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Erkül Bwaroo fischt im Trüben

von Ruth M. Fuchs (Autor:in) Chris Schlicht (Illustrationen)
190 Seiten
Reihe: Erkül Bwaroo ermittelt, Band 7

Zusammenfassung

Eigentlich wollte Erkül Bwaroo nur in Urlaub fahren. Doch dann trifft er unterwegs einen Fischer, der ihm eine geradezu unglaubliche Geschichte erzählt. Bwaroo wäre nicht Bwaroo, wenn er der Sache nicht auf den Grund gehen wollte. Und so findet er sich in einem Schloss wieder, das der Frau des Fischers gehört und allerlei, so illustre wie seltsame, Gäste beherbergt. Als zu deren Unterhaltung ein Mörderspiel geplant wird, in dem der Elfendetektiv ermitteln soll, ist er wenig davon begeistert. Doch dann geschieht ein wirklicher Mord, und Bwaroos brillante kleine grauen Zellen sind gefragt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Unerwarteter Besuch

Die Sonne veranstaltete mit der Hilfe von ein paar Schleierwolken ein Farbspektakel in Rot, Orange und Gelb mit einem Hauch von Lila, bevor sie sich anschickte, malerisch im Meer zu versinken. Grillen setzten sich in Positur und zirpten ihr Abendlied, untermalt von den Wellen, die sachte gegen die Kiesel schwappten. Die Luft war mild, und ein leichter Wind hatte die Hitze des Tages vertrieben. Sebastian saß vor seinem Haus und flickte sein Fischernetz. Er hatte keinen Blick für die Farbenpracht vor seinen Augen. Oder für die Grillen. Genaugenommen war ihm die ganze Idylle um ihn herum herzlich egal. Stumpf brütete er vor sich hin, während seine Hände wie von selbst an dem Netz arbeiteten, bis sich ein neues Geräusch unter das Zirpen mischte. Es klang, als würde da etwas bumpernd auf ihn zukommen.

Verwundert hob Sebastian den Kopf und suchte den Hügel hinter seinem Haus nach der Quelle des Geräusches ab. Und richtig, da rollte so etwas wie ein schwarzes Rad bergab, wurde immer schneller, machte Sprünge über Steine, die im Weg lagen und beschrieb eine Kurve, um dann mit heftigem Schlingern wie ein schlecht ausbalancierter Kreisel zur Seite zu kippen und vor Sebastians Füßen liegen zu bleiben.

Nachdenklich betrachtete Sebastian den fremden Gegenstand. Ein Rad. Wahrscheinlich ein Rad. Aber ein sehr seltsames. Natürlich kannte Sebastian Räder. Er hatte selbst einen Karren, mit dem er seinen Fang ins nahegelegene Dorf zum Verkauf brachte. Aber der hatte Räder aus eisenbeschlagenem Holz. Das Rad hier war ganz aus Metall. Und dieser schwarze Wulst außen herum war anscheinend Gummi.

Sebastian wurde aus seiner Grübelei aufgeschreckt, als ein zweites Geräusch an sein Ohr drang. Jemand kam mit eiligen Schritten den Hügel herab gelaufen. Vermutlich der Besitzer dieses eigenartigen Rades.

Als sich die Gestalt näherte, erkannte Sebastian, dass es sich um einen Mann handelte. Einen sehr elegant gekleideten Mann, mit einem Eierkopf und einem enormen Schnurrbart. Der Fischer bemerkte außerdem, dass er ausgeprägt spitze Ohren hatte. Ein Elf also. Aber einer, der eher klein war, mit einem Bäuchlein und schon fortgeschrittenen Alters. Wahrscheinlich ein Niederelf, von denen hieß es ja, dass sie kleinwüchsig waren – nicht so groß und grazil wie die Hochelfen. Nicht, dass Sebastian jemals einen Hochelfen gesehen hätte, oder einen Niederelfen, wenn man schon dabei war, aber es gab genügend Geschichten über dieses Volk der Feyen. Die eine oder andere hatte auch Sebastian gehört.

Wahrscheinlich ist es einer vom Schloss, dachte er. Einer, der mal anschauen wollte, wie arme Fischer so lebten, und dafür eine außergewöhnliche Kutsche benutzte. Dazu würden dann auch die schwarzen Lackschuhe passen, die denkbar ungeeignet waren, um eine Wanderung zu machen. Ein aufgeblasener Kugelfisch, dachte Sebastian bitter. Konnten die nicht unter sich bleiben?

Pardonnez-moi, Monsieur. Ich suche … Ach, da ist es ja.“ Der Stutzer wies mit seinem Gehstock erfreut auf das Rad, das nun still am Boden lag. „Dieser wesentliche Bestandteil meines Automobils hat sich selbstständig gemacht, und ich ...“

„Ihr Auto… was?“

„Automobil. Verzeihen Sie, mein Fehler. Es handelt sich um ein Fahrzeug, das von ganz alleine fährt, ohne Pferde. Es steht dort oben.“ Der Fremde wies mit seinem Stöckchen den Hügel hinauf.

Sebastian schaute in die angegebene Richtung, und tatsächlich stand dort so etwas wie eine Kutsche ohne Pferde. Nur auf irgendeine Weise schöner als die Kutschen, die er kannte. Nicht so eckig, sondern irgendwie geschmeidig. Wie eine Schleie neben einer Brasse. Das Fahrzeug war außerdem flacher und länger als alle, die er kannte. Wie es so dastand und silbern wie Perlmutt in der sinkenden Sonne schimmerte, sah es eher wie ein Schmuckstück aus, nicht wie ein Gebrauchsgegenstand.

„Aber auch ohne Pferde benötigt dieses Fahrzeug Räder“, fuhr der Kugelfisch derweil fort. „Und jetzt hat es leider eines verloren.“ Er blickte vielsagend auf das Rad, das nun still und unbeteiligt auf den Kieseln ruhte.

„Tja, ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann“, meinte Sebastian und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. „Mit solchen Sachen kenn ich mich nicht aus. Aber bestimmt kann Ihnen doch einer Ihrer Kumpane aus dem Schloss helfen.“

„Schloss, welches Schloss?“

„Sie sind nicht aus dem Schloss?“ Das erstaunte Sebastian nun doch sehr. „Ich hätt‘ gedacht, da gehört jemand wie Sie hin“, fuhr er mit einem Blick auf die elegante Kleidung seines Gegenübers fort.

„Ah, Monsieur, Sie sehen mich verwundert! Ich wusste gar nicht, dass es hier in der Gegend einen herrschaftlichen Sitz gibt.“

„Gab es bis vor ‘n paar Monaten ja auch noch nicht.“ Sebastian verzog bitter den Mund. Dann wischte er das Gesagte aber mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite. „Wenn Sie also nicht vom Schloss sind, wo kommen Sie denn her?“

„Mein Diener und ich kommen aus Laundom und sind unterwegs nach Torrenne, wo ich ein paar Tage Urlaub machen will.“ Als der Fremde Sebastians verständnislosen Blick bemerkte, lächelte er. „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Ich bin Erkül Bwaroo.“

„Sehr erfreut“, murmelte Sebastian. So wie der Elf jetzt schaute, sollte ihm der Name wohl etwas sagen, aber er hatte keinen Schimmer, was. „Sebastian Timpetee“, nannte er also einfach im Gegenzug seinen eigenen Namen.

Mit Bedauern stellte er fest, dass der Fremde jetzt sehr enttäuscht aussah. Plötzlich kam sich Sebastian vor, als wäre er gerade mit Bausch und Bogen durch eine Prüfung gefallen.

Doch der Fremde lächelte schon wieder. Außerdem kam da noch eine zweite Person den Hügel herab. Sie war groß und schlank und dunkel gekleidet, ganz ohne jeden Farbtupfer oder irgendein Schmuckstück.

„Das ist Orges, mein Diener“, stellte Erkül Bwaroo den Neuankömmling vor. „Orges, das ist Sebastian Timpetee. Ich fürchte, das abtrünnige Rad ist in seinem Garten gelandet.“

„Nein, nein!“, wehrte Sebastian da ab. „Das liegt hier am Strand.“

Während er das sagte, musterte er Orges so verstohlen wie möglich. Ein Mensch in den Diensten eines Elfen? Wie ungewöhnlich.

„Dann müssen wir es ja nur zurück nach oben bekommen und wieder festmachen“, stellte Orges derweil fest. Falls er Sebastians Blicke bemerkte, ließ er sich nichts anmerken. „Den passenden Schraubenschlüssel habe ich im Wagen. Allerdings werde ich etwas Hilfe benötigen, um den Wagen anzuheben ...“ Er schaute zu Sebastian. „Herr Timpetee, ich frage mich, ob Sie so freundlich sein könnten, mir dabei behilflich zu sein, den Wagen wieder flott zu bekommen.“

„Ich helfe natürlich gern“, versicherte Sebastian. „Aber ich hab wirklich keine Ahnung von sowas. Ich bin sicher, im Schloss gäb‘s bessere Hilfe.“

„Oh, ich weiß, was zu tun ist“, beruhigte Orges ihn da. „Ich kann auch das Rad den Hügel hinauf rollen, wenn es erst einmal aufgerichtet ist. Es geht nur um den Kraftaufwand, dessen es bedarf, um den Wagen anzuheben, damit das Rad wieder an seinen Platz geschoben werden kann. Obgleich ich mich täglich der Leibesertüchtigung widme, bin ich dabei, fürchte ich, doch etwas überfordert. Zumal ich dann eine Hand zu wenig haben dürfte, um gleichzeitig das Rad zu bewegen.“

Und dieser Bwaroo war bestimmt keine Hilfe, dachte Sebastian.

„Äh, ja, da kann ich schon helfen“, versicherte er also.

Letztlich lief es aber darauf hinaus, dass beide Männer den Wagen anheben mussten und Bwaroo höchstpersönlich das Rad auf die Achse schob. Das tat er mit einem Geschick und einer Selbstverständlichkeit, die Sebastian erstaunten. Allerdings besah er sich danach sehr bestürzt seine schmutzigen Hände.

„Monsieur Timpetee“, sagte er. „Wäre es vielleicht möglich, dass ich mich bei Ihnen ein wenig säubere?“

Sebastian konnte nicht anders, er lachte laut auf.

„Kommen Sie“, bot er vergnügt an. „Ich zeige Ihnen, wo Sie sich waschen können.“

So gingen sie also erneut den Hügel hinunter, während Orges sein Werkzeug verstaute.

Sebastians Häuschen lag inmitten eines lauschigen Gartens, der aber offensichtlich in letzter Zeit eine pflegende Hand vermisste. Unkraut machte sich zwischen Blumen und Stauden breit. Es war noch nicht viel und noch nicht sehr hoch, aber der Garten war eindeutig nicht so gepflegt, wie Bwaroo es geschätzt hätte. Ähnlich sah es im Inneren des Hauses aus: Alles war ordentlich und geschmackvoll, aber eine dünne Staubschicht zeugte davon, dass sich schon eine Weile niemand mehr so recht darum kümmerte.

„Sie wohnen allein hier?“, wollte Bwaroo wissen, als er wieder sauber und manierlich aus dem Bad kam.

„Ja“, nickte Sebastian, und ein schmerzlicher Ausdruck flog über sein Gesicht. „Meine Frau ist oben im Schloss.“

„Sie arbeitet dort?“

„Nein, das Schloss gehört ihr.“

Bwaroo horchte auf. Was bedeutete das? War Sebastians Frau eine Adlige, die sich in den Fischer verliebt hatte, aber die Liebe hatte nicht gehalten? Natürlich war das eine mögliche Erklärung, aber Bwaroos Instinkt sagte ihm, dass das bestenfalls die halbe Geschichte war. Er wollte die ganze hören. Kurzentschlossen griff er zu einer Lüge.

„Monsieur Timpetee, ich habe ein kleines Problem“, erklärte er also und machte ein hilfloses Gesicht. „Wie Sie ja sehen, wird es inzwischen dunkel, und mein Diener und ich werden es nicht mehr nach Torrenne schaffen. Wir haben uns verschätzt, und die Panne hat uns zusätzlich aufgehalten. Wissen Sie vielleicht, wo wir übernachten könnten?“

In diesem Moment betrat Orges das Haus. Er hatte die letzten Worte seines Herrn aufgeschnappt und wusste sehr genau, dass die Scheinwerfer des Wagens stark genug waren, um auch nachts sicher fahren zu können. Aber zugleich kannte er Bwaroo gut genug, um zu wissen, dass er das jetzt besser nicht erwähnte.

Sebastian hatte keine Ahnung von Automobilen und so nahm er Bwaroo seine Erklärung ohne Weiteres ab.

„Na ja, in Buttweil gibt es ein Wirtshaus. Buttweil ist das Dorf, durch das Sie bestimmt gekommen sind.“ Sebastian gestikulierte in die Richtung, in der das Dorf lag. „Die Zimmer sind allerdings sehr schlicht. Für Ihre Ansprüche zumindest, glaub ich.“ Er kratzte sich am Kinn. „Aber auf dem Schloss kriegen Sie bestimmt ein Zimmer. Mit Bad und allem Drum und Dran. Und meine Frau ist sehr gastfreundlich.“ Wieder verzog er bitter den Mund.

„Ist das weit?“, forschte Bwaroo. „Wir müssten ja zu Fuß gehen und wir sind ortsfremd … und ich muss gestehen, dass ich in diesen Schuhen nicht durch die Wildnis trampeln möchte.“

Sebastian warf einen Blick auf die Lackschuhe des Elfen und stimmte ihm im Stillen zu. Das waren keine Schuhe zum Herumlaufen. Aber hatte der denn keine anderen in seinem Gepäck? Ein fragender Blick in Orges‘ Richtung half ihm nicht weiter. Der Diener verzog keine Miene und schaute nur ausdruckslos zurück.

„Natürlich könnten Sie auch hier schlafen“, schlug Sebastian endlich ein wenig widerwillig vor. „Ich hab ja Platz genug. Es gibt sogar ein Gästezimmer. Und weil der Fang letzte Nacht sehr gut war, fahre ich heute mal nicht hinaus. Aber ich will Ihnen das nicht anbieten. Es ist bestimmt nicht das, was Sie gewöhnt sind. Kein Luxus oder so ...“

„Oh, ich bin extra in Urlaub gefahren, um es mal nicht so luxuriös zu haben!“, wehrte Bwaroo lachend ab.

„Na ja, dann ...“ Sebastian konnte sein Befremden kaum verbergen. Jemand, der so angezogen war wie Bwaroo, wollte es plötzlich unbequem? Aber die Reichen hatten ja oft komische Ideen vom Leben der armen Leute. „Ich kann Ihnen aber nur eine Fischsuppe zum Abendessen anbieten. Auf dem Schloss gibt‘s es ein Sieben-Gänge-Menü.“

Une Bouillabaisse! Das klingt doch ganz großartig. Klingt das nicht großartig, Orges?“

„In der Tat.“

„Na gut. Sie können das Gästezimmer gerne haben“, meinte Sebastian. Er freute sich nicht darüber, Gesellschaft zu haben. Zu viele Umstände und zu viel, was man falsch machen konnte. Doch dieser kleine rundliche Kerl schien wirklich nicht anspruchsvoll zu sein, trotz seiner herausgeputzten Erscheinung. „Ich weiß nur nicht recht, wohin mit Herrn Orges. Natürlich wäre da noch die Betthälfte meiner Frau ...“

„Dieses Sofa sieht absolut adäquat aus“, versicherte Orges.

„Schön.“ Zwar hatte Sebastian keine Ahnung, was mit adäquat gemeint war, aber es lief wohl darauf hinaus, dass Orges auf seinem Sofa schlafen wollte. Nun, ihm sollte es recht sein.

„Sind Sie Fischer von Beruf?“, erkundigte sich Bwaroo vorsichtig, als sie zu dritt beim Essen saßen.

„Ja, wie schon mein Vater und mein Großvater.“

„Sie müssen ein sehr erfolgreicher Fischer sein, bei so einem schönen Haus ...“

„Oh nein, das ist nicht meins.“ Sebastian tunkte etwas Brot in die Brühe der Fischsuppe.

Bwaroo fragte nicht nach, sondern schwieg einfach. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass jeder das Bedürfnis hatte, seine Geschichte zu erzählen. Besonders leicht fiel es anscheinend mit Fremden. Es genügte meistens, ein wenig Geduld zu haben.

„Wissen Sie, es war so vor ungefähr einem Jahr“, fing Sebastian tatsächlich etwas später zu erzählen an. „Da fing ich einen ganz ungewöhnlichen Fisch, wie ich ihn noch nie gesehen hab. Und der Fisch sagte zu mir ‚Hör mal, Fischer, ich bin eigentlich ein verzauberter Prinz. Bitte lass mich frei.‘ Und das habe ich dann getan.“

„Einfach so?“ In Fische verzauberte Prinzen waren eher selten. Nach Bwaroos Erfahrung waren eher Frösche, Ungeheuer oder Standbilder beliebt, wenn eine Fee oder eine Hexe einen Prinzen verfluchte, der sich daneben benommen hatte. Aber möglich war es immerhin. Also zweifelte Bwaroo nicht an Sebastians Geschichte. Deren schnelles Ende erstaunte ihn dagegen sehr.

„Das hat Bille auch gesagt“, erklärte nun auch Sebastian und schöpfte sich noch einen Teller Fischsuppe.

„Bille?“

„Ilsebill, meine Frau. Ich nenn sie Bille. Sie fragte mich, ob ich mir denn nichts gewünscht hätt‘.“

„Und Sie haben nicht.“

„Nein. Ich kam gar nicht auf die Idee. Bille war deswegen ziemlich böse mit mir. Sie meinte, ein kleines Haus mit Garten hätte ich mir schon wünschen können. Und ein Kind.“

„Ein Kind?“

„Als Ilsebill und ich geheiratet haben, waren wir sehr verliebt und sehr glücklich, obwohl die Arbeit schwer war und der Verdienst nicht wirklich hoch. Aber als Ilsebill dann einfach nicht schwanger wurde, wurde sie unzufrieden. Sie wollte unbedingt Kinder haben. Sie fing an zu nörgeln und herumzukritisieren. Nichts machte ihr mehr wirklich Freude.“

Bwaroo betrachtete Sebastian nachdenklich. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er war muskulös und seine wettergegerbte Haut war tief gebräunt. Älter als Mitte dreißig konnte er aber nicht sein. Seine Frau würde wohl im etwa selben Alter sein. Ein Kind lag also immer noch im Bereich des Möglichen.

„Wir sind seit zehn Jahren verheiratet“, fuhr Sebastian da fort, als hätte er Bwaroos Gedanken erraten. „Ilsebill gab irgendwann die Hoffnung auf. Aber als dann das mit dem Fisch passiert ist, änderte sich das wohl. Und sie hat ständig an mir rumgenörgelt und geschimpft. Ich bin schließlich ans Meer gegangen und hab den Fisch gerufen.“

„Wie haben Sie das gemacht?“

„Ich rief ‚Mantje, Mantje Timpetee. Buttje, Buttje in der See. Meine Frau, die Ilsebill, will nicht so wie ich wohl will.‘

„Mantje, Buttje?“

„Mantje bedeutet so viel wie ‚kleiner, unbedeutender Mann‘. Das ist plettisch, ein alter Dialekt, den eigentlich keiner mehr spricht. Meine Großmutter konnte ihn aber noch und hat mir ein paar Worte beigebracht. Butt ist ein Fisch – deswegen heißt das Dorf auch Buttweil. Zumindest glaube ich das. Genau weiß das keiner hier. Buttje – das heißt soviel wie Fischlein. Mir kam das als Dreikäsehoch immer irgendwie magisch vor. Und wie ich so herumstand, fielen mir die Wörter wieder ein. Und ich dachte, es sollte sich reimen. Damit es mehr nach Zauberspruch klingt. Nach so etwas sollte es doch klingen, nicht wahr?“

Bwaroo machte eine unbestimmte Geste. Dass es sein musste, glaubte er eher nicht. Aber es half ganz sicher, um den Ruf in den Ohren des Fischers magisch klingen zu lassen.

„Na, jedenfalls: Der Fisch kam tatsächlich.“

„Und dann?“

„Er meinte, den Kinderwunsch meiner Frau könne er nicht erfüllen. Er könne nur materielle Dinge geben oder nehmen. Aber wenn wir morgen aufwachen würden, hätten wir unser Haus mit Garten. Und so war es dann auch. Bille lief am nächsten Tag ganz aufgeregt herum, machte alle Türen, alle Schränke, alle Truhen auf und war ganz entzückt. Ich hab mich so gefreut, sie endlich wieder einmal glücklich zu sehen. Aber mit der Zeit wurde sie wieder unzufrieden und quengelte, dass das doch ein recht mickriges Geschenk wäre für das Leben eines Prinzen.“

„Ah! Je comprends. Sie gingen erneut zu dem Fisch ...“

„Ja, und es war mir recht peinlich, kann ich Ihnen sagen. Der Fisch war auch ziemlich mürrisch, und sogar das Wetter wurde mies. Ein Sturm zog auf. Aber der Fisch versprach, den Wunsch meiner Frau zu erfüllen: ein Schloss mit Truhen voller Gold.“ Sebastian seufzte. „Wir gingen am nächsten Morgen zusammen hin und schauten es uns an. Bille begann sofort, nach Personal zu suchen. Ein Koch, Lakaien, eine Zofe für sich. Und dann wollte sie noch unbedingt eine Sekretärin. Sie sagte, sie hätt‘ gelesen, dass eine feine Dame sowas haben muss. Sie liest gerne Romane, wo arme Mädchen von feinen Herren gerettet und geheiratet werden … Und weil hier in der Gegend eine Sekretärin nicht zu finden war, musste ich den Karren anspannen und mit ihr in die Stadt fahren, damit sie eine Anzeige aufgeben konnte. Ich fand das dämlich, aber ich hab mitgemacht, weil sie ganz aufgeregt war und sich gefreut hat. Und so kam meine Frau an Helene.“

„Helene?“ Bwaroo war nicht entgangen, dass Sebastians Miene sich verdüsterte, als er von dieser Frau sprach.

„Billes Sekretärin.“

„Die Sie nicht mögen.“

„Na ja, ich … nein.“ Sebastian seufzte und schwieg eine Weile. „Helene ist nicht sauber“, sprudelte er dann los. „Ich meine, sie ist schon reinlich, aber irgendwie … ich trau ihr nicht.“ Der Fischer atmete auf. Jetzt, da es ausgesprochen war, war ihm leichter ums Herz. „Sie hat Bille Flöhe ins Ohr gesetzt, wie wir hier sagen. Lauter dumme Ideen. Zu lernen, wie man sich benimmt, wann man welche Gabel nimmt, und solche Sachen. Sie ließ einen Schneider kommen und Musikanten … und sie schickte Einladungen an alle möglichen Leute von Rang, damit sie zu einem Fest kamen, das Bille ausrichten sollte.“

„Und wurde es ein rauschendes Fest?“

„Na ja, es war ein Haufen Leute da. Adlige aus der Nachbarschaft. Sogar der Landesfürst war da mit seiner Frau. War wohl neugierig. Ein paar Reporter kamen auch und schrieben einen Artikel über Bille und das Schloss. Die Tage danach belagerten diese Pressefritzen dann mein Haus – ich hab es verrammelt und mich geweigert, mit irgendwem zu reden, bis sie es endlich aufgaben. Auf dem Strand haben sie sich auch breit gemacht und auf den Fisch gewartet. Aber mehr, als dass einen von denen ein Krebs in den Zeh gezwickt hat, ist nicht passiert. Vom Fisch keine Spur. Schließlich ist einer nach dem anderen abgezogen.

Aber bei dem großen Ball waren sie natürlich noch alle da. Die Zeitungsschreiber, die vornehmen Herrschaften und die, die so taten, als ob. Sie plünderten alle das Buffet, tanzten ein bisschen und gingen dann wieder. Die richtigen Adligen kamen nie wieder. Aber die anderen, die blieben. Schnorrer, wenn Sie mich fragen. Besonders so ein Graf, der erzählte, sein Schloss würde umgebaut und er hätte deshalb gerade keine Bleibe. Der quartierte sich richtig bei Bille ein – hatte wohl nichts anderes zu tun. Ich schaute mir das ein paar Tage an und redete auf sie ein, aber sie wollte nicht hören. Wir haben ganz furchtbar deswegen gestritten, und dann reichte es mir. Ich bin einfach gegangen. Hatte keinen Sinn zu bleiben. Sie glaubte, dass das alles ihre Freunde sind und dass sie nur mit denen richtig glücklich sein kann. Da war kein Platz für mich. Jetzt besuche ich sie einmal die Woche und allmählich denke ich, dass ihr selbst das noch peinlich ist.“

„Hatte denn der Landesherr keine Einwände gegen ein Schloss auf seinem Grund und Boden?“

„Das ist das Komische – das Grundstück gehört tatsächlich mir. Es ist schon seit Generationen in meiner Familie. Mein Urgroßvater oder so hat angeblich einen Vorfahren von unserem jetzigen Fürsten vorm Ertrinken gerettet, und der hat ihm dafür das Land geschenkt. Schönes Geschenk! Angeblich soll es da irgendwo im Boden eine Silbermine geben. Aber das ist Blödsinn. Es ist einfach nur unfruchtbares Brachland, mit dem man nichts anfangen kann. Außer Fischen und ein paar schlechten Äckern gibt‘s hier nichts.“

Bwaroo nickte. Die Gegend hier war wirklich weder fruchtbar noch einladend. Es gab hier keine Wälder oder blühende Wiesen, sondern nur hügelige Steppe voller Steine. Auch der Strand am Meer war kein so schöner Sandstrand wie bei Torrenne weiter im Westen, sondern ein Kieselstrand, der kaum dazu einlud, sich in die Sonne zu legen. Das Dorf, durch das Orges und er gekommen waren, bevor sie die Reifenpanne hatten, Buttweil, war auch keines der malerischen Fischerdörfer gewesen, die man gern an der Küste fand, sondern einfach nur eine Ansammlung von ärmlichen Hütten.

„Ja, so schaut es jetzt also aus.“ Sebastian wischte mit einem Stück Brot seinen Teller aus. „Wir haben ein Schloss mitten im Ödland und ein paar Leute, die meine Frau ausnutzen.“ Er presste die Lippen zusammen.

Und einen verzauberten Prinzen im Meer, fügte Bwaroo in Gedanken hinzu. Einen Prinzen, der Wünsche erfüllt, aber mit keinem Wort erwähnt, wie er erlöst werden kann. Das fand der Elfendetektiv besonders seltsam. Wenn er Versprechungen gemacht oder etwas verlangt hätte, das den Fluch aufheben konnte – das hätte Bwaroo verstanden. Aber einfach nur wieder zurück ins Meer zu wollen und später Wünsche zu erfüllen, aber immer noch keine Gegenleistung zu verlangen, das war rätselhaft.

Bwaroo liebte Rätsel. Sie waren sein Lebenselixier. Also beschloss er im Stillen, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen. Torrenne und das entspannte Nichtstun, das dort seiner harrte, konnten warten. Er war ohnehin der Meinung, dass Müßiggang und Entspannung eigentlich nur schöngefärbte Synonyme für Langeweile waren. Dementsprechend hatte er dem Aufenthalt in Torrenne mit wenig Vorfreude entgegengesehen. Er war überhaupt nur dorthin unterwegs, weil sein Freund, Doktor Hastings, ihn förmlich dazu gedrängt hatte. ‚Sie müssen mal ausspannen, Bwaroo‘, hatte er wieder und wieder gesagt, ‚Erholung, Diät und ein wenig Bewegung. Das ist genau das, was Sie brauchen.‘ Schließlich hatte Bwaroo sich dazu breitschlagen lassen. Aber hier schien es viel interessanter zu sein. So ein kleines, harmloses Rätsel war ja eigentlich auch erholsam. Es handelte sich schließlich nicht um einen aufreibenden Mordfall. Und eine Fischsuppe konnte man ja auch schon als Diät betrachten. Mit dieser Begründung höchst zufrieden aß Bwaroo also seine Suppe, die ihm im Übrigen ganz ausgezeichnet schmeckte.

Doch etwas musste er noch wissen: „Aber Sie scheinen ja der Meinung zu sein, dass Ihre Frau vielleicht doch noch hereinschneit ...“, begann er mit einem bedeutsamen Blick auf einen vierten Teller, der komplett mit Besteck vor einem leeren Stuhl auf dem Tisch stand.

„Nein, das … das ist ...“ Sebastian wirkte ein wenig verlegen. „Also, bei uns hier ist es Brauch, dass wir immer auch noch für den Unbekannten decken.“

„Den Unbekannten?“

„Na ja, einen Fremden eben, so wie Sie beide. Jemand, der vielleicht vom Weg abgekommen ist oder sonstwie Hilfe braucht. Einen unerwarteten Gast. Oder vielleicht auch einen guten Geist, so genau weiß ich das gar nicht. Aber es ist so Sitte bei uns. Also mach ich es ...“

„Eine sehr schöne Sitte“, bemerkte Bwaroo freundlich. „Es steht für Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit.“

„Ja, hier bei uns ist die Gastfreundschaft eine heilige Pflicht. Wenn ein Fremder kommt, lädt man ihn mit den Worten ‚Bitte setzt euch und nehmt an unserem Mahl teil.‘ ein, bewirtet ihn und gibt ihm einen Platz zum Schlafen. Umgekehrt erwartet man, dass der Fremde den Frieden des Hauses einhält und schützt. Tut er das nicht, wird ihn ein schwerer Fluch treffen.“

„Aha.“

„Ja, und …“ Plötzlich dämmerte Sebastian, dass er Bwaroo und Orges nicht mit den rituellen Worten eingeladen hatte. Er hatte sich anfangs ja sogar ziemlich ablehnend verhalten. „Ich … ich meine …“, stotterte er, „Das macht man, wenn es schon dunkel ist … und … gut, bei Ihnen beiden hab ich das jetzt nicht so gemacht … aber gemeint hab ich es schon …“

„Genau so haben wir das auch verstanden“, beeilte sich Bwaroo, den beschämten Fischer zu beruhigen. „Nicht wahr, Orges?“

„Zweifellos.“ Orges nickte unbewegt.

„Na sehen Sie, alles ist gut.“ Bwaroo lächelte aufmunternd. „Wurde denn schon einmal jemand von so einem Fluch getroffen?“

„Noch nie. Jedenfalls nicht, solange ich lebe. Aber es gibt da eine Geschichte, wonach ein Fremder in ein Haus kam und aufgenommen wurde. Aber er hat die Gastfreundschaft ausgenutzt, um etwas zu stehlen. Es heißt, dass er es wieder zurückbrachte, weil ihn von da an eine finstere Wolke verfolgte, Stimmen in der Nacht, Pech bei allem, was er anfasste … er war verflucht.“

„Ah, je comprends. War der Fluch danach aufgehoben?“

„Ich glaube schon. Aber na ja, es ist halt nur eine Geschichte.“ Sebastian zuckte mit den Schultern und schöpfte Bwaroo noch einen Teller Fischsuppe ein.

Ein Schloss im Nirgendwo

Am nächsten Morgen wurde Sebastian von einem Geräusch geweckt. Offenbar war Orges schon wach und hantierte in der Küche herum. Sebastian hatte sich also ganz umsonst Gedanken gemacht, wie er möglichst leise an dem Sofa vorbeikommen konnte.

„Ich hoffe, dass Sie mir verzeihen, dass ich mir anmaßte, einfach so das Frühstück zuzubereiten“, begrüßte Orges den Fischer. „Wir haben auf unserer Reise einen Picknickkorb mitgeführt, und der Inhalt sollte dringend verzehrt werden ...“

„Sie hatten rohe Eier dabei?“, staunte Sebastian, als er zum Herd schaute, wo in einer Pfanne Rührei und Schinken eine glückliche Verbindung eingingen.

„In der Tat“, nickte Orges, ohne eine Miene zu verziehen. „Im Wagen befindet sich auch ein kleiner Kocher, der mit Hilfe des Motors betrieben werden kann.“

„Ach.“ Sebastian hatte keine Ahnung, wovon Orges da sprach. Wieder einmal. Langsam wurde ihm das peinlich.

„Ich habe mir auch erlaubt, in Ihrem Garten einige Kräuter zu pflücken, um eine Würzmilch zuzubereiten“, fuhr Orges fort.

„Das ist in Ordnung. Der Garten wird kaum noch genutzt.“

„Das ist mir aufgefallen.“ Orges holte drei Teller aus dem Schrank, als würde er schon seit Jahren im Haus leben, und stellte sie auf den Tisch. „Setzen Sie sich doch, Herr Timpetee. Ich werde Monsieur Bwaroo wecken.“

Na, wenigstens tat dieser Bwaroo, was man von Herrschaften wie ihm erwartete, dachte Sebastian, nur um gleich erstaunt herumzufahren.

Bonjour, mes amis!“ Bwaroo stand in der Tür, fröhlich und wie aus dem Ei gepellt. „Ah, petit déjeuner. Wunderbar.“

Nach dem Frühstück, zu dem Sebastian noch einen herzhaften Laib Brot beisteuerte, lehnte Bwaroo sich zufrieden zurück, während Orges den Tisch abräumte und jedes Hilfsangebot Sebastians entschieden ablehnte.

„Das ist das Mindeste, was ich als kleinen Dankesbeweis für Sie tun kann, Herr Timpetee“, meinte er dazu.

„Na ja, dann … werde ich mich mal fertig machen“, meinte Sebastian und stand ebenfalls auf.

„Sie fahren aufs Meer hinaus zum Fischen?“, wollte Bwaroo wissen.

„Um diese Zeit? Oh nein, ich fische nachts. Aber heute ist der Tag, an dem ich mal wieder meine Frau besuche.“ Sebastians Miene zeigte, dass er sich nicht wirklich darauf freute.

„Dann gestatten Sie, dass wir Sie fahren“, bat Bwaroo und sprang auf.

„Ich will Ihnen keine Umstände machen ...“

Pas du tout! Sie würden mir damit eine Freude machen.“

Sebastian zögerte. Es reizte ihn schon, mal in so einem Automobil zu fahren. Aber war das nicht auch gefährlich? Er hatte da so Gerüchte gehört von Atemnot nach einer überaus schnellen Fahrt und davon, dass der Körper durch die Geschwindigkeit zusammengepresst wurde. Bwaroo und Orges schienen aber problemlos Luft zu bekommen. Man konnte zwar glauben, dass der kleine, rundliche Bwaroo von der Fahrt gestaucht worden war – aber der großgewachsene, eher magere Orges bestimmt nicht! Und dann konnte die ganze Behauptung ja wohl nicht stimmen, oder? Außerdem, was hatte er schon zu verlieren? Seine Frau hatte ihn verlassen, und außer seinen Fischernetzen und einem gelegentlichen Besuch im Wirtshaus hatte ihm das Leben nicht mehr viel zu bieten.

„Mit Vergnügen!“, stimmte er also zu und bemerkte erstaunt, wie eine gewisse Vorfreude und Aufregung in ihm aufstiegen.

„Sie können gerne auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, Herr Timpetee“, bot Orges an, als sie den Wagen erreicht hatten. „Monsieur Bwaroo zieht es vor, im Fond zu sitzen.“

„Im Fond?“

„Er sitzt lieber hinten.“

„Ach so. Aber sieht man vorne nicht mehr?“

„Richtig. Aber Monsieur Bwaroo hängt gerne ungestört seinen Gedanken nach.“

„Aha. Äh … darf ich Sie mal was fragen?“ Sebastian warf einen vorsichtigen Blick auf Bwaroo, der bereits auf der Rückbank saß. „Warum nennen Sie ihn Monsieur?“

„Mein Herr hat längere Zeit in der Parallelwelt in einem Land namens Belgien verbracht. Dort spricht man französisch, und in Erinnerung an die schöne Zeit dort hat er sich diese Sprache zu eigen gemacht.“

„Dann ist das also französisch?“

„Ja. Es bedeutet ‚Herr‘.“

„Verstehe.“ Sebastian fand das ziemlich umständlich. Aber Bwaroo schien eine Berühmtheit zu sein. Auch wenn er selbst noch nie von ihm gehört hatte – er wusste, dass diese Art von Leuten zu Eigenheiten neigten. Dieses französisch sprechen schien dann also eine von Bwaroo zu sein. Immerhin erklärte das, warum er manchmal so unverständliches Zeug von sich gab.

Also kletterte Sebastian ein wenig linkisch neben Orges auf den rechten Sitz. Der war gut gepolstert und sehr bequem. Verstohlen schielte er zu Orges, der auf einen Knopf drückte, was zur Folge hatte, dass der Wagen leicht vibrierte und in ein stetiges Brummen verfiel. Dann trat Orges auf ein Pedal und drehte an dem Rad, das vor seiner Brust angebracht war. Sicher eine Art Steuerrad, wie man es auf Schiffen hatte, denn der Wagen setzte sich in Bewegung und machte einen Schwenk auf die Mitte der Straße.

„Du meine Güte! Das ist ja schneller als im Zug ...“ Sebastian suchte nach einer Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten. Erst allmählich wurde ihm klar, dass zwar die Landschaft an ihm vorbeiflog, er aber weiterhin unbelastet gemütlich auf seinem Platz saß.

Vor lauter Staunen hätte er es fast verpasst, auf die Abzweigung hinzuweisen, die zum Schloss führte.

Das Schloss kam in Sicht. Bwaroo beugte sich gespannt näher ans Fenster. Wenig später zog er den Kopf enttäuscht wieder zurück. Das Gebäude aus gelbem Sandstein sah ganz so aus, wie er befürchtet hatte – ein klobiger Klotz, aufgelockert durch Türmchen und Erker und Simse mit Zinnen und allerlei Schnickschnack. Aber wenigstens war es symmetrisch. Der Wagen näherte sich dem Schloss von der Nordseite, wo sich ein großes Tor und ein schmaler Streifen Gartenanlage mit Lorbeerbäumchen und niedrigen Buchsbaumhecken befanden. Der größere, prächtigere Garten war vermutlich auf der Südseite des Hauses. Trotzdem, auch dieser schmale Garten war erstaunlich grün im Vergleich mit der Gegend ringsumher.

Als der Wagen vor dem Schlosstor zum Stehen kam, dauerte es nicht lange, und einige bunt gekleidete Männer und Frauen kamen heraus, um das Fahrzeug zu bestaunen. So eine elegante Limousine hatten vermutlich die wenigsten je gesehen.

Orges sprang aus dem Auto, lief darum herum und schaffte es, sowohl Bwaroos als auch Sebastians Tür beinahe gleichzeitig zu öffnen. Bwaroo drehte sich geübt auf seinem Platz, bis er beide Beine sicher auf den Boden stellen konnte und erhob sich mit einer Leichtigkeit, als würde er einfach nur von einem Stuhl aufstehen. Sebastian hatte da mehr Schwierigkeiten und war sehr dankbar, als Orges ihm die Hand reichte. Das Tuscheln der Menschen, die da so neugierig herum standen, war ihm nur zu unangenehm bewusst. Als er ein Kichern hörte, fuhr er mit hochrotem Kopf herum. Doch er sah nur ein junges Mädchen mit blondem Haar und in der Uniform einer Hausangestellten, das sich hinter vorgehaltener Hand gar nicht über ihn, sondern über Bwaroo lustig machte. Auch der hatte das junge Ding bemerkt und ging mit einem freundlichen Lächeln auf sie zu.

„Mademoiselle“, erklärte er mit einer kleinen Verbeugung, „ich bin entzückt, zu Ihrer Erheiterung beitragen zu können. Darf ich Ihren werten Namen erfahren?“

„Silvia“. Das Mädchen errötete jetzt und blickte verlegen zu Boden.

Enchanté de faire votre connaissance, Mademoiselle Silvia. Mein Name ...“, Bwaroo richtete sich auf. Er schaffte es stets, der simplen Nennung seines Namens eine Bedeutung zu verleihen, als hebe sich gleich der Vorhang zum letzten Akt eines Dramas, „mein Name ist Erkül Bwaroo.“

„Der Elfendetektiv?“

Alle drehten sich um. Ein Mann schritt durch das Tor. Er war elegant gekleidet und strahlte Autorität aus. Seine schwarzen Locken fielen ihm malerisch in die Stirn. Dazu kamen dunkle Augen, olivfarbene Haut und ein schlanker, hoher Wuchs. Ein gutaussehender Mann, dachte sich Bwaroo und fühlte gleich ein wenig Abneigung, denn dieser Mann wusste offenbar ganz genau, wie blendend er aussah. Auf jeden Fall trat er auf, als würde das Schloss ihm gehören. Die anderen machten ihm schnell Platz.

„Der große Detektiv?“, wiederholte er seine Frage und streckte die Hand aus, um Bwaroos zu ergreifen und zu schütteln.

Non, Monsieur.“ Bwaroo entzog ihm seine Hand wieder. „Nicht der große, sondern der größte Detektiv überhaupt.“

„Natürlich!“ Sein Gegenüber lachte auf und klopfte ihm auf die Schulter, was ihm einen befremdeten Blick des kleinen Elfen einbrachte. „Wie ich sehe, kennen Sie bereits den Mann von Ilse, der Schlossherrin.“ Er bedachte Sebastian nur mit einem Seitenblick, wandte sich dann aber gleich wieder mit freundlicher Miene Bwaroo zu. „Ich bin übrigens ein Freund und Helfer Ilsebills. Graf Horst von und zu Eulenstein, zu Ihren Diensten.“ Er verbeugte sich leicht. „Was verschafft uns denn die Ehre Ihres Besuches? Hat es einen Mord in der Gegend gegeben? Gibt es Gerüchte, dass Ilsebills Schmuck gestohlen werden soll?“

Ah, non, Monsieur“, wehrte Bwaroo ab. „Je suis en vacances.

Mit Interesse bemerkte der Elfendetektiv, dass der Graf offenbar kein Französisch sprach, denn er schaute nur verständnislos. Hatte er etwa nicht, wie unter den Adelskreisen üblich, eine Bildungsreise in die Parallelwelt unternommen? Das gehörte doch eigentlich zum guten Ton! Und Städte wie Paris oder eine Tour entlang der Loire waren eigentlich Pflicht. Aber gut, vielleicht hatte sich das seit Bwaroos Jugend geändert.

„Ich mache Urlaub und bin auf dem Weg nach Torrenne“, fügte er also liebenswürdig hinzu.

„Torrenne? Aber was wollen Sie denn da?“ Eulenstein lachte auf. „Immerhin nett, dass Sie vorher bei uns vorbeischauen. Sie haben wohl von Ilsebills fantastischem Schloss gehört?“

„Ich begleite Monsieur Timpetee ...“ Bwaroo wies auf Sebastian, der wie bestellt und nicht abgeholt dastand.

„Ach, ist der etwa ein Freund von Ihnen?“ Der Graf schien den Fischer erst jetzt zur Kenntnis zu nehmen.

Mais oui, allerdings.“

„Oh! Ja, dann ...“ Eulenstein trat zu Sebastian. Doch der schaute nur befremdet auf die ihm hingestreckte Hand, ohne sich zu rühren.

„Wo ist meine Frau?“, wollte er wissen.

„Ilsebill? Ich denke, sie ist in der Orangerie ...“

Ohne ein weiteres Wort ließ Sebastian den Grafen stehen. Mit einem feinen Lächeln folgte ihm Bwaroo.

Die Orangerie war ein Glasbau, der sich auf der Südseite die gesamte Breite des Schlosses entlang zog. Als Bwaroo hinter Sebastian eintrat, schlug ihm die für solche Räume übliche Mischung aus Wärme, höherer Luftfeuchtigkeit und Erde entgegen. Ihn erinnerte das immer an Fäulnis, Verfall und Tod. Doch trotzdem musste er einräumen, dass dieser Ort hier überaus prächtig ausgestattet war. Die Sammlung exotischer Pflanzen umfasste nicht nur Orangen- und andere Zitrusbäume, sondern auch Granatapfel-, Feigen- Lorbeer-, Pistazien- und Olivenbäume. Der verzauberte Prinz hatte sich wirklich große Mühe gegeben, hier eine Art Paradies entstehen zu lassen.

Zwischen den Stauden und Bäumen flanierten einige Leute, und mittendrin auf einer kleinen Bank saß eine Frau, um die sich alles zu drehen schien. Bwaroo betrachtete sie so unauffällig wie interessiert. Wahrscheinlich hätte sie schönes Haar in der Farbe von Schokolade gehabt. Doch leider hatte man es unter Verwendung einiger Haarteile aufgetürmt und mit so vielen Spangen versehen, dass es gar nicht zur Geltung kam. Vielleicht wäre auch ihr Gesicht schön gewesen, hätte man nicht so furchtbar viel Schminke aufgetragen, die die Haut offenbar heller erscheinen lassen sollte. Als Frau eines Fischers war Ilsebill natürlich eine Menge im Freien gewesen und vermutlich entsprechend sonnengebräunt. Doch die feinen Damen der Gesellschaft bevorzugten blasse Haut. Und so wurde die Bräune von einer Menge Creme und Puder überdeckt. Dazu trug die Dame des Hauses ein Kleid, das so übersät war von Rüschen, Schleifen und Falbeln, dass man unmöglich sagen konnte, welche tatsächlich Verschlüsse und welche lediglich Beiwerk waren. Ihre Taille war schmal, sehr schmal. Bwaroo schätzte, dass es mindestens zweier Dienstmädchen bedurft hatte, um diese Dame in ihr Korsett zu schnüren. Kein Wunder, dass sie als einzige saß – sie bekam wahrscheinlich kaum Luft. Eine dreireihige Perlenkette, die eng um ihren Hals lag, machte es vermutlich nicht besser. Trotz der Wärme in der Orangerie trug sie Handschuhe, die bis hinauf zu den Puffärmeln des Kleides reichten. Um die rauen Hände der Fischersfrau zu verbergen, vermutete der Elf.

„Bille, wie geht es dir?“, sprach Sebastian sie an.

Sie drehte den Kopf und Bwaroo sah, dass sie wunderschöne braune Augen hatte, die für seinen Geschmack allerdings zu stark mit Kohlstift umrahmt waren.

„Basti!“, rief sie erfreut, besann sich dann jedoch und hob den Fächer, der an ihrem Handgelenk baumelte. Energisch fächelte sie sich Luft zu, und fuhr schließlich sehr viel kühler fort: „Ist es schon wieder so weit?“

Sebastian senkte enttäuscht den Kopf.

„Du wirst nie erraten, wer hier gerade angekommen ist!“, rief da Horst von und zu Eulenstein, der dem Fischer und Bwaroo hinterher gehastet war. „Dies ist Erkül Bwaroo, der berühmte Elfendetektiv!“ Ein wenig atemlos kam er neben Bwaroo zum Stehen und wies mit großer Geste auf ihn.

„Ach, tatsächlich?“ Ilsebill Timpetee wandte sich dem Elfen zu und musterte ihn.

Votre mari ... Ihr Gatte war so freundlich, mich mitzunehmen“, erklärte Bwaroo mit einer leichten Verbeugung.

„Du solltest mal das Automobil sehen, das draußen steht!“, plapperte Eulenstein eifrig weiter.

„Sie sind ein Freund meines Mannes?“, staunte Ilsebill aber nur.

Mais oui, ich hatte die Ehre, gestern Abend bei ihm zu speisen.“

„Es war nur eine Fischsuppe“, wehrte Sebastian ab.

Une bouillabaisse très magnifique!“, versicherte Bwaroo und küsste seine Fingerspitzen. „Ich habe nie etwas Besseres gegessen.“

„Dann sollten Sie mal probieren, was Ilses Koch zustande bringt“, mischte sich Eulenstein ein. „Wir haben jeden Abend ein Menü mit sieben Gängen und ...“

„Ah, mon ami, aber es sind doch die einfachen Gerichte, die man so leicht verderben kann“, widersprach Bwaroo freundlich. „Es ist nicht so schwer, etwas Exotisches zu kochen, von dem niemand weiß, wie es schmecken sollte. Aber die Gerichte unserer Kindheit … und die Erinnerungen, die damit verbunden sind ...“

„Da müssen Sie aber eine recht ärmliche Kindheit gehabt haben … mit Fischsuppe ...“ Eulenstein lachte auf.

„Ich bin ein Niederelf, Monsieur.“ Jetzt schaute Bwaroo ihn doch recht missbilligend an. „Wie Sie wissen sollten, als Mann von Welt, sind Niederelfen in erster Linie Handwerker. Es sind die Hochelfen, die eher den Adelsstand bekleiden und Zugang zum Hofe des Königspaares Titania und Oberon haben. Meine Eltern waren einfache Leute ...“

„Aber Sie haben doch bestimmt einen Platz bei Hofe!“

„Ich habe Zutritt, ja. Aber ich ziehe es vor, diesem schalen Leben der Eitelkeiten und der Oberflächlichkeit fern zu bleiben.“

Nach dieser scharfen Erwiderung Bwaroos herrschte betretenes Schweigen in der Orangerie.

„Bravo! Ein Mann mit Prinzipien! So etwas findet man heutzutage selten“, ließ sich da eine klare Stimme vernehmen. Eine Frau trat aus dem Schatten eines Orangenbaumes. Sie war schlicht, aber sehr geschmackvoll gekleidet. Ihr blondes Haar war an der linken Seite zusammengefasst und über die Schulter drapiert worden. Ihre Erscheinung gemahnte an eine einfache Dienerin, doch ihre Ausstrahlung war die einer Herrin.

„Mademoiselle Helene, wenn ich nicht irre?“ Bwaroo verbeugte sich.

„Ah, die Geschichten um die Brillanz Ihres Verstandes sind also nicht übertrieben.“ Helenes Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „My Lady“, wandte sie sich dann an Ilsebill, ohne Bwaroo weiter zu beachten. „Es wird Zeit, sich für den Tee umzukleiden.“

„Oh ja, natürlich.“ Ilsebill erhob sich, wobei ihr Eulenstein charmant seinen Arm reichte. „Herr Bwaroo, Sie leisten uns doch Gesellschaft? Und du natürlich auch, Sebastian.“

Sebastian zuckte die Achseln, doch Bwaroo neigte zustimmend das Haupt.

Als Ilsebill aufstand, blieb sie einen Moment stehen.

„Ein wenig schwindlig“, bemerkte sie dazu mit einem verlegenen Lächeln. „Aber es geht schon wieder.“

„Oh, Liebes!“ Eulenstein legte fürsorglich den Arm um ihre Taille.

Sebastian sah es und zog ungehalten die Augenbrauen zusammen. Ilsebill, die das bemerkte, schob Eulensteins Hand wieder weg, woraufhin der ihr mit einem Schulterzucken wieder seinen Arm bot, damit sie sich darauf stützen konnte.

So schritt sie an Eulensteins Seite der kleinen Gesellschaft voran. Bwaroo bemerkte, dass sie elegante Schuhe mit sehr hohen Absätzen trug. Sie bewegte sich ziemlich sicher darin, machte aber nur kleine Trippelschritte. Als hätte sie stundenlang geübt und sich dabei diese kleinen Schritte angewöhnt. Höflich folgte ihr Bwaroo. Doch innerlich schüttelte er verständnislos den Kopf. Warum tat diese Frau sich das an?

Eine Einladung für Bwaroo

Man versammelte sich in einem geschmackvoll eingerichteten Salon um kleine Tischchen, die jeweils vier bis fünf Personen Platz boten. Ilsebill entschuldigte sich und verschwand, um wenig später wieder zurückzukehren. Sie hatte sich umgezogen. Jetzt trug sie ein hellblaues, reich mit Spitzen besetztes Kleid, das Bwaroo sehr viel besser gefiel. Auch schien sie nun nicht mehr ganz so eingeschnürt zu sein.

Eulenstein eilte an die rechte Seite von Ilsebill, Bwaroo und Sebastian nahmen ebenfalls an ihrem Tisch Platz. Helene und die anderen Gäste verteilten sich an den übrigen Tischen.

Eine silberne Etagere mit drei Ebenen stand in der Mitte jedes Tisches, beladen mit allerlei kleinen Kuchen und anderen Köstlichkeiten. Ein Diener eilte von Stuhl zu Stuhl und schenkte Tee in kleine Porzellantassen, die so zart waren, dass man den Tee hindurch schimmern sah. Ilsebill griff sich ihre Tasse mit beiden behandschuhten Händen, überlegte es sich dann aber anders und fasste den Henkel vorsichtig mit vier Fingern, wobei sie den kleinen Finger abspreizte, während sie die Tasse vorsichtig zum Mund führte und nippte. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Süßigkeiten, ließ sie aber liegen. Der Graf hob sich indessen zwei Küchlein auf den Teller.

Bwaroo beobachtete das alles, während er selbst sich ein Schokoladentörtchen gönnte. Dann warf er einen Blick auf seine eigene Tasse. Hagebuttentee, natürlich. Es gehörte zum guten Ton, Hagebuttentee zu servieren. Leider war das so ziemlich die einzige Sorte Tee, die Bwaroo ganz und gar nicht mochte. Heroisch nahm er einen Schluck.

Er bemerkte, dass Sebastian weder Tee noch Kuchen anrührte, sondern nur besorgte Blicke auf seine Frau warf.

„Und Sie wollen wirklich nach Torrenne?“, wandte Eulenstein sich an Bwaroo.

Mais oui, allerdings.“

„Aber was wollen Sie denn da?“ Eulenstein schürzte indigniert die Lippen. „Da ist doch kaum etwas los! Es gibt den Strand, ein Theater, ein paar Restaurants und das Meer natürlich … aber sonst? Bleiben Sie doch lieber hier! Die Musik am Abend ist auf jeden Fall besser. Und natürlich das Essen. Der Koch hier ist genial. Wir tanzen und veranstalten fantastische Gesellschaftspiele, spielen Karten, gehen im Garten spazieren und fahren mit den Fischern aufs Meer hinaus … das Einzige, was hier fehlt, ist ein Pferdestall. Dann könnten wir auch noch ausreiten ...“

„Vermisst du das sehr?“, fragte Ilsebill erschrocken.

„Nein, nicht wirklich, meine Liebe.“ Mit einem Lächeln legte der Graf ihr die Hand auf den Arm. „Jedenfalls“, er schaute wieder zu Bwaroo, „hätten Sie hier bestimmt viel mehr Spaß als in diesem Kurort, oder soll ich sagen Kuhort, hahaha?“

„Das ist sehr liebenswürdig, Monsieur“, antwortete der Elf und nahm einen Schluck Tee. „Aber denken Sie nicht, dass dies eine Entscheidung der Herrin dieses Anwesens sein sollte?“

„Äh, oh ja, natürlich ...“ Peinlich berührt warf Eulenstein Ilsebill einen Entschuldigung heischenden Blick zu.

„Oh, aber Graf Horst spricht mir ganz und gar aus dem Herzen“, warf Ilsebill daraufhin hastig ein. „Bleiben Sie doch ein wenig hier, Herr Bwaroo. Torrenne kann doch bestimmt noch ein paar Tage auf Sie warten.“

In diesem Moment spürte Bwaroo, wie Sebastian ihn unter dem Tisch ans Bein stieß. Als er ihm den Kopf zudrehte, konnte er sehen, wie der Fischer tonlos das Wort „Bitte“ formte und den Elfen flehend ansah.

„Madame, ich bin überwältigt von Ihrer charmanten Einladung. Wie könnte ich da nein sagen?“, versicherte Bwaroo also und wurde nicht nur mit Ilsebills strahlendem Lächeln, sondern auch mit einem sehr erleichterten Blick Sebastians belohnt.

„Natürlich muss auch mein Diener Orges untergebracht werden“, erklärte Bwaroo.

„Oh, das ist bestimmt kein Problem.“ Ilsebill nahm ein Glöckchen zur Hand, das neben ihr auf dem Tisch stand.

„Silvia, wäre es vielleicht möglich, ein Zimmer für Herrn Bwaroo herzurichten?“, bat sie das Mädchen, das bald darauf erschien. „Eines von denen mit Nebenzimmer. Für seinen Diener ...“

„Muss das gleich sein? Ich bin eigentlich ...“

„Ich denke, das grüne Zimmer wäre am besten geeignet“, mischte sich Helene da ein. Sie hob kaum die Stimme, warf dem Mädchen aber einen scharfen Blick zu. „Jetzt.“

„Sehr wohl.“ Silvia machte einen schlampigen Knicks und eilte davon.

„Das Zimmer hat noch einen Nebenraum. Dort kann Ihr Diener wohnen“, erläuterte Helene liebenswürdig. „Sie haben ihn dann immer ganz schnell zur Hand, wenn Sie ihn brauchen.“

Bwaroo fand es ein wenig befremdlich, dass Helene von Orges wie von einem Gegenstand sprach. Personal schien unter ihrer Würde, dabei gehörte sie als Sekretärin ja eigentlich selbst dazu.

„Wo ist denn Ihr Diener jetzt?“, wollte Ilsebill wissen.

„Draußen bei meinem Wagen, Madame.“

„Ach, davon habe ich dir ja noch gar nicht erzählt, Ilsebill, meine Liebe!“, kam Eulenstein da auf Bwaroos Wagen zurück, als hätte er den noch gar nicht erwähnt. „Herr Bwaroo hat ein Automobil! Eine von diesen neuen Kutschen, die sich ganz ohne Pferde vorwärts bewegen … Es gehört doch Ihnen, oder, Herr Bwaroo?“

Mais oui“, nickte der Elf.

„Du musst dir das unbedingt ansehen, Ilse!“, drängte Eulenstein.

„Ja, das würde ich gerne sehen“, gab Ilsebill zu und erhob sich.

Schon bald standen alle vor dem Schloss um das Auto herum und bewunderten es, während Orges ungerührt daneben stand.

„Wie schnell fährt der Wagen?“, wollte Eulenstein wissen, während er mit leuchtenden Augen um das Fahrzeug herum ging.

„Das müssen Sie Orges fragen.“ Bwaroo wies auf seinen Diener. „Mit so etwas beschäftige ich mich nicht.“

Eulenstein ließ sich das nicht zweimal sagen. Doch nach einem kurzen Gespräch mit Orges wandte er sich mit beleidigter Miene an Bwaroo.

„Ihr Diener will mich nicht ans Steuer des Wagens lassen“, maulte er.

Évidemment pas!“ Bwaroo sah den Grafen so verständnislos an, als spreche er eine unbekannte Sprache. „Selbstverständlich werden Sie den Wagen nicht selbst fahren.“

„Aber ich bitte Sie … Herr Bwaroo ...“ Eulensteins Stimme nahm einen einschmeichelnden Ton an. „Ich würde es zu gerne mal probieren. Nur eine Runde ums Haus ...“

„Es ist Ihnen vielleicht nicht bewusst, Monsieur le Comte, aber so ein Automobil braucht Straßen.“

„Ja und?“

„Sehen Sie hier Straßen, die ‚ums Haus‘ führen?“

„Das ist doch nur so eine Redensart!“ Eulenstein lachte auf. „Dann eben ein Stück die Straße runter und wieder zurück ...“

Non, Monsieur. Es kommt nicht in Frage, dass Erkül Bwaroo sein Automobil verleiht, damit andere Leute Fahrübungen damit machen können. Orges ist der Einzige, der dieses Fahrzeug steuern wird. Point final. L‘incident est clos. Aber mein Diener wird Sie gerne fahren, wenn Sie irgendwo hin wollen. Zum Beispiel in den nächsten größeren Ort, wo Sie mit einer Winddepesche ein eigenes Automobil bestellen können. Ich gebe Ihnen gerne die Adresse des genialen Zwerges, der dieses Fahrzeug für mich entworfen hat.“

„Ein Zwerg?“, fragte Ilsebill in einem Ton, der nicht verriet, ob sie das wirklich interessierte oder ob sie damit von Eulenstein ablenken wollte, der sehr enttäuscht, ja, sogar verärgert aussah.

Bien sûr“, nickte Bwaroo. „Ich habe in einem meiner früheren Fälle einen genialen Erfinder kennengelernt. Sein Name ist Frolo Taschler. Es ging da um eine Prinzessin, die vorübergehend bei sieben Zwergen gewohnt hat, bevor sie vergiftet wurde. Ich konnte den Täter überführen und beweisen, dass Monsieur Frolo und einige andere Verdächtige unschuldig waren. Wie Sie sicher wissen, werden Züge mit magischen Kristallen angetrieben. Aber die sind ziemlich groß und unhandlich. Als dann unsere Zaubergilde Kristalle herstellen konnte, die kleinere Fahrzeuge antreiben können, stürzte sich Monsieur Frolo regelrecht auf die Möglichkeiten, die sich dadurch boten. Soviel ich weiß, beschäftigt er sich gerade damit, eine Art Minifahrzeug zu entwerfen, das eigentlich nur aus einem Stuhl auf drei Rädern besteht ...“

„Das stelle ich mir sehr unbequem vor, wenn es regnet.“

„Ah, Madame! Wie recht Sie haben! Deshalb hat sich Bwaroo auch für ein Fahrzeug mit einem Dach entschieden.“

Eulenstein hatte mit zunehmender Ungeduld neben Ilsebill und Bwaroo gestanden.

„Im Moment ist es nicht möglich, dass ich mir selbst ein Fahrzeug zulege“, erklärte er nun. „Ich renoviere gerade mein Schloss und möchte nichts Neues anfangen, bevor es nicht fertig ist.“

„Wo liegt denn Ihr Schloss?“

„Oh … ziemlich weit weg von hier. Sie werden es nicht kennen.“

„Stellen Sie mich ruhig auf die Probe. Erkül Bwaroo kommt viel herum.“ Der Elfendetektiv schaute den Grafen erwartungsvoll an.

Doch Eulenstein wandte sich Ilsebill zu, als würde er das gar nicht bemerken: „Weißt du, bei genauerer Betrachtung ist eine Kutsche vielleicht nicht so schnell, aber doch um einiges eleganter als so ein Automobil. Schade, dass du keine hast. Du solltest es dir wirklich einmal überlegen.“

„Ja, vielleicht ...“ Ilsebill schaute etwas unbehaglich drein.

„Eine weiße Kutsche mit deinem Wappen an der Tür!“, schwärmte Eulenstein. Doch dann machte er ein betrübtes Gesicht. „Oh, ich vergaß, du hast ja gar kein Wappen.“

„Nein.“ Verlegen senkte Ilsebill den Blick, als habe er sie eben auf einen schrecklichen Makel angesprochen.

„Wirklich ein wunderschönes Fahrzeug“, wandte sich Helene derweil an den Elfen. „Denken Sie, es wäre zu vermessen, wenn ich Sie bitte, mich einmal nach Bornburg zu fahren? Das ist die nächste Stadt von hier aus, wissen Sie? Es ginge so viel schneller als mit den Karren, die die Dörfler hier benutzen. Die werden von Ochsen gezogen. Eine ziemlich, hm, gemächliche Art zu reisen.“ Sie verzog abfällig den Mund.

„Orges und der Wagen stehen ganz zu Ihrer Verfügung“, versicherte Bwaroo galant.

„Wie freundlich von Ihnen. Vielen Dank.“ Helene belohnte sein Angebot mit einem Lächeln und einem koketten Augenaufschlag. „Am besten stellt Ihr Diener den Wagen in den offenen Schuppen neben dem Gartenhaus. Dort ist er vor Wind und Wetter geschützt.“

Une bonne idée“, nickte Bwaroo. „Ich werde ihn entsprechend anweisen, wenn wir zurück sind. Wir müssen noch einmal zu Herrn Timpetee, um unser Gepäck zu holen.“

Das war eine glatte Lüge, denn Orges hatte am Morgen alles im Wagen verstaut. Doch Bwaroo wollte noch einmal unter vier Augen mit Sebastian sprechen. Suchend sah er sich nach dem Fischer um. Er entdeckte ihn, wie er ein wenig abseits bei Ilsebill stand, die heftig auf ihn einredete, während er ziemlich unglücklich dreinsah. Da stampfte Ilsebill mit dem Fuß auf wie ein kleines Kind, das unbedingt etwas haben will, drehte sich um und ließ ihn stehen.

„Monsieur Timpetee“, rief Bwaroo, und tat, als habe er von all dem nichts bemerkt. „Ich sagte gerade zu Mademoiselle Helene, dass wir noch einmal bei Ihnen vorbeischauen müssten. Sollen wir Sie mitnehmen?“

„Äh … ja gern.“ Sebastian hatte sichtlich Mühe, sich zusammenzureißen, doch dann stieg er ohne weiteres nach Bwaroo in den Wagen, dieses Mal aber ebenfalls auf den Rücksitz.

„Vielen Dank, dass Sie bei Bille bleiben wollen“, sagte er, als sie das Schloss hinter sich gelassen hatten. „Vielleicht hört sie ja auf Sie. Ich hab richtig Angst um sie. Bei all diesen Leuten.“

Pas de problème“, winkte Bwaroo ab. „Natürlich wird Bwaroo sein Möglichstes tun. Ich glaube, das wird sehr interessant.“

Er beobachtete Sebastian aus dem Augenwinkel, wie der die Hände verschränkte und löste, um sie dann gleich wieder ineinander zu verkrampfen.

„Mir scheint, Sie hatten eine Meinungsverschiedenheit mit Ihrer Frau“, fragte er schließlich.

„Ja, so etwas in der Art“, gab Sebastian zu, schwieg dann aber wieder.

Bwaroo warf ihm noch einen kurzen Blick zu, schaute dann aber einfach aus dem Fenster. Seine Geduld wurde schließlich belohnt.

„Ilsebill will, dass ich zum Fisch gehe und ihn um Stallungen für Pferde bitte. Und um Pferde natürlich auch und um eine Kutsche“, platzte Sebastian schließlich heraus.

„Kann Ihre Frau denn reiten?“

„Sie hat noch nie auf einem Pferd gesessen. Genauso wenig wie ich.“

„Aber dann ist das doch eine völlig unsinnige Bitte.“

„Genau! ‚Was willst du denn damit‘, hab ich zu ihr gesagt, ‚die armen Pferde stehen doch nur unnütz rum und langweilen sich‘.“ Sebastian wedelte hilflos mit den Händen.

„Und was hat Ihre Frau darauf geantwortet?“, forschte Bwaroo, als der Fischer in Schweigen verfiel.

„Sie möchte, dass ihre Gäste ausreiten und spazieren fahren können“, gestand Sebastian mit einem Seufzer.

„Aber es wäre doch viel sinnvoller, den nächsten Pferdemarkt zu besuchen und passende Tiere auszuwählen.“

„Ja, eben! Genau das habe ich auch gemeint! Ich hab ihr gesagt, dass sie sich doch alles kaufen kann. Sie ist ja reich.“

„Aber?“

„Aber sie will nicht warten.“ Jetzt raufte sich Sebastian regelrecht die Haare. „Sie will immer alles gleich und sofort. Und weil ich dem Fisch doch das Leben gerettet habe, sollte das doch wohl drin sein, meint sie. Aber das ist doch irgendwie unverschämt ...“

„Also sagten Sie nein.“

„Ich … äh … ich hab versucht, ihr zu erklären, dass mir das peinlich ist ...“ Sebastian vermied es, Bwaroo anzusehen. „Aber sie hat darauf bestanden. Und ich will doch, dass sie glücklich ist.“

Er brach ab und schaute beschämt auf seine Finger, die jetzt fest ineinander verkrampft in seinem Schoß lagen.

„Sie werden den Fisch also darum bitten?“, stellte Bwaroo fest.

„Ich … ja.“ Betreten nickte Sebastian, ohne Bwaroo anzuschauen. Nach einer Weile aber hob er den Kopf: „Würden Sie vielleicht … ich meine … könnten Sie …“ bat er hoffnungsvoll.

„Mitkommen? Avec plaisir! Mit dem größten Vergnügen.“ Eigentlich war Bwaroo diese Bitte mehr als recht. So bekam er vielleicht Gelegenheit, einen Blick auf diesen mysteriösen Fisch zu werfen.

„Wirklich? Das ist großartig.“ Der Fischer atmete auf. „Dann gehen wir am besten gleich, wenn wir angekommen sind.“

Bwaroo nickte nur. Sie näherten sich inzwischen Sebastians Haus und dem Meer, und der Elf bemerkte, wie schwarze Wolken heraufzogen. An deren Rändern flackerndes Wetterleuchten. Ein plötzlich aufgekommener Wind fegte über die Pflanzen in Sebastians Garten. Wahrscheinlich würde es sehr bald regnen.

Bwaroo machte sich also auf das Schlimmste gefasst, während er sich gleichzeitig wunderte, dass das Wetter so derartig schnell umgeschlagen hatte. Aber wahrscheinlich war das ganz normal in dieser Gegend. Sebastian schien es jedenfalls gar nichts auszumachen.

„Am besten bringen wir es gleich hinter uns“, meinte er nur, als sie ausstiegen und marschierte direkt an den Strand. Bwaroo folgte ihm.

Par bleu! Wo ist denn das Wasser?“

„Wir haben Ebbe“, erklärte Sebastian.

Bwaroo beugte sich vorsichtig nach vorn. Wo gestern noch Wellen über die Kiesel geschwappt waren, war nun alles trocken. Das Wasser war noch da, doch es stand mindestens einen Meter tiefer. Jetzt ließ sich auch erkennen, dass der Kieselstrand nicht etwa sanft ins Meer auslief, sondern nach wenigen Metern plötzlich steil abbrach. Wer hier baden wollte, sollte besser ein guter Schwimmer sein.

Der Elfendetektiv fühlte sich wieder einmal in seiner Abneigung gegen das Meer im Allgemeinen und Schifffahrt im Besonderen bestätigt. Was sollte man von Wasser halten, das einfach so verschwand und dann wieder auftauchte? Das widersprach eindeutig Bwaroos Sinn für Ordnung. Wasser hatte entweder da zu sein oder eben nicht. Die einzige Ausnahme war Badewasser. Aber da gab es ja auch einen Stöpsel, den man ziehen konnte.

Bwaroo wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Sebastian tief Luft holte. Seine Stimme zitterte leicht, als er rief: „Mantje, Mantje Timpetee. Buttje, Buttje in der See. Meine Frau, die Ilsebill, will nicht so wie ich wohl will.“

Ein Blitz zuckte unter den nun fast schwarzen Wolken hervor, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag.

„Was will sie denn?“ Ein großer Fisch hob den Kopf aus dem Wasser.

Bwaroo hatte noch nie einen Fisch wie diesen gesehen. Da sich sein Wissen aber auch lediglich auf Speisefische beschränkte, beunruhigte ihn das nicht sonderlich. Er hatte allerdings ein etwas beeindruckenderes Exemplar erwartet. Schließlich handelte es sich ja eigentlich um einen Prinzen. Soweit der Elf es beurteilen konnte, war der Fisch weder besonders groß, noch sonderlich prächtig. Er war einfach nur ein ganz normaler violetter Fisch mit etwas Blau an der Rückenflosse. Dazu kam ein breites Maul, wie man es von einem Fisch erwartete. Nur die schwarzen Augen waren entschieden unpassend für einen Fisch. Das waren keine Fischaugen. Sie waren menschlich.

Sebastian erklärte derweil, was Ilsebill sich dieses Mal wünschte. Der Fisch schwieg lange, als der Fischer geendet hatte. Überlegte er? War er wütend? Das ließ sich unmöglich sagen. Die Mimik von Fischen war nun einmal begrenzt.

Doch schließlich antwortete der Fisch: „Geh hin zu ihr. Morgen früh hat sie es.“

„Monsieur le Prince … Monsieur Fischprinz ...“, wagte Bwaroo, die Stimme zu erheben. Doch der Fisch ignorierte ihn vollständig. Er machte einfach kehrt und tauchte unter. Kaum war er weg, klarte der Himmel auf, und die Sonne zeigte sich wieder.

„Na, das ging besser als erwartet“, sagte Sebastian erleichtert und lachte auf. Es klang jedoch gezwungen.

Bwaroo aber schüttelte nur den Kopf. Da war etwas Unheilvolles im Gange. Das spürte er ganz genau.

„Werden Sie morgen kommen, die Stallungen in Augenschein zu nehmen?“, fragte er nur.

„Der Fisch meinte, ich sollte hingehen.“

„Ja, das hat er gesagt.“

„Dann werde ich das auch tun. Bille wird sich bestimmt freuen.“ Man sah dem Fischer an, dass er sich wenigstens darauf freute, seine Frau glücklich zu sehen.

Bwaroo lächelte ihm freundlich zu. Er konnte Sebastian verstehen, fand die ganze Entwicklung aber höchst bedenklich.

Als er zu seinem Wagen zurückging, rannte ein Mann an ihm vorbei, der ihn nur um Haaresbreite verfehlte – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Mann hatte einen langen Bart, der beim Laufen nach hinten flatterte.

Statt einer Entschuldigung schrie der Mann nur „Mistwetter, mistiges!“ und lief einfach weiter.

Bwaroo schaute ihm erstaunt hinterher: ein ausgemergelter Körper, weißes verfilztes Haar und nur ein Lendenschurz als Kleidung.

„Was ist das für eine seltsame Kreatur?“, wollte der Elf von Sebastian wissen.

Doch der zuckte nur mit den Schultern.

„Das weiß hier keiner so genau. Er wohnt in einem Häuschen hinter dem Dorf direkt in der Einöde. Das Haus ist auch ganz komisch – sieht aus wie eine Ruine, ist aber völlig in Ordnung. Es gehört dem Landesherrn Fürst Berdingsky.“

Je comprends.“ Bwaroo schaute der rennenden Gestalt weiter hinterher. Fürst Berdingsky war für seine Schrullen bekannt. Er war zum Beispiel der einzige Souverän, den Bwaroo kannte, der sich einen Hofnarren hielt, komplett mit Schellenkappe und zu großen Schuhen. Zweifellos entsprang dieser arme herumlaufende Kerl auch irgendeinem Einfall des Fürsten.

Inzwischen hatten sie den Wagen erreicht.

„Auf Wiedersehen, Monsieur Timpetee. Ich sehe Sie dann morgen früh wieder.“ Mit diesen Worten nickte Bwaroo Sebastian zu und stieg ein.

„Was für eine seltsame Geschichte“, bemerkte Bwaroo, als er und Orges wieder auf dem Weg zum Schloss waren.

„In der Tat“, stimmte Orges zu, wobei sein Gesicht keinerlei Regung verriet, soweit Bwaroo das beurteilen konnte. Aber das beunruhigte den Elfen kein bisschen. Orges zeigte nie eine Empfindung, oder zumindest so gut wie nie.

„Man sollte doch meinen, ein verzauberter Prinz strebt in erster Linie danach, erlöst zu werden“, sinnierte Bwaroo also einfach weiter.

„Es sei denn, er mag es feucht“, gab Orges zu bedenken. „Die Unterwasserwelt soll außerdem stellenweise geradezu überwältigend sein.“

„Ich denke, das können wir getrost ausschließen, mon cher Orges. Abgesehen davon, warum lässt dieser Fisch sich fangen, wenn es ihm so gut im Meer gefällt? Man sollte meinen, er erkennt ein Netz, wenn er eines sieht. Oder einen Angelhaken.“ Bwaroo schüttelte den Kopf. „Nein, da steckt mehr dahinter. Und dann diese seltsamen Wünsche! Orges, was würden Sie sich wünschen, wenn Sie einen Wunsch frei hätten?“

„Das Rezept für ein effektives Silberputzmittel.“

Ah, mon ami! Cela ne doit pas être vrai! Bitte sagen Sie mir, dass das nicht Ihr Ernst ist!“

Orges machte den Eindruck, dass es ihm durchaus ernst war. Doch er sagte nichts weiter dazu.

„Im Allgemeinen bittet man um Reichtum, langes Leben, Schönheit oder Verstand“, bot er stattdessen an.

„Ich fürchte, um Verstand bitten die Wenigsten.“ Bwaroo schüttelte den Kopf. „Bwaroo hat die Erfahrung gemacht, dass jeder glaubt, in Sachen Verstand genug zu besitzen. Keiner legt wirklich Wert auf die kleinen grauen Zellen. Aber egal. Was Sie da aufgezählt haben, mein lieber Orges, sind abgesehen vom Reichtum lauter immaterielle Dinge. Sebastian Timpetees erster Wunsch war ganz ähnlich. Er hat den Fisch darum gebeten, dass Ilsebill schwanger wird. Aber der Fisch hat klargemacht, dass derlei nicht in seiner Macht steht. Stattdessen gewährt er Besitztümer. Und Ilsebill Timpetee will ein Haus mit einem Garten. Gut, das mag noch angehen. Wir haben keine Ahnung, wie die Hütte aussah, in der die Timpetees vorher gewohnt hatten. Aber dann ein Schloss. Und nun einen Pferdestall … Ich glaube, Madame Timpetee hat gerne Liebesromane gelesen. Zumindest standen einige in dem Zimmer, in dem ich übernachten durfte.“

„Prinzen, die auf Schimmeln angeritten kommen und die edle Jungfer retten.“ Orges nickte wissend. Bwaroo fragte sich, ob vielleicht auch er gerne Liebesromane las. „Normalerweise sind es jedoch die Prinzen, die die Schlösser haben, auf die sie das Mädchen bringen, das sie ehelichen wollen.“

Excellent, mein lieber Orges! Ja, genau so ist es. Madame Timpetee hat zweifellos davon geträumt, dass auch zu ihr ein Prinz kommt. Mais elle est mariée. Sie ist bereits verheiratet.“

„In gewissen Kreisen kann derlei durch eine Beleidigung aus der Welt geschafft werden“, gab Orges zu Bedenken. „Sofern diese ein Duell zeitigt.“

„Ich fürchte, unter Fischern ist das eher unüblich.“

„Das sogenannte einfache Volk gilt als nicht satisfaktionsfähig“, stimmte Orges ungerührt zu. „Möglicherweise ist es Frau Timpetees Überzeugung, dass der Prinz über kurz oder lang auftauchen wird, wenn das Schloss erst einmal da ist.“

„Möglich. Was jedoch nichts an dem vorhandenen Ehemann ändert.“ Bwaroo blickte nachdenklich auf die karge Landschaft, die an ihm vorbeizog.

„Das Ganze könnte sich noch interessant entwickeln“, bemerkte er schließlich. „Doch als erstes, wenn wir wieder auf dem Schloss sind, bereiten Sie mir bitte ein Fußbad.“

„Sehr wohl.“ Orges kannte seinen Herrn nur zu gut. Erkül Bwaroo bestand darauf, stets korrekt gekleidet zu sein. Dazu gehörten elegante schwarze Lackschuhe, auch wenn sie auf Dauer unbequem waren. Mehr noch: Bwaroo konnte fast auf die Minute vorhersagen, wann sie zu drücken anfangen würden. Und dann suchte er Erholung bei einem heißen Fußbad. Offenbar war es jetzt wieder so weit.

Neun zum Abendessen

Nach einem ausgiebigen Fußbad kleidete sich Bwaroo zum Abendessen an. Er war schon gespannt darauf, wen er bei Tisch antreffen würde. Außer Graf von und zu Eulenstein und Ilsebill selbst hatte er ja lediglich Helene näher kennengelernt. Ob Letztere als eine Angestellte der Hausherrin überhaupt mit am Tisch sitzen würde, war außerdem fraglich.

Doch wie sich herausstellte, war Helene nicht nur mit am Tisch, sondern direkt neben Ilsebill. Die hatte ihren Platz natürlich am Kopfende des Tisches, und Helene saß links neben ihr. An Ilsebills rechter Seite hatte sich Eulenstein niedergelassen. Bwaroos Platz war auf derselben Seite. Doch zwischen ihm und dem Grafen befand sich noch eine Dame, die eine ausgesprochen farbenfrohe Kleidung zur Schau trug. An Bwaroos rechter Seite saß noch eine Dame. Die silbrigen Schuppen an ihren Armen wiesen sie als jemanden aus, der zumindest eine Nixe oder einen Nöck zu seinen Vorfahren zählte.

Bwaroo gegenüber fuhr sich gerade ein schlaksiger junger Mann durch die blonden Locken. Eine wahre Künstlermähne, ging es Bwaroo durch den Kopf. Ob er wohl ein Dichter war? Und wie war das mit der Elfe, links von ihm? Sie sah in ihrem perlgrauen Seidenkleid und mit ihren hellblonden Haaren richtig farblos aus, ganz anders als der Mann neben ihr am Ende des Tisches. Er war in kräftige, aber sorgsam abgestimmte Farben gekleidet und wohlbeleibt. Dem Wein, der in mehreren Flaschen auf dem Tisch verteilt stand, sprach er bereits kräftig zu.

Und dann war da noch ein Gedeck, an dem niemand saß. Ilsebill hatte also auch hier in ihrem Schloss die Sitte eingeführt, für einen Unbekannten zu decken.

„Wir sind eine recht bunte Mischung, nicht wahr?“, wandte sich die Dame mit der bunten Garderobe an den Elfendetektiv, während alle ihre Suppe löffelten. „Wurden Ihnen die anderen eigentlich vorgestellt? Nein? Also, das ist aber ...“

„Gestatte, dass ich das übernehme, Lusinda“, schnitt ihr Helene da das Wort ab. „Aber du hast natürlich Recht. Herr Bwaroo muss uns für einen Haufen von Banausen ohne Manieren halten ...“ Sie richtete den Blick von der als Lusinda angesprochenen Dame auf Bwaroo und machte eine entschuldigende Geste. „Verzeihen Sie ...“

„Oh, Mademoiselle! Bwaroo würde jemanden wie Sie niemals als Banausen ansehen“, beeilte sich Bwaroo zu versichern. Obwohl sich nicht sagen ließ, ob diese Bemerkung als Kompliment gemeint war, lächelte Helene geschmeichelt.

„Nun, dann lassen Sie mich Ihnen die Anwesenden vorstellen“, fuhr sie fort. „Nein, Ilsebill, bemühe dich nicht, ich mache das gerne.“

Ilsebill Timpetee schreckte auf. Erst jetzt ging ihr auf, dass es eigentlich an ihr als der Hausherrin war, ihre Gäste miteinander bekannt zu machen. Bei der vielen Schminke, die sie trug, war es schwer zu sagen, aber Bwaroo meinte zu bemerken, dass ihre Wangen sich röteten, während sie beschämt den Blick senkte.

„Nun, Graf von und zu Eulenstein kennen Sie ja schon.“ Helene bemerkte Ilsebills Erröten nicht oder tat zumindest so. „Die Dame zu Ihrer Rechten, Herr Bwaroo, ist Dalehda Hechtsprung, die berühmte Sängerin. Ihre Großmutter war eine Sirene, und sie hat deren wunderbare Stimme geerbt.“

Dalehda neigte das Haupt und klimperte mit den Wimpern, was Bwaroo mit einer leichten Verbeugung quittierte. Er hatte mal auf einer Insel voller Fabeltiere eine Sirene kennengelernt. Seitdem wusste er, dass Sirenen atemberaubend schön, aber nicht wirklich alle mit ebenso schönen Stimmen gesegnet waren. Früher hatten diese verführerischen Damen im Meer Schiffen aufgelauert. Das geschah inzwischen kaum noch. Die meisten hatten das Meer längst verlassen und sich anderswo Beschäftigung gesucht. Die mit den schönen Stimmen versuchten sich meistens als Sängerinnen. Die anderen, so hatte es jedenfalls ein Minotaurus Bwaroo erklärt, arbeiteten zum Beispiel bei Malern, um mit Singen die alte Farbe abzubeizen. Die mit den schrillsten Stimmen, behaupteten ganz böse Zungen gar, zersingen Gläser.

Bwaroo warf einen Blick auf Dalehdas Hals – keine Kiemenschlitze. Die hatte die Sängerin offenbar nicht von ihrer Großmutter geerbt. Die überwältigende Schönheit auch nicht. Wenn sie auch durchaus hübsch war mit ihrer Mähne roten Haares und der samtigen Haut. Ob auch die Stimme nur ein Abklatsch des Originals war? Nun, er würde wahrscheinlich kaum drumherum kommen, sie einmal singen zu hören.

„Die Dame zu Ihrer Linken ist Baronin Lusinda von Offenberg ...“, fuhr Helene inzwischen mit der Vorstellung fort.

Bwaroo lächelte die Baronin an und fragte sich im Stillen, wie es sein konnte, dass eine Sekretärin es wagen durfte, eine Baronin in der Öffentlichkeit beim Vornamen zu nennen. Lusinda von Offenberg selbst schien nichts dabei zu finden. Sie war in ein faltenreiches Kleid gehüllt, womit sie ihre Figur ziemlich gut verbarg. Sie konnte von mager bis vollschlank so ziemlich alles sein. Die ineinander verlaufenden Farben ihres Aufzugs passten nach Bwaroos Meinung nicht unbedingt zusammen. Anscheinend fand es Lusinda lediglich wichtig, dass sie kräftig, ja beinahe grell waren. Ihr Haar trug sie offen, aber von einem roten, glitzernden Schal umschlungen. Die ganze Aufmachung erinnerte mehr an eine Jahrmarktshellseherin als eine Adlige.

„Und hier drüben haben wir Ernest Saumweg. Er ist Schriftsteller.“ Helene wies auf den Mann mit der Künstlermähne. „Und daneben haben wir noch den Maler Vincent Vanderlin und Maurien Beetow, sein Modell und Muse.“

„Nur bis Ilsebill sich endlich bereit erklärt, sich von mir malen zu lassen“, warf Vanderlin ein, was ihm einen belustigten Blick Mauriens einbrachte. „Unsere Gastgeberin hat ein so faszinierendes Gesicht – es muss der Nachwelt erhalten bleiben, meinen Sie nicht, Herr Bwaroo?“

Moi? Oh, ich denke lieber an die Gegenwart“, antwortete Bwaroo diplomatisch. „Aber ich bin ja auch kein Künstler. Ich arbeite lieber mit meinen kleinen grauen Zellen.“ Der Elfendetektiv tippte sich vielsagend an die Stirn.

„Ihr berühmter Scharfsinn!“ Eulenstein lachte auf. „Da werden Sie hier nicht viel zu tun bekommen. Hier verläuft alles ganz harmonisch. Vielleicht sollten wir uns etwas ausdenken, um Sie ein wenig zu fordern ...“

„Wie es der Zufall will, hätte ich da ein Stück … ein Mörderspiel ...“, warf Saumweg ein. „Ich müsste es natürlich noch ein wenig umschreiben, denn es steht ja schon fest, wer der große Detektiv sein wird. Das konnte ich ursprünglich ja nicht wissen. Aber ich denke, ich bekomme das ohne weiteres hin, und es könnte Spaß machen.“

„Ein Mörderspiel?“, hakte Ilsebill interessiert nach. „Wie muss man sich das vorstellen?“

„Nun, jeder kriegt eine Rolle, und einer von uns wird ermordet … natürlich nicht wirklich. Außer mir und dem Opfer weiß aber keiner, wer das sein wird. Und dann ermittelt unser großer Detektiv hier, wer es gewesen sein könnte – das weiß außer mir auch nur derjenige, der es gewesen sein soll.“

„Das klingt spannend, das machen wir!“ Ilsebill klatschte in die Hände. „Das wird aufregend, und bestimmt wird es sehr interessant für Sie, Herr Bwaroo!“

Bwaroo neigte mit einem höflichen Lächeln das Haupt, seufzte aber innerlich. Solche Spiele waren selten spannend. Zumindest für ihn. Er fand es vielmehr anstrengend, nicht gleich mit dem Täter herauszuplatzen, sondern den anderen Teilnehmern zuliebe so zu tun, als hätte er keine Ahnung. Und was für abstruse Situationen sich da manche ausdachten in dem Glauben, das würde den Fall schwerer machen!

„Wunderbar!“, Ilsebill bemerkte sein Missfallen natürlich nicht. „Lasst uns das gleich nach dem Essen angehen!“

„Das wäre aber ungünstig, da du doch für den heutigen Abend bereits Musiker bestellt hast“, widersprach Helene jedoch.

„Habe ich?“

„Natürlich.“

„Außerdem muss ich noch einiges anpassen“, wehrte auch Saumweg ab. „Aber bis morgen Abend sollte das machbar sein. Ich werde morgen Vormittag jedem die Anweisungen für seine Rolle geben, und ihr könnt euch bis zum Abend darin vertiefen ...“

„Ach ja, das wird wunderbar!“ Auch die Baronin war begeistert.

„Wahrscheinlich wirst du selbst der Mörder sein“, warf Vanderlin ein und grinste Saumweg an.

„Natürlich nicht. Das wäre zu einfach“, winkte er aber ab. „Ich werde der stille Beobachter sein, das Mäuschen, die Fliege an der Wand, und nur einschreiten, wenn etwas aus dem Ruder läuft.“

„Na, dann ist das ja geklärt. Heute Abend werden wir tanzen und Dalehda wird für uns singen“, fasste Helene zusammen. „Du wirst uns doch die Freude machen, nicht wahr, meine Liebe? Und morgen Abend werden wir uns ganz dem Mord widmen.“

„Also, ich weiß nicht“, zierte sich die Sängerin. „Ich bräuchte Zeit, um mit den Musikern zu üben ...“

„Aber irgendein nettes Lied kannst du doch bestimmt singen“, bat Ilsebill. „Wie wäre es mit ‚Mein Liebster ist auf See‘? Das würde ich so gerne einmal wieder hören. Die Musiker sind aus der Gegend und kennen es bestimmt.“

„Ein sehr schlichtes Volkslied.“ Dalehda verzog abschätzig den Mund. „Aber na ja, wenn du es hören willst ...“

„Es erinnert mich an meine Hochzeit mit Sebastian ...“ Ilsebill stockte. Eulenstein warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, dem sie auswich.

„Ach ja, Erinnerungen!“ Helene lachte auf und tätschelte Ilsebill die behandschuhte Hand. „Von Zeit zu Zeit ist es ganz gut, sich an Vergangenes zu erinnern. Dann weiß man zu schätzen, was man jetzt hat. Du hast ganz recht, meine Liebe. Ah, da kommt der Fisch! Wie passend.“

Tatsächlich kam ein Lakai herein und ging von Gast zu Gast, um den Fisch zu servieren. Als Beilage gab es Kartoffeln und in Butter geschwenktes Gemüse.

Seezunge, stellte Bwaroo fest, und wirklich delikat zubereitet. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Ilsebill von ihrem Fisch probierte und das Gesicht verzog.

„Rosmarin“, hörte er sie murmeln. „Viel zu viel Rosmarin. Das kann ich nicht essen. Ich hasse es, wenn das Gewürz den Geschmack des Fischs erschlägt.“

Sie wollte ihren Teller von sich schieben, doch Helene hielt sie davon ab.

„Du erinnerst dich doch, was wir besprochen haben“, flüsterte sie. Bwaroo beglückwünschte sich zu seinem scharfen Gehör. „Alle müssen zu essen aufhören, wenn die Gastgeberin aufhört. Du musst etwas davon essen oder wenigstens so tun, als ob ...“

„Ja, natürlich“, stimmte Ilsebill kläglich zu und stocherte gehorsam auf ihrem Teller herum.

Als Helene ihr schließlich zunickte, schob sie den Teller endgültig von sich und holte erleichtert tief Luft, wobei sich sowohl das Korsett als auch die eng anliegende Perlenkette, die sie nun wieder trug, bedrohlich spannten. Ilsebill fasste sich an den Hals, ließ die Hand aber gleich wieder sinken, als Helene ihr einen warnenden Blick zuwarf.

Bedienstete von überall her

Während Bwaroo bei der ein wenig steifen Tischgesellschaft im Speisesaal weilte, ging es in der Küche im Keller des Schlosses wesentlich lustiger und zwangloser zu. Als Orges dort eintraf, um seinerseits sein Abendessen einzunehmen, sah er sich einer kunterbunten Schar gegenüber, die das Personal des Schlosses bildete.

Die Leitung fiel der Köchin, Frau Ebenholz, zu – einer stattlichen Frau mit eindrucksvollen Rundungen, einem strengen grauen Dutt und noch strengerem Gesicht. Orges trat zu ihr und versicherte, wie glücklich er sei, sie kennenzulernen, und mehr noch, wie sehr er sich auf ihr Essen freute. Prompt wich die Strenge einem verzückten Lächeln, Frau Ebenholz bat ihn freundlich, doch irgendwo Platz zu nehmen. Orges gab nicht zu erkennen, dass ihn die Aufforderung ein wenig irritierte. Er war es von anderen herrschaftlichen Häusern gewohnt, sich in eine strenge Hierarchie einzufügen, die sich auch und vor allem in der Sitzordnung bei Tisch zeigte. Hier gab es nichts dergleichen. Ein Zwerg in einem groben Overall, offenbar der Gärtner, unterhielt sich angeregt mit einer Elfe, die der Uniform nach zu urteilen, eine Zofe war und damit eigentlich im Rang über ihm stand. Und gleich neben einem älteren Mann, wahrscheinlich der Butler, lümmelte ein Mann, von dem überhaupt nicht klar war, welche Stellung er bekleidete. Orges ordnete ihn aufgrund der kleinen Hörner, den Bocksbeinen und dem Ziegenbart als einen Faun ein. An der unteren Ecke des Tisches saß ein menschliches Pärchen. Orges ertappte sich dabei, dass er die junge Frau länger betrachtete als schicklich. Sie war aber auch eine außergewöhnliche Schönheit mit dunklem Haar, ebenmäßigen Zügen und großen braunen Augen. Zum Glück fiel es nicht auf, dass Orges sie anstaunte, denn der junge Mann redete heftig gestikulierend auf sie ein. Sie schien darüber nicht erfreut, denn sie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte. Schließlich sprang der junge Mann sichtlich verärgert auf und stürmte aus dem Raum.

„Was war das denn?“, fragte Frau Ebenholz das Mädchen, das verlegen zu Boden schaute.

„Ich habe Robert nur erzählt, dass ich im Zimmer von Herrn Vanderlin war, um mir das Bild anzuschauen, das er von Frau Beetow malt“, sagte es leise.

„Das ist ein schönes Bild, oder?“, schaltete sich die junge Frau ein, die Orges bereits als Silvia kannte.

„Wie bist du denn in das Zimmer geraten?“, forschte Frau Ebenholz weiter.

„Herr Vanderlin hat mich eingeladen.“

„Aber Magda, du kannst doch nicht mit einem Gast in sein Zimmer gehen“, tadelte da ein grauhaariger Mann in der gestreiften Weste eines Butlers. „So etwas gehört sich nicht!“

„Ich hab mir nichts dabei gedacht …“

„Ist doch auch nichts dabei“, maulte Silvia. „Aber das seinem Verlobten zu erzählen, also, ich weiß nicht ...“

„Der beruhigt sich schon wieder“, beendete Frau Ebenholz energisch das Thema. „Setzen Sie sich doch endlich, Herr Orges. Am besten machen Sie sich ganz einfach selbst miteinander bekannt. Es würde zu lange dauern, alle der Reihe nach vorzustellen.“

„Mit Vergnügen.“ Orges setzte sich also zwischen Silvia und den älteren Mann.

„Sie sind der Diener von dem neuen Gast hier, nicht wahr?“, erkundigte sich letzterer. „Mein Name ist Johann. Ich bin der Butler hier.“ Er verzog den Mund. „Nicht, dass das hier sonderlich viel heißen will. Wie Sie sehen, geht es hier ziemlich ungezwungen zu. Ich habe versucht, etwas mehr Ordnung zu schaffen, so wie ich es von anderen Häusern kenne, aber es ist zwecklos. Die meisten hier haben keine Ahnung von Rang, Regeln und Richtigkeit.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752120295
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Wohlfühlkrimi Detektivgeschichten Krimi Humor Cosy Crime Whodunnit Fantasy Ermittler

Autoren

  • Ruth M. Fuchs (Autor:in)

  • Chris Schlicht (Illustrationen)

Ruth M. Fuchs kam nach München, um Verwaltungswissenschaften zu studieren, und ist nach dem Diplom geblieben. In der Reihe Erkül Bwaroo ermittelt verbindet sie ihre beiden großen Lieben, Märchen und englische Krimis. Inzwischen schreibt sie auch mal Krimis, die im Hier und Jetzt spielen. Aber egal, ob in der Welt Bwaroos oder der unseren - der Humor darf nie zu kurz kommen.
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Titel: Erkül Bwaroo fischt im Trüben