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Die Dirigentin Teil I

von Martin Amadeus Weber (Autor:in)
300 Seiten
Reihe: Dirigentin, Band 1

Zusammenfassung

Die Dirigentin Alexandra und Claudia, zwei Absolventinnen der bayrischen Musikakademie München haben als Abschluss ihres Studiums ihr erstes Konzert. Claudia an der Position der Konzertmeisterin, sie ist eine begnadete Geigerin und Alexandra als einzigartige Dirigentin. Das Konzert wird zu einem triumphalen Erfolg, die Welt der Musik steht den beiden ab jetzt offen. Rainer, der Freund von Alexandra ist krankhaft neidisch und als Alexandra ihn nicht in ihr Orchester holt, beginnt er sie und ihre Freundin aufs tiefste zu hassen. Alexandra muss ihre tolle Karriere abbrechen, da ihre Eltern erkrankt sind und sie den elterlichen Hof übernehmen soll. Jahre vergehen, sie hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Rainer verfolgt die Frauen noch immer und wird zunehmend brutaler. Dann soll Alexandra, auf Bitten Claudias, als Dirigentin für ihren schwer erkrankten Maestro einspringen, was sie nach langem Zögern macht. Es wird ein Riesenerfolg und die Musikwelt liegt ihr wieder zu Füßen. Ihre zweite Karriere beginnt, in kurzer Zeit ist sie ein Weltstar. Rainer verfolgt und bedroht die beiden Freundinnen weiter. Jedes Familienmitglied, dass er erwischt, ist ihm willkommen, um Alexandra leiden zu lassen. Je größer die Erfolge werden, umso brutaler werden die Überfälle von Rainer. Mörder und Dirigentin scheinen durch ein unseliges Band miteinander verwoben. Eine Wechselwirkung aus Hoch und Tief, Gut und Böse setzt ein und schaukelt sich immer weiter auf.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das erste Konzert

Nach vorne gebeugt stand Alex reglos und starr da. Mit verschwommenen Augen sah sie in die Gesichter ihrer Orchestermitglieder, die sie fassungslos ansahen. Wie gelähmt hörte sie die letzten Klänge des Finales von Beethovens 3. Sinfonie im Raum verhallen, dann war es totenstill, man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. War das wirklich? Träumte sie? Sie schloss ihre Augen und schüttelte zweifelnd innerlich den Kopf. Jetzt wache ich gleich auf und alles ist weg, dachte sie und öffnete die Augen, aber das Orchester war immer noch da und die Musiker hatten sich inzwischen erhoben. Dann brach laut der Applaus los, das Konzerthaus erbebte unter dem begeisterten Toben der Zuhörer, die wie die Musiker, aufgestanden waren. In ihrem Kopf dröhnte es und sie riss ungläubig die Augen auf. Es stimmte, sie stand tatsächlich hier vor allen Leuten auf dem Dirigentenpodest und die Musiker verbeugen sich vor ihr. Diese alten erfahrenen Symphoniker applaudierten ihr und hatten Tränen in den Augen. Ergriffen drehte sie sich um und sah die begeistert klatschenden Menschen an. Nach einer Weile, sie hatte inzwischen begriffen, dass etwas ungeheuerliches geschehen war, winkte sie Claudia, die stellvertretende Konzertmeisterin zu sich, reichte ihr tränenverhangen die Hand, umarmte sie und sie verbeugten sich gemeinsam in dem weiter anschwellenden Applaus.
Nachdem sie sich mit allen Stimmführern, die sie zu sich geholt hatte, verbeugt hatte, ging sie erleichtert und müde hinaus. Der nicht abnehmende Applaus zwang sie aber noch einige Male auf die Bühne zurück. Nach der dritten Zugabe und ihrem letzten Zurückkommen, ergriff sie das Mikrofon, welches von einer vorherigen Vorstellung noch auf der Seite stand. Der findige Tontechniker in der Regie schaltete es geistesgegenwärtig ein und ihre klare, schöne Stimme war laut und deutlich zu vernehmen.
„Meine Damen und Herren, Vielen Dank für ihren Applaus. Das Orchester und auch ich sind vollkommen erschöpft und müde. Ich bitte sie, entlassen sie uns jetzt. Wir werden sicherlich bald das nächste Konzert haben, auf dem wir uns wiedersehen werden. Ich wünsche Ihnen im Namen des Orchesters und natürlich auch in meinem Namen eine gute Nacht und ein glückliches Heimkommen. Nochmals vielen Dank, dass sie uns zugehört haben.“
Sie verneigte sich abermals und stand dann reglos da. Eine wunderschöne, große, schlanke Frau in einem langen schwarzen, schlichten Kleid, ohne jeden Schmuck, aber den brauchte sie auch nicht. Dann drehte sie sich um und verließ den Saal. Den Zuhörern war klar, dass sie nicht nochmal kommen würde und der Applaus verebbte langsam, der Saal begann sich zu leeren.
Wie in Trance ging sie durch den verwinkelten Gang zu der Dirigentengarderobe. Wie oft war sie hier gestanden und hatte geträumt, einmal in diesen Raum zu dürfen. Jetzt öffnete sie zitternd die Türe und trat in ihr Traumreich ein. Überwältigt sah sie sich um. Hässliche graue Wände, eine Couch mit Tischen, ein Sessel, auf dem Boden ein schmuckloser Teppich. Den Hauptbereich nahm gegenüber dem Eingang der große Schminkspiegel mit Schminktisch ein, auf dem unzählige Flaschen, Tiegel Töpfchen und Cremedosen, sowie ein Behälter für Gesichtspuder standen. Stolpernd wankte sie ins Zimmer und schloss die Türe hinter sich. Atemlos blieb sie still stehen, holte mehrmals tief Luft und versuchte sich zu sammeln. Was war eigentlich passiert? Immer noch drehte sich der Raum um sie. Sie schlich zu dem großen Stuhl vor dem Tisch und ließ sich aufatmend hineinfallen. Die hellen Lampen rings um den Spiegel beleuchteten gnadenlos ihr bleiches Gesicht. Ermattet schloss sie ihre wunderschönen dunkelblauen großen Augen und lehnte sich zurück.
Nach einer Weile öffnete sie ihre Augen und sah sich im Spiegel kritisch an. Eine hohe, glatten Stirn, leicht bogenförmig geschwungenen, dunkle Augenbrauen und tiefblaue Augen, beherrschten zusammen mit den sanft geschwungenen Lippen ihr schmales Gesicht. Regelmäßige, schneeweiße Zähne und kleine, schön geschwungene Ohren, mit deutlich ausgebildeten Ohrläppchen, rundeten den Eindruck ab. Sie löste den streng geflochtenen Zopf ihrer langen dunkelbraunen Haare auf und ihr volles Haar floss über ihre Schultern bis weit über die Mitte ihres Rückens in weichen Wellen herab. Sie hatte helle, fast blonde Strähnen im Haar, die natürlichen Ursprungs waren, also nicht von einem Friseur gestylt. Ihre Haare waren das schönste an ihr, fand sie, wogegen jeder, der sie sah heftig widersprochen hätte. Sie war von ihrer ganzen Erscheinung her eine ausgesprochen schöne Frau.
Als kleines Mädchen war sie hellblond gewesen, ein richtiger Engel, alle hatten sie bewundert. Papa war ihr regelrecht verfallen gewesen, sehr zum Missfallen ihrer Geschwister. Auch ihr vier Jahre älterer Bruder Maximilian hatte sie vergöttert und immer beschützt. Max bewirtschaftete jetzt zusammen mit dem Vater den Hof, auf dem sie groß geworden war.
Schlagartig wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Was war mit ihr los? Warum verfiel sie in Kindheitserinnerungen? Sollte sie sich jetzt nicht über ihren fantastischen Erfolg freuen? Kritisch schaute sie wieder in den Spiegel. Ich bin wirklich hier in diesem Raum. Ich habe das Orchester dirigiert und zwar nicht schlecht, denke ich. Na du Wesen, ich gebe jetzt zu, dass ich doch schön bin und gute Arbeit geleistet habe. Zum ersten Mal konnte sie der Frau im Spiegel zulächeln und die lächelte zurück. Lange war sie in ihre Betrachtung versunken, als es laut an die Türe klopfte. Mit Schwung kam Claudia, ihre beste Freundin und Mitbewohnerin herein, riss sie hoch und umarmte sie stürmisch.
Dann tanzte sie mit der vollkommen Überraschten wie wild im Zimmer umher und küsste sie mehrmals. „Du warst super, himmlisch, großartig, einfach fantastisch. So wurde die Dritte noch nie gespielt, ich bin immer noch total weg. Und ich als Konzertmeisterin verdanke dir meinen Durchbruch. Der oberste Manager der Orchesterleitung war gerade da und hat mir die Stelle angeboten. Hans, der alte Konzertmeister hat die Gicht und kann nicht mehr spielen. Mensch freu dich doch endlich. Auch dir wollen sie eine Stelle anbieten. Du hast heute dirigiert, wie von einem anderen Stern. Sie haben das Konzert aufgezeichnet, du wirst weltberühmt.“
Claudia drückte sie weg und sah sie an. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Hast du verstanden was ich gesagt habe?“
Alex nickte und sah sie verständnislos an. „Findest du mich eigentlich schön?“ wollte sie wissen. Claudia, die Schönheit mit den langen gewellten blonden Haaren, die wie flüssiges Gold an ihr herunterwallten, sah sie mit ihren hellblau leuchtenden Augen, verständnislos an. „Wie bitte? Wie kommst du den darauf? Fehlt dir was? Da feiert diese absolut schöne Frau den größten Triumph in der Musikgeschichte und will wissen ob sie gut aussieht? Hast du sie noch alle?
Komm setz dich hin. Ich richte dich ein bisschen her, am besten duscht du schnell, dann gehen wir hinunter ins Restaurant, deine Musiker warten auf dich. Marsch, zieh dich aus und ab unter die Dusche, ich richte dir frische Sachen.“
Während Alex die warme, entspannende Dusche genoss, hörte sie ihre Freundin fröhlich singen und trällern, während sie frische Wäsche aus ihrer Tasche nahm, die sie zum Glück, wie bei jeder Veranstaltung mitzunehmen pflegte, selbst ein Duschtuch war vorhanden. Kurze Zeit später war sie wieder angezogen und fühlte sich in frischer Wäsche wieder richtig wohl. Als sie vor dem mannshohen Spiegel stand, fand sie ihre schlanke und doch wohlgerundete Figur eigentlich sehr schön und war zufrieden. Zum Glück hatte sie auch schicke High Heels eingepackt. Zum Dirigieren brauchte sie flache feste Schuhe, um besseren Halt zu haben. Dann stand sie vor ihrer Freundin, jetzt dank der Schuhe etwa gleich groß.
Claudia musterte sie anerkennend und reckte den Daumen nach oben. „Du siehst umwerfend aus, du blöde Kuh.“ Alex trat auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Bitte Claudia, verstehe mich jetzt nicht falsch, ich bin nicht lesbisch und möchte dir keinen Antrag machen, aber ich liebe dich als Freundin. Ich bin so froh, dass ich dich habe. Ich brauche dich einfach. Du bedeutest mir mehr als meine Schwestern, die mich beide nicht verstehen.“ In enger Umarmung standen sie da und beide hatten feuchte Augen. „Oh, Alex, mir geht es genauso und ich bin so froh, dass du es gesagt hast. Wir beide halten zusammen, egal was passiert und jede von uns nimmt die Hilfe der anderen an, ohne zu murren.“ Claudia versuchte Alexandra auf die Wange zu küssen, da die aber das gleiche plante, trafen sich ihre Lippen zu einem zarten Kuss. Beide zuckten zurück und begannen dann heftig zu kichern.
„Gut, lass uns zu den anderen gehen, ich hoffe, sie haben auf uns gewartet.“ Kurze Zeit später betraten sie das Nebenzimmer des Lokals und wurden mit lautem Applaus begrüßt. Bewundernde Blicke trafen die beiden schönen Frauen, beide auf ihre Art perfekt. Alex wurde von allen begrüßt und beglückwünscht. Der Sprecher des Ensembles brachte es auf den Punkt, „Frau Wagner, das heutige Konzert war eine Jahrhundertkonzert, so etwas habe ich in meiner langen Orchesterlaufbahn noch nicht erlebt. Sie waren einfach göttlich und wir durften Ihnen folgen. Wir alle fühlen uns geehrt, dass wir dabei sein durften und hoffen alle, dass es noch viele Konzerte mit Ihnen und uns geben wird.“ Alex umarmte ihn gerührt und sah dann in die Runde. „Mir fehlen einfach die Worte“, schluckte sie. „Ich sage einfach Danke, vielen Dank, dass ich mit Ihnen musizieren durfte.“ Ihre Stimme brach und sie stürzte sich in Claudias Arme. Die schob sie mit den Worten: „Der kann dich besser trösten“, Rainer in die Arme. Rainer Goll, der Freund von Alex, der im Hintergrund gewartet hatte und sie jetzt umarmte. „Du warst gut,“ flüsterte er ihr ins Ohr und küsste sie dann flüchtig auf die Stirn, weiter sagte er nichts. Er wirkte wortkarg und mürrisch.
Erst morgens gegen drei Uhr stolperten sie kichernd die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Claudia bekam erst nach mehreren Versuchen den Schlüssel ins Schloss. Rainer bewahrte derweil Alex vor dem Hinunterfallen und bugsierte sie sofort ins Bett. Sie schlief schon bevor sie richtig lag.
Gegen neun Uhr wachte sie auf und stürzte ins Bad. Sie saß auf dem WC und ließ den gestrigen Abend nochmal Revue passieren. Viel getrunken hatte sie nicht, sie war nur entsetzlich müde gewesen. Jetzt war sie wieder halbwegs fit und gedachte, sich nach einer Dusche wieder zu Rainer ins Bett zu kuscheln. „Mal sehen ob was läuft“, grinste sie unter der Dusche. Rainer war kein Sexy Boy, eher zurückhaltend und keusch. Als sie zu ihm kuschelte, sie hatte nur ein winziges Höschen an, brummte er nur unwillig und drehte sich herum. Frustriert stand sie nach einer Weile auf und ging Frühstück machen. Zuerst aber machte sie Kaffee, der sogar Claudia aus dem Bett lockte. „Heute ist Samstag, lass uns mal wieder shoppen gehen, ich hätte richtig Lust“, schlug Claudia vor und Alex war Feuer und Flamme. Rainer, der bald darauf erschien, verzog gequält sein Gesicht. „Geht ihr ruhig, ich habe heute Abend Konzert und muss noch üben.“ Damit nahm er seine Jacke vom Haken und verschwand ohne Gruß oder Kuss.
Alex und Claudia sahen sich verblüfft an. „Was war denn das?“ fragte Claudia kopfschüttelnd. „Was ist denn mit dem los?“ Alexandra senkte betrübt den Kopf. „Ich glaube, er ist auf mich eifersüchtig und neidisch, mein Erfolg wurmt ihn. Er will mit mir, mit uns, im gleichen Orchester spielen, aber dafür reicht es bei ihm einfach nicht und das will er nicht wahrhaben. Wir haben schon öfters deswegen Streit gehabt und er wird immer unausstehlicher und manchmal richtig gemein. Dass wir jetzt shoppen gehen wollen, sieht er als persönliche Zurücksetzung und ist wütend.“
„Der spinnt doch total“, steigerte sich Claudia und strich sich ihr blondes Haar zurück. „Wenn ich ehrlich sein soll, dann habe ich ihn noch nie so recht gemocht und ihn eigentlich nur wegen dir ertragen. Das Verhalten aber geht ja gar nicht, da musst du dir überlegen, ob du das weiter aushalten willst. Liebst du ihn denn noch?“ Alexandra hatte den Kopf gesenkt und mied Claudias Blick. Dann schüttelte sie zaghaft ihren Kopf. „Langsam bin ich froh, wenn er nicht da ist, er verbreitet so eine miese Stimmung. Nein, ich glaube, ich liebe ihn nicht mehr.“
„OK, dann trenn dich schnell von ihm, bevor es noch schlimmer wird. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile und merke, wie es dir emotional immer schlechter geht. Komm zu mir, ich bin immer für dich da und helfe dir. Du bist so eine schöne Frau, deinen Seelenmann wirst du sicher noch finden. Ich habe meinen mit meinem Hartmut ja auch gefunden. Hardy müsste übrigens gleich kommen und frische Semmeln mitbringen.“ Sie hatte Alex fest in die Arme genommen und drückte sie zärtlich. Hardy, der fast geräuschlos eingetreten war, beobachtete die Szene erstaunt. „Denk nichts falsches“, lächelte Claudia, zog ihn zu sich und küsste ihn leidenschaftlich, ließ aber Alex nicht los. Er grinste und fragte: „Bist du jetzt Bi?“ Claudia lachte schallend, während sich Alex endlich freizappeln konnte und mit rotem Kopf dastand. Claudia schmiegte sich an ihn und erzählte ihm, was alles passiert war. „So ein Depp, wie kann man eine Frau wie dich so behandeln?“ sagte er zu Alex, die er ebenfalls sehr mochte. „Aber herzlichen Glückwunsch ihr beiden, ihr seid das Stadtgespräch in Musikkreisen. Alle sind des Lobes voll, ihr seid die absoluten Stars momentan.“ Er nahm sie beide in seine Arme, knuddelte sie und küsste sie beide auf die Wange. Mit seinen fast zwei Metern und einem durchtrainierten Körper hob er beide mit Leichtigkeit hoch bis sie kreischten und er zufrieden grinste. Hartmut König war ein hervorragender Bassist und spielte ebenfalls in einem der ersten Orchester, daher wusste er genau, wovon er sprach. „Leider weiß ich auch den Grund, warum Rainer sich so verändert hat. Ich spiele ab Dezember, also ab nächsten Monat bei meiner Maus im gleichen Orchester und zwar als Stimmführer. Er ist nun der irrigen Meinung, dass er jetzt ebenfalls bei uns spielen kann, aber das bayrische Rundfunksymphonieorchester ist ein paar Nummern zu groß für ihn und dass wurde ihm neulich deutlich gesagt. Er hat sich auch auf euch berufen, vor allem auf dich Alex, aber sie haben ihn rausgeschmissen. Jetzt meint er, Claudia hätte mich ins Orchester geholt, was natürlich nicht stimmt und du würdest nichts für ihn tun.“ Er sah Alex an. Die nickte verstehend. „Was soll ich denn jetzt machen? Eigentlich habe ich genug von ihm, er wird immer widerlicher und gemeiner, er hat mich sogar schon geschlagen.“
Als Claudia das hörte, rastete sie endgültig aus. „Was?“ schrie sie „Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte ihm eine verplättet und ihn rausgeschmissen. Mein armer Schatz“, impulsiv nahm sie die Unglückliche in ihre Arme. Hartmut stand grimmig daneben und meinte. „Wenn du Hilfe brauchst, dann sag es, ich schmeiß ihn hochkant raus. So ein Arschloch, aber ich habe mir sowas schon fast gedacht, so wie der über dich herzieht.“ Alex wischte sich die Tränen weg. „Ich will ihn nicht mehr sehen, bitte sag ihm das. Ich traue mich nicht, ich habe Angst vor ihm. Zum Glück hat er hier keine Sachen, also braucht er auch nicht mehr herkommen.“ Harry schüttelte den Kopf. „Mit ihm Schluss machen musst du schon selber, aber ich begleite dich, falls er ausrastet, ist das ein Angebot?“ Dankbar nickte sie. „Aber nicht jetzt. Jetzt frühstücken wir erst mal und dann gehen wir shoppen und zwar nur wir Mädels. Ich hoffe, du bist darüber nicht böse.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf und knuddelte seine Claudia, die sich verliebt an ihn schmiegte.

Vier Monate später

Alex war auf dem Weg nach Hause in die bayrischen Berge zu ihren Eltern auf den Wagnerhof in Hinterbach, einem kleinen Dorf bei Mittenwald, nicht weit von der österreichisch-tschechischen Grenze entfernt.
Während die Landschaft am Fenster vorbeizog wanderten ihre Gedanken zurück.
Mit Rainer hatte es eine hässliche Szene gegeben. Er war völlig ausgerastet und nur Hardy, der dabeistand, verhinderte Schlimmeres. Dann hatte er sie übel beschimpft und war hinausgestürmt. „Das wirst du noch bereuen“, hatte er geschrien und war verschwunden. Hardy hatte ihm zuvor die Wohnungsschlüssel abgenommen und so konnten sich die beiden Mädchen vor Besuchen sicher fühlen. Das Management des Orchesters hatte ihr tatsächlich die Dirigentenstelle angeboten. Der etatmäßige Dirigent war schwer erkrankt und fiel für lange Zeit aus. Hardy, der sie auch hier begleitet hatte, bewahrte sie davor, den Vertrag leichtsinnig zu unterschreiben, vorher strich er im Kleingedruckten einige Stellen. Vom Konzert war eine CD gepresst worden, die in den nächsten Tagen in den Handel kommen sollte und man bot ihr 10% an. Hardy hatte schallend gelacht und hatte 50% gefordert. Auf das empörte Verneinen hin hatte er sie hochgezogen. „Komm wir gehen, hier wirst du nur übers Ohr gehauen.“ Wie in Trance war sie ihm gefolgt, aber als sie schon fast draußen waren, hatte die Vorsitzende des Gremiums sie zurückgerufen und sie hatten sich auf 35% geeinigt. „Jetzt kannst du unterschreiben“, hatte er zufrieden gemeint. Hardy war ein toller Typ, sie beneidet Claudia um ihn.
Rainer hatte versucht, gegen sie bei gemeinsamen Bekannten Stimmung zu machen, war aber abgeblitzt und sie mieden ihn jetzt. Er hatte München wutentbrannt, auf Rache schwörend, verlassen und war nach Norddeutschland in seine Heimat Hamburg zurückgekehrt.
Gott sei Dank habe ich das überstanden. So schnell will ich keinen Mann mehr, es sei denn, er wäre wie Hardy, den würde ich schon nehmen. Der aber liebt seine Claudia abgöttisch und ist gegen jede Versuchung immun, was man bei einer solchen Schönheit, die auch noch lieb und normal ist, gut verstehen kann.
Wieder versank sie in Erinnerungen. Claudia war jetzt Konzertmeisterin und begann ihre internationale Karriere. Sie war eine fantastische Geigerin und sah auch noch umwerfend aus. Die Musikagenten und Medienfirmen stürzten sich förmlich auf sie, prallten dann aber, von dem schützend vor ihr stehenden Hardy, förmlich ab, der sie managte und ein knallharter Verhandler war. So wie er sie vertreten hatte, sorgte er nun dafür, dass auch seine Claudia super Verträge bekam. Die Medienvertreter, die Claudia wollten, knirschten mit den Zähnen, mussten aber nachgeben, da Hartmut König vor niemanden Angst hatte.
Die beiden hatten sie zum Bahnhof gebracht und sie hatten sich lange umarmt.

Frühjahr 2013 München

Das letzte halbe Jahr hatte auch Alex den Durchbruch gebracht. Sie war inzwischen eine gefeierte, gefragte Dirigentin und galt international als Beethoven Spezialistin. Niemand sonst konnte eine der neun Sinfonien so interpretieren und dirigieren wie sie.
Sie wohnte immer noch mit Claudia zusammen, allerdings inzwischen in einer schönen Villa, die sich Claudia und Hartmut gekauft hatten. Alex war auf Drängen der beiden in die Einliegerwohnung mit eingezogen und war dort sehr glücklich.
Dienstagmorgen saß Alex in der großen Küche, sie pflegten gemeinsam zu frühstücken und sah ihre Post durch. Ein Brief der Mutter war dabei und als sie in las, brach ihre Welt zusammen. Claudia, die gerade hereinkam, sah entsetzt die tränenüberströmt zitternde Alex an. Mit großen Schritten kam sie heran. „Was ist los?“ Wortlos reichte ihr Alex den Brief. Sie las und wurde blass. „Scheiße, was machst du jetzt?“ Max, Alex‘s Bruder war mit dem neuen Traktor verunglückt und lag in der Intensivstation der Klinik. Die Mutter hatte Rheuma und konnte sich kaum noch bewegen, der Vater hatte schwere Gicht und war an manchen Tagen ans Bett gefesselt und die Oma war inzwischen zum Pflegefall geworden.
Die Mutter bat Alexandra inständig: „Komm heim, deine Familie braucht dich jetzt dringend, der Hof ist sonst verloren und das würde deinen Vater umbringen.“
„Was soll ich schon machen? Ich muss heim, meine Familie braucht mich.“ „Und deine Karriere? dein Leben hier? Deine Freunde?“ Alex sagte traurig. „Ich weiß, aber meine Familie geht vor, ich kann sie nicht im Stich lassen. Ich werde meine Verträge kündigen und heimkehren, dass bin ich Ihnen schuldig, sie haben sich schließlich auch um mich gekümmert.“
Tieftraurig saß sie mit gesenktem Kopf da, ihre ganze glückliche Welt war in Trümmern.
Claudia, das Orchester und viele ihrer Freunde versuchten sie zum Bleiben zu überreden, aber Alex stand loyal zu ihrer Familie und kündigte alle ihre Verpflichtungen. Ihre musikalische Karriere war beendet.

Sommer 2014

Der Hof war wieder halbwegs in Schuss. Alex hatte von ihrem verdienten Geld einen neuen Traktor gekauft und einen Teil der Schulden bezahlt, die auf dem Hof lasteten. Nach der anstrengenden Stallarbeit saß sie müde vor dem Haus in der Sonne. Dem Vater ging es wieder schlecht und Mutter versuchte zwar zu helfen, stand aber mehr im Weg. Sonja, die jüngere Schwester machte gerade Abitur und war auch keine Hilfe. Sie rührte im Hof keinen Finger und hatte schon verkündet, dass sie im Herbst in München studieren wollte und dann Geld brauchte.
Als sie mal wieder mit ihrem Schicksal haderte, kam Franz vorbei, der Nachbar und setzte sich zu ihr.
„Alex, du solltest die Kühe verkaufen solange du noch was für sie bekommst. Nochmal einen Winter ohne eigenes Futter überstehst du nicht. Überlege es dir, ich würde dir einen guten Preis machen und ich hätte da vielleicht auch noch eine bessere Idee. Denk mal darüber nach, allein schaffst du es nicht und ich befürchte, mit dem Max wird es auch nichts mehr werden.“ Er sah sie lange an. Sie dachte erstaunt bei sich. He, wo habe ich meine Augen gehabt, der Franz ist ja inzwischen ein richtiges Zuckerstückchen geworden und er ist eigentlich immer da, wenn ich jemand brauche.
Sie bemerkte mit neuen Augen, dass er einen hochgewachsenen, von der Landarbeit durchtrainierten Körper hatte. Fast wie Hardy, dachte sie und auch so nett und ehrlich. Lange sah sie ihm nach, als er ging und ihr wurde eigenartig warm. Reiß dich zusammen, wies sie sich zurecht. Komm nicht auf falsche Gedanken. Aber wieso eigentlich falsch? Franz ist ein lieber Kerl, ich mag ihn sehr und ich glaube, er ist schon seit Ewigkeiten verliebt in mich. Still lächelte sie vor sich hin.
Zwei Tage später war sie in Mittenwald und erfuhr auf der Bank, dass eine Immobilienfirma hier in der Gegend Land kaufte und auch einige der guten unteren Wiesen des Wagnerhofes kaufen wollte. Die Bank war darüber sehr erfreut, kam doch endlich wieder Geld in die Region. „Vor allem ihre drei unteren Wiesen wollen sie haben, die entlang des Baches. Sie machen ein ordentliches Angebot, Sie sollten es annehmen.“ „Erstens habe ich kein Angebot bekommen und zweitens, wovon soll der Hof dann noch leben, wenn die besten Wiesen weg sind?“ „Es tut mir leid, aber unsere Zentrale in München ist dabei, Schuldverschreibungen zu verkaufen und ihre Schulden sind leider auch dabei. Wenn diese Immobilienfirma ihre Schulden kauft, wird sie sie sofort von Ihnen fordern und wenn Sie nicht zahlen können, die Sicherheiten einfordern, dann sind Sie die Wiesen zu noch schlechteren Konditionen los. Ich weiß, das sind schlechte Nachrichten für Sie, aber ich kann nichts dafür und kann es auch nicht ändern.“ Wie vor den Kopf geschlagen, drehte sie sich wortlos um und ging hinaus, während Tränen ihre Wangen herunterrollten. Betreten sah der Filialleiter ihr nach, dass hatte er nicht gewollt, aber die Anweisung aus München war eindeutig, er musste auch diese Schuldverschreibung weiterreichen. Eben wollte er es tun, da kam eine Anfrage einer Münchner Privatbank nach genau dieser Verschuldung. Er las den Auftraggeber der Bank und stellte fest, dass es Claudia Hammer war, die Freundin der Wagnerin, wie er wusste. Schnell verkaufte er die Verschuldung an diese Bank und gratulierte sich insgeheim. Als er das Münchner Paket packte, war diese Schuldverschreibung nicht mehr dabei. Am liebsten wäre er Alex hinterhergelaufen, aber eine neue Kundin wartete auf ihn.
Wie in Trance ging Alex in Richtung des Cafés, dass sie vorher gesehen hatte. Erst das laute Quietschen und Hupen riss sie aus ihrer Lethargie und sie sah verständnislos das Auto an, von dem sie fast überfahren worden war. Entschuldigend lächelte sie den schimpfenden Fahrer an, der nach einem Blick auf ihr verweintes Gesicht verstummte und zurück lächelte. Schnell ging sie weiter, betrat das Café und fand in der Ecke noch einen freien Tisch. Geistesabwesend bestellte sie eine Tasse Kaffee und grübelte weiter. Mensch, was mach ich bloß, ich kann die Wiesen doch nicht verkaufen, Vater trifft der Schlag. Aber wenn ich es nicht tue, dann kassiert eine Bank die Wiesen und wir sind noch schlechter dran.

Hamburg Immobilienbüro am Wansbeker Markt.

Rainer saß mit seinem Vater, Ronald Goll, in dessen Büro und plante die weiteren Aktionen. Nervös kippelte er mit seinem Stuhl, während sein Vater mit einem Kollegen telefonierte. Die Wut fraß ihn innerlich auf. Er wollte das Miststück endlich am Boden sehen. Sie hatte ihn verschmäht und nicht akzeptiert, dass er besser als sie war. Dieser ganze beschissene münchner Klüngel hielt zu ihr und das andere Miststück hatte auch noch riesigen Erfolg. Aber der würde er es noch zeigen, ihren Lover hatte er bald am Haken. Mit innerer Genugtuung dachte er an die beiden Schläger, die er auf ihn angesetzt hatte. Wenn sie mit ihm fertig waren, war es aus mit dem Musizieren. Wenn einem ein paar Finger fehlten, dann war es schwierig ein Instrument zu spielen, vor allem ein Saiteninstrument. Sie sollten ihn in die Berge locken und dort fertig machen.
Die andere Schlampe hatte er auch bald am Haken. Mit den Verbindungen seines Vaters war es leicht gewesen, die Verschuldung ihres elterlichen Hofes raus zu kriegen. Er wollte sie am Boden sehen und den Hof ruinieren oder aber besser kaufen und die ganze Sippe rausschmeißen. Wieder blätterte er die verschiedenen Schuldverschreibungen der Bayrischen Bank durch, konnte aber keine vom Wagnerhof finden. Von dem Typen in der Bank wusste er aber, dass der Hof verschuldet war, wo also waren die verdammten Dokumente. Seine Wut stieg immer mehr, aber er war momentan hilflos.

New York Holiday Inn

Zum wiederholten Mal versuchte Claudia ihren Hartmut zu erreichen, bekam aber immer nur die Mailbox. „Verdammt, wo ist er denn? Er müsste doch schon längst in Innsbruck sein, es wird doch nichts passiert sein?“ Unruhig rannte sie im Zimmer umher. Dann wählte sie Marias Nummer. Maria war die Nachbarin, die auf ihr Haus aufpasste und den Briefkasten leerte. Nach dem fünften Läuten ging sie ran. „Hallo Maria, hier Claudia, gibt es was Neues, hast du etwas von Hardy gehört?“ „Nein, er ist doch schon gestern gefahren, er müsste doch schon längst da sein, aber bis jetzt habe ich noch nichts von ihm gehört. Na ja, Männer, er wird sich schon melden. Aber gut, dass du anrufst, da ist ein Brief von deiner Bank, der sieht wichtig aus.“ „Mach ihn auf und schau, ob es was Wichtiges ist.“ Sie hörte das Rascheln von Papier, dann meldet Maria sich wieder. „Die Bank meldet nur, dass die gewünschten Schuldverschreibungen erworben und in deinem persönlichen Schließfach deponiert wurden. Sagt dir das etwas?“ „Ja, das ist gut, dass es geklappt hat, aber eine Nachricht von Hardy wäre mir viel lieber gewesen.“ „Sobald ich was höre, melde ich mich sofort, jetzt mach dir keinen Kopf, der taucht schon wieder auf. Mein Holger hat es mal geschafft, vier Tage zu verschwinden und hat hinterher behauptet, er hätte wohl kein Netz gehabt, dabei hat er es einfach vergessen, denn Fremdgehen tut er nicht, das würde ich sofort merken, er kann mich einfach nicht anlügen. Hast du heute Abend wieder Konzert? Bei dir ist es ja erst Nachmittag.“ „Ja, heute Abend ist das letzte Konzert, morgen fliegen wir wieder heim, Gott sei Dank. Also bis morgen oder übermorgen, aber wenn du was hörst, schreib mir eine SMS oder WhatsApp, hast du gehört.“ „Mach ich, mach dir keine Sorgen, Tschüss.“ Sie begann sie sich für den Abend her zu richten.

Mittenwald Café

„Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?“ Alex zuckte erschrocken hoch. Vor ihr am Tisch stand eine hübsche junge Frau. Sie sprach etwas holprig mit fremdem Akzent aber gut verständlich. „Natürlich. Bitte entschuldigen Sie, aber ich war gerade in Gedanken“, sie lächelte die Fremde an. „Das habe ich gemerkt“, lachte diese. „Ich habe Sie bereits dreimal gefragt, bevor sie reagiert haben.“ Beide lachten und die junge Dame sagte, „Ich heiße Serina und komme aus Neu Seeland.“ Alex sah sie forschend an. „Da sind Sie aber weit von Zuhause weg.“ „Ja“, lachte Serina, „Ich glaube weiter geht gar nicht mehr. Meine Oma ist Deutsche, von ihr habe ich die Sprache gelernt und jetzt will ich ihre Heimat kennen lernen, aber das ist nicht so einfach. Ich muss mir erst eine Bleibe und einen Job suchen. Mein Freund kommt morgen, er ist Maori und versteht sehr wenig Englisch und noch weniger Deutsch.“ Alex lächelt sie an. „Sie sind sehr mutig, so einfach hierher zu kommen. Was für eine Arbeit suchen Sie denn?“ „Ach, ich mache alles, es gibt kaum etwas, was ich noch nicht gemacht habe. Ich bin auf einer Schafsfarm aufgewachsen, meine Eltern züchten Schafe und verkaufen Wolle.“
Alex wurde auf aufmerksam, sollte hier eine Lösung ihrer Probleme in Sicht sein? Diese junge Frau verstand sicher viel mehr von Schafen als sie. Eine Weile plätscherte das Gespräch dahin, dann wurde es konkret. „Ich muss weiter, ich muss mir noch ein Quartier für die Nacht suchen und natürlich auch für morgen, wenn Bran kommt, mein Freund.“ Alex streckte die Hand aus und hielt sie fest. „Sie können heute Nacht bei mir auf meinem Hof schlafen und wenn Sie etwas von Schafen verstehen, dann hätte ich vielleicht auch einen Job für Sie.“ Serina strahlte sie freudig an. „Wirklich, Sie haben einen Hof, einen Bauernhof?“ „Ja, ich wohne dort mit meinen kranken Eltern und meinem gelähmten Bruder, aber es ist Platz genug. Ich heiße Alexandra oder Alex und wir können du zueinander sagen, das ist hier unter Freunden und Bekannten so üblich.“ Serina stand glücklich strahlend auf und sie gingen gemeinsam nach draußen.
Alex rief über ihr Handy Franz an und bat ihn, sie abzuholen, was dieser auch bereitwillig machte. Für sein Alexmädchen, wie er sie still bei sich nannte, tat er alles. Erstaunt registrierte er die fremde junge Frau, die Alex dabeihatte und erfuhr, dass sie Serina hieß und aus Neu Seeland stammte. Die beiden hatten sich im Café kennen gelernt und Alex hatte sie eingeladen. Misstrauisch musterte er sie, aber sie schien freundlich, fröhlich, aufgeschlossen und ehrlich zu sein. Bis sie zum Wagnerhof kamen, wusste er bereits alles. Dass sie etwas von Schafszucht verstand, ließ ihn aufhorchen, er musterte Alex und erkannte sogleich ihren Plan. Ganz schön raffiniert, dachte er, aber wenn es klappt, dann würde mich das sehr freuen.
Am nächsten Morgen frühstückten sie alle gemeinsam. Die Eltern waren mit allem einverstanden, was Alex machte und Max interessierte sich nicht dafür.
Serina gefielen die Schafe. „Es sind natürlich viel zu wenige, um sinnvoll wirtschaften zu können, brauchst du mindesten hundert, besser fünfhundert, vorher macht es keinen Sinn. Die Gegend hier ist für Schafe ideal. Es gibt gutes Gras, Wasser und jede Menge Sträucher. Wenn du willst, helfe ich dir, eine Zucht aufzubauen, wenn ich mit Bran hier wohnen darf und wir hier essen können.“ Alex umarmte sie spontan und nickte zur Bestätigung. „Ich freue mich ja so, natürlich könnt ihr bei mir wohnen, schau da drüben, das alte Knechtehaus könnten wir für euch herrichten. Möbel haben wir auf der Bühne genug, ihr könnt es euch richtig gemütlich machen.“ Arm in Arm beratschlagten sie, als Franz erschien. „Na ihr zwei, habt ihr euch gefunden?“
„Stell dir vor, Serina will mir helfen, eine Schafszucht auf zu bauen, sie hat mächtig viel Ahnung davon.“ Plötzlich öffnete sich die Beifahrertür und ein junger Mann stieg lächelnd aus. Serina stieß einen Jubelschrei aus und flog in seine Arme. „Den jungen Mann habe ich unterwegs aufgelesen, er wollte hierher und soweit ich ihn verstanden hatte, ist er der Freund deiner jungen Dame hier, wie man jetzt auch unschwer erkennen kann.“ Bran und Serina lagen sich immer noch in den Armen und unterhielten sich in einer fremden Sprache.
„Kommt herein, wir haben zwar schon gefrühstückt, aber es ist noch genug da für ein zweites Frühstück. Das junge Paar hatte anscheinend mächtig Hunger, Franz sah andächtig zu, welche Brotmengen Bran vertilgen konnte.
Alex erzählte ihm von Serinas Beurteilung, vor allem, dass es zu wenig Schafe waren schien ihn zu befriedigen. Alex sah ihm an, dass er noch etwas in der Hinterhand hatte und gab ihm einen Schubs. „Na jetzt spucke schon aus, du hast doch noch etwas.“ Franz grinste. „OK, ich schlage dir folgenden Deal vor. Du gibst mir deine 13 Kühe und du bekommst dafür meine 117 Schafe. Du hast dann das Futterproblem nicht mehr und ich bin die lästigen Schafe los. Dein Gelände ist für Schafe viel besser geeignet. Du verpachtet mir deine Wiesen am Bach und ich verpachte dir meinen Sommerhang, der für die Kühe zu steil ist, Schafen aber keine Probleme bereitet. Ist das ein Deal?“ Alex sah ihn lange an und überlegte. Das Angebot war hervorragend und löste die Probleme. Am liebsten würde ich ihn jetzt abknutschen, aber ich trau mich nicht. Serina und Bran hatten da keine Probleme, na ja, ich warte lieber noch, ob sich was entwickelt, aber trotzdem könnte ich ihn knuddeln. „Meinst du das wirklich, dass wäre natürlich super. Serina, was meinst du? Wir hätten dann 231 Tiere, wäre das ein Anfang?“ Serina nickte, „Damit kann man wirtschaften, zumal du ziemlich viele Mutterschafe hast. Ich denke, Bran und ich fangen gleich an. Aber zuerst wollen wir das Häuschen hier für uns herrichten. Knechtehaus hast du gesagt, das habe ich noch nie gehört, aber es gefällt mir, dann sind wir jetzt Schafsknechte.“ Sie lachte hell auf und küsste ihren Bran. In der Maorisprache erklärte sie ihm, was besprochen wurde und er lachte zustimmend.
Auf dem Wagnerhof zog Zufriedenheit ein, Franz würde die Kühe am Nachmittag holen und den beiden Neuseeländer die Schafe übergeben. „Morgen regeln wir dann alles schriftlich, das ist für uns beide sicherer als eine rein mündliche Absprache, die mir bei dir allerdings reichen würde. Er sah Alex auf eine Art an, dass ihr ganz warm wurde, aber sie nickte nur und sah dem davongehenden nach. Serina trat neben sie, legte den Arm um sie in meinte leise: „Merkst du es nicht? Er liebt dich über alles, er würde dich am liebsten in die Arme reißen und mitnehmen. Wäre er ein Maori, dann hätte er dich schon längst entführt.“ Sie lächelte still und zog die Zweifelnde an sich. Alex nickte stumm. „Ich weiß, aber bis jetzt hatten wir zu verschiedene Interessen. Ich merke jetzt selber, dass das dumm war, aber es ist halt so, ich weiß keinen Ausweg.“ Serina lachte laut und belustigt. „Nimm ihn einfach in den Arm und küsse ihn, dann siehst du gleich was passiert. Wenn du es nicht machst, wirst du es nie erfahren, er hat viel zu viel Achtung vor dir, um selbst die Initiative zu ergreifen, dass musst du machen, sofern du willst.“ „Meinst du?“ Alex sah sie an. Serina nickte lächelnd. „Er ist ein guter Mann, dass spüre ich und er liebt dich. Er wird dir niemals weh tun und alles für dich geben, was er kann und wahrscheinlich noch mehr.“ Alex lächelte nun auch still in sich hinein und sah sich in Gedanken mit Franz auf der Sommerweide liegen und schöne Dinge tun. Einige Momente ging ihre Fantasie mit ihr durch und sie musste sich energisch zur Ordnung rufen. Mit leicht rotem Kopf drehte sie sich herum und ging ins Haus um nach ihren Eltern und dem Bruder zu sehen.

Hamburg

Rainer stand mit seinem Vater, Helmut Goll, und einem Ehepaar vor der Immobilie. Bewundernd beobachtete er seinen Vater, der das Paar gekonnt einwickelte und Vorzüge des Hauses anpries, die es überhaupt nicht gab. Das Dach zum Beispiel durfte nicht ausgebaut werden, dafür war die Bauausführung nicht geeignet. Das Paar hatte drei Kinder und wollte oben einen Kinderwohnbereich einrichten, was gar nicht zulässig war, von seinem Alten aber in allen Tönen gepriesen wurde. In der Mauer und im Keller gab es Schimmelbefall, was er ebenfalls verschwieg. Genau aus dem Grund verkaufte der jetzige Besitzer ja das Haus, seine Familie war schwer erkrankt. Der Alte ist eigentlich ein fieses Schlitzohr, aber nur so wird man reich. Wer sich übers Ohr hauen lässt, ist selber schuld und verdient es nicht anders.
Selbst die übrigen Kanalisationsrohre, die herumlagen baute er positiv ein, dabei waren sie von der schlampigen Baufirma, die die Kanalisation notdürftig geflickt hatte, einfach vergessen worden. Jedem Kundigen wäre sofort aufgefallen, dass hier gepfuscht worden war, denn die verwendeten Rohre waren nicht zulässig, aber viel billiger, was selbst er, der noch wenig Ahnung vom Baugewerbe hatte, inzwischen wusste. Er lernte ständig dazu, dafür sorgte sein Erzeuger. Vater ist eine richtige Sau, dachte Rainer. Jetzt macht er sogar ohne Gutachten einen Notartermin. Das wäre nicht nötig, man sehe doch, dass alles in Ordnung wäre. Ich kotze gleich. Das ist sogar mir zu viel, aber der Alte ist auf seine Art großartig. Kein Wunder, dass Mama ihn verlassen hat, mit ihm wollte ich auch nicht zusammenleben. Er ist wirklich eine gefühllose, skrupellose Sau, aber so ist er reich geworden.
Später im Auto, natürlich einem protzigen BMW, ließ sich der Alte über die Dummheit des Paares aus. „Die sind ja so blöd, dass tut schon fast weh. Ich wäre ja noch fünfzig Mille runtergegangen, aber sie haben es nicht mal probiert.“ Er schüttelte den Kopf und zog dann eine seiner dicken Zigarren heraus und paffte das Auto voll. Sein Sohn rang mit dem Erstickungstod, aber das interessierte ihn kein bisschen. Rücksichtnahme kannte er nicht.
Die Schuldverschreibungen sind noch immer nicht da, dachte Rainer wütend. Was die Bank geschickt hat, interessiert mich nicht. Ich will die Schlampe fertig machen und brauche nur diese Papiere, aber die gibt es anscheinend nicht, oder sie wurden anderweitig verkauft. Verdammt, es ist zum Kotzen. Die beiden Idioten, die den Fettsack etwas beschneiden sollten, melden sich auch nicht, womöglich haben die auch Scheiße gebaut. Na ja, warte ich noch mal ab, vielleicht tut sich ja noch was. Den Alten muss ich auch bald abservieren, der wird langsam unerträglich, dieser Widerling. Sicher geht er nachher wieder zu seiner Madame und lässt sich einen blasen, darauf scheint er ja zu stehen. Je jünger die Weiber, desto besser. Schon kam die Direktive zum Wechsel des Fahrziels und sie hielten bald vor dem Haus. „Komm mit rein, du kannst auch mal einen schönen Fick gebrauchen, damit du wieder etwas lockerer wirst.“ „Nein danke, kein Bedarf, ich warte hier auf dich.“ Kopfschüttelnd stieg der Alte aus und ging hinein zu seiner Olga.

München in Claudias Villa

Stöhnend knallte sie ihren Koffer in den Flur und rief nach Hardy. Sie hatte gehofft, dass er inzwischen wieder Zuhause wäre. Sein Termin in Innsbruck war doch schon gestern Mittag zu Ende gewesen. Auf dem Anrufbeantworter war auch keine Nachricht von ihm, nur verschiedene Nachrichten von Freunden. Na gut, er wusste ja, dass ich nicht da bin, also logischerweise keine Nachricht auf dem AB. Aber auf meiner Mailbox ist auch nichts, langsam mache ich mir Sorgen, das passt so gar nicht zu ihm.
Gegen später kam Maria. Sie hatte Claudias Ankunft beobachtet und sie saßen lange beim Kaffee und tratschten die neuesten Gerüchte.
Maria war eine rundliche, lebenslustige Frau, die gegenüber in dem kleinen, aber sehr gemütlichen Haus mit ihrem Mann und den drei Kindern wohnte und sich auch etwas um die beiden Künstlerinnen kümmerte.
Hardy meldete sich immer noch nicht. Es meldete sich bei Anruf nur seine Mailbox.
Es war schon einige Zeit dunkel, als Maria aufstand. „Mach dir keine Sorgen, geh ins Bett, du fällst ja gleich um. Morgen sieht die Welt gleich wieder anders aus.“ Beklommen und von bösen Ahnungen erfüllt sah sie der Freundin hinterher.
Am nächsten Morgen wachte sie sehr spät auf. Als sie die Haustür öffnete, um die Zeitung zu holen, entdeckte sie die Tüte mit Brötchen. Maria ist ein Engel, dachte sie erfreut und ging in die Küche. Am Kalender sah sie, dass heute der fünfte Juni war. In zehn Tagen hat Alex Geburtstag. Sie wird 29, ich darf es nicht vergessen, dachte sie nachdenklich und verzehrte unlustig eines der knusprigen Brötchen, die sie normalerweise zum Frühstück so liebte, aber sie hatte heute keinen Appetit, die Sorge um Hardy brachte sie fast um. Am Nachmittag, sie hatte den Vormittag mit auspacken und aufräumen verbracht, klingelte es an der Haustür.
Auf dem Bildschirm erkannte sie eine Frau und einen Mann, die beide in die Kamera schauten, die sie entdeckt hatten. Sie öffnete die Tür und die beiden wiesen sich als Kriminalbeamte aus. „Ich bin Hauptkommissarin Schlegel und das ist mein Kollege, Kommissar Seidel. Sind sie Frau Hammer?“ Claudia überfielen böse Ahnungen. „Um Gottes Willen, ist etwas mit Hartmut passiert?“ Schreckensbleich trat sie zurück und bat die beiden herein.
„Frau Hammer, in welchem Verhältnis standen sie zu Herrn König?“ „Standen? Herr König und ich sind Lebenspartner, wir wollen heiraten.“ Sie begann zu zittern. „Frau Hammer, es tut mir leid, Herr König ist vorgestern in Österreich tödlich verunglückt.“
Claudia stand vollkommen starr und reglos, dann schrie sie in einer Lautstärke, dass selbst Maria im Nachbarhaus aufschreckte und herübergerannt kam. Maria erfasste mit einem Blick die Situation und nahm die vor Entsetzen und Schmerz Schreiende in den Arm. Die beiden Beamten sahen sich hilflos an und sagten, sie wollten besser später nochmal kommen und gingen schnell. Maria hielt die Schreiende fest, sie schrie nach Alex. Maria wusste von der innigen Freundschaft. Sie rannte ans Telefon und rief Alex an, die sich zum Glück sofort meldete. „Alex, hier Maria, komm schnell, Hardy ist tot und Claudia schreit nur noch nach dir.“

Wagnerhof, 5. 06.2014

Mit hellem Entsetzen hörte Alexandra der aufgelösten Maria zu. Im Hintergrund hörte sie die grässlichen Schreie ihrer Claudia. „Ich komme“, sagte sie nur, legte auf und rannte hinaus. Draußen stand zum Glück Serina, der sie schnell erzähle, was passiert war. Die sagte nur. „Pack ein paar Sachen, oder nein, besser hol sie her, deine Freundin braucht dich jetzt dringend. Alles andere ist unwichtig, ich kümmere mich um den Hof und deine Eltern. Mach schon, geh, beeile dich.“

München abends 20 Uhr

Alex klingelte Sturm und Maria, die das Auto gesehen hatte, öffnete erleichtert. Dann flog Claudia in ihre Arme und sie setzte sich, die weinende Freundin auf dem Schoß auf einen Stuhl in der Wohnküche. Zwei Stunden lang, Maria war inzwischen gegangen, da sie nach ihren Kindern sehen musste, hielt sie Claudia im Arm und streichelte sie beruhigend. Claudia klammerte sich zitternd an sie und ließ nicht mehr los. Als Alex dringend aufs Klo musste, nahm sie die Freundin einfach mit, da die ihre Hand nicht hergab. Dann ging sie mit ihr ins Schlafzimmer und packte die wichtigsten Sachen für ein paar Tage, die Koffer standen ja noch da und so war sie schnell fertig. Eine Stunde später waren sie bereits wieder auf der Autobahn.
Wagnerhof

Morgens, um ein Uhr fuhr sie auf den Platz vor dem Haus und dirigierte die total desorientierte Freundin hinein. Serina lag im Wohnzimmer auf dem Sessel und stand jetzt hastig auf. Mit einem Blick erkannte sie, was notwendig war, bugsierte die beiden ins Bad und anschließend ins Bett. Alex hatte zum Glück ein sehr breites Bett, so dass sie beide bequem Platz fanden. „Schlaft euch aus, ihr beiden, morgen sehen wir weiter, dann sieht alles schon anders aus“, sagte Serina und ging hinüber zu ihrem Bran, der schon sehnsüchtig auf sie wartete.
Die ganze Nacht weinte Claudia leise, endlich gegen Morgen schlief sie eng an Alex geschmiegt ein. Es war schon später Morgen, als sich Alex vorsichtig löste und leise hinausging. Die Tür ließ sie offen, damit sie Claudia hörte, wenn sie rief. In der Küche saß Serina mit Franz, der heraufgekommen war, um zu erfahren was los war. Er nahm Alex einfach in seine Arme und drückte sie innig. „Halt mich bitte ganz fest und gib mir Kraft, damit ich meine Claudia über das Schlimmste bringen kann, du musst mir helfen, ich brauche dich jetzt.“ Franz nickte nur und küsste sie erst zart und dann, als sie mehr forderte, leidenschaftlich. Endlich, endlich habe ich sie im Arm und kann sie küssen und liebhaben. So schlimm es ist. Claudias Elend wird anscheinend zu meinem Glück. Ich liebe Alex doch so sehr und jetzt hat sie es anscheinend endlich gemerkt. Ich glaube, sie liebt mich auch. Fest drückte er sie an sich und streichelte ihre Haare. Ihr Körper presste sich an ihn und er registrierte ihre fraulichen Formen, die heftige Reaktionen in ihm auslösten, die sie sehr wohl registrierte und trotz der schlimmen Situation, lächelnd willkommen hieß.
Serina hatte inzwischen die Kaffeemaschine angeworfen und es duftete nach frischem Kaffee. „Ich schau mal schnell nach Claudia. Ich bin gleich wieder da, du kannst mir solange eine Tasse einschenken und vielleicht ein paar Brötchen aufbacken“ meinte sie und ging hinaus. Als sie ins Zimmer kam, öffnete Claudia verwirrt die Augen. Schnell legte sie sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Hoffentlich schreit sie nicht wieder so, dachte sie bei sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wie komme ich denn zu dir, hast du mich geholt?“, fragte sie erstaunt. Alex nickte. „Ja, dir ging’s so schlecht, da habe ich dich einfach eingepackt und mit zu mir auf den Hof genommen. Wie fühlst du dich? Meinst du, du kannst etwas frühstücken? Selina und Franz sitzen in der Küche und warten auf uns.“ Mein Gott, sieht sie schlecht aus, schwarze Ringe unter den verquollenen Augen, bleich wie der Tod. Alex streichelte ihr Gesicht und sah sie forschend an. Langsam wuchtete sich Claudia hoch. „Es hilft ja alles nichts, ich muss wieder in die Gänge kommen. Alex, in mir fehlt ein Stück, in mir ist ein Loch, Hardy ist weg.“ Wieder rannen Tränen, aber sie rappelte sich trotzdem auf und verschwand im Bad. Alex folgte ihr auf dem Fuß und ließ sie nicht allein. Nur als sie das Klo benutzte, ging sie kurz hinaus. Frisch angezogen gingen sie in die Küche zu den Wartenden.
Selina nahm sie sofort in den Arm und die beiden standen eine ganze Weile stumm da. „Ich sage jetzt nichts, jedes Wort wäre momentan falsch, ich fühle mit dir“, sagte sie leise. Anschließend landete Claudia in den Armen von Franz, der sie ebenfalls drückte. Dann saßen sie zusammen am Tisch und tranken den frischen Kaffee. Alex saß jetzt neben Franz, zog Claudia auf ihre rechte Seite und legte den Arm um sie.
Am späten Vormittag telefonierte Alex mit der Münchner Kommissarin, deren Karte sie mitgenommen hatte. „Frau Hammer ist hier bei mir in Hinterbach bei Mittenwald auf dem Wagnerhof und hier wird sie vorerst auch bleiben. Sie haben gestern selbst bemerkt, wie es sie mitgenommen hat, immerhin ist ihr Lebensgefährte und Bräutigam verstorben, sie wollten im September heiraten. Wenn Sie Fragen haben, dann müssen Sie herkommen. Frau Hammer bleibt hier bei mir. Um ihren Fragen zuvor zu kommen, Frau Hammer ist gestern Morgen zusammen mit ihrem Orchester aus News York zurückgekommen und war gegen 10 Uhr zuhause wie die Nachbarin bestätigen kann. Zu den Umständen des Unfalls, ich nehme doch an, dass es einer war, kann sie natürlich nichts sagen, außer, dass sie in den letzten Tagen mehrfach versucht hat, ihn telefonisch zu erreichen, was für sie alarmierend war, da Hardy, ihr Verlobter sich normalerweise täglich meldete, wenn sie getrennt waren. So, dass wäre alles, was ich sagen wollte. Frau Hammer kann momentan nicht gefragt werden, ich habe ihr auf Anraten unseres Arztes ein Beruhigungsmittel gegeben und sie schläft jetzt endlich.“
„Ich wollte, ich hätte auch so eine Freundin wie sie“, sagte die Kommissarin beeindruckt. „Ihre Aussage über Frau Hammer reicht mir momentan vollständig, aber ich muss Ihnen leider sagen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach kein Unfall war. Er wurde offensichtlich getötet. Als er gefunden wurde, fehlten ihm an der linken Hand drei Finger. Wie ich inzwischen weiß, war er Bassist und hätte mit diesem Verlust nicht mehr spielen können. Wir vermuten, dass es zu einem Kampf kam und er in den Abgrund gestoßen wurde. In seinem Blut befand sich Betäubungsmittel, dass ihn ruhigstellen sollte. Es hat aber offensichtlich nicht, oder nur schwach gewirkt und er hat sich anscheinend heftig gewehrt. Leider können wir das Frau Hammer nicht ersparen. Ich werde in den nächsten Tagen zu Ihnen kommen, um weitere Fragen zu stellen. Ich hoffe, dass sich Frau Hammer bis dahin etwas erholt hat, wenn das überhaupt geht. aber ich muss eben auch meine Arbeit machen, auch wenn sie mir manchmal schwerfällt.“ Die Kommissarin seufzte tief.
„Gut, dass verstehe ich ja, aber jetzt bin ich erst mal total fertig und entsetzt. Wer sollte denn Hardy so etwas antun? Er war überall beliebt. Ein lieber und freundlicher Mann, der seine Claudia auf Händen getragen hat. Wer tut denn sowas? Ich werde versuchen, es ihr schonend beizubringen, aber erst später. Jetzt muss ich es erst selber verdauen. Sie sehen mich absolut fassungslos. Wenn Sie kommen, dann melden Sie sich bitte an, damit wir da sind. Ich will versuchen, Claudia etwas abzulenken, damit sie auf andere Gedanken kommt.“ Sie beendete das Telefonat und blieb wie vor den Kopf gestoßen, reglos sitzen, Erst als Franz, der sie gesucht hatte, sie in den Arm nahm und mit ihr nach draußen ging, konnte sie wieder Atem schöpfen.
Erschüttert vergrub sie sich an seiner breiten Brust. Nur langsam unter vielen Nachfragen bekam er heraus, was passiert war und schüttelte erschüttert seinen Kopf.

Hamburg Samstagmittag

Rainer hatte zum ersten Mal wieder Kontakt zu den beiden Schlägern, die er auf Hartmut angesetzt hatte und vernahm mit Entsetzen, was passiert war. „Seid ihr noch zu retten, ihr seid ja wahnsinnig. Wie ist das denn passiert?“ „Wir haben ihn wie besprochen abgepasst und das Betäubungsmittel gespritzt. Er ist dann sofort umgekippt. Dann sind wir mit ihm an eine einsame Stelle der Passtrasse ganz nach oben gefahren und ham ihm mit dem Bolzenschneider die Finger abgeschnitten, ganz wie du gesagt hast. Dabei ist er aber aufgewacht und hat Niro weggestoßen. Ich habe ihm eine reingehauen, er ist rückwärtsgestolpert. Miro hat ihm auch eine reingehauen und er ist über den Rand gekippt und runter gestürzt. Niros Tasche hat er mitgerissen, wie er sich dran festgehalten hat. Jetzt ham wir kein Geld mehr, keine Pässe. War alles in der Tasche und die hat er auf seinem Sturz irgendwo verloren. Er lag jetzt zwei Kehren weiter unten an der Straße und es standen schon zwei Autos, die ihn entdeckt hatten. Wir konnten nicht mehr länger nach der Tasche suchen. Wir sind jetzt wieder im Ort im Hotel. Wir brauchen Geld und Ausweise, damit wir abhauen können. Wir kommen so schnell wie möglich zurück nach Hamburg.“ „Untersteht euch, nach Hamburg zu kommen, ihr habt sie ja wohl nicht alle. Haut ab nach Italien, besser noch nach Kroatien oder Serbien. Lasst euch hier ja nicht mehr blicken, ihr Versager. Ich lass euch abservieren, in der Elbe versenken, wenn ihr euch wieder hierher traut, ihr Idioten. Ich schicke euch Geld nach Innsbruck ins Hotel Inntal auf den Namen Kowalk. Ihr verschwindet dann so schnell wie möglich nach Kroatien oder Serbien, habt ihr verstanden?“ Miro, der zweite und etwas Intelligentere der beiden, beendete das Gespräch und die beiden verschwanden aus dem Hotel ohne zu bezahlen.
Rainer saß entsetzt an einem Schreibtisch, das Handy in der Hand und überlegte fieberhaft. Die Idioten müssen weg, egal wie, sie kennen mich. Ich muss Mirko fragen. Er muss ein paar Leute nach Innsbruck schicken, die beiden müssen verschwinden, möglichst ohne Spuren. Die Tasche muss auch wieder her, sonst haben wir hier die Bullen auf dem Hals. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. Momentan geht hier aber auch alles schief. Zuerst hat alles so gut angefangen und jetzt das. Wenn mein Alter dass mitkriegt, bringt er mich um. Er darf es auf keinen Fall erfahren. Wieder saß er grübelnd da. Also zuerst Mirko. Das wird richtig teuer, aber es bleibt mir nichts anders übrig.
Am Telefon spielte er den coolen Boss und beauftragte Mirko mit der Lösung des Problems, merkte aber, dass Mirko genau wusste, in welchem Schlamassel er steckte. So ein Mist, dachte er. Der wird mich hinterher ganz gewaltig melken, dem bin ich völlig ausgeliefert und dass weiß er genau, ich kann sein Grinsen förmlich spüren.

Wagnerhof Samstag

Franz saß mit seiner Alex auf dem Sitzplatz vor dem Wagnerhof und drückte die traurige Frau fest an sich.
Claudia war endlich in einen unruhigen, von Beruhigungsmitteln verursachten Schlaf gefallen.
Alex wand sich aus den Armen ihres Geliebten hoch. Er ist wirklich mein Geliebter, merkte sie erstaunt. Ich war so blöd, dass nicht zu merken, oder besser zu ignorieren, dachte sie nachdenklich. Zum Glück ist er ein so geduldiger und lieber Mann. Sie sah ihn mit ihren leuchtenden Augen verliebt und jetzt fragend an. „Wie kann jemand Hardy töten, ermorden? Wer macht denn sowas? Er hatte doch keine Feinde. Ich versteh das einfach nicht. Tränen kullerten ihre Wangen hinunter und sie vergrub ihren Kopf wieder an seiner Brust. Zärtlich streichelte er ihre herrlichen langen Haare, die jetzt allerdings nach einer Bürste schrien. Genau das mache ich jetzt. Das wird sie beruhigen, durchzuckte es ihn. Er stand auf und holte aus dem Bad ihre Haarbürste, setzte sie zwischen seine Schenkel mit dem Rücken zu sich und begann sanft ihre Haare zu bürsten. Erstaunt und dann aber bereitwillig ließ sie ihn gewähren und begann das Bürsten zu genießen. Langsam beruhigte sie sich und drehte lächelnd ihren Kopf so wie er es wollte. Ab und zu küsste er sie zärtlich und einmal drehte sie sich um und küsste ihn leidenschaftlich, ihre Zunge erforschte vorsichtig seinen Mund und er streichelte ihre Lippen, dass es ihr durch den ganzen Körper fuhr und sich in ihrem Schoß eine heiße Welle bildete. Dann lehnte sie sich schnell wieder an ihn und lies sich weiter ihre Haare bürsten, bevor sie in Gefahr lief, sich unschicklich auf ihn zu stürzen. Ein leises Kichern entfuhr ihr und sie warf ihm einen flammenden Blick zu. Später mehr, flüsterte sie und kuschelte sich an ihn. Serina, die von der Schafweide kam, nickte Franz lobend zu. Das war genau das Richtige, um Alex wieder etwas Ruhe zu geben und sie runter zu holen. Schade, dass wir für Claudia niemand haben, der ihre Haare bürstet, ihr würde es auch guttun. Serina setzte sich zu ihnen und sah schweigend zu. Schweigend da zu sitzen, einfach nur da zu sein, das war eine der Fähigkeiten, die Serina auszeichnete. Damit vermittelte sie anderen, nicht allein zu sein und das war in der heutigen Zeit immer wichtiger.

15. Juni 2014 Geburtstag

Die große Feier fiel aus. Alex hatte keine Lust auf eine fröhliche Feier so kurz nach Hardys Tot und sie wollte es Claudia auch nicht zumuten. Ich möchte es ganz still angehen, nur wir hier vom Hof, die Eltern, Max Serina und Bran und natürlich Claudia und Franz.
Langsam verstrich der Sommer. Die Schafherde entwickelte sich prächtig. Bran und Serina entpuppten sich als versierte Schaf-Scherer und hervorragende Käser. Der Wagnersche Schafskäse entwickelte sich zu einer regionalen Delikatesse wurde immer beliebter und füllte die schmale Kasse des Hofes ein wenig.

München Juli 2014 Polizeihauptquartier.

Hauptkommissarin Schlegel saß mit ihrem Kollegen Kommissar Seidel in ihrem Büro und las den Bericht der österreichischen Kollegen zum wiederholten Mal durch. Die beiden Verdächtigen sind über die italienische Grenze geflohen und dann spurlos verschwunden. Die gefundene Tasche wurde untersucht und es ergab sich folgender Sachverhalt.
Miro und Niro Konavice, zwei Brüder, kamen aus Hamburg nach Innsbruck, um Hartmut König abzufangen und ihn so zu verletzen, dass er seinen Beruf als Orchestermusiker nicht mehr nachkommen konnte. Sie haben ihn mit einer Betäubungsspritze betäubt, aber die Dosis war anscheinen zu schwach. Das Mittel ist ein in Deutschland und Österreich gebräuchliches Präparat. Offensichtlich kam es zum Kampf und König stürzte in den Abgrund. Er war sofort tot.
„Soweit die Fakten“, schloss die Hauptkommissarin. „Jetzt erhebt sich die Frage, warum sollte König nicht mehr spielen können? Wer hat ein Interesse daran? Sind die Auftraggeber im Umkreis des Orchesters zu suchen? Warum dann zwei Schläger aus Hamburg? Ich glaube, da kommt noch eine Menge Aufklärungsarbeit auf uns zu.
Die Verlobte Königs ist immer noch bei ihrer Freundin Alexandra Wagner in Hinterbach auf ihrem Hof. Die Wagner war anscheinend eine gefeierte Dirigentin, bis sie alles hinschmiss, um ihre kranken Eltern zu pflegen. Der Bruder hatte einen schlimmen Unfall und sitzt jetzt im Rollstuhl. Claudia Hammer machte eine steile Karriere und ist jetzt Konzertmeisterin des International Symphonik Orchestra, eines weltberühmten internationalen Orchesters. König sollte ab Herbst ebenfalls dort spielen. Er war offensichtlich ein hervorragender Bassist und der Stimmführer bei den Münchner Symphonikern.
Wo liegt das Motiv? Er war allseits sehr beliebt, hatte keine Feinde und lebte nur für seine Claudia. Das sagen alle Bekannten und Freunde. Konkurrenzneid scheidet meiner Meinung nach auch aus. Der Bassist, dessen Stelle er übernehmen sollte, ist schwer erkrankt und das Orchester sucht jetzt verzweifelt nach einem Ersatz.“ Seufzend sah die Hauptkommissarin auf. Ihr Kollege sah sie an. „Und wenn König gar nicht das eigentliche Ziel war? Wen trifft denn seine Verletzung? Ich gehe mal davon aus, dass sein Tod nicht geplant war, denn dann wäre das Fingerabschneiden ja sinnlos. Die Verlobte traf es natürlich am schlimmsten, wen noch? Vielleicht die Wagner als, wie nannte sie es doch gleich, Seelenfreundin. Gibt es Verbindungen nach Hamburg? Wie passt das alles zusammen?“ Stumm sahen sich die beiden an. „Komm, wir machen Feierabend, morgen ist auch noch ein Tag. Ich habe Hunger, lass uns etwas Essen gehen und ein Bier trinken. Dann gehen wir zu mir und machen uns einen schönen Abend.“ Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden schon seit einiger Zeit ein Paar waren und sich innig liebten. Alle Kollegen fanden es süß und sahen stillschweigend auf die Seite. Es war eigentlich nicht gern gesehen, wenn sich in einer Abteilung ein Paar bildete. Deshalb hatten sie auch beide noch jeweils eine Wohnung, obwohl sie eigentlich mehr bei Werner Seidel wohnten. Alle engeren Kollegen wussten darüber Bescheid und niemand dachte sich etwas dabei.
Am nächsten Tag ermittelten sie weiter und Werner stieß bei Befragungen von Freunden aus dem Umfeld der Universität auf etwas Interessantes. „Schau mal hier“, meinte er zu Monika. „Das ist doch was. Die Wagner hatte sich nach ihrem Durchbruch von ihrem damaligen Freund getrennt. Der muss fürchterlich neidisch auf ihren Erfolg gewesen sein und war anscheinend wütend auf sie, weil sie ihn nicht in ihr Orchester holte. Alle waren der Meinung, dass er viel zu schlecht spielte und es nicht an ihr lag. Es muss ein richtiges Arschloch gewesen sein. Die Wagner und die Hammer wohnten zu diesem Zeitpunkt noch zusammen und der König ist wohl dazwischen gegangen, als Goll die Wagner misshandelt hat. Er hat ihm die Nase gebrochen und ihn hinausgeschmissen. Er wurde von Rainer Goll nur deshalb nicht angezeigt, weil der wegen der Misshandlung der Wagner selbst Dreck am Stecken hatte. Gemeinsame Bekannte sagten aus, dass Goll vor Wut schäumte und versuchte, die Wagner schlecht zu machen. Er wurde von der Münchner Szene ausgegrenzt und ging zornbebend wieder in seine Heimat zurück und rate mal wohin.“ Marion sah ihn erstaunt an. „Doch nicht etwa…“ „Genau“, nickte er. „Nach Hamburg, zurück zu Papa und der ist kein unbeschriebenes Blatt. Rainer Goll ist bei seinem Vater in dessen Immobiliengeschäft eingetreten und genießt inzwischen als folgsamer Sohn seines skrupellosen Vaters einen gewissen Ruf.“
„Hier könnte ein mögliches Motiv liegen. Er rächt sich an dem Mann, der ihn vertrieben hat und trifft über dessen Verlobte auch seine ehemalige Freundin, die ihn so schmählich sitzen gelassen und verraten hat. Ich glaube, dass ist die Verbindung, die wir gesucht haben. Ich werde mich gleich mit den Hamburger Kollegen in Verbindung setzen. Ich habe dort einen guten Bekannten. Wir waren zusammen auf der Polizeiakademie.“ Monika lächelte anerkennend. „Ich glaube, du hast recht, es passt alles zusammen. Wenn der junge Goll tatsächlich so ein Arschloch ist, dann könnte er dahinterstecken. Es entspräche seiner krankhaften Eifersucht. Er gibt den anderen die Schuld und will sie büßen lassen, sich rächen. Die Kollegen in Hamburg sollen mal nachforschen, bei wem die beiden Brüder aus Innsbruck in Lohn stehen, die stammen doch aus Hamburg. Ich fahre jetzt doch mal nach Hinterbach und befrage die beiden Damen.“

Wagnerhof, Oktober 2014

Alex und Franz saßen in der warmen Herbstsonne auf der Holzbank vor dem Hof. Auf dem Tisch standen noch die Reste ihres Mittagessens. Die Eltern hatten sich niedergelegt. Max war mal wieder unterwegs. Ein Kumpel hatte ihm ein altes Auto so umgebaut, dass er trotz unbeweglicher Beine fahren konnte. Hoffentlich säuft er nicht wieder so viel, dachte Alex bekümmert.
Vor ein paar Wochen war die Münchner Kommissarin da gewesen und hatte viele Fragen, vor allem auch zu Rainer gestellt. Sie hatte anscheinend einen Verdacht. Rainer war zwar ein Arschloch, aber so etwas traute sie ihm nun doch nicht zu. Claudia war da ganz anderer Ansicht gewesen und hatte an ihm kein gutes Haar gelassen. Die Kommissarin hatte berichtet, dass sie herausgefunden hätten, dass eine Hamburger Immobilienfirma versucht hatte, Schuldverschreibungen, vor allen aus der Gegend um Hinterbach, aufzukaufen, sich aber inzwischen wieder zurückgezogen hatte, da sie anscheinend nicht das gefunden hatte, was sie suchten. Alex dachte an ihre eigenen Schuldentitel, die auf geheimnisvolle Weise verschwunden waren.
Claudia hatte sich wieder gefangen und war ins Orchester zurückgekehrt. Momentan waren sie in Australien und feierten einen Erfolg nach dem anderen. Aufmerksam verfolgte Alex die Berichte und freute sich für die Freundin, aber einen kleinen Stich gab es ihr doch, wenn sie an die eigene verpatzte Karriere dachte. Wie gerne würde sie auch durch die Welt ziehen und Erfolge feiern, ihre Musik darbieten.
In einem Tagtraum sah sie sich als Dirigentin vor einem Orchester stehen, Beethoven dirigieren, den jubelnden Beifall der Zuhörer in Empfang nehmen und die Atmosphäre genießen, die sie ja von ihrer kurzen Zeit als Dirigentin kannte.
Dann riss sie sich aber immer wieder zusammen und schalt sich undankbar. Sie hatte doch dafür ihren geliebte Franz, ihren Hof und ihre Familie. Das alles hatte Claudia nicht und Alex wusste, dass Claudia sie ebenfalls darum beneidete. Die Welt ist doch komisch, dachte sie. Immer wollen wir das, was wir nicht haben und sehen nicht die vielen schönen Dinge, die wir haben.

Hamburg, November 2014

Ronald Goll tobte in seinem Büro. Rainer stand vor ihm und hielt dem wütenden Gebrüll trotzig stand. Der Alte soll sich mal nicht so anstellen, dachte er. Eigentlich war doch nichts passiert. Die beiden Konavice Brüder lagen irgendwo in den Alpen verscharrt. Es gab keine Beweise gegen ihn. Der Alte dreht anscheinend gleich durch. Grinsend betrachtete er den, vom Brüllen, rot angelaufenen Kopf. Totaler Bluthochdruck diagnostizierte er ungerührt und wartete, bis er sich wieder beruhigte. Noch brauchte er ihn, aber bald würde er sich von ihm trennen. Er fühlte die scharfe Springklinge in der Tasche seines Jacketts. Na warte Alter, bald grinst du von einem Ohr bis zum anderen, dafür werde ich mit Vergnügen sorgen. Ganz langsam würde er ihm die Kehle durchschneiden und zusehen, wie er verblutete. Das Brüllen würde ihm dann schon vergehen. Nur um Mirko musste er sich Sorgen machen, der wusste viel zu viel. Den musste er auch beseitigen, aber das war eine andere Hausnummer, da würde er sich was einfallen lassen müssen. Mitten in das Gebrüll platzte die Sekretärin und meldete schüchtern, dass zwei Herren von der Polizei sie sprechen wollten. Schlagartig verstummte der Alte, räusperte sich und sagte zu ihr, „Bitten sie die Herren herein, aber warten sie noch zwei Minuten, ich muss mit meinem Sohn noch etwas besprechen.“ Sie nickte und verschwand eilig. „So, jetzt haben wir die Scheiße. Lass mich reden, stell dich total unwissend.“
Als die beiden Beamten eintrafen, war er die Freundlichkeit in Person, bot ihnen Platz und etwas zu trinken an, ersteres nahmen sie an, das zweite lehnten sie aus dienstlichen Gründen ab. Sie versuchten von Rainer mehr über seine Münchner Zeit herauszufinden, aber er stellte sich stur und gab nichts preis. Nach den beiden Brüdern Konavice und nach Mirko befragt zuckte er nur mit den Schultern und schüttelte verneinend den Kopf. Die Frage, ob er noch Kontakt zu Frau Wagner oder Frau Hammer hätte, verneinte er unschuldig und sah dann aus dem Fenster.
Lautstark mischte sich Ronald Goll ein und riss das Geschehen wieder an sich. „Nun meine Herren, sie sehen, wir können Ihnen nicht helfen. Wenn wir was erfahren, dann melden wir uns natürlich sofort bei Ihnen“, meinte er scheinheilig und lächelte schmierig. Zähneknirschend verabschiedeten sich die beiden Beamten, die leider keine Handhabe zu weiteren Aktionen hatten.
Der alte Fuchs war glatt wie ein Fisch. Kaum waren sie draußen, fuhr der Alte wieder auf ihn los. „Du gehst jetzt sofort zu Mirko und klärst die ganze Sache. Komm mir nicht mehr unter die Augen, bis du alles geregelt hast. Lass dich von Mirko nicht über den Tisch ziehen, sag ihm, ich würde ihm die Sachen geben, wenn er den Mund hält. Er weiß dann schon, was ich meine. Ich habe Beweise gegen ihn in der Hand, die er dringend vernichten will. Jetzt hau ab, du Versager, geh mir aus den Augen. Und sowas habe ich gezeugt, es ist nicht zu fassen“, fluchte er wütend vor sich hin.
Zornig rannte Rainer hinaus und machte sich auf den Weg zu Mirko, aber der war nicht da. In der Werkstatt war er nicht und auch und dem Schrottplatz, der dazu gehörte, wusste keiner wo er war. Schließlich fand er ihn in seiner Stammkneipe, wo er gerade mit einer Blondine herum machte. „Was willst du?“ knarzte er ihn unwillig an. „Sag deinem Alten, er soll jemand anderen schicken, mit dir Rede ich nicht mehr, verschwinde.“ Zwei seiner Schläger näherten sich langsam bedrohlich und rieben sich erwartungsvoll grinsend die Fäuste.
„Ich soll dir sagen, wenn du mitspielst und den Mund hältst, dann bekommst du die Sachen. Du wüsstest schon, was gemeint ist.“ Mit einer knappen Handbewegung scheuchte Mirko seine beiden Männer zurück. Er packte Rainer am Jackett und zog ihn dich zu sich her. „Du bleibst jetzt hier bei mir und Ivo geht zu deinem Alten, Petrow hier passt solang auf dich auf. Wenn Ivo vergeblich bei deinem Alten war, dann bist du tot, nicht wahr Petrow und es tut richtig weh.“ Rainer schrie gequält auf, denn Mirko krallte seine Hand fest in seine Eier und drückte brutal zu. Tränen rannen über sein Gesicht und als er versuchte Mirko weg zu stoßen, drosch ihm dieser mit aller Kraft in den Unterleib. „So Jungs, nehmt den Knaben mit nach hinten und vertreibt ihm die Zeit. Wenn Ivo wieder da ist dann rufe ich euch, lasst ihn aber leben, vielleicht brauche ich ihn noch.“

München, Kommissariat

Die beiden Kommissare saßen vor dem Bildschirm. „Es ist nicht zu fassen, wir finden einfach keine Verbindung zwischen den beiden Schlägern und diesem Rainer Goll. Die Hamburger Kollegen haben ihn aufgesucht, aber er streitet natürlich alles ab. Auch jeglichen Kontakt mit München verneint er. Die einzige Spur ist dieser geheimnisvolle Boss der beiden, aber den will niemand kennen. Wir wissen nur, dass er aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, vermutlich aus Kroatien oder Serbien und mit einigen seiner Kumpanen nach Deutschland geflüchtet ist, da es ihm in seiner Heimat zu gefährlich wurde. Ich habe unseren Kollegen alle Details, die wir wissen geschickt, sie haben auch einen der Bosse im Verdacht, können aber nichts beweisen. Unsere beiden Schläger haben in verschiedenen Gruppen ausgeholfen, gehörten aber anscheinend nicht fest zu einer Gang.“
Ernst runzelte er nachdenklich die Stirn. „Ich habe nochmal bei verschiedenen Banken ermittelt und musste teilweise mit der Staatsanwaltschaft drohen, aber es zeichnet sich folgendes ab. Immobilienmakler aus Hamburg haben sich für Land in der Gegend von Mittenwald interessiert. Der Plan war, eine große Hotelanlage in der freien Natur zu bauen. Unter anderem war Hinterbach im Gespräch, wo, wie wir wissen, der Wagnerhof liegt. Nun ist interessant, dass auch das Maklerbüro Goll beteiligt und an ganz bestimmten Ländereien interessiert war, nämlich Land, das zum Wagnerhof gehört. Der Wagnerhof ist anscheinend hoch verschuldet, aber die Schuldverschreibungen wurden knapp vor dem Zugriff von einer Münchner Privatbank aufgekauft und sind in deren Tresor verschwunden. Und jetzt Rat einmal, wer unter anderem Kunde dieser kleinen aber feinen Bank ist.“ Erwartungsvoll sah er seine Monika an. Die schüttelte den Kopf. „Jetzt spucks schon aus, ich habe keine Lust auf eine Ratestunde.“ „OK, eine der Kundinnen ist unsere Claudia Hammer. Wie es aussieht, hat sie die Bank beauftragt, die Schuldverschreibungen des Wagnerhofes aufzukaufen. Sie hat inzwischen ein kleines Vermögen bei dieser Bank angehäuft, sie verdient offenbar sehr gut.“ Monika nickte langsam. „Das erklärt natürlich auch das nachlassende Interesse der Hamburger. Sie haben festgestellt, dass die gesuchten Schuldverschreibungen vom Markt sind. Gut, aber was bringt uns das? Wenn wir nur eine direkte Verbindung zu den Golls herstellen könnten. Es könnte doch ein Rachefeldzug gegen die beiden Frauen sein und der König lediglich ein Mittel zum Zweck. Wenn er nicht mehr spielen könnte, dann würde es auch seine Freundin hart treffen, mal ganz abgesehen von den Schmerzen. Die beiden Frauen wohnten ja gemeinsam, wer weiß, was da hinter verschlossenen Türen alles abgelaufen ist. Sie haben den Ex-Lover der Wagner ja schließlich rausgeschmissen und der König hat ihn verprügelt, weil er die Wagner geschlagen hat. Da könnte doch ein Rachemotiv stecken. Dem Goll wurde schließlich klar gemacht, dass er zu schlecht spielt und nicht mehr erwünscht ist.“
Ernst nickte „Ich glaube, dass ist es. Der Typ ist eingebildet und arrogant. Diese Blamage muss ihn fast umgebracht haben und sein übersteigertes Selbstwertgefühl wurde am Boden zerstört. Ich glaube, wir sollten uns auf diesen Rainer Goll konzentrieren und weitergraben.

Hinterbach November 2014

Im Wagnerhof hatten sich die Zustände inzwischen etwas entspannt. Alex machte die Arbeit mit den Schafen immer mehr Spaß und sie erkannte deutlich, wie wertvoll ihre beiden Neu Seeländer für den Hof und ihre Schafszucht waren. Inzwischen hatten sie die Käserei in dem alten Schuppen auf modernsten Stand gebracht. Ein neuer Kredit hatte es möglich gemacht, die Bank war von dem neuen Konzept überzeugt.
Alex verweilte mit ihrer Mutter auf der Bank vor dem Hof und beide saßen behaglich schweigend da. Es war einer der letzten schönen Tage im November und es ging langsam auf Weihnachten zu. Der Vater lag mal wieder mit Schmerzen im Bett und machte allen, die sich um ihn kümmern wollten, das Leben schwer. Maximilian war wieder auf Tour Wahrscheinlich lag er irgendwo besoffen rum. Na gut, ich kann es nicht ändern, dachte Alex bei sich. Ich versuche es zu nehmen wie es ist. Mir graut schon vor Weihnachten. Hoffentlich kommt wenigstens Claudia.
In der zweiten Dezemberwoche rief Claudia an und sagte ihren Besuch zu Weihnachten ab. Sie hatte zwei wichtige Konzerte, eins in Peking und eines eine Woche später in Tokio. Sie würde erst Ende Januar wieder in Deutschland sein. Melancholisch saß Alex hinterher in der Stube. Die Mutter war ebenfalls im Bett verschwunden. Die Augen blicklos nach draußen gerichtet, versuchte sie die weitere Lage zu überdenken. Alle möglichen Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sonja, ihre kleine Schwester war immer noch verschwunden und gab kein Lebenszeichen von sich. Das werden ja schöne Weihnachten, dachte sie traurig. Hoffentlich kommt wenigstens Franz mit seinen Eltern, aber selbst das war nicht sicher. Gottlieb, der Vater war ziemlich krank, konnte kaum noch gehen, auch ihn plagte die Gicht. Franziska, die Mutter, war inzwischen fast blind. Sie hatte den grauen Star und eine altersbedingte Makuladegeneration, wollte sich aber nicht operieren lassen. Sie hatte Angst davor. Das konnte Alex verstehen, aber es half Franz natürlich nicht, er konnte sich fast nicht mehr vom Hof entfernen. Es wäre das Beste, wenn wir die kranken Alten alle auf einen der Höfe bringen würden, dann wäre es mit der Pflege leichter. Dass sie die Alten nicht ins Heim schicken würden, war für Alex selbstverständlich, auf den Gedanken kam sie gar nicht.
Tief seufzte sie, erhob sich und bemerkte in ihrem Kummer nicht, dass Franz leise eingetreten war und sie beobachtete. Dann nahm er sie von hinten liebevoll in die Arme. Sie fuhr erschrocken herum, erkannte ihn und warf sich erleichtert in seine Arme. Lange standen sie in enger Umarmung da und genossen einfach die Situation des innigen Alleinseins miteinander.
„Kopf hoch, wir kriegen Weihnachten schon irgendwie rum und wenn wir meine, oder deine Alten mit dem Schubkarren transportieren müssen. Hast du von Sonja etwas gehört? Kommt sie? Und wo ist Max? Den habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen.“ Alex schaute traurig aus und schmiegte sich schutzsuchend an ihn. „Ich habe von beiden nichts mehr gehört. Wenn ich nicht dich, Serina und Bran hätte, ich glaube ich wäre schon lange ins Wasser gegangen.“
Zornig schüttelte er sie. „Was redest du denn da? Bist du verrückt? Ich liebe dich doch, du darfst mich nicht verlassen.“ Fest drückte er sie an sich und sie küsste ihn unter Tränen. „Ich verlasse dich nicht, vergiss was ich gerade gesagt habe, das war dumm und unüberlegt. Ich liebe dich auch und das gibt mir die Kraft, das alles durch zu stehen. Die Idee mit dem Schubkarren ist gar nicht so schlecht, es muss ja nicht unbedingt eine Schubkarre sein, aber wir sollten deine und meine Eltern öfters zusammenbringen. Sie mögen sich ja schließlich und für uns wäre es auch leichter. Die Alten könnten tratschen und wir hätten mehr Zeit für die Höfe und uns. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass sie wieder das Kochen übernehmen könnten, beide Frauen sind doch gute Köchinnen und sie hätten wieder was zu tun. Für die beiden Männer finden wir auch noch eine sinnvolle Beschäftigung, da bin ich sicher.“
Franz begann zu grinsen. „So kenne ich dich schon eher. So gefällst du mir viel besser. Die Idee, deine und meine Eltern zusammen zu bringen, finde ich ausgezeichnet. Wir müssen es ihnen nur geeignet schmackhaft machen. Das Beste wäre, wenn sie selbst auf die Idee kämen. Wenn wir das vorschlagen dann mauern sie bloß, sie sind manchmal wie kleine Kinder.“ Alex sah ihn erstaunt an und bemerkte sein liebevolles Lächeln, als er von seinen Eltern sprach. Eine Welle der Zuneigung überschwemmte sie. Sie nahm ihn in den Arm und küsste ihn leidenschaftlich, ihre Zunge erforschte seinen Mund, streichelte seine Lippen und als er sich von seiner Überraschung erholt hatte, erwiderte er ebenso gründlich ihren Kuss.

München zwei Tage vor Weihnachten 2014, Kommissariat

Ernst, der Kommissar, sah müde vom Bildschirm auf. „Es ist zum Mäusemelken, ich kann rumfragen wo ich will, in der Hamburger Sache lande ich jedes Mal in einer Sackgasse. Die Hamburger Kollegen wissen auch nicht weiter. Es scheint aber doch eine Verbindung nach München zu geben, einer der Brüder von diesem Mirko lebt hier in München, ist ein polizeilich unbeschriebenes Blatt, aber die Kollegen von der Sitte haben ihn im Verdacht, dass er im Prostitutionsbereich mitmischt und Verbindungen in den Balkan hat. In den letzten Jahren hatte er immer häufiger Kontakt mit seinem Bruder in Hamburg, aber das ist alles viel zu vage, dass nützt uns nichts.“ Zornig schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Komm, lass uns jetzt Weihnachten vorbereiten, momentan tut sich hier gar nichts und ich habe die Nase voll von dem ganzen Elend. Nach den Feiertagen machen wir weiter, aber jetzt ist Schluss“, sagte Monika zustimmend, sah ihn an und er nickte erleichtert. „Das ist deine beste Idee heute, so machen wir es. Eigentlich haben wir ja schon heute Urlaub.“ Er räumte schnell seinen Schreibtisch auf, stopfte Akten in den verschließbaren Schrank. Dann wünschten sie allseits frohe Weihnachten und verschwanden schnell, bevor jemand auf dumme Gedanken kam.

Hamburg Mirkos Stammkneipe Hinterzimmer

Schmerzverkrümmt kauerte Rainer auf dem Stuhl. Tränen des Schmerzens, der Wut und der Erniedrigung rannen über sein Gesicht. Die beiden Typen, die ihn regelrecht gefoltert hatten, saßen am Tisch, rauchten und tranken ihr Bier. Ihm klebte die Zunge am Gaumen. Er hatte fürchterlichen Durst. Sie reagierten aber nicht auf sein verzweifeltes Krächzen, der eine, Petrow, war aufgestanden und drosch ihm seine Faust in den Magen. „Halt endlich deine Klappe, sonst machen wir weiter und das willst du doch sicher nicht“, hatte er ihn höhnisch gefragt, während die Schmerzen in seinem Bauch explodierten. Verzweifelt schüttelte er den Kopf und schwieg, einer Ohnmacht nahe. Plötzlich ging die Tür auf und Mirko kam mit Ivo herein. „Lasst ihn laufen, sein Alter hat kooperiert. Ich habe, was ich will.“ Er packte Rainer am Revers, zog ihn hoch und schüttelte ihn. „Wenn du mir noch einmal über den Weg läufst, dann mache ich dich alle, hast du verstanden?“ Rainer nickte benommen und brach dann zusammen, als Mirko ihm brutal in den Magen schlug. „Schafft ihn raus, ich will ihn nicht mehr sehen. Holt Ivanka, sie soll mich pflegen, meine Eier Schmerzen.“ Die drei Gefolgsleute lachten dröhnend und schleiften ihn hinaus. Er landete unsanft in der Gosse, wo er im stinkenden Wasser liegen blieb. Es dauerte lange, bis er sich aufraffen konnte und langsam davon taumelte. Auf einem Mäuerchen blieb er schwer atmend sitzen. Fürchterliche Rachegedanken erfüllten sein Bewusstsein. Zuerst der Alte, der hatte zugelassen, dass er so misshandelt und gedemütigt wurde. Dann musste als nächstes dieser Mirko dran glauben, dieses kroatische Schwein. Die Eier würde er ihm abschneiden, ganz langsam und er würde seine Schreie genießen. Das schaff ich aber nicht allein, ich brauche zwei oder drei Jungs, die mir dabei helfen und ich weiß auch schon, wo ich die herkriege. Langsam kamen seine Gedanken wieder auf Touren. Vorsichtig versuchte er sich aufzurichten, sank aber schmerzerfüllt wieder zurück. Sein Unterleib war ein einziges Schmerzzentrum. Das werdet ihr mir büßen, schwor er sich. Nach einer Weile konnte er aufstehen. Er machte sich gekrümmt auf den Weg in die Claudiusstrasse, wo er ein kleines Appartement hatte, von dem sein Vater nichts wusste. Dort hatte er frische Kleidung und etwas Geld hinterlegt, ein Notgroschen sozusagen, den er jetzt dringend brauchte. Nach fast zwei Stunden Fußmarsch lag er aufstöhnend im Bett. Im Nachtkästchen war eine Flasche Korn deponiert, die er jetzt innerhalb einer Stunde leerte, dann sank er benommen zurück und schlief ein.

Mai 2015 Hinterbach Beerdigung

Mit tränenden Augen stand Alex vor dem Grab ihrer Mutter. Es war ganz schnell gegangen. An Weihnachten hatten sie noch gemeinsam im Wagnerhof gesessen. Ihre Eltern, die Eltern von Franz, Serina und Bran. Wo Max war wusste niemand und auch Sonja war nicht erschienen. Trotzdem war es ein friedliches Miteinander gewesen. Die beiden Mütter hatten gemeinsam einen hervorragenden Festtagsbraten gekocht, allen hatte es sehr gut geschmeckt. Sylvester verschliefen sie fast, Franz hatte sie geweckt und sie stießen zusammen an. Sie war kurz danach wieder eingeschlafen und erst am Morgen in den Armen ihres Geliebten aufgewacht. Das hatte sie sehr schön gefunden, vor allem als er sie nach einem unbeholfenen Vorspiel genommen hatte und sie sich trotzdem den Mund zu halten musste, damit ihre Lustschreie die Alten nicht weckten.
Lange sah sie auf das frische Grab und fragte sich, wo Sonja war. Sie hatte an der Beerdigung nicht teilgenommen. Max war da gewesen, aber schnell wieder wortlos verschwunden. Nur Agnes, ihre ältere Schwester, war mit Mann und Kind da gewesen, aber nach dem Leichenschmaus waren auch sie wieder gefahren.
Daheim auf dem Hof saß Hubert, der Vater schweigend auf der Bank, vor ihm stand eine Schnapsflasche und ein Glas. So hatte er auch letztes Jahr dagesessen, als Oma Elfriede, seine Mutter gestorben war.
Schweigend setzte sie sich neben ihn und goss sich in das zweite Glas einen Schnaps ein, den sie mit einem Ruck hinuntergoss. Lange saßen sie da. Sie hatte ihren Arm um ihren Vater gelegt, ihr Blick war in weite Ferne gerichtet, in ihrem Inneren schmerzte es nur noch. Sie fühlte sich von ihren Geschwistern verlassen und im Stich gelassen. Die ganze Verantwortung lastete auf ihr, jetzt auch noch der alte Vater, um den sie sich nun allein kümmern musste. Selbst Claudia, ihre beste Freundin war anderweitig mit ihrem Orchester unterwegs und hatte keine Zeit für sie. Sie reiste irgendwo in der Welt herum und schrieb Postkarten. Der einzige Lichtblick in ihrem Leben war Franz, der zum Glück gerade um die Ecke bog und sich dann zu ihnen setzte. Auch er goss sich in ihr Glas einen Schnaps ein und stürzte ihn, genau wie sie, hinunter und schüttelte sich dann, denn eigentlich mochte er keinen Schnaps. Alex legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss zum ersten Mal erleichtert die Augen.
Drei Wochen später stand sie wieder mit Tränen in den Augen auf dem Friedhof und schaute auf das zweite Grab vor ihren Füssen. Der Vater hatte nicht mehr wollen. Er wollte nur noch zu seiner Marianne und hatte seinen Willen durchgesetzt. Nur knapp drei Wochen hatte er sie überlebt und war am 31.Mai gestorben. Ach Papa, warum hast du mich auch allein gelassen? Max ist weg, Sonja ist weg, Agnes lebt ihr eigenes Leben, was soll ich denn jetzt hier noch? Mitten in ihre traurigen Gedanken mischten sich zwei starke Arme, die sie liebevoll umschlangen. „Komm, mein Schatz, komm mit, wir gehen heim. Ich werde mit meinen Eltern zu dir ziehen, damit du nicht allein bist. Ich habe viele neue Ideen, aber das erzähle ich dir später, jetzt komm erst mal mit.“ Liebevoll zog er sie vom Grab weg und ging mit ihr zum Auto.
Lange saßen sie dann auf der Bank, auf der sie vor wenigen Wochen noch mit dem Vater gesessen hatten.
„Meinen 30. Geburtstag lasse ich ausfallen, mir ist die Lust zum Feiern vergangen. Bitte sage allen ab. Ich möchte niemanden sehen, vor allem meine treulosen Geschwister nicht. Die sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst.“ Franz sah sie verständnisvoll an. „Jetzt warte erst einmal bis sich alles gesetzt hat, dann überlegst du es dir vielleicht noch.“ Dafür liebte sie ihn unbändig. Er versuchte nicht, ihr etwas einzureden oder sie umzustimmen. Er akzeptierte einfach ihre Meinung und nahm sie ernst. Aber, und das war auch typisch für ihn, er ließ auch andere Möglichkeiten zu und blieb eigentlich immer offen für alle Eventualitäten.
Verliebt und erleichtert kuschelte sie sich an ihn, er akzeptierte ihren Schmerz. Nach einer Weile wollte sie wissen, welche Idee er vorher auf dem Friedhof gemeint hatte. Ihre Neugier siegte. Er lächelte still in sich hinein, auf diese Frage hatte er gewartet. Er kannte seine Alex inzwischen sehr gut. „Später“, meinte er aber. „Lass uns erst was essen. Ich habe Hunger und mit leerem Magen kann ich nicht denken oder reden.“ „Willst du nicht deine Eltern zum Essen holen? Ich habe einen großen Schweinebraten mit Knödeln gemacht, weil ich dachte ihr kommt noch zu mir.“ Franz nickte erfreut und machte sich sofort auf den Weg, um seine Eltern zu holen. Eigentlich wollte ich es vorher mit ihr allein besprechen, aber vielleicht ist es besser so.
Nach dem Essen standen Alex und Franz in der Küche, die Eltern saßen drinnen in der Stube und Franz erklärte Alex schnell seine Ideen.
„Wie fändest du es, wenn meine Eltern endgültig hier einziehen würden, die Räume deiner Eltern sind ja jetzt frei. Natürlich müssten wir erst gründlich renovieren. Ich würde dann ebenfalls bei dir wohnen und wir könnten endlich zusammen sein.“ Alex sah ihn aufmerksam an, sagte aber noch nichts. Sie spürte, dass er noch nicht fertig war. „Den Wiesenbauernhof könnten Serina und Bran übernehmen und dort die Schafsstation weiter ausbauen. Das Kühlhaus steht ja schon dort. Und jetzt kommt für mich das wichtigste.“ Er kniete vor ihr nieder und sah sie von unten an.
„Alexandra Wagner, willst du meine Frau werden? Willst du mich heiraten?“ Er sah sie bang, aber hoffnungsvoll an. „Ich weiß, die Küche hier ist nicht unbedingt romantisch, aber ich meine es trotzdem ernst.“ Freudig lachte sie und kniete zu ihm nieder. „Ja, Ich will. Ich will deine Frau werden. Ich warte schon so lange auf diese Frage, du dummer Kerl. Ich liebe dich und will mit dir alt werden.“ Zärtlich umarmte sie ihn und sie küssten sich innig.
„Was meinst du denn zu meinen anderen Ideen? Meinst du, du könntest damit leben?“ Sie sah ihn lange an, dann lächelte sie und nickte. „Deine Ideen finde ich hervorragend, vor allem, dass du hier wohnen willst macht mich sehr glücklich und deine Eltern mag ich auch gerne. Sie sind hier willkommen, wenn sie denn wollen. Hast du mit ihnen schon gesprochen?“ „Nicht direkt, ich wollte nicht vorgreifen, aber ich glaube sie wären nicht abgeneigt. Sie mögen dich sehr, würden unserer Hochzeit mit Freuden zustimmen und vermutlich gerne mit mir hierher umziehen.“ „Gut, dann gehen wir jetzt zu ihnen und fragen sie.“ Sie nahm ihn an der Hand und sie gingen in die Stube, wo sie die beiden Alten erwartungsvoll ansahen. Sie hatten wohl bemerkt, dass etwas im Busche lag. Franz teilte ihnen ihre Heiratsansicht mit und beide brachen in freudiges Lachen aus. „Komm her Alex, lass dich küssen“, lachte Franziska und schloss sie in ihre Arme. „So eine Tochter wie dich habe ich mir immer gewünscht.“ Auch Gottlieb zeigte seine Freude deutlich, dann aber fragte er. „Was wird dann aus uns? Allein schaffen wir es nicht mehr.“ Alex nahm ihn in den Arm. „Ihr müsst nicht allein sein. Wir haben uns gedacht, dass wir für euch die Räume meiner Eltern neu herrichten und ihr hier bei uns wohnt. Der Wagnerhof ist wesentlich größer, hier gibt es keine Probleme. Was meint ihr dazu?“ Die beiden sahen sich an und begannen dann zu strahlen. „Das würdet ihr wirklich wollen? Das wäre natürlich toll. Gerne würden wir bei euch wohnen. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Das ist uns natürlich die liebste Lösung, ich freue mich ja so.“ Franziska saß da und Freudentränen rollten ihr Gesicht herunter. „Gut, dann sei es so“, meinte Franz. „Wir heiraten im Herbst oder im Frühjahr und ich denke, dass ihr bis Weihnachten hier wohnt und wir den Jahreswechsel gemeinsam feiern werden.“ Alex schmiegte sich an ihn und nickte glücklich. „Langsam sehe ich wieder Land am Horizont. Halt mich bloß fest, dass ich nicht untergehe“, flüsterte sie an seinen Arm geschmiegt und er streichelte sie beruhigend.

15. Juni 2015 Geburtstag Alexandra

Alex hatte niemand zum Geburtstag eingeladen. Ihr war nicht nach Feiern. Die Tode ihrer Eltern waren noch zu nahe. Morgens hatte sie Franz zwar mit einem Bettfrühstück überrascht, aber dann war sie zur Tagesordnung übergegangen und war alleine zum Friedhof gegangen, wo sie seit zwei Stunden reglos saß und blicklos in die Ferne schaute. Die leisen Schritte hinter sich hörte sie nicht, so versunken war sie in ihrem Schmerz. Dann legten sich zwei weiche Arme um sie und sie wurde gegen einen warmen Körper gezogen. Sofort fuhr sie herum und landete dann mit einem Jubelschrei in Claudias Armen. Lang standen sie eng aneinandergedrückt, dann begannen Alex Tränen zu fließen. Eine Stunde lang berichtete sie schluchzend, was sich ereignet hatte. Erst als sie die bevorstehende Hochzeit erwähnte, schlich sich ein Lächeln über ihr Gesicht und die Tränen versiegten. Claudia freute sich herzlich und wollte natürlich eingeladen werden. „Klar, du sollst eine meiner Brautjungfern sein, darauf bestehe ich“, meinte sie jetzt froh lachend. „Sobald ich den Termin weiß, teile ich ihn dir mit und es gibt keine Entschuldigung für etwaiges Fehlen, hast du gehört, keine Entschuldigung egal aus welchem Grund auch immer.“ Lachend nahm Claudia Ihre Freundin in den Arm. „Ich habe deinen Wunsch verstanden und werde pünktlich sein. Deine Hochzeit lasse ich mir nicht entgehen. Komm, lass uns wieder zum Hof gehen, dein Franz hat mir verraten, dass er zu Mittag etwas kochen will und seine Eltern sind ja auch da. Serina und Bran wollen ebenfalls kommen, auch wenn du nicht feiern willst, was ich in diesem Fall verstehen kann.“ Arm in Arm schlenderten sie den Berg hinauf und quasseln wie in alten Zeiten, Alex lebte sichtlich auf und freute sich über die Vorbereitungen, die Franz inzwischen sicher gemacht hatte. Es wurde doch noch eine ruhige, aber schöne, friedliche Geburtstagsfeier.

Herbst 2015 Einzug

Der Wagnerhof füllte sich langsam. Franziska und Gottlieb waren in die ehemaligen Räume von Marianne und Hubert eingezogen und Franz wohnte jetzt endlich bei seiner Alex. Sie hatten ihr ehemaliges Mädchenzimmer in ein schönes großes Schlafzimmer umgewandelt. Alex hatte mit viel Liebe die Vorhänge genäht, ein wunderschönes grün mit vielen winzigen Gänseblümchen. Franz hatte mit einem befreundeten Schreiner einen herrlichen honigfarben Holzboden gelegt. Auch im gesamten Haus hatten sie beide liebevoll gewirkt und so manche dunkle Ecke gereinigt und sorgfältig verschönt. Im Sommer 2016 wollen sie jetzt endgültig heiraten und die Planungen liefen bereits. Wie jedes Jahr waren die ersten Dezemberwochen der Weihnachtsbäckerei gewidmet.
Mitten hinein platzte ihre Schwester Sonja, dreckig, abgemagert und völlig von der Rolle. Sie ignorierte alle, rannte hoch in ihr Zimmer und man hörte nur noch die Dusche. Dann knallte die Tür und alles war still. Alex zuckte hilflos mit den Schultern und sie fuhren mit ihrer Backerei fort. Franz hielt Alex, die hinauf zu Sonja wollte, zurück. „Lass sie, sie muss von alleine kommen, das wird schon.“ „Ich muss heute nochmal hinunter in den Hof und bleibe wahrscheinlich über Nacht dort. Meinst du, du kommst hier klar, oder soll ich lieber dableiben?“ wollte er wissen. „Nein, geh ruhig, vielleicht ist es sogar besser so.“ Sie küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Er nickte und machte sich auf den Weg. Am Abend hörte sie aus Maximilians Zimmer lautes Geschrei. Sonja und er hatten einen heftigen Streit, es flogen anscheinend die Fetzen. Gegen 21Uhr wurde es ruhig und sie hörte Sonja heftig weinen, dann verstummte auch dieses Geräusch.
Ich gehe jetzt auch schlafen, dachte Alex schließlich gähnend. Im Haus war alles ruhig. Nach einem letzten Kontrollgang ging sie ins Bett. Komisch, dachte sie, ich habe mich schon so dran gewöhnt, dass jemand bei mir ist, dass ich mich richtig allein fühle. Schnell schrieb sie Franz noch einen Gutenachtgruß, den er fast sofort erwiderte und ebenfalls meinte, er sei so allein. Lächelnd legte sie ihr Handy weg und schloss müde die Augen. Mitten in der Nacht drehte sie sich und merkte, dass sie nicht allein war. Franz, dachte sie lächelnd und umarmte den Körper, hatte aber plötzlich feste kleine Brüste in der Hand. Sie stutzte und erkannte dann Sonja, die an sie gekuschelt schlief, wie in alten Zeiten. Zärtlich lächelnd legte sie fest ihren Arm um sie und schlief wieder ein. Früh am Morgen erwachte sie und betrachtete ihre kleine Schwester, die überhaupt nicht mehr klein war wie sie gestern gespürt hatte und strich ihr liebevoll eine Haarstäbe aus der Stirn. Dabei bemerkt sie, dass Sonja wach war und reglos ihr streicheln zuließ. „Hallo kleine Schwester“, flüsterte sie. „Es ist schön, dich endlich mal wieder im Arm zu haben, sprich mit mir, ich höre.“ Erstaunt musterte Sonja sie und dann brach das ganze Elend aus ihr heraus. Sie erzählte von München, ihrem Leben bei den Studenten, den Rauschgiftorgien, der kriminellen Schickeria und ihrer Verzweiflung mit der sie Liebe und Zuneigung gesucht hatte, aber nur benutzt worden war. „Ich dachte immer, niemand hat mich lieb, du warst meistens weg, Agnes sowieso und Max schob mich immer weg, obwohl ich seine brüderlichen Arme so gebraucht hätte. Deshalb haben wir so gestritten und dann hat er mir erzählt, dass Mutter ihm verboten hatte, mich in den Arm zu nehmen oder gar zu küssen. Er musste es ihr schwören und er hat sich zähneknirschend daran gehalten. Es gab wohl einen Skandal im Brückenbauernhof, wo ein Bruder seine kleine Schwester missbraucht hat und das durfte hier bei uns nicht geschehen. Mutter ist an dem ganzen Schlamassel schuld mit ihrer kleinlichen Angst vor einem Skandal. Max hat mir heute Nacht alles erzählt. Sein Gesaufe hat er auch deswegen aus lauter schlechtem Gewissen angefangen, als ich abgehauen bin und mein Erbe gefordert habe, Jetzt kann er nicht mehr so einfach damit aufhören, aber er hat versprochen, es zumindestens einzudämmen so gut er kann und es ist ja Gott sei Dank noch nicht so schlimm, wie wir alle dachten. Ach Alex, ich war so gemein zu dir, es tut mir so leid. Mit München habe ich gebrochen, ich glaube ich bin noch rechtzeitig abgesprungen, bevor es zu spät war. Jetzt will ich versuchen, ob ich hier eine kaufmännische Ausbildung machen kann. Ich hoffe, dass ich bei euch wohnen darf.“
Alex hatte mit steigendem Entsetzen zugehört und nahm Sonja jetzt impulsiv in den Arm und küsste sie auf den Mund. „Natürlich wohnst du hier. Das ist doch auch dein Zuhause. Das mit Mutter tut mir leid, das habe ich nicht gewusst. Jetzt wird mir vieles klar und ich bin, verzeih meinen Zorn, froh, dass sie nicht mehr hier ist, sonst würde ich sie zur Rechenschaft ziehen für das Leid und den Schmerz, den sie ihrer Familie, also uns, angetan hat. Möge sie in Frieden ruhen, Gott sei ihrer Seele gnädig und möge ihr verzeihen, ich weiß nicht, ob ich es kann.“ Entsetzt schlug Sonja die Hand vor ihren Mund und sah die große Schwester fassungslos an. So unerbittlich hatte sie die sanftmütige Alex noch nie erlebt, Alex war ebenfalls sehr erwachsen geworden und momentan Familienoberhaupt, da Max ausfiel.
Fast eine Stunde plauderten und tratschten sie weiter, als es plötzlich an die Tür klopfte, Draußen war es schon hell. Auf ihren Ruf öffnete sich die Tür und Max kam grinsend auf seinem Rollstuhl herein gerollt und hatte vor sich das große Küchentablett mit Geschirr, Kaffeekanne, frische Brötchen Butter, Wurst, Käse, Marmelade und alles, was sonst noch benötigt wurde, auf dem Schoß. „Frühstück, ihr Schlafmützen“, rief er grinsend und kam zum Bett gefahren. Die beiden Schwestern sahen sich an und riefen dann freudig „Super, Frühstück zu dritt, endlich kriegen wir das hin.“ „Max, das wollen wir jetzt aber öfters, vielleicht nicht hier in diesem Bett, aber in der Küche und dann eventuell auch zu viert.“ Sie lachten beide fröhlich und strahlten.
Max grinste weiter und sah seine Schwester liebevoll an. Dann beugte er sich zu Sonja und küsste sie auf Wangen und Mund. Alex bekam die gleiche Behandlung und kicherte erfreut. „Du darfst uns ab jetzt jederzeit küssen und niemand macht dir einen Vorwurf. Geschwister dürfen sich küssen, so war es schon immer“, schloss Alex und umarmte beide nacheinander. Dann machten sie sich hungrig über die mitgebrachten Sachen her.
„Ab jetzt herrscht in unserer Familie Ehrlichkeit. Jeder soll sagen, wenn ihm etwas auf der Seele liegt, nichts soll mehr hinuntergeschluckt werden, habt ihr verstanden?“ Alex sah ihre beiden Geschwister ernst an. „Max, wir werden versuchen, dir bei deiner Sucht zu helfen, vielleicht brauchst du auch professionelle Hilfe, das kann ich nicht beurteilen, aber wir kriegen es gemeinsam hin. Wir sind Geschwister und halten ab jetzt zusammen.“ Beide nickten ernst und lächelten dann. „OK, ich bin ja so glücklich, dass ich euch wiederhabe.“ Alex begann zu weinen. Bei ihr löste sich jetzt in den Armen ihrer kleinen Schwester der dicke Knoten, der seit Jahren auf ihre Brust drückte.
Als Franz am Vormittag wieder erschien, fand er drei erleichterte, gelöst strahlende Geschwister vor. Alex fiel ihm um den Hals und erzählte ihm lachend, was sich zugetragen hatte und wie ihre Mutter in ihrer Angst die Familie fast zerstört hatte. Er sagte nichts, nahm sie nur innig in seine Arme und vergrub seinen Kopf in ihrem herrlichen, wie immer nach Frühling und Blumen duftenden Haar, dass er so liebte.

Hamburg, Ende November 2015

Rainer hatte sich das Jahr über erfolgreich vor seinem Vater und vor Mirko verborgen. Der Hass auf die beiden brannte wütend in seine Brust, aber er hatte sich das ganze Jahr zurückgehalten und plante seine Rache sehr sorgfältig. Mit einigen Tricks war es ihm gelungen, andere Konten seines Vaters zu leeren. Das hatte dieser anscheinend noch nicht bemerkt und so hatte er finanziell momentan keine Sorgen. Piotr und Serge, zwei Ukrainer hatten sich ihm angeschlossen und sie hatten inzwischen mehrere Landsmänninnen der beiden gezwungen, für sie anzuschaffen. So bezogen sie ein ordentliches Einkommen, da die fünf hübschen Mädchen viel Kundschaft hatten. Er kannte die Gewohnheiten seines Erzeugers genau und hatte einen Plan ausgeklügelt. Immer nach einem erfolgreichen Deal ging er zu seiner Olga in deren Puff. Dort war er für einige Zeit ohne Wolfi, seinen persönlichen Bodyguard, der sich dann auch vergnügte. Dass wollte er ausnutzen.
Am Freitag schlich er sich in Olgas Haus und versteckte sich in einem der leerstehenden, momentan nicht genutzten Zimmer. Es dauerte nicht lange und Serge meldete per WhatsApp die Ankunft des Alten. Dann hörte er die verhasste, dröhnende Stimme, die nach einem jungen Mädchen rief. „Du bist aber hübsch“, hörte er dann den Alten begeistert rufen und an den würgenden Lauten erkannte er, das der Alte ihr seinen Schwanz tief in den Mund rammte. Rainer grinste in der Vorfreude und klappte das Rasiermesser auf. Prüfend strich er vorsichtig über die extrem scharfe Klinge und wartete, bis er den Alten keuchen hörte.
Als dieser fertig war, jagte er die Kleine aus dem Zimmer. Rainer hörte ihn schwer atmend, jetzt war der richtige Moment. Leise öffnete er die Tür. Mit geschlossenen Augen und rasselndem Atem lag der Alte halb auf dem Sessel, auf dem er es sich hatte besorgen lassen, zu mehr war er nicht mehr imstande. Verächtlich musterte er den alten fetten Mann. Der verschrumpelte Schwanz verschwand fast unter dem dicken Bauch, die Hose war noch weit heruntergelassen. Leise ging er um den Sessel herum, packte dann den Alten an der Stirn und drückte seinen Kopf nach hinten. Entsetzt riss dieser die Augen auf und starrte ihn an. „Rainer, was machst du…?“ Zu mehr kaum er nicht, denn das Messer fuhr durch seine Gurgel, von einem Ohr bis zum anderen. Weit spritzte das Blut, aber Rainer hatte sich so platziert, dass ihn nicht ein Tropfen traf. Ein paar Mal trampelte der Alte noch mit seinen fetten Beinen, dann war es still. Er regte sich nicht mehr. Schnell ging Rainer wieder hinaus und verließ das Haus auf dem gleichen Weg, wie er gekommen war.
Er stieg über die alte, vergessene Feuerleiter auf der hinteren Seite des Hauses. Während er nach vorne auf die Straße abbog, zog er sich die Einmalhandschuhe aus, die er benutzt hatte und versenkte sie in einer der Mülltonnen, an denen er vorbeiging. Das sollte ihm später zum Verhängnis werden, denn sie wurden natürlich gefunden und seine DNA war der Polizei inzwischen bekannt. Zufrieden ging er wieder in ihre große Wohnung in der Corneliusstrasse, die im gleichen Haus lag wie sein kleines Appartement.
Seine beiden Kumpanen waren schon da und hatten drei ihrer Mädchen mitgebracht, die sich willig um sie kümmerten. Auch Rainer ließ sich verwöhnen und dachte, der Alte hatte schon recht, sich einen blasen lassen ist am bequemsten und absolut geil. Genüsslich schloss er seine Augen und erlebte den Tod seines Vaters noch einmal, während das Mädchens ihn mit dem Mund bediente.

München Anfang Dezember 2015 Kommissariat, Montag-Morgen

Monika Schlegel studierte den Bericht aus Hamburg. „Hast du schon gelesen, der alte Goll ist tot. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten, ausgerechnet in seinem Stammpuff. In einer Mülltonne in der Nähe haben sie Einmalhandschuhe gefunden mit Hautabrieben von dem Alten und jetzt halte dich fest, DNA Spuren vom Sohn im Inneren der Handschuhe. Er muss sie also angehabt haben. Die Kollegen sind sich ziemlich sicher, dass Rainer Goll, seinen Vater umgebracht hat. Es war bekannt, dass er den Alten grimmig gehasst hat, nachdem der ihn so abserviert und bloßgestellt hatte. Irgendwie passt alles zusammen. Wir können es aber nicht beweisen. Der Sohn steckt auch hinter dem Tod von Innsbruck, da hatte der Alte sicher seine Finger irgendwie drin. Einen Zeugen hat der Junge jetzt erledigt, gibt es noch weitere? Ich glaube ja und deshalb ist das Spiel noch nicht zu Ende. Auch die Wagner ist meiner Meinung nach immer noch in großer Gefahr. Der Junge ist in seiner Rachsucht nicht zurechnungsfähig. Ob die Hammer gefährdet ist, will ich auch nicht ausschließen, dieser Goll ist unberechenbar. Was meinst du, sollen wir sie warnen, ihnen mitteilen was wir wissen?“ Ernst wiegte den Kopf. „Dürfen wir das überhaupt? Überschreiten wir da nicht unsere Kompetenzen?“ „Ich glaube, ich werde mal in dieses Kaff fahren, wie heißt es gleich?“ Sie blätterte in den Akten. „Aha, da habe ich es. Nach Hinterbach auf den Wagnerhof werde ich fahren und ein Gespräch von Frau zu Frau führen, ganz privat, ohne Zeugen. Ich denke, dass bin ich ihr schuldig nach dem ganzen Schlamassel, den sie erdulden musste.“ Ernst nickte nachdenklich. „Aber lehne dich nicht zu weit aus dem Fenster, denke an unser Dienstrecht, es muss absolut privat und ohne Zeugen sein.“ Monika nickte zustimmend.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752125504
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Unterhaltung Fantasy Krimi Spannung Partnerschaft Beziehung Familie Liebe Erotik Musik Roman Abenteuer Liebesroman Thriller

Autor

  • Martin Amadeus Weber (Autor:in)

Kurze Vita Mein Name ist T. M. Weber Ich wurde am 15.05.1952 in Stuttgart geboren. 35 Jahre lang war 6an einer Stuttgarter Schule als Lehrer tätig. Seit Sommer 2017 bin ich im Ruhestand. Seit 2001 bin ich geschieden und seit 2006 mit meiner jetzigen Frau Christine verheiratet. Aus erster Ehe habe ich einen Sohn geb. November 1981, eine Tochter, geb. Juni 1983, und inzwischen 4 Enkelkinder. Mein Pseudonym unter dem ich veröffentliche ist Martin Amadeus Weber. T. M. Weber
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Titel: Die Dirigentin Teil I