war im Jahr 1378, als ein Mann auf der Flucht vor einer Wacheinheit hier Schutz suchte. Die Soldaten des Königs jedoch missachteten das Recht des Kirchenasyls und folgten ihm. Und genau hier im Chorraum erschlugen sie nicht nur ihn, sondern auch einen der Mönche, der ihm zu Hilfe eilen wollte. Und so wurde unsere Kirche einmal im Lauf der Geschichte zum Schauplatz eines schändlichen Verbrechens.“

 

Was Fraser nicht ahnen konnte, war, dass es in den Mauern von Westminster Abbey noch an diesem Nachmittag ein weiteres Mal zu einem Mord kommen sollte.


Kapitel 5

 

„Willkommen in Poets’ Corner, wo wir die großen Geister aus Kunst und Kultur ehren. Begonnen hat die Tradition vor gut sechshundert Jahren, als Geoffrey Chaucer hier beerdigt wurde. Allerdings nicht, weil er sich mit den großartigen Canterbury Tales unsterblich gemacht hat, sondern weil er am Hof Richards II. Oberaufseher über die königlichen Bauvorhaben war.“ Fraser grinste. „Definitiv entsprach Chaucer nicht dem Bild des armen Poeten. Er konnte über eine stattliche jährliche Apanage verfügen, dazu erhielt er auf royales Geheiß eine Gallone Wein pro Tag auf Lebenszeit.“

„Nicht schlecht“, kommentierte Angus Macgregor schmunzelnd. „Noch besser wäre aber Whisky gewesen. Wenn ich mich recht erinnerte, sagte William Faulkner so etwas wie: Die chemische Analyse der dichterischen Inspiration ergibt neunundneunzig Prozent Whisky und ein Prozent Schweiß.“

Gelächter brach aus. Auch Ewan Fraser stimmte ein, entgegnete dann aber, „Soweit ich mich noch erinnern kann, war es genau jener Faulkner, der nach Abschluss eines seiner Romane so sehr dem Whisky zusprach, dass er mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Und von Dylan Thomas hier“, er wies auf die Gedenkplakette für den walisischen Dichter, die im Boden eingelassen war, „ist überliefert, dass er nach dem Genuss von achtzehn Gläsern Whisky sein Leben aushauchte.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739354576
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
London Schottland Geschichte Familie Krimi Thriller Spannung Historisch

Autor

  • Emma Goodwyn (Autor:in)

Hinter dem Pseudonym Emma Goodwyn verbirgt sich eine erfolgreiche Psychologin, die mit John Mackenzie, dem Helden ihrer Cosy Mysteries nicht nur den Beruf teilt. Neben einer Vorliebe für die asiatische Küche und Darjeeling-Tee verbindet beide die Leidenschaft fürs Gärtnern und das Lösen von Rätseln.
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Titel: Tod in Westminster