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Tod im Tropenhaus

John Mackenzies sechster Fall

von Emma Goodwyn (Autor:in)
240 Seiten
Reihe: John Mackenzie, Band 6

Zusammenfassung

Frühlingstage voller Romantik – davon hat Beefeater John Mackenzie lange geträumt. Doch nun fegen drei quirlige Neffen durch seine Wohnung und dann geschieht auch noch ein Mord. Zur Freude von Superintendent Simon Whittington ist der vermeintlich Schuldige schnell ausgemacht. Doch John ist überzeugt, dass mehr hinter der Bluttat im Zoo von London steckt. Inmitten von Faultieren, Fledermäusen und falschen Fährten fühlt er sich bald wie in einem echten Dschungel...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

Norma Jean erwachte mit einem Ruck. Trotz ihres schlechten Gehörs nahm sie wie an jedem Morgen das Klappern der Küchentür draußen wahr. Welchen Snack würde der Zweibeiner heute bringen? Vielleicht ein Stück Birne? Chicoree? Trauben? Träge streckte sie eines ihrer krallenbewehrten Vorderbeine aus und begann, sich zum Futterplatz zu hangeln. Auch Alexander, der weiter oben in einer Astgabel geruht hatte, regte sich. Unten auf dem weichen Waldboden stelzte einer der Gefiederten noch ein wenig schlaftrunken herum, während die Langschwänzigen wie üblich schon munter waren und im ersten Tageslicht, das durch das Glasdach der Halle fiel, mit großen Sprüngen durch die Bäume turnten. Frech waren sie, diese pelzigen Gesellen, schnappten immer schnell nach dem besten Futter. Aber der Zweibeiner achtete schon darauf, dass Norma Jean ihre Leckerbissen bekam.

Ein zweites Mal öffnete sich draußen die Tür und fiel wieder ins Schloss. Der Boss der Langschwänzigen stimmte ein ungeduldiges Gekreisch an, in das die ganze Schar seiner Artgenossen einfiel. Der Regenwald hallte wider von ihrem Radau. So konnte keines der Tiere den kurzen Aufschrei hören, der aus der Küche erklang, bevor das Klappern der Tür ein drittes Mal zu hören war und hastige Schritte sich entfernten.


Kapitel 1

 

„Achtung bitte auf Gleis elf. Die Einfahrt des Zuges aus York – geplante Ankunft 16 Uhr 51 – verzögert sich um zehn Minuten.“

John Mackenzie, der schon seit einer Viertelstunde mit wachsender Ungeduld den Bahnsteig hinauf und hinab tigerte, grummelte und sandte einen bösen Blick in Richtung des Lautsprechers, aus dem die lapidare Ansage gekommen war. Jede Minute Verspätung schmälerte die kostbare Zeit, die er mit Pauline verbringen konnte.

Seit jenem denkwürdigen Abend im letzten Herbst, an dem Pauline Murray ihn bei der Junggesellenauktion zugunsten der Königlichen Gärten in Kew ersteigert hatte, schien ihm sein Leben zu einem viel zu großen Anteil aus Warten zu bestehen. Nun, da sie endlich ein Paar waren, konnte John es kaum ertragen, dass über zweihundert Meilen zwischen ihnen lagen.

Pauline wohnte in York, wo sie an einer großen Mädchenschule unterrichtete. Er selbst war vor drei Jahren vom Auslandseinsatz in seine Heimatstadt London zurückgekehrt, nachdem er den Dienst als Psychologe in der Truppenbetreuung der Britischen Armee quittiert hatte. Auf Empfehlung seines Kommandanten war er in die Einheit der königlichen Yeoman Warders, gemeinhin Beefeater genannt, aufgenommen worden. Er liebte es, im Tower von London zu leben und zu arbeiten – aber im letzten halben Jahr hatte er mehr als einmal über den Schichtdienst geflucht, der ihm kaum Zeit ließ, Pauline zu besuchen.

Einmal hatte er sich sogar nach einer Nachtschicht frühmorgens zum Bahnhof King’s Cross und von da aus auf die zweistündige Zugreise in den Norden aufgemacht, nur um am selben Abend wieder zurückzufahren und nach ein paar Stunden Schlaf zum Frühdienst anzutreten. Egal – solange er sich wenigstens ein paar Stunden mit Pauline stehlen konnte, nahm er das gerne in Kauf. In den letzten Wochen jedoch war nicht einmal das möglich gewesen. Paulines Mutter, die wie der Großteil des Murray-Clans in Schottland lebte, hatte nach Weihnachten einen Schlaganfall erlitten und war nun auf Hilfe angewiesen. Keines von Paulines Geschwistern konnte kurzfristig einspringen: Mary lebte mit ihrer Familie auf den Hebriden, Padraig war als Ingenieur auf einer Ölplattform in der Nordsee eingesetzt. Die jüngste Schwester Alison, die mit ihrer Familie ganz in der Nähe ihrer Eltern in North Berwick wohnte, war mit ihrem vierten Kind hochschwanger. Daher war es an Pauline, jedes Wochenende in ihrem Heimatort nahe Edinburgh zu verbringen, um ihren Vater zu unterstützen. Vor einer Woche nun hatte sie John aufgeregt angerufen.

„Stell dir vor, Mary kann sich in den Osterferien kurzfristig frei machen und sich um Mum und Dad kümmern. Also könnte ich dich besuchen kommen, wenn dir das passt!“

Johns Herz tat einen Sprung.

„Was für eine Frage – natürlich kommst du! Du weißt, wie sehr ich dich vermisse. Wie lange kannst du bleiben?“

„Ich denke, eine Woche müsste gehen.“

„Eine ganze Woche! Das ist ja wunderbar! Ich werde sofort mit Chief Mullins reden, ob ich ein paar Schichten schieben kann, damit ich dann frei habe.“

„Da wäre nur eine Sache …“, meinte sie zögernd.

„Was meinst du?“

„Ich habe Alison versprochen, mich in den Ferien um die Jungs zu kümmern. Sie hat nur noch ein paar Wochen bis zur Geburt – ehrlich gesagt glaube ich, sie schielt immer auf die Nachrichten, um zu sehen, wann es bei William und Kate mit ihrem zweiten Nachwuchs soweit ist. Ich habe den Verdacht, dass sie das Kind partout am selben Tag zur Welt bringen möchte, so ein alter Royals-Fan wie sie ist.“

John verdrehte die Augen. Das Brimborium um die Geburt des nächsten Urenkels der Königin, das seit Wochen alle Schlagzeilen bestimmte, ging ihm gewaltig auf die Nerven. Staatskrisen, Erdbeben, kleinere Kriege – alles rutschte auf Seite 2, sobald ein Reporter auch nur das Tor des Kensington Palace aufgehen sah.

„Von geschwollenen Füßen über Kreuzschmerzen bis zu Schwangerschaftsdiabetes hat sie alles, was man als neununddreißigjährige Spätgebärende so haben kann“, sprach Pauline weiter über ihre jüngste Schwester. „Und dazu noch die drei Racker, du kennst sie ja …“

John musste lächeln. Oh ja, an Paulines drei Neffen konnte er sich sehr gut erinnern. Er hatte sie beim großen Clantreffen in Edinburgh im vorletzten Sommer kennengelernt.

„Barry, Neil und Justin, nicht wahr? Wie alt sind die drei mittlerweile?“

„Dreizehn, neun und fünf. Sie sind echt liebe Kerle – aber manchmal rauben sie einem auch den letzten Nerv. Auf jeden Fall hätte Alison keine Ruhe, wenn die drei zuhause herumfegen –“

„Bring sie doch mit“, schlug John spontan vor.

„Daran hatte ich auch schon gedacht, aber … wird dir das nicht zu viel? Und wo würden wir die drei unterbringen?“

„Mein Wohnzimmersofa lässt sich ausklappen und in ein Doppelbett verwandeln. Natürlich wäre es ein bisschen beengt, aber für ein paar Tage ginge es schon.“

„Ehrlich? Du bist ein Goldschatz, John. Die drei werden ausflippen, wenn ich ihnen sage, dass sie mit nach London dürfen. Sie sind unglaubliche Harry Potter-Fans und werden uns zu jedem einzelnen Drehort in der Stadt zerren, fürchte ich. Und natürlich werden sie jeden Winkel des Towers erkunden wollen und dich unentwegt mit Fragen löchern. Sag mal, bist du sicher, dass du dir das antun willst?“

„Ich bin zu allem bereit“, versicherte er ihr. „Mir fällt gerade ein, dass Maggie in den Ferien mit Bella raus in die Leavesden-Studios will. Das wäre doch etwas für die Jungs.“

„Die Studios, in denen die Potter-Filme produziert wurden? Die drei werden im siebten Himmel sein, wenn ich ihnen davon erzähle! Sie werden die Tage zählen, bis unsere Reise losgeht.“

„Nicht nur die Jungs, Pauline, glaub mir“, meinte er mit Inbrunst.

 

John blickte zur großen Bahnhofsuhr hinauf. Der Zeiger schien sich nicht vorwärtsbewegen zu wollen. Noch fünf Minuten. Am liebsten wäre er dem Zug entgegengerannt. Stattdessen lehnte er sich an eine Säule und dachte wie schon unzählige Male in den letzten Monaten an jenen Sonntagmorgen zurück, der auf die Junggesellenversteigerung gefolgt war. Wieder überflutete ihn ein wohliges Glücksgefühl. Beim Erwachen war sein Blick geradewegs in Paulines meergrüne Augen gefallen, die ihn durch eine Strähne ihres glänzend kupferroten Haars hindurch verschlafen anblinzelten. Aus seinem Radiowecker drang Bryan Adams’ „Heaven“. John konnte sich keinen Song vorstellen, der seine Gefühle in diesem Moment besser hätte beschreiben können. Erst viel später hatte er erfahren, dass sein romantisches Idyll um ein Haar jäh gestört worden wäre.

„Ohne mein energisches Eingreifen wäre Renie an dem Morgen bei dir aufgetaucht“, hatte seine Schwester Maggie ihm kichernd geschildert. „Ich habe sie gerade noch abgefangen, als sie zur Tür hinaus wollte. Sie wollte dich mit frischen Croissants überraschen und dich dann nach allen Regeln der Kunst ausquetschen. Das Kind kennt wirklich keine Grenzen.“

John, der die unstillbare Neugier und den enormen Tatendrang seiner ältesten Nichte nur zu gut kannte, erschauerte noch im Nachhinein und war seiner Schwester zutiefst dankbar, dass sie ihm Renie vom Hals gehalten hatte. Pauline hatte am Abend desselben Tages schon wieder zurück nach York fahren müssen. Die knappen Stunden, die ihnen blieben, sollten ausschließlich ihnen beiden gehören. Was war das für ein wundervoller, großartiger, geradezu legendärer Tag gewesen … John war so versunken in seinen Tagtraum, dass er heftig zusammenfuhr, als der Zug der Central Rail mit kreischenden Bremsen vor ihm zum Stehen kam.

„John! John! Hier sind wir!“ In der Tür des zweiten Waggons stand Pauline und winkte ihm zu. Als er auf sie zueilte, bemerkte er, dass sie müde aussah. Dennoch leuchteten ihre Augen, als sie aus dem Zug kletterte und in seine Arme fiel.

John hätte gut und gerne noch ein paar Stunden so zubringen können, aber irgendwann drang ein drängendes Wispern an sein Ohr.

„Justin! Lass das.“

„Ich will aber zu Gleis 9 ¾! Jetzt sofort!“

„Genau. Die knutschen ja ewig. Wisst ihr was? Wir gehen einfach allein los.“

„Spinnst du, Neil? Mum hat gesagt, wir müssen uns benehmen –“

Nun hatte auch Pauline den Wortwechsel mitbekommen. Mit einem bedauernden Lächeln löste sie sich aus der Umarmung und wandte sich zu ihren Neffen um.

„Lasst uns schnell das Gepäck ausladen“, sie stutzte, „Oh, ihr habt das ja schon erledigt. Äh, gut. Dann begrüßt unseren Gastgeber. Ihr habt ihn ja schon beim Clanfestival kennengelernt.“

Der älteste der Jungen – Barry, wie John sich erinnern konnte – hochaufgeschossen und mit ernstem Blick, trat nach vorn und streckte John die Hand entgegen.

„Mr. Mackenzie, wir bedanken uns vielmals, dass Sie uns eingeladen haben. Unsere Mutter hat uns etwas für Sie mitgegeben.“

Neben einer großen Schachtel Godiva-Pralinen zog er ein Paar flauschiger Wollsocken aus seinem Rucksack, in die etwas eingestickt war. John erkannte den Wahlspruch des Mackenzie-Clans, Luceo, non uro – Ich brenne nicht, ich leuchte.

„Die hat Mummy selbst gestrickt. Aus unserer schottischen Schafwolle“, berichtete Neil, der mittlere der Jungen stolz.

John bedankte sich feierlich und schüttelte Paulines Neffen nacheinander die Hand. „Bitte nennt mich einfach John. Ich freue mich, euch hierzuhaben. Und jetzt lasst uns zu Gleis 9 ¾ gehen.“

Neil und der kleine Justin brachen in Freudengeheul aus, während Barry sich bemühte, sich nicht zu so kindlichem Überschwang hinreißen zu lassen.

„Vergesst nicht eure Rucksäcke“, mahnte er seine Brüder. „Neil, deinen Rollkoffer kannst du selbst ziehen, den von Justin nehme ich.“ Die beiden verdrehten die Augen, taten aber, wie ihnen geheißen. Während sie den Bahnsteig entlanggingen, fragte Neil eifrig, „John, wusstest du, dass JK ihre ersten Ideen für Harry Potter in einem Zug schrieb, der genau hier in King’s Cross endete?“

John verneinte. Barry setzte gewichtig hinzu, „Sie kam gerade aus Manchester, wo sie damals lebte. Der Zug hatte Verspätung und so hatte sie Muße, etwas aufs Papier zu bringen.“

Neil stieß John mit dem Ellbogen in die Seite. „Er ist so ein Klugscheißer, echt. Immer meint er, er weiß alles am besten.“

„So ist es auch, du Wicht“, konterte Barry. Neil plusterte sich erbost auf. In diesem Augenblick erspähte Justin das Schild, das den Bahnsteig des Hogwarts Express-Zugs kennzeichnete, mit dem davor montierten halben Gepäckwagen, der quasi in der Wand verschwand.

„Wow! Cool! Schaut mal!“

„Boah, da kann man Fotos machen, voll in Verkleidung! Los, hin!“, rief Neil entzückt. Pauline aber runzelte die Stirn.

„Seht ihr diese Warteschlange? Da stehen wir ja ewig. Ich würde vorschlagen, wir fahren jetzt zum Tower und dann können wir ja in den nächsten Tagen schauen, ob wir nochmal hierherkommen –“ Dreistimmiges Protestgejaule erklang. John hob lachend die Hände.

„Wisst ihr was, Jungs? Pauline und ich stellen uns an und ihr könnt einstweilen in den Shop gehen. Das Gepäck könnt ihr bei uns lassen. Wir geben euch Bescheid, sobald ihr dran seid.“

Die Jungen verschwanden so schnell, als wären sie disappariert. Pauline lächelte breit. „Sie lieben dich jetzt schon.“

John grinste zurück. „Die drei sind ja leicht glücklich zu machen. Ich hätte eigentlich gar nicht gedacht, dass Harry Potter bei Kindern heute noch so hoch im Kurs steht. Als der letzte Roman erschien, war Justin noch gar nicht geboren.“

„Das stimmt, aber da JK Rowling in Edinburgh lebt, wird sie dort oben bis heute besonders verehrt. Du weißt ja, dass meine Familie in North Berwick zuhause ist. Von dort sind es nur gute zwanzig Meilen nach Edinburgh, so dass es bei uns in der Gegend eine eingeschworene Potter-Fangemeinde gibt – und zu der gehören beileibe nicht nur Kinder. Ich selbst habe die Bücher auch verschlungen“, gestand sie.

„An mir ist der Hype damals ziemlich vorbeigegangen. Es waren die Jahre, als ich im Auslandseinsatz war. Allerdings habe ich da durchaus junge Soldaten kennengelernt, die sich in einer ruhigen Minute gern mit dem jeweils neuesten Band in die Welt von Hogwarts zurückgezogen haben.“ Die Warteschlange bewegte sich einen halben Schritt vorwärts.

„Der größte Fan der Serie, den ich bisher kannte, ist allerdings Renie. Ich kann mich an einen Brief von ihr erinnern, in dem sie mir seitenlang beschrieb, wie sie am Leicester Square kampierte, um bei der Weltpremiere eines der Filme dabei zu sein. Sie muss damals etwa sechzehn oder siebzehn gewesen sein. Ich weiß noch, dass es an dem Abend wie aus Kübeln gegossen haben muss, aber sie harrte unverdrossen aus und schaffte es dann sogar, etliche Autogramme von den Schauspielern zu ergattern.“

„Autogramme? Hat sie am Ende sogar eins von … Emma Watson?“ Barrys Stimme kiekste um eine Oktave nach oben, als er den Namen der Schauspielerin aussprach. Mit seinen offensichtlich widerstrebenden Brüdern im Schlepptau war er wieder aus dem Laden aufgetaucht.

John zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht. Aber du kannst Renie selbst fragen. Ihr werdet sie in den nächsten Tagen sicher einmal treffen.“

„Barry ist total verknallt in Emma Watson. Dabei ist sie viel zu alt für ihn – aua!“, jaulte Neil auf, als sein großer Bruder ihn in den Oberarm knuffte.

„Quatsch nicht so blöd rum“, knurrte Barry, der rot angelaufen war.

„Tante Pauline! Barry hat mir wehgetan.“ Unter theatralischem Wehklagen rieb Neil sich den Arm. „Außerdem will er mir nichts von seinem Geld leihen, damit ich mir Voldemorts Zauberstab kaufen kann. Und einen Slytherin-Schal.“

„Slytherin! Du bist eine Schande für diese Familie“, erregte Barry sich.

„Ich will die Schokoladenfrösche. Und Bertie Botts Bohnen!“, krähte Justin. „Tante Pauline, kann ich was von meinem Geld haben?“

Barry schlug sich an die Stirn. „Du willst doch nicht ein Heidengeld für ein paar Süßigkeiten ausgeben, die du in kürzester Zeit aufgefuttert hast, Justin! Das ist doch … totaler Mumpitz, wie Grandpa jetzt sagen würde.“

Neil krakeelte, „Mumpitz!“ und wollte sich vor Lachen ausschütten.

Justin stemmte die Hände in die Hüften und funkelte die beiden Größeren an. „Pff, Mumpitz. Mummy hat gesagt, ich darf dreißig Pfund ausgeben und ich darf ganz allein entscheiden, was ich mir dafür kaufen will. Das hat sie gesagt, oder nicht, Tante Pauline?“

„Wir sind gleich dran“, ergriff John eilig das Wort. „Wie wäre es, wenn wir jetzt die Fotos machen und ihr euch hinterher überlegt, ob ihr wirklich gleich hier etwas kaufen wollt. Vielleicht solltet ihr euch bis übermorgen gedulden. Ich habe mir sagen lassen, dass es in den Leavesden-Studios einen noch viel größeren Harry Potter-Laden geben soll.“

„Echt?“ Neil riss die Augen auf. „Hmm … dann warte ich lieber noch.“

„Ich will aber jetzt was Süßes. Wenigstens eine Tüte bunte Nacktschnecken“, schmollte Justin.

„Ich bin sicher, diese Nacktschnecken schmecken ganz köstlich“, meinte John ernsthaft zu dem Kleinen. „Es wäre allerdings schade, wenn du dir den Appetit verderben würdest. Zum Abendessen gibt es Pizza und als Nachspeise Muffins.“

Justins Blick hellte sich auf, dennoch fragte er kritisch nach, „Mit Schoko?“

John nickte, froh, dass er sich von Maggie das Rezept ihrer legendären Triple Chocolate Muffins hatte geben lassen. Justin strahlte und wandte sich endgültig von der verlockenden Schaufensterauslage des Shops ab.

„Mein Held“, raunte Pauline John ins Ohr und schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. Die lärmige Bahnhofshalle, der Geruch nach Fast Food, die drängelnden Touristen in der Warteschlange – mit einem Mal schwand alles aus Johns Bewusstsein. Er legte die Arme um sie und zog sie an sich. Der glückselige Augenblick war jedoch nur von kurzer Dauer.

„Tante Pauline? Machst du Bilder von uns? Die haben hier auch einen eigenen Fotografen, falls du zu beschäftigt bist …“

Barry stand vor ihnen, angetan mit einem langen rot-goldenen Schal und einem schwarzen Umhang. Er musterte die beiden Erwachsenen mit einem leichten Stirnrunzeln. Neil, in einem grün-silbern gemusterten Schal, setzte hinzu, „Ein Foto kostet nur zehn Pfund.“

„Zehn Pfund? In dem Fall bin ich nicht zu beschäftigt.“ Pauline zog eilig eine kleine Kamera aus der Manteltasche und machte sich daran, die Jungen zu knipsen.

 

Als John ein paar Dutzend Aufnahmen später – auch er hatte sich zur Freude der Jungen breitschlagen lassen, gemeinsam mit Pauline im Zauberer-Outfit zu posieren – das Gepäck seiner Besucher in den Kofferraum wuchtete, hörte er, wie Barry beim Einsteigen seinem jüngeren Bruder zuzischte, „Mann, die beiden sind ja ganz schön peinlich.“

Neil kicherte und ahmte einen schmatzenden Kuss nach. „Echt krass, wenn alte Leute sich so aufführen.“

John verbiss sich mit Mühe ein Lachen und öffnete Pauline galant die Autotür. Er hatte sich extra den Wagen des Ravenmasters George Campbell ausgeliehen, um seine Besucher bequem zum Tower zu chauffieren. Kaum hatten sie die Parkbucht verlassen, ließ Justin sich vernehmen, „Ich muss aufs Klo.“

„Wir müssten in gut zwanzig Minuten da sein. Hältst du es solange aus?“, fragte John mit einem besorgten Blick zur Rückbank.

„Weiß nicht“, kam es zurück. In diesem Moment meldete der Verkehrsfunk, „Unfall auf der A501, Staulänge zwei Meilen.“ Damit war die schnellste Verbindung in Richtung Tower dicht. Seufzend bog John nach Süden ab. Sie passierten das Universitätsgelände der London School of Economics und John ordnete sich links ein, als Barry auf das Australia House deutete und ausrief, „Gringotts! Da vorn!“

„Halt an, John! Das müssen wir uns ansehen!“ Neil drückte sich förmlich die Nase an der Seitenscheibe platt.

„Das geht hier nicht, Jungs, tut mir leid. Wir sind auf einer Hauptverkehrsstraße unterwegs“, beschied ihm John und murmelte zu Pauline auf dem Beifahrersitz hinüber, „Was ist überhaupt dieses Gringotts?“

Bevor sie antworten konnte, kam prompt vom Rücksitz, „Oh Mann, das weiß doch jeder Id-“, dann war ein Aufjaulen zu hören und Neil verstummte. Während sie sich in der abendlichen Rush Hour langsam die Fleet Street entlangbewegten, belehrte Barry John in epischer Breite über die Zaubererbank, bis diesem der Kopf vor Galleonen, Verliesen und Kobolden schwirrte.

Schließlich erreichten sie die Straßenschluchten der City mit ihren hochaufragenden Bürotürmen und er musste sich konzentrieren, um angesichts der vielen Einbahnregelungen nicht den Überblick zu verlieren. Seit er nach England zurückgekehrt war, hatte er sich beharrlich geweigert ein Auto zu kaufen. In einer Metropole wie London erschien ihm ein eigenes Fahrzeug sinnlos. Viel lieber ging er zu Fuß oder nahm die U-Bahn. An dieser Einstellung würde sich nach dem heutigen Abend mit Sicherheit nichts ändern.

„Sind wir endlich da?“, quengelte Justin. „Ich muss jetzt echt mal.“

„Nur noch ein paar Minuten“, versprach John und bog in die Leadenhall Street ein.

Da quiekte Neil begeistert auf. „Oh, schaut mal! Ist da Leadenhall Market?“, fragte er aufgeregt.

„Ja, das ist ein Stück rechts die Straße runter.“

„Das ist im Film die Winkelgasse, wo Harry seine Zauberutensilien kauft“, erklärte Barry. „Können wir dahin? Bitte?“

„Jetzt nicht, Jungs. Ich gehe mit euch in den nächsten Tagen überall hin, wo ihr hinwollt, aber jetzt fahren wir in den Tower“, sprach Pauline zu Johns Erleichterung ein Machtwort.

„Aber dann gleich morgen, ja?“, bettelte Neil.

„Das wird nicht gehen, Jungs. Für morgen steht ein Besuch im Zoo auf dem Programm. Ich habe mit meiner Schwester vereinbart, dass wir zusammen mit ihr und meiner Nichte Bella hingehen“, sagte John. Im Rückspiegel konnte er sehen, dass die Begeisterung der Jungen sich in Grenzen hielt.

„Über einen Bekannten, der im Tropenhaus arbeitet, konnte ich ein „Meet and Greet“ mit den Regenwaldtieren arrangieren. Wir dürfen hinter die Kulissen und die Tiere ganz aus der Nähe kennenlernen“, verkündete er stolz.

Bella, zu deren absoluten Lieblingstieren seit jeher Faultiere gehörten, hatte mit einem Luftsprung und einem markerschütternden Jubelschrei reagiert, als er ihr davon erzählt hatte. Von den drei Jungen zeigte allenfalls Justin mehr als mildes Interesse – bis Barry plötzlich einfiel, „Warte mal – der Londoner Zoo? Mensch, im Reptilienhaus dort wurde Harrys Begegnung mit der Python gedreht. Cool! Da müssen wir hin!“

John beschlich das Gefühl, dass dieser Harry Potter sich in den nächsten Tagen noch als ausgeprägte Nervensäge erweisen würde.

 

Wenig später erreichten sie die Tiefgarage, welche die Beefeater und ihre Familien für ihre Autos nutzten. Auf kürzestem Weg geleitete John seine Gäste zu seiner Wohnung am Tower Green.

Nachdem Justin mit einem Ausdruck grenzenloser Erleichterung wieder aus der Toilette aufgetaucht war – nur, um von Pauline postwendend wieder zum Händewaschen zurückgeschickt zu werden – gesellte er sich zu seinen Brüdern, die den Ausblick aus dem Küchenfenster bewunderten. In der Dämmerung strahlte der mächtige beleuchtete White Tower vor den umgebenden Festungswällen. Zwei von Johns Kollegen, in voller Montur, traten soeben aus dem Wachhäuschen und marschierten über den Innenhof. Barry hob seinen kleinen Bruder, der nicht über die Pflanzen auf dem Fensterbrett hinübersehen konnte, hoch.

„Ist das cool!“, kommentierte Justin ergriffen. „Eine richtige Burg. Gibt’s hier Ritter?“ Er blickte enttäuscht drein, als John verneinte.

„Geister?“

„Ich habe noch keinen getroffen“, meinte John bedauernd.

„Wenigstens eine Folterkammer?“, kam es hoffnungsvoll von Neil.

John nickte. „Im Wakefield Tower haben wir eine Ausstellung darüber, wie die Gefangenschaft hier in unseren Mauern aussehen konnte. Da gibt es auch Nachbildungen von einigen Folterinstrumenten.“

In diesem Augenblick schwirrte etwas vor dem Fenster und gleich darauf klopfte es an die Scheibe. Die Jungen fuhren zurück. John lächelte und bedeutete ihnen, zur Seite zu gehen. Dann nahm er einen der Blumentöpfe vom Fensterbrett, stellte ihn auf den Küchentisch und öffnete einen Fensterflügel. Draußen hockte ein Rabe. Mit schräg gelegtem Kopf lugte er in die Küche.

„Hallo, Gworran“, begrüßte John ihn und strich sanft über das glänzend schwarze Gefieder. Die Jungen drängten heran.

„Das ist also einer der berühmten Tower-Raben.“ Barry musterte den Vogel fachmännisch. „Er gehört zur Art Corvus Corax, nicht wahr? Nicht mein Spezialgebiet, aber ich habe einiges über sie gelesen. Wenn ich mir die verlängerten Kehlfedern und die Farbe des Auges betrachte, würde ich sagen, es ist ein adultes Tier, mindestens drei Jahre alt.“

„Bravo“, meinte John anerkennend, „Gworran ist tatsächlich ein Kolkrabe, dreieinhalb Jahre alt und er hat sein Erwachsenenfederkleid seit letztem Herbst. Du kennst dich gut aus, Barry.“

Barry lächelte geschmeichelt, während Neil theatralisch die Augen verdrehte und seinen Bruder nachäffte, „Ich würde sagen, es ist ein adultes Tier – blablabla. Pass bloß auf, John, sonst textet unser Professor Oberschlau dich total zu.“

John konnte sich lebhaft an den Ausflug erinnern, den sie vor bald zwei Jahren gemeinsam zu einem Vogelschutzzentrum an der schottischen Küste gemacht hatten, in dem Barry im Juniorteam der Ehrenamtlichen engagiert war. Der Junge hatte ihn damals in erschöpfender Breite über jedes Detail im Leben des Basstölpels aufgeklärt.

„Barry hat dieses Jahr einen Nachwuchsforscherpreis des Nationalen Vogelschutzbundes gewonnen“, berichtete Pauline stolz.

„Donnerwetter. Gratulation. Wenn du möchtest, könnten wir sicher arrangieren, dass du in den nächsten Tagen Mike Nichols treffen kannst. Er ist Vogelforscher am Naturhistorischen Museum und ein guter Freund von mir“, schlug John vor.

„Oh, das wäre sicher interessant, danke, John“, erwiderte Barry überrascht.

„Darf ich den Vogel auch mal streicheln?“, fragte Justin.

John schüttelte den Kopf. „Von Fremden lässt er sich nicht anfassen. Er könnte nach dir hacken und so ein Rabenschnabel kann tiefe Wunden schlagen. Sieh her.“ Er wies auf die zwei mittlerweile verblassten Narben auf seinem linken Handrücken. „Aber wir können ihm eine Weintraube geben. Die mag er gerne und damit bringen wir auch seinen Menüplan nicht durcheinander.“

„Menüplan? Wozu braucht ein Rabe einen Menüplan?“, fragte Neil belustigt.

„Jedes unserer neun Tiere wird nach genauen Vorgaben gefüttert, die unser Ravenmaster George Campbell aufstellt. So bleiben sie fit und gesund. Das kann man schon daran sehen, dass unsere Raben oft ein sehr hohes Alter erreichen. Unser ältestes Tier wurde immerhin vierundvierzig Jahre alt.“

„Vierundvierzig! So alt ist ja nicht mal Mummy.“ Neil war beeindruckt.

John grinste und fuhr fort, „Unser Gworran hier bekommt täglich 170 Gramm rohes Fleisch, dazu einmal pro Woche ein gekochtes Ei und zudem noch ein spezielles Trockenfutter, das wir in Tierblut einweichen. Und gelegentlich kann er auch mal einen zusätzlichen Leckerbissen haben.“ Er reichte Gworran eine grüne Traube. Zum Dank ließ der Vogel eine Trompetenfanfare hören, hopste dann vom Fensterbrett und schritt majestätisch über das Tower Green davon. Fasziniert starrten die Jungen ihm nach.

„Ich habe schon gewusst, dass Raben Geräusche nachahmen können, aber dass das so echt klingt, hätte ich nicht gedacht“, meinte Barry.

„Gworran hat ein besonderes Talent dafür. Bisher habe ich wohl über fünfzig verschiedene Laute von ihm gehört. Er kann bellen, pfeifen, rülpsen …“ Die Jungen kicherten.

John kam eine Idee. „Sagt mal, wollt ihr vielleicht dem Rabenhaus einen Besuch abstatten, während eure Tante und ich die Pizza vorbereiten? Es ist allmählich Zeit für die Abendfütterung der Vögel. Unser Ravenmaster zeigt euch gerne alles –“ Weiter kam John nicht, da Barry, Neil und Justin schon zur Wohnungstür gestürmt waren. Er zwinkerte Pauline zu. „Ich bin gleich wieder da.“

Wenige Minuten später zog er aufatmend die Tür des Rabenhauses hinter sich zu. George Campbell war sichtlich von den drei vogelbegeisterten Besuchern aus seiner schottischen Heimat angetan und hatte sich mit Freuden bereit erklärt, sie für eine Weile unter seine Fittiche zu nehmen. Im erleuchteten Küchenfenster konnte John Paulines Silhouette erkennen. Mit einer für einen Königlichen Beefeater ganz unziemlichen Hast begab er sich zurück in seine Wohnung.


Kapitel 2

 

Als John am nächsten Morgen erwachte, durchzog ein verführerischer Duft nach frischen Pancakes seine Wohnung. Hmm. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Paulines Pancakes waren unvergleichlich, luftig, locker und nicht zu süß. Dazu noch einen Schuss Ahornsirup … Er sprang aus dem Bett, warf sich einen Morgenrock über und eilte beschwingt ins Bad.

„Guten Morgen, John“, tönte es ihm entgegen, als er die Küche betrat. Pauline und ihre Neffen saßen am Tisch und waren gerade dabei, sich über einen stattlichen Stapel der dicken Pfannkuchen herzumachen.

„Guten Morgen allerseits“, erwiderte er gutgelaunt und gab Pauline einen Kuss. Sie schenkte ihm aus der bereitstehenden Kanne frisch gebrühten Tee ein und gab ein Stück braunen Zucker hinein. John nahm einen Schluck, zog die Augenbrauen überrascht nach oben und trank noch einmal.

„Der hat ein wunderbares Aroma. Aber …“ Sein Blick schweifte zum Küchenschrank, wo er seine Vorratsdosen mit Tee aufbewahrte, darunter wohl mehr als ein halbes Dutzend Darjeelings.

Pauline beobachtete ihn amüsiert. „Du überlegst wohl, welche deiner Sorten das sein könnte? Gar keine, mein Schatz. Die habe ich dir mitgebracht. In dem Bioladen in York, wo ich oft einkaufe, gibt es neuerdings ein Sortiment an organischen Tees. Dies ist ein Darjeeling Avongrove Second Flush. Freut mich, dass er dir schmeckt.“

„Das ist etwas ganz Besonderes, wirklich. Genau wie du.“ Er sah ihr über den Rand der Teetasse tief in die Augen.

„Jetzt geht das schon wieder los“, murmelte Barry seinen Brüdern zu. Laut sagte er gleich darauf, „Die Pancakes werden kalt. Probier mal einen, John.“

„Natürlich, sehr gern. Eure Tante macht die besten Pancakes überhaupt.“ John schob sich einen Bissen in den Mund und meinte dann mit einem zufriedenen Seufzer. „Hmm, perfekt. Ich fühle mich wie Gott in Frankreich, wenn du mich so verwöhnst, Pauline.“

Die drei Jungen kicherten und auch Pauline grinste. „Zu deiner Information: Die Pancakes hat Barry gemacht.“

Erstaunt riss er die Augen auf. „Ehrlich? Sie schmecken genauso wie die, die du in York für mich gemacht hast.“

„Das liegt daran, dass das unser Familienrezept ist.“ Sie beugte sich zu Barry hinüber und zauste ihm liebevoll das Haar. „Wie man sieht, beherrscht die nächste Generation es ebenfalls schon.“

Der Junge lächelte geschmeichelt.

„Ich schaffe es bis heute nicht, die Dinger so luftig und locker hinzubekommen“, bekannte John. „Da bist du mir um Längen voraus, Barry – und das in deinem Alter, wirklich bemerkenswert.“

„Mummy hat uns schon viele Sachen beigebracht. Ich kann Spiegeleier mit Speck“, brüstete sich Neil.

„Und ich kann mir schon ganz allein mein Brot schmieren“, verkündete Justin.

Pauline lächelte. „Ihr drei seid eurer Mutter wirklich eine riesige Hilfe. In den letzten Monaten seid ihr richtig selbstständig geworden. Das ist großartig.“

„Grandma ist nicht mehr selbstständig“, stellte Neil sachlich fest. „Kürzlich hat sie sogar die Haftcreme von Grandpas Gebiss mit ihrer Augensalbe verwechselt. Wenn Grandpa es nicht rechtzeitig gemerkt hätte, wären ihr voll die Augenlider zugepappt.“

„Zugepappt!“, krähte Justin fröhlich. „Ich hab mir beim Basteln auch mal die Finger zusammengeklebt. Das war lustig.“

Pauline seufzte leise. „Ich weiß bei Mum ehrlich manchmal nicht mehr, ob ich weinen oder lachen soll …“ Es klingelte an der Haustür.

John drückte wortlos ihre Hand und ging hinaus. Draußen stand Michael Conners, einer seiner Beefeaterkollegen. Dieser zog schwungvoll seinen hohen Hut und verneigte sich.

„Werter John, zwei holde Maiden möchten Euch ihre Aufwartung machen. Ich darf Euch ankündigen: Die hochwohlgeborene Lady Margaret aus dem Geschlecht der Hughes und ihre überaus liebreizende Tochter Bella.“

Johns Nichte kicherte los, während ihre Mutter ein huldvolles Lächeln aufsetzte und meinte, „Ritter Michael, unser höchster Dank für Euer Geleit ist Euch gewiss. Ihr dürft Euch entfernen.“

„Sehr wohl, Mylady. Solltet Ihr je einen tapferen Recken benötigen, der für Euch einen Drachen erlegt – Ihr wisst, wo Ihr mich findet.“ Mit großer Geste zog Conners seinen Hut vor Maggie, blinzelte ihr vielsagend zu und schritt davon.

Maggie schüttelte lachend den Kopf. „Ein verrückter Kerl, dieser Michael.“

„Seit er sich der Truppe angeschlossen hat, die drüben im Lanthorn Tower historische Szenen aufführt, kommt er aus dem Mittelalterjargon gar nicht mehr heraus“, erwiderte John und umarmte seine Schwester. Bella, die ihm noch vor einem halben Jahr ungestüm in die Arme gesprungen war, aber nun das reife Alter von elfeinhalb erreicht hatte, gab ihm geziert einen Kuss auf die Wange.

Maggie warf einen betonten Blick auf ihre Uhr und dann auf Johns Morgenmantel. „Wollten wir nicht um neun hier losziehen?“

„Uh, Major Maggie bläst zum Appell“, neckte John seine Schwester mit ihrem verhassten Spitznamen und schob sie in die Küche. „Nun begrüßt erstmal Pauline und die Jungs und setzt euch. Ein zweiter Pancake wird mir wohl noch vergönnt sein, bevor wir gehen –“ In diesem Moment klingelte das Telefon im Flur und John ging grummelnd hinaus, während die Frauen einander herzlich begrüßten.

 

„John, mein Junge“, begrüßte seine Mutter ihn in leidendem Ton. John atmete tief durch und setzte sich auf den kleinen Hocker neben der Garderobe.

„Guten Morgen, Mum. Was gibts, ist alles in Ordnung?“

„In Ordnung? In Ordnung, fragst du mich? Was soll in Ordnung sein, wenn –“

John ahnte die nächsten Worte seiner Mutter mit derselben tödlichen Sicherheit voraus wie Bill Murray alias Phil Connors stets im Voraus wusste, dass Murmeltier Punxsutawney Phil seinen Schatten sehen, ein Restaurantbesucher sich verschlucken und ein Schneesturm heraufziehen würde.

„Wenn mich mein Ehemann nach bald fünfzig Jahren Ehe schmählich im Stich lässt“, murmelte er unhörbar.

„Wenn mich mein Ehemann nach bald fünfzig Jahren Ehe schmählich im Stich lässt!“, tönte es aus dem Hörer, so wie bei jedem Anruf von Emmeline Mackenzie in den letzten Wochen. Für gewöhnlich hörte er ihr geduldig zu, aber heute wollte er nichts anderes, als in seine gemütliche Küche zurückzukehren, aus der Gelächter und Geschirrklappern drang und sich einen zweiten Pfannkuchen einzuverleiben.

„Mum, bitte“, unterbrach er ihre Tiraden. „Dad ist schließlich nicht zum Spaß in Schottland. Er ist hingefahren, um Tante Isabel nach ihrem Sturz auf der Farm zu unterstützen, das weißt du genau.“

Die greise, aber immer noch äußerst rührige Patriarchin des Mackenzie-Clans, die in den Highlands eine große Schaffarm führte, hatte sich im März ein Bein gebrochen. Die Ärzte ergingen sich daraufhin in düsteren Prophezeiungen, dass eine Frau, welche die Neunzig längst hinter sich gelassen hatte, sich davon nie wieder erholen und als Pflegefall enden würde. Isabel jedoch, erst wenige Monate zuvor von der Queen höchstpersönlich zur Dame Commander des Britischen Königreichs geschlagen, strafte alle Fachleute Lügen. Mit unbändigem Willen stürzte sie sich in ein Trainingsprogramm, um möglichst schnell wieder auf die Beine zu kommen. James Mackenzie, der sich zu Recht sorgte, seine Tante würde sich zu viel zumuten, war eilends nach Schottland gereist.

„Man würde doch meinen, die gnädige Dame Isabel hätte genügend Lakaien, die ihr mit ihren blöden Viechern zur Hand gehen könnten. Aber geizig, wie die Schotten nun mal sind, spart Isabel sich bezahlte Arbeitskräfte und beutet stattdessen lieber meinen James aus“, wetterte Emmeline weiter.

„Aber, Mum –“, wandte er ein, doch seine Mutter ließ sich nicht unterbrechen.

„Dabei ist es ihr völlig egal, dass ich hier mutterseelenallein sitze und halb Kew schon denkt, ich wäre eine verlassene Ehefrau. Sie werfen mir schon mitleidige Blicke hinterher, das spüre ich genau –“

„Du hättest ja mitfahren können. Dad hätte sich gefreut, wenn du ihn begleitet hättest“, warf John ein.

„Hah! Da hinauf! Zu diesen … Hinterwäldlern! Da bringen mich keine zehn Pferde hinauf. Und dann noch unter einem Dach mit dieser …“

Während sie noch nach einem Kraftausdruck suchte, räusperte John sich vernehmlich und meinte energisch, „Mum, ich möchte jetzt mit meinem Besuch frühstücken. Du weißt ja, dass Pauline und ihre Neffen hier sind.“

„Ja, natürlich. Deswegen rufe ich ja an. Ich dachte, ihr könntet einen schönen Ausflug heraus nach Kew machen. Die Jungen würden sicher gern die Königlichen Gärten sehen und du könntest mir dabei helfen, den Kompost umzusetzen. Ich möchte möglichst bald Kürbis darauf pflanzen. Wenn ich das nicht in den nächsten Tagen mache, wird die Wachstumsperiode zu kurz und Jane Argyll gewinnt dieses Jahr wieder die blaue Schärpe für den größten Kürbis. Das wäre unerträglich, eine Schmach!“

Aargh. Nun hatte John endgültig genug.

„Ich denke, in eurem Gartenbauverein gibt es bestimmt jemanden, der dir dabei zur Hand geht. Du bist doch eine Meisterin im Organisieren, Mum. Es dürfte dir ein Leichtes sein, einen Arbeitstrupp auf die Beine zu stellen. Und jetzt entschuldige mich. Maggie und Bella sind schon hier. Wir gehen alle zusammen in den Zoo. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“

Damit legte er entschlossen auf – nur um gleich darauf von einem Anflug schlechten Gewissens geplagt zu werden. Dieser verschwand postwendend, als er bei seiner Rückkehr in die Küche mit ansehen musste, wie der letzte Bissen Pancake soeben in Maggies Mund verschwand.

 

Eine Stunde später entstiegen John, Pauline, Maggie und die vier Kinder aufatmend der Northern Line. Die U-Bahn nach Camden Town war zum Bersten voll gewesen und so hatten sie während der ganzen Fahrt stehen müssen. Auf Johns Frage, „Laufen wir das Stück zum Zoo oder nehmen wir den Bus?“, votierten Bella und die drei Jungen einmütig für letzteres und ließen sich erleichtert in die Sitze plumpsen. John stellte den Rucksack ab, den er zum Bersten mit Getränken, Sandwiches und den restlichen Schokoladenmuffins vollgepackt hatte. Während sie zum nördlichen Ende des Regent’s Parks fuhren, wo der Zooeingang lag, deutete Maggie aus dem Fenster.

„Da vorn ist das Gebäude der Zoologischen Gesellschaft von London. Renie ist heute Vormittag dort. Wenn sie es einrichten kann, trifft sie uns später im Zoo.“

Pauline blickte auf den wenig einladend wirkenden Betonbau, an dem einige Leute gerade ein großes Banner mit der Aufschrift Internationale Artenschutzkonferenz: Perspektiven im Spannungsfeld zwischen Natur- und Klimaschutz befestigten und erkundigte sich, „Was macht Renie dort? Schreibt sie einen Artikel über diese Tagung?“

Maggie schüttelte den Kopf. „Sie arbeitet im Organisationskomitee mit. Der Guardian zählt zu den Sponsoren der Veranstaltung und hat sie extra abgestellt, weil sie für das Wissenschaftsressort arbeitet und dazu Erfahrung im Eventmanagement hat.“

„Ich kann mir vorstellen, dass so etwas genau die richtige Aufgabe für Renie ist“, meinte Pauline lächelnd.

Maggie wog unentschlossen den Kopf. „Im Grunde ja. Natürlich ist sie in ihrem Element, wenn sie etwas organisieren soll. Die Thematik der Konferenz ist hochaktuell, sogar politisch brisant, also wird es viel mediale Aufmerksamkeit geben. Es werden hochkarätige Fachleute und Politiker kommen und sogar unser Thronfolger, der sich ja schon immer für den Naturschutz engagiert hat. Alles in allem also ein wirklich bedeutendes Event, bei dem sie hautnah mit dabei sein kann, aber … ich mache mir ehrlichgesagt Sorgen um sie. Ich habe das Gefühl, sie lässt sich von ihren Vorgesetzten gnadenlos verheizen. Ihr Vertrag beim Guardian sieht eine Wochenarbeitszeit von zwanzig Stunden vor, tatsächlich ist sie aber fast nonstop im Einsatz. Renie hat zwar wahnsinnig viel Energie, aber irgendwann muss es auch ihr zu viel werden.“

Pauline runzelte die Stirn. „Warum lässt sie sich das gefallen?“

„Nun ja, natürlich ist es eine großartige Chance für sie, bei einer so renommierten Zeitung arbeiten zu können. Noch dazu als Quereinsteigerin“, meinte Maggie.

Renie hatte sich nach ihrem Schulabschluss jahrelang nicht auf einen Beruf festlegen können und eine Menge ausprobiert. Im vergangenen Herbst hatte sie ihrer Familie verkündet, sie hätte nun ihren Traumberuf gefunden: Journalistin. Während sie an ihrer Bewerbung für einen der begehrten Studienplätze an der City University feilte, wollte sie vorerst bei ihrem Job in der Presseabteilung des Naturhistorischen Museums bleiben. Dann jedoch hatte sie ganz unvermutet die Gelegenheit bekommen, beim Guardian als Trainee einzusteigen. Dafür verantwortlich gewesen war der damalige Ressortleiter, der Renie mit viel Herzblut gefördert hatte.

„Mark Taylor …“, murmelte Maggie. „Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihm dankbar sein soll, dass er Renie so viele Türen geöffnet hat oder ihn verfluchen soll, weil er sie in das größte Gefühlschaos ihres Lebens gestürzt hat.“

Renie hatte sich letztes Jahr innerhalb kürzester Zeit Hals über Kopf in den weltgewandten und attraktiven Mittvierziger verliebt und sich von ihrem damaligen Freund Geoff Tomlinson getrennt – zum großen Leidwesen ihrer Eltern, die in dem jungen Wissenschaftler den idealen Schwiegersohn-Kandidaten gesehen hatten. Auch John hatte den Biologen, der am Naturhistorischen Museum arbeitete, ins Herz geschlossen. Mit seiner ruhigen und überlegten Art hatte er einen guten Gegenpart zu Renies impulsiver Natur gebildet.

Ebenso wie der Rest der Familie war John nur zu bereit gewesen, Mark Taylor in der Rolle des gewissenlosen Schufts zu sehen, der sich nach dem bekannten Muster „Erfolgreicher Mann mittleren Alters auf der Jagd nach neuen Eroberungen nutzt naive Praktikantin aus“ an Renie herangemacht hatte. Nachdem er den Journalisten ein wenig kennengelernt hatte, kam er jedoch zu dem Schluss, dass diese Rolle zu Taylor nicht passte.

 

„Sieh her!“ Triumphierend hatte Renie ihm nach jener denkwürdigen Junggesellenversteigerung in Kew eines der Londoner Klatschblätter unter die Nase gehalten. Unter der Überschrift Top-Journalist als Objekt der Begierde – Folk-Star Kyla Macpherson zahlt 3000 Pfund! Doch der Funke springt nicht über … prangten mehrere Fotos. Eines zeigte die kapriziöse schottische Sängerin auf der Bühne der O2-Arena, ein weiteres Kyla und Mark Taylor in einem angesagten Club, das letzte schließlich Mark allein beim Verlassen eines Londoner Luxushotels.

„Wie unserem Lokalreporter zugetragen wurde, tauchte Musikstar Kyla Macpherson undercover auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Kew auf“, las Renie vor. „Die Sängerin, die derzeit zu Konzerten in London weilt, war offenbar auf der Suche nach einer Begleitung für eine heiße Partynacht. Es gelang ihr, einen der bekanntesten Journalisten des Landes zu ersteigern: Mark Taylor vom Guardian. Die beiden wurden in der Nacht an verschiedenen Locations gesichtet und kehrten schließlich zu später Stunde in Kyla Macphersons Fünf-Sterne-Domizil zurück. Jedoch verließ Mr. Taylor wenige Minuten, nachdem beide das Hotel betreten hatten, das Gebäude wieder. Unbestätigten Augenzeugenberichten zufolge begab Ms. Macpherson sich danach in die Bar des Hotels, wo sie dem Vernehmen nach für erhebliche Umsätze sorgte.“ Sie ließ die Zeitung sinken.

„Mark hat es geschafft, Kylas Avancen zu widerstehen. Reife Leistung, was? Schließlich sind schon ganz andere Leute den Reizen dieser schottischen Sirene erlegen.“ Sie warf ihrem Onkel einen betonten Blick zu.

John hüstelte. An jene Episode ließ er sich nur höchst ungern erinnern.

„Wenn Tante Isabel an dem Abend damals nicht ins Krankenhaus eingeliefert worden wäre – wer weiß, wie weit das mit euch gegangen wäre“, fuhr Renie unbarmherzig fort.

„Ja, ja, ist ja gut“, brummte John. „Ich gebe es zu: Mark Taylor scheint ein ganz anständiger Kerl zu sein.“

 

Bei dieser Meinung war er auch geblieben, selbst nachdem Taylor sich einige Monate später von Renie getrennt und Johns Nichte damit in ein Tal der Tränen gestürzt hatte.

Es war spät an einem Samstagabend im Februar gewesen, als Renie auf einmal vor Johns Tür gestanden hatte. Leichenblass, so dass ihre Sommersprossen sich scharf in ihrem Gesicht abzeichneten.

„Es ist vorbei, John. Oh Gott, es ist vorbei …“ Haltlos schluchzend war sie in Johns Arme gefallen. Es hatte lange gedauert, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie erzählen konnte, was passiert war.

„Mark … er sagte mir, unsere Beziehung könnte keine Zukunft haben. Nicht, dass er mich nicht lieben würde, nein, er sagt, er fühlt sich stark zu mir hingezogen, aber … auf Dauer kann er sich nicht vorstellen, eine Partnerschaft mit jemandem zu haben, der halb so alt ist wie er selbst. Außerdem würde ich ihn auf ein Podest stellen und ihn verehren wie eine Art Held. Das wäre zwar sehr schmeichelhaft, aber keine Beziehung auf Augenhöhe. Er macht sich selbst Vorwürfe, dass er das nicht von Anfang an erkannt hat. Weil er mir nicht zumuten möchte, dass wir weiterhin beim Guardian Seite an Seite arbeiten, hat er das Angebot für einen Lehrauftrag an der Columbia University angenommen. Unser Herausgeber hat ihm ein Sabbatical gewährt, damit er für ein Jahr in den USA unterrichten kann, solange Mark weiterhin in Abständen von dort Beiträge liefert. Gott, wie findest du das, John? Mark geht extra weg, damit ich, die kleine Praktikantin, bei der Zeitung bleiben kann. Das ist doch der Wahnsinn. Der Mann verlässt mich und ich kann ihn nicht mal hassen dafür, weil er so verdammt anständig ist. Oh Gott, ich glaube, mein Herz ist zerbrochen. In tausend Stücke. Ganz kleine Brösel sind bloß noch übrig. Alles … kaputt.“

Untröstlich ließ sie sich in die Kissen auf Johns Sofa zurückfallen und rollte sich unter einer Decke zusammen wie ein Kätzchen. „Ich glaube, ich gehe ins Kloster“, drang es nur noch dumpf hervor, bevor sie erschöpft in Schlaf fiel.

„Dazu müsstest du katholisch sein, Schäfchen“, raunte John und strich ihr sanft übers Haar. Dann ging er in die Küche, um eine große Portion Apple Crumble fürs Frühstück aufzutauen. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Renies bevorzugtes Trost-Futter immer vorrätig zu haben und morgen früh würde sie es sicher bitter nötig haben.

Es folgten zwei Wochen, in denen seine Nichte sich nach der Arbeit in ihr Zimmer verkroch, wo sie sich unzählige Herz-Schmerz-Schnulzen ansah und pfundweise Eiscreme in sich hineinschaufelte. Nachdem zum wohl hundertsten Mal Whitney Houstons Schmachtfetzen „I will always love you“ durch das Haus der Hughes scholl, tauchte Renie zur grenzenlosen Erleichterung ihrer gesamten Familie wieder aus ihrer Höhle auf und verkündete schaudernd, „Ich esse nie wieder Ben & Jerry’s.“ Seither schien sie fast wieder die Alte zu sein, tatkräftig und energiegeladen, aber auch ernster als zuvor.

 

„Sie versucht mit aller Macht, diesem neuen Ressortleiter Floyd Mathers zu beweisen, dass sie nicht nur das gehätschelte Püppchen von Mark Taylor war, sondern sich ihren Platz in der Redaktion wirklich verdient“, erklärte Maggie. „Deshalb lässt sie sich immer neue Aufgaben übertragen und hat den Anspruch an sich, alles hundertprozentig perfekt hinzubekommen.“

Pauline nickte nachdenklich. „Ah, ich verstehe. So ähnlich habe ich das auch schon bei manchen Kollegen im Schuldienst erlebt, die sich selbst so viel Druck gemacht haben, dass sie irgendwann ausgebrannt waren.“

„Ein Problem, das immer mehr um sich greift“, bestätigte John. „Im Nachbarschaftszentrum in Shoreditch biete ich seit einiger Zeit eine Gruppe zum Thema Stressbewältigung an, die randvoll ist.“

„Deine ehrenamtliche Arbeit dort macht dir Spaß, nicht?“, erkundigte Maggie sich, nachdem sie an der Haltestelle ausgestiegen waren.

„Sehr sogar.“ John lächelte. „Ich finde es immer spannend, die unterschiedlichsten Menschen mit ihrer unendlichen Vielfalt an Problemen kennenzulernen und zu schauen, wie ich ihnen weiterhelfen kann. Ich habe das Gefühl, dass ich selbst davon genauso viel profitiere wie die Ratsuchenden, die zu mir kommen.“

Sie überquerten eine Brücke über den Regent’s Canal, wo etliche schmale Hausboote ankerten. Das Eingangstor zum Zoo tauchte vor ihnen auf.

„Unser heutiger Ausflug hinter die Kulissen des Tropenhauses kam übrigens durch Freddie Matthews, einen jungen Mann zustande, den ich im Nachbarschaftszentrum kennengelernt habe. Er macht hier im Zoo gerade ein Praktikum und hat das Ganze für uns arrangiert.“ John zog die Eintrittskarten heraus, die er vorab für sie alle besorgt hatte.

Bella schnappte sich eine und lief unternehmungslustig voraus. „Ich will gleich zu den Faultieren.“

„Gehen wir erst dahin, wo sie die Szene aus Harry Potter gedreht haben?“, bat Barry.

„Ich will Löwen sehen. Und Tiger“, krähte Justin.

„Wow, schaut mal, da ist ein riesiger Shop!“, rief Neil. „Da will ich rein. Außerdem hab ich Durst.“

Die drei Erwachsenen warfen sich einen kurzen Blick zu.

„Ich bändige jeden Tag fünfundzwanzig halbwüchsige Mädels. Da werden wir diese kleine Rasselbande wohl in Schach halten können“, murmelte Pauline.

„Dein Wort in Gottes Ohr“, raunte John etwas zweifelnd und folgte ihr durch die Schranke.


Kapitel 3

 

Nach einer kurzen, aber lautstarken Diskussion einigten sie sich darauf, als erstes zum Reptilienhaus zu gehen. Barry griff sich einen der Übersichtspläne des Zoos, die bei der Kasse auslagen und studierte ihn.

„Ah! Das ist ja ganz in der Nähe. Eigentlich muss es …“, er hob den Kopf, „… gleich da vorn links um die Ecke sein.“ Schon war er davongetrabt. Ohne die imposanten Gorillas in ihrem Freigehege eines Blicks zu würdigen, strebte er auf ein altertümlich wirkendes Backsteingebäude zu. Als er es erreichte, blieb er vor dem hohen Torbogen stehen und blickte ehrfürchtig zur Aufschrift „Reptile House“ hinauf. Bevor der Rest der Truppe ihn eingeholt hatte, hatte er schon in Windeseile ein paar Selfies mit seinem Handy geschossen und war in dem Gebäude verschwunden.

Sie fanden den Jungen wenige Meter hinter dem Eingang vor einem großen Terrarium, in dem eine eingeringelte schwarze Schlange lag.

Barry deutete mit glänzenden Augen auf ein Schild neben der Glaswand, das diesen Ort als Schauplatz von Harry Potters Begegnung mit einer Burma-Python auswies. Jetzt allerdings beherbergte das Becken eine schwarze Mamba.

„Genau hier ist es. Zur Feier von Dudleys Geburtstag kommen sie in den Zoo: Onkel Vernon, Tante Petunia, Dudley und Harry. Und hier merkt Harry zum ersten Mal, dass er ein Parselmund ist.“

Bella bemerkte den fragenden Blick ihres Onkels und raunte ihm zu, „Das heißt, er kann mit Schlangen sprechen.“

Neil schob seinen Bruder ungnädig zur Seite und beugte sich über die halbhohe Absperrung vor dem Terrarium.

„Mann, das wissen wir doch alle. Schauen wir lieber mal, ob diese verpennte Schlange auch für uns ein bisschen Action macht.“ Bevor jemand ihn stoppen konnte, klopfte er nachdrücklich gegen das Glas. Barry fiel ihm wütend in den Arm und schubste den Jüngeren weg.

„Hey, kannst du nicht lesen?“ Er deutete auf ein großes Schild, auf dem stand: Zum Schutz unserer Tiere: Bitte NICHT an die Scheiben klopfen!

„Du benimmst dich schon genauso bescheuert wie Dudley“, fauchte Barry.

„Harrys Cousin“, soufflierte Bella für John. Er lächelte ihr dankbar zu.

„Dudley, dieser fette Blödkopf?“ Wutentbrannt baute Neil sich vor seinem zwei Kopf größeren Bruder auf und ballte die Fäuste. Pauline trat eilig zwischen die Streithähne.

„Machen wir doch ein Erinnerungsfoto von euch dreien vor dem Terrarium.“ Sie blickte sich um. „Wo ist eigentlich Justin?“ Im Halbdunkel des Reptilienhauses war kein kleiner Junge zu sehen.

„Er kann nicht weit sein. Wir haben ihn höchstens für eine Minute aus den Augen verloren. Bella und ich sehen draußen nach, ihr geht weiter hinein ins Gebäude“, entschied Maggie.

Barry und Neil liefen, nun wieder einmütig, voraus und riefen nach ihrem kleinen Bruder. Sie eilten an Schlangen, Kröten und Chamäleons vorbei, bis sie hinter einer Biegung des Ganges endlich fündig wurden. Die Nase an die Scheibe gepresst, stand Justin vor einem Becken, in dem mehrere zitronengelbe Fröschchen saßen. Während John das Handy herauszog, um seiner Schwester Bescheid zu geben, umarmte Pauline ihren Neffen erleichtert, um ihm gleich darauf eine gepfefferte Strafpredigt zu halten. Als sie ihn schließlich zum dritten Mal ermahnt hatte, nie wieder allein davonzuwandern, nickte Justin ungeduldig und wandte sich wieder den Fröschen zu.

„Sieh doch mal, Tante Pauline. Die sind total cool. Kannst du Mummy fragen, ob sie mir auch solche kauft?“

Pauline schnaubte. „Das sind Pfeilgiftfrösche, Justin. Die sind als Haustiere sicher nicht geeignet. Das wäre ja viel zu gefährlich.“

„Da muss ich dir widersprechen, Tante Pauline“, mischte Barry sich ein. „Unser Biolehrer hat gesagt, dass diese Frösche gar nicht mehr giftig sind, wenn sie in Gefangenschaft leben. Das hängt mit dem Futter zusammen.“

„Der junge Mann hat recht“, ertönte hinter ihnen eine Stimme. Ein bärtiger Tierpfleger in einem grünen Overall mit der Aufschrift London Zoo hatte sich zu ihnen gesellt.

„Wir haben zwei Arten dieser sogenannten Pfeilgiftfrösche bei uns, einmal diesen Phyllobates bicolor und dann haben wir noch Dendrobates tinctorius, den Färberfrosch. Phyllobates, diese gelben hier mit den dunkler marmorierten Beinen, gehören in freier Natur zur zweitgiftigsten Art, die es überhaupt gibt. In ihrer Heimat in Kolumbien sind sie von einheimischen Indianerstämmen genutzt worden, um das Gift für die Jagd mit Blasrohr und Pfeil zu gewinnen. Diese kleinen Kerle können Alkaloide, die sie über ihre Nahrung aufnehmen, zum Beispiel von Ameisen und Käfern, unter ihrer Haut speichern und bei Bedarf abgeben. Da unsere Frösche jedoch keine Wildfänge, sondern Nachzuchten sind, kann man bei ihnen quasi keine Toxine mehr nachweisen. Trotzdem tragen wir immer Gummihandschuhe, wenn wir im Terrarium arbeiten.“ Er beugte sich zu Justin hinunter. „Zur Haltung zuhause eignen sie sich nur für Leute, die sich wirklich auskennen. Damit sich Regenwaldfrösche wohl fühlen, muss man auf sehr vieles achten. Und kuscheln oder spielen kann man mit ihnen definitiv nicht. Also denkst du am besten nochmal drüber nach, was du gern für ein Haustier hättest.“

Er richtete sich wieder auf und lächelte in die Runde. „Wenn Sie Fragen haben – wir haben eine Truppe von Freiwilligen, die im Gelände unterwegs sind und für Auskünfte bereitstehen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag hier bei uns im Zoo.“ Sie dankten ihm und er verschwand durch eine Tür mit der Aufschrift „Nur für Personal“.

Justin hatte bereits das Interesse an den Fröschen verloren und steuerte ein Wasserbecken mit einem mächtigen Krokodil an. Während sie langsam hinterhergingen, flüsterte Bella John zu, „Dieser Barry ist ein ganz schöner Wichtigtuer, was?“

„Er lässt einen auf jeden Fall immer gern an seinem Wissen teilhaben“, gab John mit einem Zwinkern zurück. Bella kicherte, dann fragte sie, „Sag mal, hast du wirklich noch nie einen der Potter-Filme gesehen?“ Als er den Kopf schüttelte, starrte sie ihn ungläubig an. „Das gibts ja gar nicht. Pass auf, wir haben alle Teile auf DVD zuhause. Wie wärs, wenn du uns besuchen kommst und wir sehen uns gemeinsam ein, zwei Filme an?“

John war sich nicht sicher, ob er nach einigen Tagen in Gesellschaft von Paulines Neffen den Namen Harry Potter noch jemals würde hören wollen, aber er nickte.

Nachdem sie sich exotische Vögel, Giraffen, Zebras, Tiger und Pinguine angesehen hatten, schlug Maggie eine Pause vor. In einem Picknickbereich packte John den Rucksack aus und verteilte die Vorräte. Betrübt musste er feststellen, dass die Muffins im Gedränge der U-Bahn zu einer krümeligen braunen Masse zusammengedrückt worden waren. Dennoch langte Justin in die Tüte, griff sich eine Handvoll der unansehnlichen Gebäckreste und stopfte sie sich in den Mund. Neil schielte kurz zu Pauline hinüber, die sich gerade mit Maggie unterhielt und nicht hersah und tat es seinem Bruder gleich.

Schließlich sah John auf die Uhr.

„In einer halben Stunde beginnt unsere Führung im Regenwaldhaus. Wenn wir jetzt zusammenpacken, könnten wir auf dem Weg dahin noch bei den Kattas vorbeischauen.“

„Oh ja, das machen wir.“ Bella sprang auf, sammelte die Abfälle ein und warf sie in eine Tonne. „Ich liebe Kattas. Und in dem neuen Gehege soll man ihnen ganz nah kommen können.“

Tatsächlich fanden sie sich wenig später von einem Dutzend der possierlichen Lemuren mit den langen schwarz-weiß geringelten Schwänzen umringt. Direkt über den Köpfen der Besucher liefen sie auf Lianen entlang und sprangen akrobatisch von Baum zu Baum.

Quietschend zeigte Justin auf ein wohlbeleibtes Tier, das in einer Yoga-ähnlichen Pose auf dem Boden saß und augenscheinlich die Frühlingssonne genoss. „Das ist King Julien.“

Eine ältere Frau mit einer Weste, die sie als Freiwillige des Zoo-Unterstützungsvereins auswies, trat heran. „In der Realität hätte es eigentlich eine Queen Julienne sein müssen. Bei den Kattas sind nämlich die Weibchen die Chefs. So etwas gibt es unter den Säugetieren ansonsten nur noch bei den Erdmännchen und den Hyänen.“

Während Justin der Frau einen misstrauischen Blick zuwarf – offenbar war er eher geneigt, den Zeichentrickmachern von Madagascar zu glauben – schoss Maggie noch ein Foto von Bella, die zu einem direkt über ihr thronenden Tier hochlinste.

„Wir müssen los, Kinder“, sagte sie dann. „Unser Rendezvous mit den Regenwaldtieren geht gleich los.“

Vor dem Eingang zur Tropenhalle mit der Aufschrift Rainforest Life erspähte John Freddie Matthews. Er winkte dem jungen Mann zu, der den Gruß mit einem breiten Grinsen erwiderte.

„Yo, Mr. M. Alles fit?“

Die vier Kinder starrten den schlaksigen Blondschopf fasziniert an. Er hatte die grüne Kappe, die alle Zoomitarbeiter trugen, verkehrt herum auf. An den Ohren und in der Nase trug er eine Vielzahl von Piercings und auf einem Handrücken war eine Schlange eintätowiert.

John stellte alle einander vor und bedankte sich dann bei Freddie, dass er ihnen die Privatführung ins Regenwaldhaus möglich machte. Der winkte lässig ab.

„Kein Stress, Mr. M., ist ja wohl das Mindeste, was ich für Sie tun kann. Ohne Sie hätte ich diesen Job hier nicht. Und natürlich ohne Renie.“ Sein Blick wanderte zu Maggie.

„Ihre Tochter ist echt ne Mörder-Braut, Mrs. Hughes.“

Maggies Mund öffnete sich, aber es kam kein Laut heraus. Schließlich brachte sie ein schwaches „Äh, danke … denke ich“ hervor.

„Na, dann kommt mal alle mit“, meinte Freddie munter. „Ich würde vorschlagen, wir gehen erstmal runter in unser Nachttierhaus.“

Während sie ihm in das Gebäude folgten, erkundigte sich John, „Gefällt dir deine Arbeit hier?“

„Die Tiere sind super, echt. Ich mag die kleinen Scheißer voll gern. Und die Kollegen sind auch ziemlich cool. Vor allem Benny. Sie hat mir erlaubt, diese Tour mit euch zu machen und sie hat nachher sogar noch eine besondere Überraschung für euch.“ Er beugte sich näher zu John. „Sagten Sie nicht, dass Ihre Nichte auf Faultiere steht?“ Als John nickte, rieb Freddie sich vergnügt die Hände. „Dann wird das ein totaler Kracher für sie.“

„Ist Benny die Frau, die mit Renie zusammen an der Organisation dieser Konferenz arbeitet?“, erkundigte sich John.

„Mhm. Sie kommt von irgendwo aus Südamerika und hilft als Übersetzerin für Spanisch. Hier im Regenwaldhaus zeigt sie mir alles, was ein Tierpfleger macht. Sie kennt sich mit Tieren total aus. Und sie ist voll nett.“ Plötzlich verfinsterte sich seine Miene. „Eigentlich wär hier alles super, wenn da nicht unser Revierleiter wäre. Der Typ ist die Pest, Mr. M., das sag ich Ihnen. Der hat mich voll auf dem Kieker.“

John seufzte innerlich. Er betreute Freddie Matthews nun seit mehreren Monaten und hatte diesen Satz schon viele Male von dem Jungen gehört. Mittlerweile neunzehn Jahre alt, hatte sein Schützling nach einer mehr als bescheidenen Schulkarriere eine Unzahl verschiedenster Jobs begonnen und in der Regel nach kürzester Zeit in den Sand gesetzt. Meist, weil er es wieder einmal nicht geschafft hatte, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen oder weil er sich mit seinem Vorgesetzten überworfen hatte. Das Praktikum hier im Zoo, das John ihm mit Renies Hilfe vermittelt hatte, hielt er nun immerhin schon seit sechs Wochen durch, was John ein wenig Hoffnung gab.

„Hier gehen wir die Treppe runter“, wies Freddie den Weg. „Achtung, gleich wirds dunkel.“

Tatsächlich umfing sie ein Stockwerk tiefer fast völlige Finsternis. Lediglich einige schwach grün leuchtende Pfeile wiesen den Weg zum Notausgang.

„Wir bleiben hier kurz stehen, damit unsere Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnen“, verkündete Freddie. „Einstweilen erzähle ich euch etwas über die Tiere, die wir hier haben.“

Während der Junge über die Bewohner des Regenwaldhauses sprach, lag ein beinahe väterlicher Stolz in seiner Stimme.

„Also, Leute, ihr werdet gleich ein paar voll krasse Tiere sehen. Einige sind so selten, dass sie vom Aussterben bedroht sind, wie die madegassische Riesenratte. Andere gibt es zwar noch häufig, aber dafür sind sie in ihrer Art einfach total schräg wie der Nacktmull oder der Höhlenfisch ohne Augen. Alle sind sie nachtaktiv und deshalb haben wir die Bedingungen hier unten so angepasst, dass für sie jetzt quasi Nacht ist und wir sie in Action beobachten können.“

Er setzte sich wieder in Bewegung und führte sie durch eine Tür, hinter der es ein wenig heller wurde. Neil trat an ein Gehege heran, in dem sie mit Mühe eine zusammengerollte pelzige Gestalt auf einem Baumstumpf ausmachen konnten.

„Was ist das? Ein kleiner Bär?“

Freddie schüttelte den Kopf. „Das ist ein Potto.“

„Potto? Was ist das für ein beknackter Name?“ Neil prustete vor Lachen.

„Der Potto gehört zu den Primaten“, erklärte Freddie. „Genauso wie unser Galago und der Loris.“

„Was sind Primaten?“, wollte Justin wissen.

„Das sind … äh … sowas ähnliches wie Affen. Kommt, gehen wir weiter, es gibt noch viel zu sehen“, drängte Freddie.

„Genauer gesagt stellen Primaten eine Ordnung in der übergeordneten Klasse der Säugetiere dar. Wir Menschen gehören zu einer Unterordnung in dieser Kategorie. Gemeinsam ist allen Primaten, dass sie ein großes Gehirn besitzen und Hände, mit denen man greifen kann. Das ist ja wohl biologisches Grundwissen“, ließ sich Barry in oberlehrerhaftem Ton vernehmen.

„Na, du bist ja ein ganz Schlauer, was?“ Freddie verschränkte die Arme und warf Barry einen verärgerten Blick zu, den dieser mit einem eigensinnigen Vorrecken des Kinns erwiderte. Neil zerstreute die aufkommende Spannung, indem er Freddie am Ärmel zupfte und fragte, „Wo sind diese Nacktmüller, von denen du vorhin geredet hast? Sind die echt nackig?“

Freddie schenkte dem Jungen ein dankbares Lächeln. „Nacktmulle heißen die kleinen Biester und sie sind tatsächlich nackt. Komm, ich zeige sie dir.“

Gleich darauf standen sie vor einer Glasscheibe, hinter der man einen großen unterirdischen Bau mit Gängen und Höhlen erkennen konnte. Darin wuselten höchst merkwürdige Kreaturen herum, gänzlich ohne Fell, mit fast durchscheinender, faltiger Haut. Ihr hervorstechendstes Merkmal waren vier scharfkantige Zähne, die wie kleine Baggerschaufeln nach vorn aus dem Kiefer herausragten. Augen und Ohren waren kaum zu erkennen.

„Uäh, sind die hässlich“, entfuhr es Bella.

„Das kannst du laut sagen. Aber irgendwie sind sie auch cool, finde ich“, meinte Freddie.

„Und sie haben eine faszinierende Form des Zusammenlebens. Wie Bienen oder Ameisen bilden sie einen Staat mit einer Königin und teilen sich die Arbeit untereinander auf.“ Die warme, dunkle Stimme gehörte einer fülligen, nicht gerade hochgewachsenen Frau, die ihr schwarzes Haar zu einem dicken Zopf geflochten hatte. Als sie zu Freddie trat, leuchteten seine Augen auf.

„Leute, das ist Benny. Benita Ramirez. Sie bringt mir hier alles bei. Und sie ist wie meine zweite Mum.“

Eso es, mi hijo.“ Sie lächelte ihn an, dann wurde ihr Blick streng. „Setz deine Kappe richtig auf, aber rápido. Du weißt genau: Wenn Mr. Preston dich so sieht, dann ay caramba!

Sie rollte vielsagend mit den Augen. Lammfromm drehte der junge Mann seine Mütze nach vorn, wie John amüsiert zur Kenntnis nahm.

„Geh bitte in die Küche und hol die Melonen für die Fledermäuse. Dann kannst du ihre Futterstellen neu bestücken, während deine Gäste zusehen“, wies sie Freddie an. Nachdem er durch eine kaum sichtbar in der Wand eingelassene Tür verschwunden war, wandte sie sich an John.

„Und Sie müssen Renies Onkel sein, no? Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“ Sie senkte die Stimme. „Es ist gut, dass Sie unseren jungen tonto hier unter Ihre Fittiche genommen haben. Er ist ein guter Kerl, auch wenn er ein bisschen Feuer unter dem Hintern braucht.“

John lachte leise. „Das sehe ich genauso, Ms. Ramirez.“ Er stellte ihr den Rest der kleinen Besuchertruppe vor und sie folgten Freddie, der mit einer randvollen Schüssel mit Wassermelonenstücken wieder erschienen war und nun eifrig vorauslief. Schließlich standen sie vor einer mehrere Meter breiten und übermannshohen verglasten Anlage, in der eine Vielzahl von Fledermäusen herumflirrte. Freddie hatte die künstliche Höhle von der hinteren Seite betreten und steckte nun die Obststücke auf Spieße, die aus großen stalagmitenartigen Gebilden herausragten. Kaum hatte er die Anlage wieder verlassen, stürzten sich die ersten der Flattertiere auf das frische Futter.

Bella erschauerte leicht. „Ich finde Fledermäuse ein bisschen gruslig.“

„Das geht vielen so“, nickte die Tierpflegerin. „Dabei sind es wundervolle Tiere, die uns auch viel Nutzen bringen. Ohne sie hätten wir zum Beispiel viel mehr lästige Mücken und Fliegen. Stell dir vor, allein schon die kleinste von unseren achtzehn heimischen Arten, die Zwergfledermaus – die nicht mal so viel wiegt wie eine Ein-Pfund-Münze – kann dreitausend Insekten in einer einzigen Nacht vertilgen.“

Sie sah Bella an. „Magst du Schokolade?“ Johns Nichte nickte.

„Ohne Fledermäuse keine Schokolade“, erklärte Benita Ramirez. „Die Kakaopflanze ist genauso wie die Bananenpalme oder viele Mangobäume auf die Fledermaus als Bestäuberin angewiesen. Die Art, die wir hier im Zoo haben, die Brillenblattnase, stammt wie ich aus Südamerika und sorgt dort dafür, dass Pfeffergewächse sich verbreiten. Insgesamt sind es sogar über fünfhundert Pflanzenarten, die sich mit Hilfe der Fledermäuse fortpflanzen.“

„Wow. Das wusste ich nicht.“ Nachdenklich musterte Bella die blitzschnell herumzischenden Tiere. „Vielleicht sind sie doch ganz süß. Und sie tun einem auch sicher nichts?“

„Von unseren heimischen Arten hast du auf keinen Fall etwas zu befürchten. In meiner Heimat allerdings gibt es Vampirfledermäuse, die Tieren und ganz selten auch Menschen gefährlich werden können.“

„Vampire? Wie Dracula?“ Neil riss die Augen auf.

„Nun ja, sie saugen dich nicht gänzlich aus, weil sie mit der Menge, die in einen Fingerhut passt, schon satt sind. Aber mit dem Biss können sie Krankheiten übertragen. Die schlimmste ist die Tollwut. Die großen Rinderzüchter, zum Beispiel in Argentinien, verlieren Tausende Tiere pro Jahr deswegen. Und manchmal beißen diese Fledermäuse auch einen Menschen.“

Unwillkürlich fasste sie sich an den Hals und ihr Blick ging in die Ferne. „Meine Eltern haben eine kleine Ranch in Uruguay. Als ich noch ein Kind war, bin ich eines Nachts aufgewacht. Ich spürte, wie etwas Pelziges auf meiner Kehle landete. Ich schrie und schlug es mit der Hand weg. Meine Schwester, die im selben Zimmer schlief, machte das Licht an und da hockte eine Fledermaus auf dem Boden. Sie hatte ihre Flügel eingeklappt und stützte sich darauf wie auf zwei Krücken. Auf der Flucht vor dem Licht ist sie dann unter mein Bett gehopst.“ Sie atmete tief aus. „Das war knapp. Wäre ich nicht wach geworden …“ Sie schüttelte sich. „Nach einer Infektion gibt es kein Mittel mehr gegen Tollwut, wenn man nicht geimpft ist. Nach einigen Tagen wäre es vorbei gewesen.“

„Was haben Sie dann mit der Fledermaus gemacht?“, fragte Neil atemlos.

„Mein Vater wollte sie mit einem Besen erschlagen, aber ich habe ihn so lange angebettelt, dass wir sie schließlich unversehrt vor die Tür gesetzt haben. Auch eine Vampirfledermaus ist schließlich kein Monster. Sie sind sogar sehr soziale Tiere. Wenn ein Artgenosse aus ihrer Kolonie keinen Jagderfolg hatte, sind sie sogar bereit, ihre Mahlzeit mit ihm zu teilen. Dazu würgen sie das erbeutete Blut wieder hoch und füttern ihn. Das sichert das Überleben der gesamten Kolonie, weil schon zwei oder drei Nächte ohne Nahrung den Tod für die Fledermaus bedeuten würden.“

„Uäh, hochgewürgtes Blut …“ Bella verzog das Gesicht.

„Oh, es gibt noch ganz andere Strategien, an die notwendigen Nährstoffe zu kommen. Manche Tiere wie unsere Nacktmulle nehmen schon Verdautes noch einmal zu sich, um auch wirklich jeden letzten Rest von Nahrhaftem zu erwischen.“

Justin überlegte einen Moment. „Heißt das … sie fressen ihr eigenes Kaka?“

Exacto, mi pibe! Genauso ist es.“

Nun kamen Laute der Abscheu nicht nur von Bella.

Benita lächelte heiter in die Runde und schlug vor, „Sollen wir nun ins Tropenhaus gehen? Soweit ich gehört habe, gibt es hier einen besonderen Fan von unseren Faultieren?“

„Das bin ich.“ Bella hob eifrig den Finger. „Ich weiß schon, dass es Zweifingerfaultiere sind und dass Norma Jean und Alexander dieses Jahr wieder Nachwuchs bekommen haben. Oh, können wir das Baby vielleicht sehen?“

Die Tierpflegerin machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Vamos a ver. Nun lasst uns erstmal hineingehen. Ach, Freddie, holst du noch schnell die zweite Schüssel Wassermelonen? Dann können wir den Affen einen kleinen Snack geben.“ Sie ging voran und sperrte eine Holztür auf, hinter der ein kleiner Raum mit Regalen und einer Garderobe lag.

„Legt hier bitte alles ab, was ihr nicht braucht. Rucksäcke, Taschen und auch die Jacken, sonst schwitzt ihr euch bei den tropischen Temperaturen drinnen zu Tode. Wenn ihr fotografieren wollt, könnt ihr gerne Kameras oder Handys mit hineinnehmen, aber ihr müsst auf zwei Dinge achten: Unsere Affen klauen gerne alles, was nicht niet- und nagelfest ist, also passt auf eure Sachen auf. Und ihr werdet natürlich keinen Blitz verwenden, um die Tiere nicht zu blenden. Und noch eine Verhaltensregel: Es gibt da drinnen keine Barriere zwischen Mensch und Tier, genauso wie zum Beispiel draußen im Lemurenhaus. Bitte nicht versuchen, eines der Tiere zu streicheln! Da wir seit einiger Zeit solche Meet and Greets auch kommerziell anbieten, sind die Tiere es gewöhnt, dass auch mal Fremde in ihren Lebensraum kommen. Aber sie sind keine Kuscheltiere.“

Dann hielt sie eine Flasche mit Desinfektionsspray hoch.

„Bitte sprüht euch alle gründlich die Hände damit ein. Wir wollen nicht, dass ihr beim Füttern Keime auf die Tiere übertragt.“ Sie beobachtete kritisch, wie einer nach dem anderen tat, wie sie ihnen geheißen hatte. Schließlich nickte sie zufrieden.

Bien. Nun können wir hineingehen. Oh, Moment, wir müssen noch auf Freddie warten. Wo bleibt er nur?“ Sie runzelte die Stirn.

Un momento. Wartet bitte hier.“ Sie verschwand durch die Tür, zurück in den Bereich des Nachttierhauses.

„Mum, vergiss nicht Tommys Kamera.“ Bella tanzte vor Aufregung förmlich auf der Stelle.

„Natürlich nicht, Schatz. Aber wir müssen gut darauf aufpassen, sonst –“

„Macht uns Tommy einen Kopf kürzer, ich weiß“, fiel Bella ein.

Pauline beäugte das High-Tech-Gerät. „Die sieht ja professionell aus.“

Maggie nickte. „Tommy hat sich mittlerweile ein ganz schönes Arsenal an Equipment zugelegt. Mit seiner Technikbegeisterung kommt er ganz nach Alan.“

Maggies Ehemann hatte sich aus kleinen Anfängen heraus eine eigene Firma aufgebaut, die Software zur Datensicherheit entwickelte. In den letzten Jahren hatte er sich angesichts der globalen Gefahr von Hackerangriffen vor Aufträgen schier nicht mehr retten können und beschäftigte nun mehrere Dutzend Programmierer.

„Tommy ist sich jetzt schon sicher, dass er Medientechnik studieren wird, sobald er mit der Schule fertig ist. Ich freue mich, dass er schon in so jungen Jahren genau weiß, was das Richtige für ihn ist. Darin unterscheidet er sich komplett von seiner großen Schwester“, fuhr Maggie fort. „Dabei fällt mir ein, dass Renie ja eigentlich zu uns stoßen wollte.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche.

„Oh, da ist eine Nachricht von ihr.“ Sie kniff die Augen zusammen und hielt das Display eine Armlänge weg.

„Vielleicht ist es doch allmählich an der Zeit für eine Lesebrille, Schwesterherz“, stichelte John.

„So ein Unsinn, ich sehe wie ein Adler“, gab sie ungnädig zurück. Als sie Renies Botschaft schließlich entziffert hatte, seufzte sie. „Sie schafft es zeitlich nicht. Es gab wieder irgendwelche Last-Minute-Änderungen für die Konferenz und jetzt müssen die Programme überarbeitet werden. Und dann hat sie dieser Mathers kurzfristig auch noch mal in die Redaktion beordert. Aber sie lässt euch alle herzlich grüßen.“

Die Holztür ging wieder auf und Benita Ramirez trat ein, gefolgt von ihrem jungen Praktikanten. Flammende Zornesröte lag auf seinem Gesicht und er umklammerte die Futterschüssel, als würde er sie zerquetschen wollen. Während Benita die Holztür auf der anderen Seite des Raumes aufschloss, legte John eine Hand auf Freddies Arm und fragte, „Ist alles okay?“

„Ein Scheißdreck ist, lassen Sie mich in Ruhe.“, presste Freddie wütend hervor und riss rüde seinen Arm weg. Gleich darauf schlug er sich die Hand vor den Mund und schaute zerknirscht drein. „Oh, sorry, Mr. M., tut mir leid. Tut mir echt leid.“

„Schon gut, Freddie. Sag mir einfach, was passiert ist.“

„Dieser Preston, der bildet sich ein, er kann mich schikanieren. Macht mich voll zur Sau, nur weil ich ein paar Sachen in der Küche noch nicht abgespült habe. Greift sich einen nassen Lappen und wirft ihn mir doch glatt mitten ins Gesicht. Ich hab gedacht, ich flipp aus. Mann, noch vor ein paar Monaten wär ich dem Knilch echt an die Gurgel gegangen.“ Er atmete tief durch. „Aber ich hab’s dann so gemacht, wie Sie’s mir gezeigt haben und dann konnt ich mich beherrschen.“

„Gut gemacht, Freddie“, lobte John ihn. „Aber wenn es dauernd Konflikte zwischen euch gibt – sollten wir uns dann nicht einmal alle gemeinsam zusammensetzen und sehen, wie euer Verhältnis besser werden könnte?“

„Preston hatte wohl die gleiche Idee. Er will mich heute nach Feierabend sprechen. Benny wird auch dabei sein. Dann reden wir mal Klartext“, kündigte Freddie an.

„Möchtest du, dass ich dabei bin?“

„Nein, danke, Mr. M., das kriege ich schon hin. Ich verspreche Ihnen auch, ich bleibe gaaanz ruhig. Und mit Benny an meiner Seite passiert mir schon nichts. Vor ihr hat sogar Preston, diese Sackratte, Respekt.“

„In Ordnung. Aber ich würde mich freuen, wenn du mich hinterher anrufst und mir Bescheid gibst, wie es gelaufen ist.“

„Kommt ihr bitte, muchachos? Ich möchte die Tür wieder zumachen“, rief Benita. Als John an ihr vorbei ins helle Sonnenlicht des Tropenhauses trat, raunte sie ihm zu, „Ich kümmere mich um den Jungen, machen Sie sich keine Sorgen. Er wird schon lernen, wie man mit unserem jefe umzugehen hat.“

Sie zwinkerte ihm zu und ging dann voraus zu einer kleinen Lichtung zwischen den Urwaldgewächsen. Dort hatten sich bereits mehrere kleine Affen um die Gruppe der Besucher geschart. Justin winkte fröhlich zu der Balustrade hinauf, die sich einige Meter höher um das gesamte Gebäude herumzog. Dort standen etliche Touristen, die neiderfüllte Blicke nach unten warfen. Maggie schoss gerade ein Foto von Pauline, welcher der pelzige Schwanz eines Äffchens ins Gesicht baumelte, das über ihr auf einer Liane saß. Entzückt betrachtete Pauline das Tier. „Seht euch diesen riesigen Schnauzbart an! Sieht aus wie der frühere deutsche Kaiser Wilhelm II.“

Benita lachte. „Muy bien, señora! Genau deswegen heißt diese Rasse auch Kaiserschnurrbart-Tamarin. Sie können ihm ein Stück Melone geben, wenn Sie möchten. Halten Sie es ihm einfach hin und er wird daran knabbern.“ Innerhalb kürzester Zeit hatten sie alle Obststücke in der Hand und hielten sie den Affen entgegen. Benita lächelte über den Chor aus, „Och, wie süß“, „Meine Güte, schaut euch die kleinen Finger an“, „Der da hinten hat noch gar nichts gehabt“ und „Kuck mal her, ich mache ein Foto von dir.“

Pauline entdeckte einen etwas größeren Affen, der abseits saß und sich offenbar nicht näher herantraute. „Was ist das für einer?“

„Das ist einer von unserem Springaffenpaar. Sie sind ein wenig scheu, aber sehr lieb. Am schönsten ist es, wenn man die beiden eng aneinandergekuschelt sieht, wobei sie dann sogar ihre langen Schwänze ineinander verdrehen. Sie bleiben ihr Leben lang einem Partner treu – ganz anders als unsere Kaiserschnurrbärte hier. Bei ihnen paart sich das dominante Weibchen einer Gruppe mit allen vorhandenen Männchen. Da bei der Geburt der Jungtiere also niemand weiß, wer der Vater ist, helfen alle bei der Aufzucht der Kleinen mit. Clevere Strategie, was?“

„Hmmm … mehrere Männer, die allesamt meinen, sie wären der Vater eines Kindes … das erinnert mich an irgendeinen Film.“ Maggie ließ die Kamera sinken.

„Ich weiß, was du meinst“, kam es von Pauline. „Mamma mia von Abba.“

„Oh, richtig. Dieser köstliche Film mit Meryl Streep. Und Pierce Brosnan. Und natürlich –“

„Dem himmlischen Colin Firth, Ebenbild eines gewissen Beefeaters.“ Pauline beugte sich zu John und gab ihm einen Kuss.

Benita Ramirez stemmte die Hände in die Hüften. „En verdad! Jetzt, wo Sie es sagen, sehe ich die Ähnlichkeit auch. Sí, sí, sí, Señor Firth ist ein sehr guter Schauspieler, aber kein so heißer Typ wie Daniel Craig. Das ist ein Mann mit cojones.“ Sie tat so, als müsste sie sich Luft zufächeln.

„Pah, der hat ja mindestens so abstehende Ohren wie unser Thronfolger. Nichts für mich“, winkte Maggie ab. „Ich finde, niemand kann es mit Richard Gere aufnehmen.“

Barry, der das Geplänkel der Frauen gelangweilt verfolgt hatte, ließ sich plötzlich vernehmen, „Polyandrie. So nennt man das, wenn ein Weibchen mehrere Partner hat. Wir haben bei uns in der Gegend ein Brutgebiet der Heckenbraunelle, bei der so etwas auch vorkommt.“

Benita sah ihn überrascht an. „Excelente, junger Mann. Da wächst uns ja ein Zoologe heran.“ Barry lächelte geschmeichelt.

„Wo sind nun die Faultiere?“ Bella hatte in ihrer ersten Begeisterung über die putzigen Äffchen ihre Lieblingstiere fast vergessen.

„Da in der Astgabel sitzt Alexander. Und Norma Jean schläft da oben, fast unterm Dach.“ Freddie deutete nach oben. Bella zog enttäuscht die Mundwinkel nach unten. „Das ist aber weit weg. Ich kann fast gar nichts erkennen.“

„Sieh mal durch die Kamera“, meinte Maggie. „Das Ding hat einen hervorragenden Zoom.“

„Ich glaube, ich habe noch etwas Besseres“, verkündete Benita. „Ich bin sofort wieder da.“

Freddie grinste Bella an. „Jetzt wirst du gleich Augen machen.“

Tatsächlich quiekte Johns Nichte gleich darauf in höchsten Tönen, als sie sah, was Benita Ramirez aus einem kleinen, mit Maschendraht versehenen Extragehege holte.

„Oh mein Gott, oh mein Gott“, hauchte Bella. „Das Baby!“

Maggie hatte geistesgegenwärtig die Kamera gezückt und die Videofunktion aktiviert. So konnte sie den unbezahlbaren Gesichtsausdruck ihrer jüngsten Tochter festhalten, als sie sprachlos verfolgte, wie die Pflegerin das junge Faultier sanft von einem Plüschaffen herunterpflückte, an den es sich geklammert hatte und es vorsichtig kopfüber an einen niedrigen waagerechten Ast hing.

„Verschaffen wir ihm ein wenig Bewegung.“ Während das Tier, in etwa so groß wie ein Katze, gemächlich seine langen, krallenbewehrten Beine bewegte, hielt sie zur Sicherheit ihre Hände unter seinen Körper.

„Wir müssen noch ein wenig auf unseren Linus hier aufpassen. Er ist noch nicht sehr kräftig“, erklärte sie.

„Linus? Wie der von den Peanuts?“, fragte Neil.

„Genau. Wir haben ihm den Namen gegeben, weil er sich an diesen Plüschaffen hier genauso wie Linus an seine Schmusedecke schmiegt. Norma Jean hatte kurz nach der Geburt nicht mehr genügend Milch für ihn und deswegen mussten wir ihn mit der Hand aufziehen. Das habe ich übernommen.“

„Wow!“ Bella hatte endlich ihre Sprache wiedergefunden. „Sie haben den besten Job der Welt.“

Die Tierpflegerin lachte. „Ja, das finde ich auch. Aber es ist auch ganz schön anstrengend, so einen kleinen Kerl rund um die Uhr zu betreuen, sage ich dir. Es ging nicht anders, als dass er bei mir zuhause schläft. Die ersten Wochen hieß es für mich, alle drei Stunden füttern. Und natürlich braucht er so viel Körperkontakt wie möglich, da er ja normalerweise ständig an seine Mutter geklammert wäre. Also schleppe ich ihn oft in einem Tragetuch mit mir, wie bei einem echten bebé. Aber zumindest muss er nicht wie ein echtes Baby gewickelt werden und auch das Ausmisten ist bei Faultieren no problema. Aufs Klo geht er nämlich wie bei Faultieren üblich nur einmal die Woche.“

„Einmal die Woche!“ Neil blieb der Mund offen stehen. „Aber da muss er ja platzen.“

Benita lachte. „Naja, zumindest ist er hinterher immer merklich dünner.“

„Was frisst er?“, wollte Bella wissen.

„Wir haben ihm zuerst Ziegenmilch gegen, was er gut vertragen hat. Ziemlich schnell hat er dann auch angefangen, das zu fressen, was auch erwachsene Faultiere zu sich nehmen: Sehr gern mag er grüne Bohnen und Karotten.“

„Norma Jean mag am liebsten Trauben und Chicoree, Alexander steht auf Birnen und Mais“, berichtete Freddie.

„Wie alt kann er werden?“, fragte Maggie.

„Nun, in freier Natur könnte er zur Beute von Jaguaren, Anakondas oder Greifvögeln werden, aber hier in menschlicher Obhut kann ein Faultier durchaus um die dreißig Jahre alt werden.“

„Oh, ich würde ihn sooo gern streicheln“, hauchte Bella.

„Das verstehe ich, niña. Aber zum einen ist sein Immunsystem noch nicht so gut ausgeprägt und deshalb soll er außer mit mir mit keinem Menschen in Körperkontakt kommen. Und zum anderen wollen wir kein Schmusetier aus ihm machen, sondern ihn möglichst bald wieder in die Obhut seiner Mutter zurückgeben. Auch wenn er ein Zootier ist, soll er so natürlich wie möglich leben können. Das verstehst du doch, oder?“

Bella sah betrübt drein, nickte aber.

Vale. Einem Faultier in freier Wildbahn würde übrigens niemand durchs Fell streichen wollen, schätze ich. Vor allem die Verwandten unserer Gesellen hier, die Dreifingerfaultiere, haben in ihrem Deckhaar massenweise Motten und Käfer leben und daneben noch Algen. Könnt ihr euch vorstellen, warum das so ist?“

Bella hob eifrig den Finger. „Ich weiß es. Die Algen färben das Fell grün und so ist das Faultier im Regenwald gut getarnt. Auf der Flucht vor einem Raubtier könnte es ja nicht schnell weglaufen, also muss es hoffen, dass es nicht gesehen wird.“

Perfecto! Du hast es genau richtig erklärt“, lobte Benita Ramirez. Barry wollte sich offensichtlich seinen Rang als Nummer-Eins-Fachmann für alles Tierische nicht streitig machen lassen. „Ich nehme doch an, die Insekten dienen als lebendiger Nahrungsvorrat“, meinte er in gewichtigem Ton.

Als die Tierpflegerin den Kopf schüttelte, konnte Bella ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken.

„Nein, denn Dreifingerfaultiere ernähren sich rein pflanzlich“, erläuterte Benita. „Eigentlich fressen sie fast nur Blätter. Dadurch fehlen ihnen wichtige Nährstoffe. Nun ist es so, dass die Motten und Käfer genau diese Stoffe ausscheiden. Wenn das Faultier sein Fell ableckt, nimmt es diese Stoffe auch auf und hat dadurch eine Quelle für das, was es braucht.“

In diesem Moment gab Linus etwas wie einen Klagelaut von sich.

„So, du hast wohl Hunger, mi cariño? Pass auf, ich habe dir etwas Leckeres mitgebracht.“ Behutsam nahm Benita das Faultier wieder vom Ast und in den Arm. Freddie reichte ihr einen Teller mit grünen Bohnen. Als das Tier zufrieden darauf herumkaute, lugte es mit seinen braunen Knopfaugen herum und schien die Menschen anzulächeln. Keiner konnte sich seinem Charme entziehen.

„Ist es hier nicht total schön?“, fragte Freddie John leise. John ließ den Blick durch das Tropenhaus schweifen. Von den vielen Menschen, die ein Stockwerk über ihnen standen, war hier unten nichts zu hören. Sie waren umgeben von üppiger Vegetation, durch die immer wieder ein Tier huschte. War das da vorn nicht ein Gürteltier? Einige prächtig befiederte Vögel stelzten herum. Über ihnen sprangen die Affen durch die Bäume. „Ja, es ist ein wundervoller Ort. Wirklich traumhaft“, stimmte er Freddie zu.

 

Nur wenige Stunden später jedoch sollte der paradiesische Ort zu einem veritablen Alptraum werden.


Kapitel 4

 

Mit einem Aufatmen schloss John am nächsten Morgen die Haustür. Aus dem Küchenfenster winkte Pauline ihren Neffen nach, die für ihre Tante jedoch keinen Blick mehr hatten. Die drei strebten hinter Maggie und Bella zum Ausgang des Towers. Der Höhepunkt ihres London-Aufenthalts, ein Tag in den Leavesden-Filmstudios wartete auf sie. Das Harry-Potter-Fieber hatte ungeahnte Höhen erklommen und die Jungen waren schon gestern Abend so aufgeregt gewesen, dass sie kaum hatten einschlafen können.

Auf John und Pauline jedoch wartete ein Tag ungestörter Zweisamkeit. Pauline hatte sich gewünscht, mit ihm durch die Tate Britain Galerie zu bummeln. Hinterher wollte John sie in ein indisches Restaurant ausführen, das er kürzlich entdeckt hatte und in dem es das beste Murgh Malai gab, das er je gegessen hatte. Voller Vorfreude ging John zurück in die Küche. Neben seinem Frühstücksteller lag zu seiner Überraschung ein Fotoalbum.

„Was ist das?“, fragte er Pauline. Aber erst, nachdem er ihr genüsslich einen langen Kuss gegeben hatte, bei dem Barry und seine Brüder sich gewiss wieder peinlich berührt gefühlt hätten.

„Das habe ich dir mitgebracht. Bisher war so viel Trubel, dass ich mir dachte, ich warte auf einen ruhigen Moment, bis ich es dir gebe.“

Neugierig schlug er es auf. Auf der ersten Seite stand John & Pauline – wie alles begann. Darunter prangte ein Bild, das vor mehr als zwei Jahren entstanden war. Eine Schülerin aus Paulines Klasse – John konnte sich noch haargenau erinnern, ihr Name war Tiffany – hatte es gemacht. Darauf waren er und Pauline zu sehen, an einem unwirtlichen Wintertag dick vermummt im Innenhof des Towers stehend.

„Stell dir vor, deine Chefin hätte sich damals nicht den Fuß verstaucht. Dann hätte sie die Mädchen auf ihrem Schulausflug begleitet und wir wären uns nicht begegnet. Entsetzlich.“ John hob seine Tasse. „Wir sollten auf sie trinken.“

Pauline kicherte.

„Du ahnst ja gar nicht, wie passend dieser Gedanke ist. Die gute Ms. Grover … was denkst du, warum sie diesen ominösen Sturz hatte, bei dem sie sich den Fuß verletzt hat? Sie war ein alter Schluckspecht. Sie dachte immer, davon wüsste keine Seele etwas, aber natürlich haben es früher oder später alle aus der Lehrerschaft spitz gekriegt. Und wahrscheinlich auch einige von den Schülerinnen. Die Kinder sind ja heute längst nicht mehr so naiv, wie wir früher waren.“

John blickte etwas melancholisch in seine Teetasse. „Es kommt mir so vor, als wäre meine Kindheit ein paar Ewigkeiten her. Der Zahn der Zeit nagt schon an mir.“

Pauline brach in Gelächter aus. „Oh, John, jetzt werd nicht albern. Bevor du dir jetzt eine gepflegte Midlife-Crisis gönnst, schau dir lieber mal das nächste Bild an. Ganz schön knackig, finde ich. Oder, wie Ms. Ramirez wohl sagen würde: Ay caramba.“ Sie wackelte mit den Augenbrauen. Dann blätterte sie die Seite um.

Unter der Überschrift Beim großen Clantreffen in Edinburgh fanden sich gleich mehrere Fotos, die John beim Tauziehwettbewerb zeigten. Er war – höchst unfreiwillig – in letzter Minute eingesprungen, um die Mannschaft der Mackenzies zu vervollständigen, nachdem einer seiner schottischen Cousins sich verletzt hatte. Mit übergroßen Gummistiefeln und einer viel zu kurzen Sporthose ausstaffiert, war er sich überaus lächerlich vorgekommen.

Das findest du knackig?“

„Oh ja. Vor allem dieses hier, nach der dritten Runde. Gezeichnet von den Mühen des Kampfs, aber mit Stolz im Blick. Wie ein echter Highlander.“

Nun war es an John, laut aufzulachen. „Das ist kein Stolz in meinen Augen, das ist die pure Erleichterung, dass wir endlich ausgeschieden sind. Noch eine Runde und mir wären die Arme abgefallen. Und dazu noch dieser Matsch! Wir haben ausgesehen wie die Wildschweine.“

„Hmm. So ein kleiner Touch Animalisches kann ganz … anregend sein, finde ich.“ Paulines Augen funkelten. John überlegte eben, ob sie den Ausflug ins Museum nicht verschieben sollten, als aus dem Flur ein leises Klingeln drang. Er grunzte unwillig. „Mein Handy. Ich gehe schnell und mache es aus.“ Als er jedoch im Display den Namen „Freddie“ erblickte, fiel ihm ein, dass der Junge sich gestern gar nicht mehr gemeldet hatte. Kurz hin- und hergerissen, nahm er schließlich doch ab.

Kaum hatte er sich gemeldet, drang eine panikerfüllte Stimme an sein Ohr. „Sie müssen mir helfen, Mr. M., bitte! Die Bullen machen mich total fertig. Die wollen mir das in die Schuhe schieben, aber ich war das nicht, ehrlich!“

John fuhr sich über die Stirn und stöhnte unhörbar. Welchen Unsinn hatte Freddie Matthews nun wieder angestellt? Und musste das ausgerechnet heute sein?? Dann zwang er sich zu einem ruhigen Ton. „Was ist los, Freddie? Was wirft die Polizei dir vor?“

„Na, ich soll Ray Preston umgebracht haben! Total der Bullshit, ich bin doch kein Mörder. Oh bitte, können Sie nicht mit denen reden?“

„Wie … was …“, stotterte John verdattert. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was Freddie sagte. „Willst du sagen, dass dein Chef tot ist?“

„Mausetot. Abgestochen wie ein Schwein. Überall war Blut, voll der Horror. Ich … ich bin reingetreten und mein Schuh … war ganz verschmiert …“ Freddie schluckte und verstummte.

John lagen tausend Fragen auf der Zunge, aber er hatte das Gefühl, dass der junge Mann unter Schock stand. Verdammt. Er musste ihm beistehen. Resigniert fragte er, „Wo bist du jetzt?“

„Noch auf dem Revier in Camden, aber die Polypen haben gesagt, sie bringen mich zum Yard.“

„In Ordnung. Ich komme hin.“

Ein Schwall von Dankesbekundungen drang aus dem Hörer.

„Jaja, schon gut, Freddie“, brummte er. „Soll ich deiner Mutter Bescheid geben?“

„Nee, nee, lassen Sie mal. Ihr gehts grad nicht so gut. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht. Bis gleich, Mr. M.“

Ein abgrundtiefer Seufzer entrang sich Johns Brust, als er das Telefon sinken ließ.

 

Als er eine knappe Stunde später am Empfangstresen von New Scotland Yard stand und hörte, wer die Ermittlungen im Mordfall Ray Preston führte, entfuhr ihm ein womöglich noch tieferer Seufzer.

„Superintendent Whittington leitet die Untersuchung, Sir“, wurde er von einer uniformierten Beamtin informiert. Sie blickte irritiert, als sie seinen leidenden Gesichtsausdruck bemerkte. „Möchten Sie eine Aussage machen?“

„Das könnte man so sagen. Bitte teilen Sie ihm mit, John Mackenzie wäre hier.“

Sie warf ihm noch einmal einen scharfen Blick zu, bevor sie zum Telefonhörer griff. Nach einem kurzen Wortwechsel legte sie auf und wies ihn an, sich in den Wartebereich zu begeben, bis ihn jemand holen käme. John zog sich zurück und nutzte die Gelegenheit, Pauline anzurufen. Nachdem sie beide mit dem Taxi hergekommen waren, hatte sie sich zu Fuß auf den Weg in die Tate Britain Galerie gemacht, die nicht weit entfernt lag. Obwohl sie sichtlich genauso enttäuscht gewesen war wie John, dass der Mord an Ray Preston einen Strich durch ihre Pläne gemacht hatte, war sie doch voller Verständnis gewesen.

„Natürlich musst du dahin und dem Jungen zur Seite stehen, John. Wir haben auch hinterher noch genügend Zeit für uns“, hatte sie gesagt und John hatte sich ungläubig wieder einmal gefragt, wie er eine so wunderbare Gefährtin gefunden hatte.

„Ausgerechnet dein Cousin ist zuständig? Ach du grüne Neune“, meinte sie nun, nachdem er ihr die Neuigkeit erzählt hatte.

„Du hast es erfasst“, erwiderte er. „Du hast ihn ja erlebt bei Mums Geburtstag im Januar. An einem guten Tag ist Simon ein intriganter Schnösel, aber jetzt, wo der Wind ihm ins Gesicht bläst, ist er noch unerträglicher.“

„Er hat sich aufgeplustert wie ein Gockel“, bestätigte Pauline. „Immer schien er im Mittelpunkt stehen zu wollen, es war wirklich schon ein wenig peinlich.“

John musste grinsen. „Naja, der gute Simon war es gewöhnt, dass er der Star auf allen Familienfeiern war. Rasante Karriere bei der Kriminalpolizei, Heirat mit einer Verwandten des Königshauses, Stammgast in allen Klatschspalten … Und nun kam Renie plötzlich mit Mark Taylor an, einem Mann, der trotz all seiner Bekanntheit ganz bescheiden auftritt –“

„Und noch dazu wurde sein lieber Cousin John letztes Jahr vom Guardian zu Recht zu einem der begehrenswertesten Junggesellen Londons erklärt“, fiel Pauline ihm ins Wort.

„Das war doch nur so eine Werbeschlagzeile für die Versteigerung, die Renie sich ausgedacht hatte“, widersprach er, dennoch geschmeichelt. „Viel schlimmer ist für Simon, dass ihm seit Monaten die Sparkommissare des Schatzkanzlers im Nacken sitzen. Ich habe läuten hören, dass es Vorwürfe wegen Verschwendung von Steuergeldern in seiner Abteilung geben soll und er enorm unter Druck steht. Und dann hat Patricia kürzlich Maggie erzählt, dass er bei einem Golfturnier in irgendeinem altehrwürdigen Club eine ganz und gar unterirdische Runde gespielt haben soll, woraufhin er einen seiner Schläger zertrümmert hat. Das hat zu seinem Rauswurf aus dem Club geführt. Seitdem wäre er komplett ungenießbar, sagte Patricia – oh, da kommt er, ich höre jetzt lieber auf“, unterbrach er sich hastig, als er den Superintendenten mit Leichenbittermiene auf sich zukommen sah.

„Um des Jungen Willen sei diplomatisch, Liebling. Denk daran: Simon sitzt am längeren Hebel“, riet Pauline noch, bevor sie mit einem gehauchten Kuss auflegte. John beschloss, sich diesen Ratschlag zu Herzen zu nehmen, aber dieser Vorsatz sollte schon bei Simons ersten Worten ins Wanken geraten.

„Was willst du? Mir in die Arbeit hineinpfuschen, wie üblich?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739363943
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Tiere London Spannung Familie Humor Krimi Thriller

Autor

  • Emma Goodwyn (Autor:in)

Hinter dem Pseudonym Emma Goodwyn verbirgt sich eine erfolgreiche Psychologin, die mit John Mackenzie, dem Helden ihrer cosy mysteries nicht nur den Beruf teilt. Neben einer Vorliebe für die asiatische Küche und Darjeeling-Tee verbindet beide die Leidenschaft fürs Gärtnern und das Lösen von Rätseln.
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Titel: Tod im Tropenhaus