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Wilde Rosen im September

von Marc de Sarno (Autor:in)
362 Seiten

Zusammenfassung

Wilde Rosen im September Das Schicksal schlägt aus wie ein Pferd ... und dann trifft es dich. Mark Lissoni, Vater, EDV-Techniker, Hufschmied und Reitstallbesitzer lernt Jennifer Aigner kennen, die zu ihm in den Reitstall kommt, um ihr Pferd ausbilden zu lassen. Sie verlieben sich ineinander. Mark, der das Ziel der Selbstständigkeit vor Augen hat und im Büro unter Stress steht, ignoriert erste Anzeichen einer Erkrankung, die mit Kopfschmerzen und Fieber beginnt. Als er zum Arzt geht, stellt dieser eine Fehldiagnose. Mark fällt ins Koma und kommt ins Krankenhaus. Seine Frau, Rosanna, mit der er in Scheidung lebt und die ihre Kinder vernachlässigt, erklärt ihn für tot. Für Jennifer bricht eine Welt zusammen. Sie überwindet ihren Kummer und nimmt sich um Marks Kinder und den Reitstall an.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Marc de Sarno

 

 

 

Wilde Rosen im September

 

 

 

Roman

 

 

 

Impressum

Texte: © Copyright by Marc de Sarno

Umschlag: © Copyright by Marc de Sarno

Lektorat: Fredy Daxboeck

Verlag: Marc de Sarno, 2070 Retz

marc.de.sarno@gmail.com

www.marc-de-sarno.info

 

ISBN: 978-1-983-23579-5

 

 

Das Gesamtwerk, inklusive seiner Daten und aller Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlages und des Autors ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung,

Verbreitung, die Einspeicherung in elektronische Systeme und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Wilde Rosen im September

 

Das Schicksal schlägt aus wie ein Pferd ... und dann trifft es dich.

Mark Lissoni, Vater, EDV-Techniker, Hufschmied und Reitstallbesitzer lernt Jennifer Aigner kennen, die zu ihm in den Reitstall kommt, um ihr Pferd ausbilden zu lassen. Sie verlieben sich ineinander.

Mark, der das Ziel der Selbstständigkeit vor Augen hat und im Büro unter Stress steht, ignoriert erste Anzeichen einer Erkrankung, die mit Kopfschmerzen und Fieber beginnt. Als er zum Arzt geht, stellt dieser eine Fehldiagnose. Mark fällt ins Koma und kommt ins Krankenhaus.

Seine Frau, Rosanna, mit der er in Scheidung lebt und die ihre Kinder vernachlässigt, erklärt ihn für tot.

Für Jennifer bricht eine Welt zusammen. Sie überwindet ihren Kummer und nimmt sich um Marks Kinder und den Reitstall an.

 

 

März 2018

Veröffentlicht im E-Book Verlag,

Retz, März 2018

 

Covergestaltung: Marc de Sarno

 

Dieses E-Book ist auch als Taschenbuch erhältlich

 

Die Handlung dieses Buches ist frei erzählt. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten sind meinen persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen geschuldet.

Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

marc.de.sarno@gmail.com

www.marc-de-sarno.info

für Maria

 

Der Erzähler verschenkt einen Teil seines Herzens, wenn er eine Geschichte auf Papier bringt,

aber der Leser einen Teil seiner Seele, wenn sie ihn berührt

 

Sommerträume

 

Inmitten der kühlen Insel aus tanzenden Schatten

umringt vom sonnenwarmen Grün

steht unter dem Nussbaum

die alte Bank

 

großmütig schenken die Rosen gegenüber ihr

verschwenderisch Farben und Duft eines Sommers

doch vorbehalten für mich

schweigt sie still vor sich hin

 

Bei ihr verliert das Jetzt seine Dringlichkeit

In der Friedlichkeit des Innehaltens

haben Hast und Hektik keine Bedeutung

fallen ab wie Blütenblätter im Frühlingswind

 

In der Tatenlosigkeit des Augenblicks

schwindet Alltag dahin

Stille Momente des Friedens

laden ein zum Träumen

 

 

©Marc de Sarno

eins

 

31. Mai 1995

 

Wir besitzen unsere Pferde nicht

Wir müssen für sie sorgen und da sein

Weil wir ihnen die Freiheit genommen haben

 

 

»Alles gut, bleib liegen!«, sagte der Mann, legte dem großen französischen Schäferhund, der neben ihm lag, die Hand auf den Rücken und strich ihm über das lange schwarze Zottelhaar. Schläfrig drehte der Hund den Kopf zur Seite und seufzte.

Mark Lissoni, Westernreiter und Wanderreitführer schob seinen Hut zurück, erhob sich unter der stattlichen Kiefer, die er während der Mittagspause als Rückenlehne genutzt hatte, und ging mit ruhigen Schritten über die Lichtung im Wald. Mittelgroß, zwischen dreißig und vierzig Jahren, muskulös, mit gepflegtem Dreitagebart, verriet sein Mund Entschlossenheit, aber auch sanfte Freundlichkeit. Die Züge spiegelten sich in den klaren, dunkelgrünen Augen wider. Es waren die Augen eines Mannes, der sich viel im Freien aufhielt und es gewohnt war, von Horizont zu Horizont zu blicken.

Die Luft war klar, rein und roch nach warmem Harz und den hohen, alten Kiefern, die sie umgaben.

Für eine Weile war nur das Summen und Zirpen des Sommers über der Lichtung zu hören, die sich die Reiter für ihre Pause gesucht hatte. In der Wiese ringsum verstreut, lagen Sättel, Stiefel und Decken.

Dazwischen standen sieben Pferde, zwei davon Ponys, und grasten friedlich. Keines der Tiere trug ein Halfter, ausgenommen eine braune Stute. Der Mann umrundete die Gruppe der Pferde, nickte den Mädchen zu, die es sich im Schatten des Waldrandes bequem gemacht hatten und sich leise unterhielten, und blickte suchend den Weg entlang, den sie gekommen waren. Er griff in das Halfter der Stute. Sie war unruhig. Beinahe nervös. Ihre Ohren drehten nach allen Seiten und die Muskeln an ihren Flanken zuckten.

Fahrig stieg sie einige Schritte rückwärts, die Nüstern gebläht und sog tief die Luft ein. Witterte und suchte nach Anzeichen von Gefahr. Ihr Schweif peitschte die Luft, bereit zur Flucht. Davonzustürmen wie der Wind, sowie sich dies als letzter Ausweg anbot.

Allein die Ruhe des Mannes bot ihr Halt. Seine Anwesenheit als Puffer zwischen Bedrängnis und Flucht. Sachte streichelte er sie am Hals und sprach ruhig auf sie ein. Die anderen Pferde hatten schon eine ganze Weile ihre Ohren tanzen lassen und nach Osten gespäht.

In den Wald. Nun hoben sie einträchtig die Köpfe.

Fröhlich und unbeschwert lachend, laufend und springend kam eine Gruppe von Kindern zwischen den Bäumen hervorgetobt, ihre Eltern in gelassenem Abstand im Schlepptau, und verstummten, als sie die Pferde sahen.

Schüchtern, mit großen Augen die Blicke gebannt auf die Herde gerichtet, kamen sie näher. Zurückgehalten von den gezischten Anweisungen ihrer Eltern und einem ungewissen Respekt gegenüber den Tieren, die frei und ungebunden auf der Wiese mitten im Wald standen.

»Schaut, toll, Pferde. Und da, zwei Ponys!«

»Dürfen wir sie streicheln?«

»Beißen die denn?«

»Laufen die nicht davon?«

»Hallo Pferde!«

»Nicht so nah dran.«

Langsam kamen die Kinder näher. Staunend. Neugierig wie scheue Fohlen. Bereit, die Welt um sie herum kennenzulernen und doch achtsam vor den Gefahren, die da draußen lauerten.

Noch nie hatten sie Pferde in so unmittelbarer Nähe gesehen. Vor allem die Ponys faszinierten sie.

Das eine schlank und kohlrabenschwarz glänzend. Das andere mit schneeweißem Fell, dicht und flockig wie die Plüschpferde, die in ihren Puppenstuben standen.

Zielstrebig steuerten sie auf die Ponys zu. Die einen streckten ihnen mutig ihre Hände entgegen, bereit sofort zurückzuweichen, die anderen drei Schritte davor, unsicher abwartend.

»Bitte die Ponys nicht streicheln. Sie fressen und wollen nicht gestört werden«, erklärte Mark in gelassenem Tonfall und wandte sich an die Eltern.

»Sie sind friedlich. Aber es könnte sein, dass eines der Tiere nach einer Pferdebremse schnappt oder schlägt und unabsichtlich ein Kind verletzt.«

Er sah auf die Kinder, die enttäuscht die Arme hängen ließen.

»Ihr dürft die Stute hier streicheln, wenn ihr wollt. Sie ist friedlich und mag Kinder gerne«, meinte er, und klopfte dem Pferd neben ihm auf den Hals.

Ein kleines rothaariges Mädchen hüpfte vor Aufregung. Sie zog an der Jacke eines älteren Mannes. Der lächelte verständnisvoll. Und sofort fassten behutsame Kinderhände in das sonnenwarme Fell, kraulten ihren schlanken Hals und die Schulter und das Pferd drehte neugierig den Kopf in die Richtung der kleinen Menschenwesen. Sah nach den kitzelnden Fingern, was die Kinder sogleich einige Schritte zurückweichen ließ, um mit der Bestimmtheit der Unbefangenheit wieder nachzurücken und erneut dem großen Tier ins Fell zu fassen.

Sachte streichelten, kraulten und berührten sie vertrauensvoll das Tier. Jeder auf seine Weise, mit offenen Mündern und riesigen Augen. Das kleine rothaarige Mädchen stellte sich ganz nahe an die Stute heran und strich ihr über die Stirn und zwischen den Ohren, was ihr ein entrücktes Schnauben in ihr verdutztes Gesicht einbrachte.

Einen langen Moment kämpften verhaltene Angst, Abscheu, aber auch Entzücken in ihrer Miene, bis schließlich eine zufriedene Gelassenheit die Oberhand gewann. Sie strahlte mit breitem Grinsen in Richtung des älteren Mannes. Eine Frau mittleren Alters in erdfarbener Kleidung und dunkler Sonnenbrille trat näher und ließ ihre Hand über Kinderköpfe hinweg durch das Fell des Pferdes wandern.

»Sie fühlt sich so weich an«, sagte sie und genoss es, sichtlich erstaunt, die Wärme der Sonne im Fell des Pferdes zu spüren und das lebhafte Zucken der Haut zu fühlen, mit dem die Stute auf das Kitzeln der Finger reagierte.

»Wie alt ist sie?«

»Was ist sie für ein Pferd. Ich meine welche Rasse?«

»Ist sie schnell?«

»Kommt sie, wenn du sie rufst?«

Die Fragen der Kinder schwirrten durch die Luft und ließen Mark kaum Zeit für Antworten.

»Sie ist vier Jahre, eine Araber-Isländer Mischung und kommt meistens, wenn ich sie rufe. Aber nicht immer.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir arbeiten daran und es wird besser.«

»Wie heißt sie?«, fragte ein blondes Mädchen mit großen haselnussbraunen Augen, die aus ihrem schmalen Gesicht heraus zu leuchten schienen. Sie war etwa zehn oder elf Jahre und drehte Mark den Kopf entgegen, ohne die Hand von dem Pferd zu lassen.

»Samantha«, erwiderte er und das Mädchen wandte sich wieder um und flüsterte: »Hallo Samantha. Schönes Pferd!«

Ein Zug Wildenten flog schnatternd über die Lichtung, unbeachtet von der Gruppe der Wanderer, nur die Mädchen unter den Bäumen hoben die Köpfe. Ihre Rufe hallten noch nach, als sie längst nicht mehr zu sehen waren.

Die anderen Pferde der Herde wurden allmählich unruhig. Sie waren satt gefressen und schlugen nach Mücken und Pferdebremsen, die sie längst gefunden hatten und zunehmend lästiger wurden.

»Wir müssen weitergehen«, wandte Mark sich an die Kinder und die Wanderer. »Es wird Zeit für uns.«

Er ließ seine Blicke über die Lichtung schweifen.

»Diana, Sabine, es geht los, wir brechen auf!«

Die Mädchen, die offensichtlich nur noch auf sein Zeichen gewartet hatten, sprangen auf die Beine, holten Zaumzeug und Zügel und legten sie ihren Pferden an. Mark schnallte Samantha die Zügel ein und drückte sie dem rothaarigen Mädchen, das vor der Stute stand, in die Hand.

»Halt mal bitte!« Verdutzt sah sie ihn an. Mit großen, grün-braunen Augen, die ungläubig blinzelten, während er die Satteldecke und den schweren Westernsattel holte und beides behutsam auf den Rücken der Stute legte.

»Okay! Danke!«

Mark nickte dem Mädchen zu, nahm ihr vorsichtig die Zügel aus der Hand und führte die Stute zu den anderen Pferden. Aufmerksam beobachtet von Kindern und Erwachsenen.

Behäbig erhob sich der große Schäferhund aus dem Gras, streckte sich gemächlich und machte sich auf, die Wanderer, die er bis jetzt großzügig ignoriert hatte, zu begrüßen.

»Was ist denn das?«, entsetzte sich eine Frau und streckte dem Hund, den sie bis dahin nicht wahrgenommen hatte, abwehrend die Hand entgegen.

»Arco, steh!«, rief Mark und der Schäferhund erstarrte zur Statue, aufmerksam den Kopf erhoben. Verschwunden war der träge Ausdruck in seinen Augen und seinem Auftreten.

Gebannt blickte die Wandergruppe zu dem schwarzen Hund, der mit seinen sechzig Kilo und dem Stockmaß von knapp achtzig Zentimetern beeindruckend groß aussah. Sein zottiges Fell glänzte matt in der Sonne. Er war nur unwesentlich kleiner als das schwarze Pony.

»Es ist in Ordnung«, rief Mark und wandte sich an die Frau. »Er wird ihnen nicht zu nahe kommen.«

Er stieg in den Sattel und lenkte sein Pferd zu dem Hund. Mit einem Handzeichen forderte er ihn auf, neben ihm zu gehen, um die Frau nicht erneut zu erschrecken, und die Reiter setzten sich in Bewegung.

Sie ließen die Pferde eine Weile laufen, um der Hitze des Tages, die über der Lichtung lag und deren Quälgeister zu entfliehen. Die Luft im Wald war kühl und sie genossen den Wind, der ihnen in die Gesichter fuhr und die Haare zauste. Nur wenige Kilometer weiter wand sich in sanften Kurven ein schmaler Wasserlauf durch den Wald und kreuzte ihren Weg. Hier tränkten sie die Tiere. Der Hund lief freudig bellend den Bach entlang und planschte übermütig im kalten Nass.

Die Reiter nutzten die Pause, um aus ihren Wasserflaschen zu trinken und die Beine durchzustrecken. Dann ging es im Galopp eine weite Strecke mit leichtem Anstieg einen Hügel bergan. Immer höher führte sie der Weg den Berg hinauf. Für eine Weile war nur das trommelnde Stakkato der Hufe auf trockenen Boden, und das schwere Schnaufen und Schnauben der Pferde zu hören. Oben angekommen öffnete sich der Wald und vor ihnen breitete sich mit überwältigender Aussicht das weitläufige Land aus, das rechter Hand nach Westen zu in steilen Hängen abfiel. Sie parierten die Tiere zum Schritt durch und ließen die Augen über die schier unendlich scheinenden Hügel, Wiesen und Wälder, die zu ihren Füßen lagen, schweifen.

Vereinzelt waren weit unten zierliche Häuser und Gehöfte zu sehen. Auf grauen, bleistiftdünnen Strichen, die sich in Schlangenlinien dahinzogen, bewegten sich winzige Fahrzeuge im Schneckentempo dahin. Für Kinderhände gebasteltes Spielzeug einer fernen Spielzeugwelt.

Irgendwo im Südwesten über einem Wäldchen, beinahe auf gleicher Höhe mit ihnen, schwebte majestätisch ein großer Raubvogel in der Luft und zog seine Kreise. Schwerelos.

Als ob er schon seit Urzeiten seine Flugmuster in den blaugrauen Himmel zeichnen würde. Leise war sein Ruf zu hören. Dann verschwand er hinter den Bäumen vor ihnen und kam wieder, verschwand er und kam wieder. Nur ein schmaler Fleck vor der Sonne.

Mit einer unbewussten Bewegung schob der Mann seinen Hut in den Nacken.

»Großartig!«, sagte er, mehr zu sich selbst, als zu dem Mädchen, das sich an seine rechte Seite gesellt hatte.

»Ich liebe diese Strecke. Wenn wir hier herauf galoppieren und aus dem Wald kommen, habe ich das Gefühl, ich könnte fliegen.«

Diana lächelte. Wortlos ritt sie neben Mark und sah ihn verstohlen von der Seite an. Er drehte sich zu ihr herum.

»Dann wollen wir sie fliegen lassen«, sagte er mit breitem Grinsen und zwinkerte fröhlich. Diana feixte zurück und trieb ihr Pferd an den anderen vorbei.

»Okay! Lassen wir sie laufen«, rief sie ihnen zu, und sie galoppierten die nächsten drei Kilometer den Weg entlang, der von einer niedrigen Hecke abgegrenzt war. Danach ging es in engen Kurven bergab. In der Folge wechselten sich lange Passagen in Trab und Schritt mit Galoppstrecken ab, bis die Gruppe müde und zufrieden beim Anbruch der Dämmerung heimkehrte.

Das Blaugrau des Himmels, das sie den ganzen Tag begleitet hatte, verwandelte sich allmählich in ein sanft glühendes Abendrot. Am Horizont sammelten sich erste Wolkenschleier und malten bizarre Muster über die Hügel.

Nachdem die Pferde versorgt und die Mädchen nach Hause gefahren waren, setzten sich Mark und seine Kinder zum Abendessen. Rosanna, seine Frau, war noch unterwegs. Sie würde später kommen. Sie wussten nicht wann. Aber Sarah und Nicole waren daran gewöhnt, dass ihre Mutter manchmal erst spät abends nach Hause kam. Sie sagte nie, wo sie gewesen war und niemand fragte danach.

Die Mädchen plapperten während des Essens, besprachen den Tag, lachten über kleine Anekdoten und erledigten gemeinsam mit ihrem Vater den Abwasch. Danach schickte er sie ins Badezimmer, zum Duschen und Zähne putzen. Sie durften eine Weile im Bett lesen und er versprach ihnen später vorbeizukommen, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen.

Als die Mädchen in ihren Zimmern waren, ging Mark in den Hof und streckte sich. Im Vorbeigehen nahm er einen Strick mit, den Sonja vergessen hatte, und hängte ihn an seinen Platz. Dann schlug er den Weg hinter das Haus ein, winkte seinem Hund und die beiden setzten sich ins Gras.

Über ihm, im Laub der alten Apfelbäume, die wie Schulter an Schulter standen, spielte eine flüchtige Brise, die aus dem Süden kam. Die Luft war erfüllt vom Zirpen zahlloser Grillen, die im Gras um die Gunst der Weibchen buhlten. Die Pferde standen auf der Weide und rupften friedlich an den Halmen. Nur ihr zufriedenes Schnauben war zu hören. Und hin und wieder ein Huf, der stampfend nach lästigen Insekten schlug. Fledermäuse segelten hoch über dem Garten und jagten im nächtlichen Tanz. Drüben am Waldrand, wo der kleine Bach unter der Brücke im Wald verschwand, rief eine Eule ihren schaurigen Ruf. Das heisere Bellen eines Fuchses antwortete ihr. Der Schäferhund hob wachsam den Kopf und Mark legte ihm beruhigend die Hand auf den Rücken. Am Himmel schlossen sich die letzten Wolkenfenster und die Finsternis saugte die Schatten auf, die hinter den Bäumen kauerten. Völlige Dunkelheit senkte sich über die Hügel.

Dieser Reitstall ist mein Leben, ist mein Traum, dachte er und atmete tief den Duft dieser Nacht ein. Es roch nach Pferden, frischem Gras und nach dem nahen Sommer.

Ich möchte ihn nicht missen. Nicht im beständigen, kühlen Märzregen, nicht in der stickigen Schwüle Mitte August, nicht im grauen Novembermorast und schon gar nicht in so einer Nacht.

 

 

*

 

Kein Wind bewegte die Blätter der Bäume, die regenfrisch vom morgendlichen Tau in der Sonne glänzten. Die Luft war kühl. Aus den nassen Wiesen stieg feiner Nebel auf, gleich Gespensterkindern, die sich im ersten Licht des Tages erhoben, um sich heimlich davonzustehlen. Die Welt schien bewegungslos in der Stille des frühen Tages zu verharren, zwischen Sonnenaufgang und dem Zeitpunkt da sie die letzten Tautropfen aufgesogen hatte. Vereinzelt zwitscherten Vögel, die in den halbhohen Sträuchern am Wegesrand hockten.

Aus dem Schatten des Waldes trat ein Pferd auf den geschotterten Weg, der in das nahe Dorf führte. Mit feinen Bewegungen der Zügel, die in einer scharfen Kandare endeten, dirigierte die Reiterin, eine sehr schlanke Frau mittleren Alters, die ihre dunkelblonden Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden hatte, das Tier. Ihre Hände waren klein, die Finger langgliedrig und zart. Sie trug eine schwarze Reitkappe, die ihrem schmalen Gesicht ein beinahe forsches Aussehen gab. Das dunkelbraune Wildlederblouson und die beige Reithose wirkten wie modisch abgestimmt auf das Pferd, das sie ritt. Sie waren den drei Kilometer langen Weg durch den Wald im langsamen Galopp gelaufen und Jennifer Aigner hatte Madonna, ihre mittelgroße Warmblutstute, erst kurz vor dem Waldrand zum Schritt pariert. Ihre Augen leuchteten glücklich.

Das erste Mal seit Monaten, überlegte sie, dass mir ein Ausritt Spaß macht. Entspannt gab sie ihrem Pferd die Zügel nach, dass sofort den Hals streckte und die Ohren seitlich legte. Jennifer lächelte. Irgendwo weit weg war ein Geräusch, wie von einer Motorsäge zu hören. Beinahe unwirklich im friedlichen Kokon dieses Morgens. Das rasselnde Brummen flackerte auf und flaute ab, dann war es nicht mehr zu hören. Nur der Sattel knarrte leise, als die Reiterin ihr Gewicht verlagerte, um noch einmal zum Wald zurückzuschauen. Das Pferd schnaubte zufrieden und schüttelte den Kopf.

Zaumzeugklirrend.

Jennifer Aigner seufzte. »Braves Mädchen.« Sie strich Madonna mit der Hand den Hals entlang.

»Bis zur Hauptstraße gehen wir im Schritt und den Weg die große Wiese entlang, lassen wir es laufen.«

 

Tief über den Lenker gebeugt, raste ein Motorradfahrer auf seiner schwarz-orangefarbenen Enduro dahin. Das Knattern der Maschine zerriss die Stille des Waldes rings um ihn und hallte in seinem Helm nach. Der Weg war schmal, trocken und leicht zu befahren. Hin und wieder peitschte ein überstehender Ast seine Arme, die Kratzer am Leder kaum zu spüren, blaue Flecken vielleicht, aber die erst am Abend. Dafür gab es keine hinterhältigen Wurzeln, die quer über den Weg gezogen waren oder gröbere Löcher, die seine Aufmerksamkeit forderten. Sein Blick war nach vorne gerichtet, fokussiert auf den Waldweg und ein paar Handbreit links und rechts von ihm. Er war noch nie hier entlanggekommen und kannte den Weg nicht, deswegen konnte ein bisschen Wachsamkeit nicht schaden. Zu dieser frühen Stunde war die Gefahr auf Spaziergänger zu treffen, ohnehin gering. Alle anderen Lebewesen flohen, lange bevor er sie zu Gesicht bekam.

Der Fahrer wusste nicht mehr, wo er sich befand, doch das spielte keine Rolle. Er würde die Hauptstraße wieder finden. Vermutlich war er an einer der vielen Weggabelungen falsch abgebogen oder hatte eine Abzweigung verpasst. Darüber machte er sich keine Gedanken. Das Fahren allein machte an diesem Morgen viel zu großen Spaß. Das dröhnende Vibrieren der neunzig Pferde, die geballte Ladung Kraft unter ihm und der bockende Lenker, den es zu bändigen galt.

Nicht genug, dass die letzte Woche anstrengend war, am Freitag hatte sein Chef auch noch Ärger gemacht. Doch heute war Sonntag. Der Job weit weg. Zeit auszuspannen. Zeit die Maschine laufen zu lassen.

Mit weit überhöhter Geschwindigkeit jagte er in die nächste Kurve, die unvermittelt enger und schmaler wurde. Auch ragten armdicke Baumwurzeln in die Spur und forderten seine Aufmerksamkeit. Dazu die niedrigstehende Sonne, die zwischen den spärlicher werdenden Bäumen in den Weg strahlte und die Konturen der Hindernisse messerscharf nachschnitt. Er stemmte sich in die Fußrasten, bremste, fing die gröbsten Stöße ab und drehte sachte am Gasgriff, um das Motorrad aus der Kurve zu ziehen, während Licht und Schatten auf seiner Brille explodierten und Äste sich in sein Leder krallten. Erleichtert schrie er in den Morgen, als die Maschine knapp an den Bäumen vorbeischrammte. Sein Blick starr nach vorne gerichtet, in die Sonne vor ihm, in der offenes Land lockte.

Ermutigt vom glücklichen Ausgang des tollkühnen Ritts, schaltete er den nächsten Gang hoch und trieb die Drehzahl in dröhnende Höhen seinem Schicksal entgegen. Ein Schranken, von Sonne, Wind und Regen farblos gebleicht versperrte den Weg. Um achtlose Autofahrer und vorwitzige Biker abzuhalten, in den Wald einzufahren. Stellte sich quer und dem Unbelehrbaren entgegen.

Zu spät für den Enduroreiter, um zu reagieren, zu spät, um rechtzeitig stehen zu bleiben. Entsetzt riss der junge Mann die Augen auf und suchte nach einem Ausweg, einer Möglichkeit im letzten Moment auszuweichen.

Davonzukommen.

Er bremste scharf. Sein Körper schüttete Adrenalin pur aus. Der Puls raste. Die Augen rasterten verzweifelt den Anblick vor ihm.

Doch da waren nur Bäume links und rechts des Weges. Kein Tor. Kein Abstand. Kein Platz, der breit genug wäre, sich an dem Hindernis vorbei zu stehlen.

Plötzlich schien ihm, als hätte die Zeit selbst die Bremse gezogen. Der Holzschranken vor ihm kam unendlich langsam näher und näher. Beinahe konnte er danach greifen, ihn zur Seite schieben. Das Herz setzte für einen langen Schlag aus, sein Blut dröhnte so laut in den Ohren, dass es den Motorenlärm übertönte.

Mit einem in die Länge gezogenen Krachen, das ihn noch lange bis in seine Träume verfolgen sollte, bohrte sich das Motorrad in das querliegende Hindernis, das laut berstend brach, hob das Heck hoch und überschlug sich. Nahm seinen Fahrer mit auf die Reise und landete laut aufheulend im kreischenden Funkenregen auf einem Felsen neben dem Weg. Er ruderte nach Halt suchend mit den Armen in der Luft und schlug nach einem Flug, der ihm wie eine Ewigkeit vorkam, in der Wiese dahinter auf, überschlug sich mehrmals und rutschte auf dem nassen Gras weiter.

Während der Biker sich auf die Knie erhob und orientierungslos um sich sah, fing das Motorrad, dessen Benzintank am Felsen aufgerissen wurde, Feuer. Eine Stichflamme verursacht durch Benzin und Morgennässe, schoss in einem gewaltigen Mix aus Feuer, Dampf und Rauch mit ohrenbetäubendem Krach in den Himmel.

 

Jennifer hörte nicht das Motorrad, das hundert Meter weiter fast zeitgleich aus einem anderen Waldweg gekommen war. Sie hatte es für eine Motorsäge gehalten und nicht auf Madonna geachtet, die ihre Ohren längst in diese Richtung gedreht hatte. Erst der Tumult des aufheulenden Motors, das Splittern des Holzes und das Kreischen des geschundenen Blechs ließ sie ihren Kopf herumreißen. In einem verwischten Augenblick sah sie zwei schemenhafte Schatten zwischen den Bäumen herausfliegen, von denen eines mit lautem Krach in Flammen aufging, weit davon entfernt, zu reagieren.

Madonna aber sprang mit einem wilden Satz los und ging durch.

Instinktiv klammerte sich Jennifer an Zügel und Mähne ihres Pferdes und beugte sich vor, um die gröbsten Stöße des bockenden Tieres abzuwehren. Madonna buckelte ein- zwei Mal und trat kräftig nach hinten aus, um wie ein ungestümer Büffel loszugaloppieren. Blindlings dem Instinkt folgend, der Gefahr zu entrinnen. Jennifer holte die Zügel an, soweit sie konnte, zog links und rechts, um ihr Pferd durchzuparieren aber Madonna reagierte nicht darauf. Den Kopf auf die Kandare gelegt, spürte sie in ihrer Panik nichts von den Bemühungen ihrer Reiterin.

Sie wollte weg, nur weg von dem Ort, der sie mit seinem Krachen und dem Feuer derart erschreckt hatte. Und sie kannte ihren Weg nach Hause.

Die Straße flog ihnen förmlich entgegen, als das Pferd mit trommelnden Hufen darauf zu galoppierte. Jennifer konnte nichts dagegen unternehmen. Sie zog und zerrte am Zügel, aber Madonna zeigte keine Reaktion, rannte unbeirrt weiter und die Straße kam immer näher. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte Jennifer ein Auto, rot, kein Lieferwagen, eher ein Van, dass mit unverminderter Geschwindigkeit die Straße entlangkam. Sah der Kerl das Pferd nicht, das unter ihr durchging, dass unkontrolliert quer zur Hauptstraße den Weg entlang galoppierte.

»Bleib stehen, so bleib doch stehen«, schrie sie. Zerrte an den Zügeln und fachte die Furcht ihres Pferdes weiter an, das sich tiefer und tiefer streckte und über den steinigen Weg zu fliegen schien.

Das überleben wir nicht, zuckte ein irrationaler Gedanke durch Jennifers Hirn. Sie verspürte in diesem Augenblick nur noch Angst und Panik. Und die klare Gewissheit hier und heute zu sterben.

Bei der Geschwindigkeit, die sie liefen, kollidierten sie unweigerlich mit dem Wagen, der die Straße entlangfuhr. In ihrem Kopf lief kein Film über ihr Leben ab, wie sie gehört oder gelesen hatte. Da waren nur Bilder. Grausig verzerrte Bilder, die ihre Phantasie auf die Netzhaut projizierte.

Ein Bild von einem Pferd, das mit gebrochenen Gliedmaßen, schreiend und zuckend auf der Straße verendete. Ein Bild von ihr, wie sie durch die Luft taumelte, aus Mund und Augen blutend. Ein Bild von einem zerbeulten Wagen, der quer über der Fahrbahn stand.

Ich muss die Zügel loslassen, ich muss die Zügel loslassen, hämmerte die Vernunft einstudiertes Wissen wider dem Instinkt, der befahl, sie festzuhalten.

Ihre Augen aufgerissen, die Gesichtszüge vor Anstrengung verzerrt, waren ihre Gedanken in dieser Wortschleife gefangen, die sie im Hinterkopf hatte, aber in der gegenwärtigen Situation nicht befolgen konnte. Jennifer wagte nicht die schmalen Ledergurte, die sie lenkend mit ihrem Pferd verband, loszulassen. Und sie wagte nicht vom Pferd abzuspringen, bei der Geschwindigkeit, die sie liefen.

Im nächsten Augenblick waren sie an der Straße und Madonnas Hufe klapperten laut am Asphalt.

Das Auto hupte durchdringend und grell, während eine dunkelhaarige Frau sich mit weit aufgerissenen Augen an ihr Lenkrad klammerte. Bremsen quietschen. Eine Handtasche, ein Buch und andere Dinge flogen als schwere Geschosse im Fahrzeug nach vorne und sammelten sich am Armaturenbrett und im Fußraum.

Madonnas Hinterbeine rutschten unter ihr weg, scharrten hilflos über die Straße, als sie im letzten Moment versuchte auszuweichen. Mit weit gespreizten Vorderbeinen schlitterte sie ins Bankett, schrammte um Haaresbreite am Wagen vorbei, ohne ihn zu berühren und stieß sich mit aller Kraft ab, um in einer grotesken Drehung auf die Beine zu kommen.

Eine bizarre Pirouette um Leben oder Tod, die Jennifer beinahe aus dem Sattel geschleudert hätte. Wie ein Stoffbündel hing sie an ihrem Pferd. Hielt sich nur mit einer Hand, in der Mähne verkrampft, um mit der nächsten Drehung von Madonna in den Sattel zurückgeworfen zu werden. Der Wagen stellte sich quer, rutschte einige Meter weiter und kam stotternd zum Stillstand.

Madonna sprang zwei unsichere Schritte weg von der Straße, fing sich und fiel erneut in einen, allerdings leichten Galopp. Jennifer ließ sie laufen.

Schreckensbleich.

Die Augen so weit aufgerissen wie die ihres Pferdes, klammerte sie sich an Zügel und Mähne, unfähig den Kopf zu wenden, um einen Blick nach hinten zu werfen.

Aus unerklärlichem Grund saß sie auf ihrem Pferd und waren dem roten Wagen entkommen.

Sie war nicht gefallen und spürte keine Schmerzen. Madonna lief und lief. Sie waren davongekommen.

Das Pferd beruhigte sich allmählich, fiel in schnellen Trab und wechselte schließlich in einen ruhigen Schritt, den es beibehielt, bis sie mit Jennifer auf ihrem Rücken durch das Tor des Reitstalls trat und mitten im Hof stehen blieb.

Am ganzen Körper bebend ließ Jennifer die Zügel aus der Hand fallen, neigte sich seitwärts und rutschte vom Pferd. Kauerte daneben. Zitternd und weinend.

Im Schock erstarrt.

Neugierig trat Markus Haller, der Tierarzt, der diesen Morgen im Reitstall zu Besuch war, und Rosemarie, die Stallbesitzerin, aus dem Halbdunkel des Pferdestalles in die helle Morgensonne. Das Klappern der Hufe auf dem gepflasterten Hof hatten sie herausgelockt. In den Händen hielt Markus Haller ein großes Handtuch, um nach der Behandlung einer Wundinfektion die Hände zu trocknen, als er das Bündel Mensch neben dem schweißnassen Pferd sah.

Nachdem er Jennifer flüchtig auf Verletzungen untersucht hatte und sie aus ihren stockenden Worten mehr erahnen als erfahren konnten, was passiert war, gab Markus Haller der Reitstallbesitzerin ein paar Anweisungen, setzte sich in seinen Wagen und fuhr los. Bald darauf kam er zurück. Er fand Jennifer bei der Versorgung von Madonna, die mit den vertrauten Abläufen der Pferdepflege, ihren Schrecken zu überwinden suchte und ihre Ruhe fand.

»Der Motorradfahrer ist in Ordnung, sein Bike allerdings Totalschaden. Die Frau im roten Wagen ist okay, nur etwas erschreckt und froh, dass Ihnen nichts weiter passiert ist«, erklärte er ihr. »Sie hat den Jungen in die Stadt mitgenommen, das habe ich ihr abgerungen.« Er untersuchte die Reiterin und das Pferd. Sie waren beide mit einem gehörigen Schrecken davongekommen.

»Ihr hattet da draußen eine Menge Schutzengeln um euch, scheint mir«, runzelte er die Stirn und fragte, ob Madonna öfter durchgehen würde.

»Annähernd jeden zweiten Ausritt«, antwortete Jennifer mit bleichen Wangen. »Nur, so schlimm war es noch nie.« Sie seufzte. »Wir gehen ohnehin selten ins Gelände.«

»Das dachte ich mir. Rosemarie hat vorhin eine Bemerkung in der Richtung gemacht.« Umständlich nestelte er in seiner Hemdtasche herum und drückte ihr eine zerknitterte Karte mit Telefonnummer in die Hand. »Rufen Sie Mark Lissoni an. Ist ein Freund von mir. Er wird Ihnen helfen.«

Bis zum Abend zauderte Jennifer, gefangen im Schrecken des Erlebten. Sie waren unversehrt davongekommen. Wieder einmal. Aber wie würde es das nächste Mal aussehen, wenn sie es wagte, ins Gelände zu reiten? Sie schloss die Augen und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Mit klopfendem Herzen tastete sie nach dem Telefon, das im Wohnzimmer neben der Couch auf einem Tischchen stand, und wählte die Nummer, die sie mühsam auf der Karte entzifferte.

 

*

 

Im ersten Licht der Morgensonne, die sich zögernd über die Baumkronen im Osten tastete, verblassten die letzten Sterne am Himmel. Aus der Senke am Bach stiegen Nebelschwaden und ließen die Brücke am Waldrand in der fahlen Dämmerung schweben. In der Frische des neuen Tages verstummten die Grillen. Die Stille war tief und unendlich.

Mark lag im Bett. Im Schlafzimmer des Bauernhofes, der mit seinen Koppeln an den Wald grenzte, als ihn eine Woge des Schmerzes aus wirren Träumen weckte, an die er sich im Augenblick des Aufwachens schon nicht mehr erinnern konnte. Irritiert zwinkernd verharrte er still.

Bestürzt vom quälenden Schmerz.

Sein Kopf dröhnte in dumpfen Schlägen, als würde er mit einer Axt einen Baum fällen. Er atmete flach und hoffte, die Schmerzen so in den Griff zu bekommen. Überlegte nach deren Ursprung, fand aber keine Erklärung außer dem Wetter. Zu banal, um hilfreich zu sein.

Mühsam erhob er sich, schaltete wie ferngesteuert den Radiowecker aus, vier Minuten vor seiner Zeit und tastete sich ins Badezimmer.

Seufzend. Es würde ein anstrengender Tag werden.

Sein erster Weg führte ihn in den Stall. Die Luft war kühl, feucht und roch schwer vom Regen, der in der Nacht gefallen war. Dicke Tropfen fielen vom Dach gegenüber und platschten in das Schweigen des Morgens.

Nach den Pferden fütterte er seine fünf Katzen, den Hund und freute sich auf ein Frühstück.

 

Die Straßen waren regenfeucht und in kleinen Mulden glitzerten Pfützen im Morgenlicht, als er sich auf den Weg ins Büro machte. Er hatte eine knappe Stunde Autofahrt vor sich. Zügig fuhr er durch das kurvige Tal, das ihn Richtung Süden führte. Zwanzig Kilometer auf der Autobahn und dreißig Minuten bis zum Stadtrand von St. Pölten. Der Rest war Stop-and-Go-Verkehr.

Seit fünf Jahren arbeitete er als EDV-Techniker in einer großen Möbelfirma. Er liebte diesen Job, die Abwechslung, immer wieder neue Herausforderungen und die stetige Weiterentwicklung der Technik und des Marktes. Sie waren zu fünft in der Abteilung, zwei davon im Außendienst und drei im Büro. Mark bevorzugte das Büro. So konnte er seine Zeit besser einteilen und hatte eine geregelte Arbeitszeit.

Sie betreuten das komplette EDV-Equipment von fünfundvierzig Filialen, schrieben Programme, reparierten Drucker, Scanner, Desktops und den einen oder anderen Monitor. Ein- bis zweimal im Monat veranstalteten sie Schulungen zu Soft- und Hardware sowie zu hauseigenen Programmen, die sie geschrieben hatten, um Arbeitsabläufe zu erleichtern oder zu beschleunigen. Sie arbeiteten sich in den jeweiligen Abteilungen ein, begleiteten, betreuten und protokollierten den Ablauf, um festzustellen, wo ihre Stärken und Schwächen lagen und wie sie die Bürosoftware am besten adaptieren und einsetzen konnten.

»Hallo Mark, gut, dass du hier bist«, begrüßte ihn Margot Rader, die Empfangsdame, eine schlanke, mittelgroße Frau jenseits der Vierzig, als er durch die große Glastür ins Foyer der Firma trat.

»Mein Computer streikt. Kannst du dir das bitte ansehen.« Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und stand hinter ihrem Schreibtisch auf. Ein sechs Meter langer Tisch aus Chrom und Glas, der bis auf zwei Computer, zwei einzelne Telefone und eine riesige Telefonanlage wie blank gefegt wirkte. Das linke Ende war flankiert von einer drei Meter hohen, dunkelgrünen Zierpflanze mit breiten, runden Blättern, von der er den Namen ständig vergaß. Die rechte Seite endete nach einem kühnen Schwung an der hinteren Wand. Daneben war ein mit dicken Teppichen ausgelegter Flur, der zur Treppe und den Aufzügen in die oberen Etagen führte.

»Ja klar«, antwortete er, ging um die Grünpflanze herum und griff nach dem Haustelefon neben ihrem Monitor. »Ich melde mich oben an.«

 

»Ich fürchte, du hast dir einen Virus eingefangen«, sagte er zehn Minuten später, und versuchte, sich auf die endlose Kolonne der Zeichen, die über den Bildschirm liefen, zu konzentrieren. Er ließ die Finger über die Tastatur wandern, sobald der Cursor stehenblieb und auf seine Eingabe wartete und tippte in raschem Tempo Befehle in die Maschine.

»Wie, einen Virus?«, fragte Elisabeth Hamers, die zweite Empfangsdame. Eine kleine rundliche Frau mit dunklen Augen, die ihre langen wuscheligen Haare mit einem hellen Band gezähmt hatte, und legte Mark eine Hand auf die Schulter. Er hatte sie nicht kommen gesehen, vertieft im Programm.

»Du meinst, das Ding kann sich anstecken oder so?« Sie beugte sich vor, drückte ihren Busen gegen seine Schulter und starrte auf den Monitor. Der süße Duft von Maiglöckchen stieg ihm in die Nase und er drehte den Kopf, um direkt in ihren Ausschnitt zu sehen.

»Oder so. Ja, das meine ich«, blinzelte Mark schnuppernd und sah ihr in die Augen. Er schenkte ihr ein breites Lächeln und ließ den Blick in ihren Ausschnitt wandern.

»Frühlingsduft«, sagte sie, und schlug ihm mit einem freundschaftlichen Klaps auf den Kopf. »Magst du keine Maiglöckchen?«

»Doch, doch. Besonders an dir«, erwiderte er fröhlich, sah ihr ins Gesicht und hob die Augenbrauen. Elisabeth lächelte kokett und zwinkerte frech.

»Schön, wenn du das sagst.«

»Ich muss das System neu aufsetzen. Das dauert eine Weile.« Er warf Margot einen flüchtigen Blick zu und deutete auf den zweiten Bildschirm, der am anderen Ende des Empfangstisches stand. Den hätte er beinahe vergessen.

»Hast du den auch eingeschaltet?«, fragte er sie. Als sie verneinte, sah er zu Elisabeth.

»Nein, ich bin eben gekommen«, stellte sie kopfschüttelnd fest, und Mark atmete erleichtert auf. Damit würde er zumindest einen Computer für sie bereitstellen können. Falls der zweite PC den Virus abbekommen hatte, konnte er ihn hoffentlich orten und beseitigen, bevor er Schaden anrichten konnte.

 

»Houston, wir haben ein Problem«, sagte Jochen und deckte mit einer Hand den Telefonhörer ab, als Mark ins Büro im obersten Stockwerk kam und die Tasche nahm, in der sein Laptop, verschiedenes Werkzeug und diverse Computerdisketten steckten. Er sah Mark eindringlich an.

»Ich weiß«, erwiderte Mark und ging zum nächsten Kopierer, steckte seine Notizen unter den Deckel, startete das Gerät und lief mit der Kopie wieder hinaus. »Ich lasse dir das Original mit dem Pfad und den Dateien da. Er greift ins DOS, ändert die Startdatei und löscht verschiedene System- und Treiberdateien. Ruf mich bei Margot am Empfang an, wir haben einen Virus im Haus.«

»Ach du Scheiße«, knurrte Jochen und sah auf die Tür, die hinter Mark ins Schloss fiel. »Nicht nur hier, wir haben ihn auch in den Filialen.« Aber das hörte Mark schon nicht mehr.

»Das sind die bisherigen Anrufer, die sich bei uns gemeldet haben. Sie haben ihre Rechner gestartet und kommen nicht rein. Die übernimmst du!«, drückte Jochen eine Stunde später Mark mit finsterer Miene eine Liste von Namen, Abteilungen und Anmerkungen in die Hand, als dieser wieder ins Büro kam.

»Robert und ich checken alle Maschinen, die noch nicht hochgefahren wurden. Der Virus dürfte letzte Woche über E-Mail hereingekommen sein«, sagte er und runzelte zornig die Stirn.

Ein Wochenbeginn, wie er ihn hasste.

»Er wurde programmiert, dass er sich heute aktiviert. Das heißt, jeder Nutzer, der letzte Woche Urlaub hatte oder krank war, hat einen sauberen PC. Die habe ich bereits aussortiert. Der Mailserver ist stillgelegt. Den sehen wir uns später oder besser morgen an. Da kommt keiner mehr dran. Martin und Richard sind unterwegs in die Filialen, Martin nach Kärnten und Richard nach Salzburg. Ihr Terminplan ist auch ohne den Virus vollgestopft bis obenhin. Ich habe sie nicht mehr erreicht und sie werden sich vor Mittag nicht melden.« Resigniert ließ Jochen die Schultern fallen und sein linkes Auge zuckte leicht. Ein sicheres Anzeichen, dass er ziemlich erschöpft war.

Er muss ein schlimmes Wochenende gehabt haben, dachte Mark und sagte: »Ich hoffe, in den Filialen halten die Firewalls besser als hier. Sonst kommt eine Menge Arbeit auf uns zu.« Seine Kopfschmerzen, die er eine Weile verdrängt hatte, setzten ihm wieder zu.

»Die kommt garantiert auf uns zu. Jede Menge Leute haben das Ding hinter die Firewall geholt und hereingelassen«, erklärte Robert Knop, ihr baumlanger Kollege, während er aus dem Nebenzimmer kam. »Und damit hat es sich eingenistet und fröhlich auf den Rechnern verteilt. Ach ja, und in den Filialen waren sie auch schon fleißig.« Er klopfte sich mit einer Computerdiskette, die er in der rechten Hand hielt, an die Stirn. »Verdammter Mist, aber auch.« Seine Haare standen ihm ungekämmt und wirr vom Kopf und er sah betrübt auf die beiden herab.

»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte Mark und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Wie konnte das geschehen?«

»Sie haben eine Mail mit dem Betreff: ›Ich liebe dich!‹ geschickt«, knurrte Jochen. »Und beinahe jeder hat sie geöffnet.« Mark seufzte.

Er starrte auf den Computer vor ihm, der mit Sicherheit infiziert war. Hatte er doch letzte Woche hunderte E-Mails gelesen und aussortiert, auch mehrere mit diesem Betreff.

Wir müssen ein Programm schreiben, dachte er. So viele Rechner können wir nicht in kurzer Zeit per Hand säubern. Das dauert zu lange. Sein Blick fiel auf den Koffer neben ihm. Zumindest war das Notebook in Ordnung. Damit ging er zwar auch ans Netz. Aber nur um Programme hoch- oder herunterzuladen.

Sie werden uns das Leben kompliziert machen. Richtig kompliziert. So viele Kollegen, die ohne ihre Computer nicht arbeiten konnten. Das war nicht gut. Das erklärte auch das Zucken von Jochens linkem Auge. Es lag nicht an einem schlimmen Wochenende, sondern an der Gewissheit, dass diese Woche schwierig werden würde. Widerwillig warf er einen Blick auf die engbeschriebenen Seiten mit Jochens regelmäßiger Handschrift. Namen, Abteilungen, noch mehr Namen, Rufzeichen und knappe Kommentare dahinter.

»Okay!«, wandte er sich an ihn und straffte die Schultern. »Ist die Liste nach Prioritäten geordnet?«

»Nein, nach Anrufern. Du gehst am besten sofort in die Chefetage. Absolute Priorität. Danach in die Marketingabteilung, die sind hilflos ohne ihre Computer.« Missmutig nahm er seine dunkle Brille ab und brummte: »Wir müssen heute Feuerwehr spielen, soviel steht fest.«

 

Am späten Nachmittag rief Mark von einem Büro, in dem er saß, um den Computer zu säubern, zu Hause an und hinterließ auf dem Anrufbeantworter die Nachricht, dass er später kommen würde. Ein leichter Wind bauschte die dichtgewebten Gardinen vor dem geöffneten Fenster und schaufelte warme Luft in das aufgeheizte Zimmer. Gereizt zupfte Mark an der Krawatte und steckte einen Finger in den Kragen. Die Kopfschmerzen zerrten sachte aber stetig an den Nerven.

Scheint nicht mein Tag zu sein, dachte er mit einem sarkastischen Lächeln. Oder besser meine Tage, wenn ich daran denke, wie viel Arbeit auf mich wartet.

Ich werde in der Firma kürzertreten müssen, um alles auf die Reihe zu bekommen.

Er hatte lange dafür gebraucht und schwer gearbeitet, seinen Traum zu verwirklichen. Einen eigenen Reitstall, Reitschüler unterrichten und schwierige Pferde ausbilden. Pferde, die keiner mehr wollte. Die nicht mehr zu reiten waren. Mit denen keiner mehr zurechtkam.

Geschlagen verwahrlost, in ihren empfindlichen Seelen verletzt. Von Menschenhand verdorben.

Er war etwas länger als ein Jahr auf der Suche gewesen, um den geeigneten Bauernhof zu finden, den er nach seinen Vorstellungen umbauen wollte. Gefunden hatte er ihn in einem idyllischen Dorf nördlich der Donau. Die Nachbarn waren nett, aber verschlossen und skeptisch.

»Einen Reitstall will er hier aufbauen und Pferde halten?«, fragten sie sich.

»Wird viel Arbeit! Weiß er das denn? Kennt er sich mit Tieren aus?«, sagten sie. »Oder ist er nur ein Träumer mit Flausen im Kopf.«

»Er kommt aus der Stadt und wird sich noch wundern.« Sie hatten die Köpfe geschüttelt und sich über den Kerl amüsiert, der in Sakko und Krawatte ins Dorf gekommen war, dort herumgegangen und sich seltsam benommen hatte. Einen Vormittag war er in feinen Schuhen über die herbstfeuchten Wiesen gewandert, hatte lange Zeit auf einem umgestürzten Baum gesessen und am Waldrand das kristallklare Wasser aus dem Bach getrunken.

Es war die Zeit der Aussteiger und Stadtflüchtigen gewesen, die sich mit oder ohne Pferde hatten verwirklichen wollen, aber letztendlich an ihren Möglichkeiten gescheitert waren. Der Fremden, die klüger gewesen waren, alles besser gewusst und sich mit ihren Nachbarn zerstritten hatten. Sie waren gekommen, um eine Weile ihr Stadtleben am Land zu leben und bald danach wieder verschwunden.

Die Dorfbewohner hatten freundlich gelächelt, als Mark an ihre Türen geklopft und gefragt hatte, ob es für sie in Ordnung war, Pferde in der Nachbarschaft zu haben.

»Na klar, früher hatten wir hier viel mehr Pferde«, hatten sie gesagt, sich und ihn an vergangene Zeiten erinnert, dazu genickt, mit ihm geplaudert. Und als er wieder gegangen war, hatten sie Gesprächsstoff für mehrere Wochen gehabt.

Als Mark dann am Ende des Winters einzogen war, und Haus und Stall umgebaut hatte, war der Frühling ins Land gezogen. Mit dem Sommer waren die Pferde gekommen, und mit ihnen die Dorfbewohner.

»Auf ein Wort, nur.« Sie hatten Bier und Schnaps getrunken, den Mark ihnen angeboten hatte, und ihm Ratschläge gegeben, die er dankend angenommen hatte.

»Ist doch ein rechter Kerl«, hatten sie zu Hause erzählt. »Redet nicht viel und packt an.«

Der Reitstall war schnell bekannt geworden und Mark hatte von früh bis spät gearbeitet.

Seine Töchter hatten sich eingelebt, die Freiheiten des Landlebens genossen und Freundinnen und Spielgefährten gefunden. Nach zwei Jahren hatte er an vielen Abenden, Wochenenden und Urlaubstagen die Ausbildung zum Hufschmied absolviert und war in andere Reitställe gefahren, um Pferde zu beschlagen.

Aber jetzt, nach drei Jahren, war er an einem Punkt angelangt, an dem er sich entscheiden musste. Sollte er weitermachen wie bisher, Pferde ausbilden, Reitstunden geben, schwierige und interessante Pferde reiten und beschlagen und den Job als EDV-Techniker behalten? Oder doch den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, sich dem Reitstall widmen und als Hufschmied arbeiten.

Aufträge hatte er genug. Beides ließ sich nicht mehr lange vereinbaren. Die Zeit wurde zum Problem.

Der Computer startete neu, und Mark warf einen Blick auf die Liste der Abteilungen, die er als Nächstes besuchen sollte. Laut seinen Unterlagen war die Lohnbuchhaltung dran, aber dort war der Kaffee nicht zu trinken, wie er aus Erfahrung wusste.

Nein, dachte er. Ich werde mit der Reklamationsabteilung tauschen. Die sind entspannt und dort bekomme ich meinen Cappuccino, wie er sein sollte. Sie bezogen den Kaffee direkt aus Italien. Mark musste unwillkürlich lächeln, als ihm das Bild einer hübschen blonden Frau in den Sinn kam, die er seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte.

Noch ein Grund mehr, die Lohnbuchhaltung hintanzustellen. Schnell tippte er das Passwort in den Computer, überprüfte den Dateimanager und fand alles in Ordnung. Er kritzelte eine Nachricht auf ein Post-it, klebte es an den Bildschirmrand und verließ das Büro.

 

»Oh hallo, du bist auch hier«, begrüßte ihn Jochen, als er in die Abteilung kam.

»Die Reklamationsabteilung ist auf meiner Liste«, antwortete Mark, grüßte fröhlich in die Runde, die aus zwei Männern und zwei Frauen bestand, und schenkte den Frauen ein charmantes Lächeln. Alle vier waren mit telefonieren beschäftigt, sahen kurz auf, nickten oder winkten ihm zu, blätterten in dicken Aktenordnern oder Katalogen und kritzelten eifrig in ihren Unterlagen. Die Monitore waren zur Seite gerückt, die Tastaturen als nutzloses Mahnmal davorgestellt. Wenn die Technik versagte, war Handwerk gefragt.

»Oder hast du mir einen Cappuccino bestellt?« Mit einem Griff in die Brusttasche fragte Mark das, holte Jochens Notizen heraus und warf einen Blick darauf.

»Sie haben ziemlich Stress heute, wie immer am Montag«, erwiderte Jochen. Sein linkes Auge zuckte nervös. »Deswegen dachte ich, du könntest hier Hilfe gebrauchen.« Er grinste und deutete in die Ecke mit der Kaffeemaschine. »Außerdem haben sie den besten Kaffee im ganzen Haus.«

Mark nickte zustimmend, angelte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche, die er in ein blaues Sparschwein steckte, stellte sich vor die Espressomaschine und schaltete sie ein.

Laut knirschend, ratternd und röchelnd setzte sich die alte Maschine, die sie aus der Konkursmasse eines Kaffeehauses gekauft hatten, in Gang. Der aromatische Duft der italienischen Mischung zauberte ein Lächeln der Vorfreude auf sein Gesicht. Entspannt schloss er die Augen und ließ sich einen Augenblick von Erinnerungen tragen, als er wahrnahm, dass sich Nora neben ihn gestellt hatte.

Nora Rosen, eine mittelgroße schlanke Frau mit üppigem blondem Haarschopf und breitem Mund, der gerne lachte, lehnte sich an ihn. Der sanft-goldene Flaum auf ihren sonnengebräunten Armen schimmerte wie Bronze. Sie hatte die langen wohlgeformten Beine in kurze Jeans gesteckt, und trug ein hautenges Oberteil in der meerblauen Farbe ihrer Augen, dazu, dass ihre Figur betonte.

»Hallo Mark«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln. »Musste ich erst einen Virus einschleusen, um dich zu uns zu locken?«

»Guten Morgen, schöne Rose, warst du das also«, grinste er.

Sie war vor eineinhalb Jahren neu in die Firma gekommen, und er hatte für das Büro ein Computerprogramm geschrieben und die Gelegenheit genutzt, sie in die Bedienung des Programms einzuschulen. So hatte er anhand ihres Lernerfolges zeigen können, wie effizient es war. Dabei waren sie sich nahegekommen und hatten für Wochen die Gerüchte gefüttert.

»Bei mir, heute nach Dienstschluss?«, wisperte sie ihm ins Ohr.

»Führe mich nicht in Versuchung«, antwortete Mark leise und lächelte. »Denn du bist das Himmelreich!«

Nora lachte und warf ihm einen langen Blick zu, bevor sie zu ihrem Platz zurückkehrte, um den Telefonhörer in die Hand zu nehmen. Versonnen beobachtete Jochen die beiden und schlürfte seinen Kaffee. Mark war Fragen über eine nähere Beziehung zu Nora Rosen immer ausgewichen, aber wenn er den beiden zusah, war ihm klar, woher die Gerüchte stammten. Er lächelte still in sich hinein. Sie war wirklich eine sehr hübsche Frau, in die ein Mann sich leicht verlieben konnte.

Mark setzte sich neben Jochen auf einen freien Sessel, streckte die Beine aus und betrachtete Nora. Sie hob den Kopf, während sie telefonierte, blickte zu den beiden Männern und schenkte Mark ein gewinnendes Lächeln. In ihrer Stimme schwang ein dunkles Timbre mit. Nur zu gerne hätte er gewusst, ob am anderen Ende der Leitung eine Frau oder ein Mann sprach und ihr Gegenüber die Veränderung in Noras Stimme bemerkt hatte. Sie blickte ihn an und er lächelte über seine Kaffeetasse zurück.

»Okay, dann mache ich den Anfang.« Jochen trank den letzten Schluck Kaffee und rollte mit seinem Sessel zu den Schreibtischen. Sie waren in der Raummitte an ihrer Stirnseite zusammengestellt und ermöglichten dadurch eine gute Kommunikation innerhalb des Teams. Er nahm den Platz neben Nora ein, die kommentarlos zur Seite rutschte, angelte nach ihrer Tastatur und startete den Computer.

Mark schmunzelte und rollte in seinem Bürosessel auf die gegenüberliegende Seite. Bis zum Abend arbeiteten die EDV-Techniker durch, ließen sich zwischendurch Pizza kommen, Schinken und Salami für Mark und Jochen und Zwiebel-Knoblauch für Robert und klapperten eine Abteilung nach der anderen ab. Prüften Computer, säuberten Festplatten, starteten Rechner um Rechner, setzten Computersysteme neu auf und installierten Programme. Trotzdem wurde ihnen schnell klar, dass sie wahrscheinlich zwei Wochen brauchen würden, bis sie sämtliche Computer gesäubert und wieder in Gang gebracht hatten.

Und das nur in der Zentrale.

 

*

 

Fröhlich summend kam Annie Varela in ihre gemütliche Wohnung im dritten Stock einer Wohnanlage am Rande der Stadt, nach Hause. Hinreichend groß, Grünanlagen, um die Gebäude zu haben aber so überschaubar, die meisten Nachbarn bei ihrem Namen zu kennen. Sie stellte ihre Handtasche neben die Garderobe und streifte die Schuhe ab.

Ihr Blick wanderte durch das Zimmer. Blieb an dem ein oder anderem Accessoire hängen, einem Eichhörnchen aus gebranntem Ton neben dem Bild ihres Pferdes im sonnendurchfluteten Wald, einer Palme, viel zu klein in ihrem großen Topf und dem neuen Bild, das sie letzte Woche gekauft hatte. Es zeigte eine Herde wildlebender Pferde, die durch die weite Landschaft der Camargue galoppierte. Sie ging an dem Bild vorbei, ließ es einen Augenblick auf sich wirken und schaltete in der Küche die Kaffeemaschine ein.

Summte wieder das Lied, das sie am Morgen gehört, »Tu t' En Vas«, ein französisches Chansons, und das sie den Tag über als Ohrwurm begleitet hatte. Holte eine Tasse aus dem Küchenschrank und wartete, bis die Espressomaschine bereit war.

Die Pferde der Camargue.

Ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte an deren freies, wildes Leben und wünschte sich, so reiten zu können wie die Hirten dieser Tiere. Dabei ging es ihr nicht um das Reiten an sich oder das Sitzen auf dem Pferd. Sie war eine gute Reiterin. Es ging viel mehr um das Gefühl, eins zu sein mit ihrem Pferd. Ihm zu vertrauen. Es in jeder Gangart zu kontrollieren.

Ihr Summen verstummte. Sie drückte eine Taste, wartete, bis der Kaffee durch war, schnupperte das starke Aroma, gab Milch dazu, setzte sich an den Esstisch und blickte zum Fenster hinaus.

So lange sie mit Tatjana, ihrer großen braunen Stute, in der Reithalle ritt oder auf der Reitbahn trainierte, war das Pferd ruhig und gelassen. Weich in den Gängen und angenehm zu reiten. Sobald sie ins freie Gelände gingen, war sie nicht mehr zu halten. Schreckte vor jedem raschelnden Blatt auf, das der Wind vor sich herjagte, vor jedem Geräusch, das sie nicht kannte, und galoppierte in Panik davon.

Unmöglich durchzuparieren oder zu lenken. Gefährlich für sich selbst, für sie, und gefährlich für jeden, den sie unterwegs begegneten.

Annie seufzte.

Sie hatte mehr als ein Jahr erfolglos auf gut gemeinte Ratschläge gehört und verschiedenste Tricks versucht.

Mit und ohne Peitsche.

Mit und ohne Druck.

Mit und ohne Geduld.

Einige Freunde und ein Reitlehrer, die ihre Hilfe angeboten hatten, waren in dieser Zeit mit ihren Erziehungsmethoden kläglich gescheitert.

Sie hatten so lange an ihrem Pferd herumexperimentiert, bis es auch in der Reithalle zu bocken begann und durchging.

Zu guter Letzt war Annie bereit gewesen aufzugeben. Sie hatte keine Kraft und keine Lust mehr gehabt. Jede einzelne Reitstunde war zur Belastung und zum Kampf geworden.

Tatjana gegen Annie. Annie gegen Tatjana.

Manchmal hatte sie den stärkeren Willen gehabt, aber immer öfter war die Stute es gewesen, die sich durchgesetzt hatte.

Bis Annie beschlossen hatte, ihr geliebtes Pferd zu verkaufen. Sie war am Ende gewesen. Hatte im Büro vom Entschluss erzählt.

Dem Endgültigen. Unabwendbaren.

»Ich hab’ letzte Woche von einem Hufschmied gehört, der Pferde ausbildet, die keiner mehr haben will.« Beim Kopieren von Unterlagen hatte dies eine Praktikantin erwähnt, eine Handvoll Blätter ins Gerät gesteckt und schüchtern geblinzelt.

»Ich kenne ihn nicht persönlich, eine Freundin hat es erzählt. Er soll gut mit Pferden umgehen können.«

»Oh je, das hört sich nicht nach dem Richtigen an. Ein Hufschmied.«

Annie hatte verächtlich geschnaubt.

»Ich will keinen von diesen Machos mehr sehen. Sie sind zum großen Teil schuld daran, dass ich Tatjana verkaufen muss. Sie haben mir so lange eingeredet, dass mein Pferd böse und verdorben ist, bis ich es selbst geglaubt habe. Dann haben sie den letzten Rest Ruhe und Gutmütigkeit aus ihr herausgeprügelt.«

Sie hatte zornig den Kopf geschüttelt. »Immer unter dem Vorwand, sie erziehen zu müssen. Nein, ich kann nicht mehr.«

»Ich glaube, so einer ist das nicht. Sylvia, meine Freundin, hat mir erzählt er ist ruhig, gelassen und prügelt sie nicht. Würde er nie tun.«

»Pah, sie kennen sich alle mit Pferden aus. Sie halten sich alle für toll. Aber sobald Tatjana mit ihnen im Gelände durchgeht, werden sie klein und kommen mit dummen Sprüchen zurück und erklären mir, was ich alles bei meinem Pferd falsch gemacht habe.« Zornig hatte Annie abgewunken.

»Was hast du zu verlieren?«, hatte Vanessa, ihre Kollegin, eingeworfen.

»Gib ihr eine letzte Chance, bevor du sie verkaufst. Es wird dir das Herz brechen, wenn du sie weggeben musst. Und falls er dein Pferd schlecht behandelt, verjagst du ihn mit der Peitsche.«

Gegen ihren Willen hatte Annie lachen müssen. Die Vorstellung hatte ihr gefallen. Das hätte sie längst schon machen sollen.

Bis zum Abend war sie alle Optionen durchgegangen, die ihr geblieben waren. Hatte hin und her überlegt, noch einmal den Schritt zu wagen, vielleicht einen allerletzten Versuch, freilich ohne viel darauf zu geben.

So viele Hoffnungen waren daran zerbrochen, hatten in Scherben vor ihr gelegen, so viele Gedanken waren zu Ende gedacht. Aber nach einer schlaflosen Nacht hatte sie beschlossen, ihrem Pferd diese allerletzte Chance zu geben.

Mit einem flauen Gefühl im Bauch hatte Annie angerufen und einen Termin vereinbart. Eigentlich wollte sie keinen Fremden mehr an ihr Pferd lassen. Nicht noch jemanden, der gute Ratschläge erteilen, sich an ihrer Stute mit erzieherischen Maßnahmen wichtigmachen, und am Ende doch ratlos zurückbleiben würde. Die Alternative allerdings war erschreckender gewesen.

Wie hätte sie damit leben sollen, Tatjana zu verkaufen? Damit umgehen, dass es ihr mit ihrer neuen Besitzerin oder ihrem Besitzer nicht gut gehen würde?

Also war sie zu Mark Lissoni gefahren, um ihm bei der Arbeit zuzusehen. War unvermittelt eine Stunde früher im Reitstall aufgetaucht und hatte sich umgesehen.

Der Stall war sauber gewesen, die Pferde interessiert, aber gelassen. Zwei Mädchen, die sie freundlich begrüßt hatten, führten sie nach draußen zu einem Reitviereck in dem Mark mit einem Grauschimmel gearbeitet hatte. Sie hatte ihm eine Weile vom Eingang aus zugesehen und sich dann auf die Zuschauertribüne gesetzt. Hatte interessiert beobachtet, wie Pferd und Reiter aufeinander reagierten. Als Mark den Grauen in den Stall geführt hatte, war sie ihm gefolgt und hatte sich vorgestellt.

»Guten Tag, ich bin Annie Varela.« Mit ihren graublauen Augen hatte Annie Mark misstrauisch angeblickt, ihn von oben bis unten gemustert. Umrahmt von dunkelbraunen, glatt frisierten Haaren, die sie schulterlang trug, hatten ihre scharf geschnittenen Gesichtszüge herb gewirkt.

»Freut mich Annie, ich bin Mark Lissoni«, hatte er erwidert und gelächelt. Sie hatte auf die übliche Bemerkung wegen ihres spanisch klingenden Namens gewartet, die nicht gekommen war. Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt und sie hatte die Hand ausgestreckt.

Drei Tage und ein kurzes Gespräch später, das ihre Bedenken zwar nicht zerstreut, aber beruhigt hatte, war er vorbeigekommen.

Er hatte ihr und Tatjana beim Reiten zugesehen. Mark hatte ihr nicht erklärt, was ihr Pferd zu tun hatte. Hatte ihr nicht gesagt, dass sie ihren Willen durchsetzen musste, dass ihre Zügelführung ungenau war, wie sie allzu oft gehört und anfangs ernst genommen hatte. Nein, er hatte sie nach ein paar Runden gebeten, in den Sattel steigen zu dürfen.

Widerstrebend hatte sie einen Moment nach Argumenten gesucht, um abzulehnen, hatte ihre Zweifel aber abgeschüttelt und Mark die Zügel übergeben. Gespannt hatte sie zugesehen, wie er mit Tatjana durch die Halle getrabt war. Als hätte die Stute ihn lange gekannt. Sie hatte ausgeglichen und ruhig gewirkt.

Annie war gegen ihren Willen beeindruckt und ein bisschen enttäuscht gewesen. Sie hatte gehofft, Tatjana würde ihm mehr Schwierigkeiten bereiten.

Als Mark Annie angeboten hatte das Pferd in seinen Reitstall zu holen, um es auszubilden, hatte Annie zugesagt.

Sie hatte ihr Pferd zwei Wochen weder geritten, geputzt oder anderweitig beschäftigt. In der Zeit hatten Mark und ein Mädchen mit Tatjana gearbeitet. Danach war sie nach und nach in die Bodenarbeit eingebunden worden.

Ein kleiner bunt gefiederter Vogel landete in den Blumen auf ihrem Fensterbrett und riss sie aus ihren Gedanken. Interessiert sah er sie mit dunklen unergründlichen Augen an, neigte den Kopf, sperrte den Schnabel weit auf und flog wieder davon.

Unwillkürlich musste Annie lachen.

Ein stilles Lachen, mit dem Kaffeelöffel im Mund, das dem zufriedenen Schnurren einer Katze nahekam.

Sie legte den Löffel zur Seite und nahm die Tasse zur Hand. Am Sonntag würde sie das erste Mal nach vier Wochen im Viereck reiten.

Wie würde Tatjana reagieren? Ablehnend, bockig oder gelassen wie in den letzten beiden Wochen?

Annie schüttelte den Kopf.

Sie beschloss, Mark zu vertrauen. Er hatte ihr versichert, dass sie, wenn alles funktionierte, nächste Woche ins Gelände gehen würden.

Sie lehnte sich zurück und ließ ihren Blick über die Stadt und deren geschäftiges Treiben wandern, das sich vor ihrem Fenster erstreckte.

Irgendwann hatte Mark ihr von der Camargue erzählt. Sie hatten hinter dem Stall gesessen, die Pferde auf der Weide beobachtet, dem Wind und dem nahenden Sommer gelauscht und Mark hatte erzählt. Vom wogenden Gras, hüfthoch und sonnenverbrannt, das von einem Horizont bis zum nächsten reichte. Von Wasser und Mücken und vielen weißen Pferden unter einem unendlich grau-blauen Himmel, von dem fortwährenden Wind, der nie ruhte und nach Salz und Meer schmeckte. Und den Hirten der Camargue, die mit, auf und von ihren Pferden lebten.

Mit ihnen war er geritten.

Seitdem war das ihr Begriff von Freiheit.

Mit den wilden Pferden der Camargue zu reiten.

Als sie bei einem Einkaufsbummel zufällig das Bild gesehen hatte, war ihr bewusst geworden, dass es dort auf sie gewartet hatte, um ihre Träume am Leben zu erhalten.

 

*

 

»Okay, das war es für heute. Ich mache Schluss.« Jochen klappte seinen Laptop zu, nahm die große Brille mit den schwarzen Rändern ab, putzte sie umständlich mit einem winzigen Brillenputztuch, das er immer bei sich trug, und tauschte sie gegen eine leichte randlose Brille. Damit beschließe ich den Arbeitstag und gehe zum angenehmen Teil über, hatte er Mark einmal verraten.

»Wie sieht es mit den beiden Computern für die Marketingabteilung aus, können sie die morgen haben?« Mark fuhr seinen eigenen Computer und den Laptop herunter und schaltete den Anrufbeantworter ein. Jochen steckte das Stofftuch ins Brillenetui und legte es neben den Rechner.

»Die habe ich geliefert und konfiguriert. Ich werde die Damen morgen früh einweisen, falls es Fragen gibt«, antwortete er. Steckte seinen Kopf in die Werkstatt nebenan, die vollgestopft war mit Computern, Bildschirmen und vielen anderen elektronischen Geräten, die repariert, ausgeliefert oder entsorgt werden mussten, und wünschte ihrem Kollegen Robert einen schönen Abend.

»Wir ziehen dann los!«

»Ist gut, bis morgen. Schönen Tag noch«, kam umgehend die Antwort. Er war über die Einzelteile eines Desktops gebeugt, die auf seinem Schreibtisch verstreut herumlagen, sah aber nicht auf. Robert ging einem technischen Problem des Computers auf den Grund, der dringend gebraucht wurde und bevor dieses nicht geklärt war, gab es für ihn keinen Feierabend.

Eine persönliche Sache zwischen ihm und der Maschine.

Jochen und Mark gingen zu ihren Fahrzeugen. Mark zu seinem Wagen, einem geräumigen Alfa Kombi in Anthrazitgrau, während Jochen ein ultraleichtes Rennrad aus der versperrbaren Fahrradgarage holte.

Mark startete den Wagen, fuhr vom Parkplatz, suchte im Radio nach einem lokalen Sender und fädelte sich in den Fließverkehr Richtung Hauptstraße ein.

Der Abendverkehr bewegte sich wie eine behäbig pulsierende Schlange in farbigem Muster die Stadt hinaus. Flankiert von haushohen Plakatwänden auf denen fröhlich lachende Menschen eine Unzahl verschiedener Produkte präsentierten, die verkauft werden wollten. Sie versprachen Glück und Zufriedenheit für jeden Aspekt und jeden Augenblick ihres Lebens. Dazwischen lagen Geschäfte mit farbenfrohen Auslagen. Tankstellen, in unterschiedlichen Farbtönen, blau, grün oder gelb. Das ein oder andere Restaurant und ein paar Privathäuser, die wie verirrte Inseln der Normalität aussahen.

Für alles gibt es den geeigneten Werbespot, dachte Mark. Sauberkeit, Urlaub, tolles Aussehen, Kommunikation, Kleidung, Schuhe oder gutes Benehmen. Eine Flut an Informationen, die tagtäglich auf uns einschlagen. Wie brechende Wellen in der Meeresbrandung, die Muscheln zu weißem Sand zerreiben und Felsküsten aushöhlen.

Und uns höhlen sie auch aus. Nur merken wir das lange nicht. Oder vielleicht nie.

Gedankenverloren ließ er, eingeflochten im dichten Pulk der Ungeduldigen, die wie er ihren Zielen entgegeneilten, die bunten Bilder vorbeiziehen.

Nachdem er endlich die Stadt hinter sich gelassen hatte, fuhr er in flottem Tempo die kurvenreiche Straße nach Norden. Sie schlängelte sich durch die bewaldete Hügelkette neben einem schmalen Fluss. Zwischen den Bäumen wurden die Schatten länger und die Luft kühlte ab. Die Kopfschmerzen, die Mark seit dem Morgen begleiteten, meldeten sich wieder stärker.

Zerrten an seinen Nerven und bohrten unangenehm hinter den Schläfen. Mark kurbelte das Seitenfenster herunter, atmete tief die frische Luft ein und massierte erst mit der linken, dann mit der rechten Hand die Schläfengegend.

Eine halbe Stunde später lenkte er den Wagen auf den Parkplatz neben den Koppeln. Eva und Thomas Anheuser, die Nachbarskinder, saßen mit Sarah und Nicole auf der obersten Koppelstange, in einundeinhalb Meter Höhe und kauten an langen Grashalmen. Sie sahen den Pferden beim Grasen zu und taten, als hätten sie ihn nicht bemerkt.

In Gedanken versunken.

So wie er manchmal dort saß, am Abend die Pferde und den Sonnenuntergang beobachtete und die Ruhe und den Frieden genoss, der sich ihm bot.

Er tippte kurz auf die Hupe und steckte den Kopf zum Fenster hinaus.

»Ich bin zu Hause«, rief er, schon im Aussteigen und sofort sprangen sie behände von der Stange, stürmten heran, wurden hochgehoben und im Kreis herumgewirbelt.

»Wie war euer Tag?«, fragte Mark und sah sie der Reihe nach an.

»Wir haben Spuren von Wildschweinen entdeckt!« Nicole’s Augen leuchteten in kindlicher Freude. »Hinter den letzten Koppeln beim Bach. Wir waren aber nicht beim Bach«, ergänzte sie schnell und holte Zustimmung bei ihren Freunden, die fleißig nickten.

»Habt ihr die Spuren eurem Großvater gezeigt?«, fragte Mark und wandte sich an Thomas, den ältesten der Gruppe.

»Nein«, erwiderte der und schüttelte den Kopf. »Wir haben sie eben erst entdeckt.«

»Nun, dann wollen wir mal sehen.«

Ein Dutzend Spuren, mehr oder weniger tief in den feuchten Boden vor dem Koppelzaun gegraben und in der Sonne des frühen Morgens getrocknet und konserviert, lagen vor ihnen.

»Tja, sieht so aus, als hätten wir letzte Nacht Besuch gehabt«, sagte Mark. »Das war eine Bache mit ihren Frischlingen. Das habt ihr gut erkannt« Und die Kinder liefen aufgeregt, und fröhlich plappernd zum Nachbarhof, um den Großvater zu holen und die Spuren zu zeigen.

Die Sonne war weit nach Westen gewandert, als Sarah und Nicole zurückkamen. Sie liefen in die gemütliche Stube neben der Sattelkammer, wo sich am Abend und am Wochenende die Reiter zum Klönen trafen, legten die Hausaufgaben zurecht, die sie nachmittags geschrieben hatten, damit Mark sie kontrollieren konnte, und zogen los, ihn zu suchen.

 

Nachdem er mit den beiden zu Abend gegessen und ihre Hausaufgaben kontrolliert hatte, fühlte er sich besser.

»Okay, es wird heute spät. Wir haben zwei Pferde zu beschlagen, vielleicht auch drei.« Beim Sprung aus dem Bus sagte er das, mit Blick auf den Hund, der begeistert mit dem Schwanz wedelte, dann warf er die Tür hinter sich zu. Er hatte einen alten Campingbus für seine Zwecke umgebaut und eingerichtet. So konnte er mit wenigen Handgriffen einen Werkstattbus daraus machen und Platz schaffen für Werkzeug, Amboss, Gasofen, eine Auswahl an Hufeisen und diversen Kleinigkeiten.

Die Kinder waren versorgt und zu Bett gebracht, sie durften noch lesen, aber bloß nicht die Zeit übersehen. Um neun Uhr war Schluss und Licht aus. Darauf war Verlass, das war in Ordnung.

»Hallo Arco, hallo Mark, wie geht es euch?«, empfing ihn eine halbe Stunde später eine dunkelhaarige Frau. Sie war Ende zwanzig, schlank und saß kerzengerade auf einem großen, schwarz glänzenden Pferd. Ihr weitgeschnittenes rotes T-Shirt bildete einen ausdrucksvollen Farbpunkt gegenüber all dem Schwarz von Pferd, Reithose und Sattel. Das fein geschnittene Gesicht war von der Sonne tief gebräunt. Ein Zeichen dafür, dass sie viel Zeit im Freien verbrachte. Sie lächelte und freute sich sichtlich die beiden zu sehen.

»Außer mir ist heute niemand da, aber Sylvia hat dir eine Notiz an die Pinnwand geheftet.«

»Schönen Abend, Christine. Entschuldige bitte die Verspätung«, sagte Mark und stellte sich neben das Pferd, das ihm seinen warmen Atem ins Gesicht blies und sofort den Kopf an der Schulter rieb.

»Ja, der Mark, den magst du«, sagte die Frau lächelnd und klopfte ihrem Rappen auf den Hals, ohne die Augen von Mark zu lassen.

»Mach dir keine Gedanken, ich bin ohnehin eine Weile hier«, sagte sie. »Trinkst du mit mir einen Cappuccino, wenn ich vom Reiten komme?« Sie lehnte sich im Sattel zurück und ihre Augen funkelten im Halbdunkel des Stalllichts.

»Ja«, antwortete Mark gedehnt und nickte bedächtig. »Gerne. Viel Spaß beim Reiten.« Er trat einen Schritt zurück und sah zu ihr hoch. Das Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie das Pferd auf die Reitbahn lenkte und in der Mitte zum Stehen brachte.

Während Mark einem mittelgroßen Braunen die Hufeisen abnahm, ritt Christine Zobel ihr Pferd warm. Sie ließ es lange Schlangenlinien laufen und enge Bögen traben, Schrittwechsel gehen und durch die Halle galoppieren. Das leise Schnauben des Pferdes vermischte sich mit dem Knarren des Sattels und dem dumpfen Geräusch der Pferdehufe.

Mark kürzte dem Braunen die Hufe, schnitt totes Gewebe heraus, passte die Hufeisen an und brannte dem Wallach die Eisen auf. Die rot-glühenden Hufeisen warf er in den bereitstehenden Eimer mit Wasser, strich mit der schweren Raspel korrigierend über die Hufe und nagelte mit wenigen Hammerschlägen die Eisen auf.

Christine parierte ihren Schwarzen zum Schritt durch und ließ ihn am langen Zügel laufen. Sie lehnte sich im Sattel zurück, legte den Kopf nach hinten und ließ die Schultern fallen. Schloss die Augen und konzentrierte sich auf die gleichmäßigen Bewegungen des Pferdes, das sie auf der Reitbahn trug.

Hoch über ihr flitzten Schwalben im letzten Licht des Tages in atemberaubendem Tempo unter den Balken des Daches auf der Jagd nach Mücken und zeigten ihre Flugkünste.

Ein sanfter Wind zog durch die Halle, spielte in ihren Haaren und strich kühlend über ihr Gesicht. Sie genoss die Ruhe. Das Alleinsein mit ihrem Pferd. Nur das gelegentliche Schnauben und Stampfen der anderen Pferde in den Boxen neben der Halle war zu hören. Und das helle Klingen des Hammers, wenn Mark ein Hufeisen aufnagelte.

Sie richtete sich wieder auf, nahm die Zügel und trieb ihren Rappen an. Mark holte das zweite Pferd, eine elegante, hohe Fuchsstute, warf einen Blick auf die Pinnwand und führte sie zum Beschlagplatz. Dort band er sie locker an einen dafür vorgesehenen Ring.

Gelassen legte sie ihren Kopf auf Marks Schulter und beobachtete ihn beim Abnehmen der Hufeisen, während er leise mit ihr sprach. Er erzählte von seinem Tag und von Dingen, die ihm durch den Kopf gingen. Kürzte die Hufe, korrigierte sie an den inneren Rändern und erklärte dem Pferd die Handgriffe. Die Stute schnaubte gleichmütig. Mark lächelte, lobte sie und klopfte ihr hin und wieder den Hals.

»Sie steht bei dir ruhiger, wenn du ihr die Hufeisen aufnagelst, als bei ihrer Besitzerin, wenn sie ihr nur die Hufe auskratzt«, bemerkte Christine und deutete mit einer Handbewegung auf die Stute. Sie hatte ihr Pferd am Putzplatz zurückgelassen und war zu Mark gekommen, um zu sehen, wie weit er mit der Arbeit war.

»Sie ist ein braves Mädchen«, erwiderte Mark. »Du musst bloß mit ihr plaudern. Das mag sie.«

Christine lächelte. »Du sprichst ihre Sprache«, sagte sie, sah ihm noch einen Moment bei der Arbeit zu und ging zurück, um ihrem Pferd den Sattel abzunehmen. Behutsam und mit langen gleichförmigen Strichen striegelte sie ihren Liebling. Summte ein Lied vor sich hin und warf ab und an eine Bemerkung ein.

 

»Cappuccino für dich!« Mark stand mit zwei Bechern dampfenden Kaffees, der verführerisch duftete, neben dem Pferd und betrachtete es anerkennend. »Er ist ein wunderschöner Kerl.«

Auf seinem Gesicht lag ein leichtes Lächeln.

»Ich weiß«, strahlte Christine und führte den Rappen in den Stall. Sie war stolz auf ihren schwarzen Freund. Dankend nahm sie den Kaffee entgegen.

»Setzen wir uns auf die Bank vor dem Haus«, schlug Mark vor. »Wir haben einen schönen Sonnenuntergang.«

Sie unterhielten sich leise und ab und an klang das Lachen der Frau wie schwerelos durch das Halbdunkel des späten Abends. In ihren Augen spiegelte sich der Sonnenuntergang wider, bis der Himmel allmählich dunkler wurde. Mark trank seinen Kaffee aus.

»Danke für das nette Plaudern«, sagte er. »Ich muss weitermachen.«

»Ich danke für deine Zeit«, entgegnete sie und legte Mark eine Hand auf den Arm. »Kommt doch mit euren Pferden vorbei, du und die Mädchen. Wir könnten wieder einmal gemeinsam ausreiten. Was hältst du davon?«

»Gute Idee«, nickte Mark langsam und lächelte. »Ich komme darauf zurück.«

Christine stand auf und hob im Weggehen die rechte Hand. »Schön. Dann bis bald!« Sie drehte sich um und ging.

Mark winkte ihr nach. Schmunzelnd. Dann wandte er sich um und holte den kleinen Grauschimmel von Sylvia.

 

Kurz vor Mitternacht kam er nach Hause.

Ich muss noch die Pferde versorgen und ab ins Bett, dachte er müde. Sein Kopf dröhnte in gleichmäßigem Rhythmus. Er stieg aus dem Bus, hob die Arme und streckte sich dem nächtlichen Himmel entgegen. Atmete tief die kühle Nachtluft ein.

Wieder und wieder. Bis er den Wald, den Bach und den Geruch der Pferde auf der Zunge zu spüren meinte und ein summendes Vibrieren hinter seiner Stirn das stete Pochen verdrängte, das ihn die letzten Stunden begleitet hatte. Erschöpft ließ er die Arme sinken und trottete in Richtung Stall.

Dem Hund hinterher, der vor der Tür wartete.

Drei Tage in der Woche war er abends als Hufschmied unterwegs. Zwei Nachmittage waren für Reitstunden reserviert. Den Samstagvormittag nutzte er zur intensiven Ausbildung schwieriger Pferde, die er zu dem Zweck in den Reitstall aufgenommen hatte. Der Samstagnachmittag und der Sonntag gehörten seinen Töchtern.

Sein Tag endete irgendwann nach Mitternacht.

Vier, manchmal fünf Stunden Schlaf müssen reichen, antwortete er überzeugt, falls er danach gefragt wurde.

Nach dem Versorgen der Pferde ging er noch eine letzte Runde ums Haus. Der Abendwind, der um diese Zeit meist über die Hügel kam, die an die Koppeln grenzten, war warm und trocken. Sanft spielte er mit den Blättern der Bäume und erzählte raschelnd seine Geschichte. Aber Mark verspürte heute keine Lust, draußen zu sitzen. Er war bleich, übernächtigt und fühlte sich wie zerschlagen. Die Gelenke in den Armen schmerzten und sein Kopf war heiß und schwer.

Nach einer kurzen Dusche stand er nackt im Bad und stützte sich schwer auf das Waschbecken. Müde griff er nach Zahnbürste und Zahnpasta, als plötzlich seine Zähne zu klappern begannen.

Als ob er unversehens in kaltes Wasser getaucht würde, kroch eisige Kälte seinen Rücken hoch, breitete sich über die Schultern aus und krallte sich fest. Die Arme zitterten im Vibrieren der Muskeln, das sich von der Schulter bis in die Fingerspitzen fortsetzte und seinen Körper beben ließ.

Stöhnend krümmte er sich unter dem unerwarteten Anfall und einem unbarmherzigen Schmerz, der mit Wucht seinen Kopf ausfüllte und ihm die Tränen in die Augen trieb. Die Schmerzen rollten wie eine rotglühende Welle aus Feuer über ihn hinweg.

Wieder und wieder. Und nahmen, als sie endlich abklangen, jegliche Wärme aus seinem Körper fort. Ließen ihn in frostiger Kälte zurück. Frierend und verwirrt sank er zu Boden und tastete ächzend nach dem Handtuch, das er gegenüber der Dusche zum Trocknen aufgehängt hatte.

»Verdammt, was soll das?«, flüsterte er entsetzt und kroch vorsichtig in die Ecke neben dem Waschbecken. Einerseits war ihm eiskalt und er zitterte unkontrolliert. Andererseits brach ihm der Schweiß aus, lief in dicken Tropfen über Brust und Arme und er hatte das Gefühl, in einem Kohlefeuer zu brennen. Nur um gleich darauf in Kälte zu erstarren.

Er wickelte das Handtuch fest um seinen Körper und verharrte zusammengekauert auf dem Boden.

Minutenlang.

Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Schließlich schüttelte er sich wie ein nasser Hund nach einem Bad und horchte in sich hinein. Der Anfall war vorüber. Mühsam rappelte er sich hoch. Kramte mit bebenden Fingern in einer Schublade nach dem Fieberthermometer, steckte es in den Mund und ließ sich erschöpft in die Ecke sinken.

Düstere Bilder huschten durch seine Gedanken. Verworren und nebelhaft.

Nach fünf Minuten zeigte der rote Balken neununddreißigeinhalb Grad.

»Oh Merde, das kann ich nun wirklich nicht brauchen.«

Missmutig schüttelte er das Thermometer auf null, wusch sich mit zitternden Händen das Gesicht mit eiskaltem Wasser und stakste erledigt ins Bett.

Ich will das nicht, dachte er ärgerlich. Ich will das nicht! Keine Kopfschmerzen, kein Fieber, kein Kranksein.

Und bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, fiel er in tiefen Schlaf.

 

Zwei

 

Wir haben viel zu wenig Zeit für so viele Dinge

Aber vielleicht in einem anderen Leben

Und vielleicht sogar im nächsten

 

 

Am nächsten Samstagvormittag saßen bei strahlendem Sonnenschein sechs Menschen abwartend auf den obersten der armdicken Stangen, die das Reitviereck umgaben, und unterhielten sich angeregt. Die frühe Morgensonne hatte die Kühle der Nacht verdrängt und sie genossen die Wärme in ihrem Rücken.

Das Gelände hinter den Stallungen war weitläufig, begrenzt mit wilden Rosenhecken. Finken, Meisen und Stieglitze schwirrten im Sonnenschein hin und her.

Mark hatte die Reitbahn, ein Reitviereck und einen Round Up hinter dem Haus nahe den Koppeln angelegt, damit die Reiter vom Innenhof auf die jeweilige Reitbahn, zu den Koppeln, oder direkt ins Gelände gehen konnten. Die Zuschauertribüne hatte er dicht an einem riesigen, alten Nussbaum in die Abgrenzung von Reitbahn und Viereck integriert, um den Baum und dessen Schatten zu erhalten.

Ab mittags würde es richtig heiß werden für die Jahreszeit, dachte er. Aber im Moment war es einfach nur angenehm, hier zu sitzen.

Er atmete den würzigen Duft des frühen Morgens ein, den Nussbaum, Rosenhecken und wilde Kräuter um diese Zeit verströmten, und schaute hoch in den Baum.

Kein Lufthauch regte sich.

Die Blätter hingen wie gemeißelt in der klaren Luft, die erfüllt war von den Stimmen der fröhlich plaudernden Frauen neben ihm, untermalt vom Summen der Insekten. Am Nachmittag, wenn die Sonne weit im Westen stünde, würde der Baum mit seinen ausladenden Ästen die Tribüne sowie den Platz unter seinen Schutz und Schatten stellen. Aber der Nachmittag war für seine Töchter vergeben.

Seit fünf Uhr früh füllte sich der Pool, den er für die Mädchen gegenüber dem Spielplatz aufgestellt hatte, mit Wasser. Glasklar und eiskalt versprach es Abkühlung und Spaß für den kommenden Sommer. Und für ihn, nach dem Mittagessen, einiges an Vorbereitung. Sarah und Nicole hatten ihre Freunde für Sonntag zur Poolparty geladen und wollten heute schwimmen gehen. Zum Glück und zur Freude der Mädchen spielte das Wetter mit.

Mark grinste verschmitzt. Dem erwarteten Spaß geschuldet. Die Temperatur des Wassers würde sie mit Sicherheit nicht abhalten.

Nach einem kurzen Seitenblick zu der hübschen Frau mit den dunkelblonden Haaren und den großen Augen, die neben ihm saß, nickte er ihr zu.

»Es kann losgehen.« Mit der Hand am Hutrand sagte er das, lüftete den Hut und schenkte ihr ein Lächeln, das sie leichthin erwiderte.

Erwartungsvoll rutschte Jennifer Aigner auf der Koppelstange hin und her und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Eingang des Reitvierecks, wo Diana Haffner mit Jennifers Pferd hereinkam. Gespannt sah sie auf die anmutige braune Stute, die mit ruhigen Schritten durch das Viereck ging und sofort verharrte, als Diana stehen blieb. Sie unterdrückte den Wunsch zu ihrem Pferd zu laufen, sie zu begrüßen, im Überschwang der Freude es zu sehen, weil sie es die letzten beiden Wochen nicht besuchen durfte.

Neben ihr saßen Barbara Rohan, die blonde, zierlich gebaute Freundin von Jennifer und zwei Teenager, die Barbara mitgebracht und als ihre Cousine Alice und deren Freundin Julia vorgestellt hatte. Tom Malsen, Marks Freund, war vor wenigen Minuten mit seinem Pferd angekommen, hatte es abgesattelt, auf die Koppel geschickt und sich nach einem fröhlichen »Guten Morgen, die Damen!« neben Mark auf die Stange gesetzt.

Er war schlank, groß und kräftig gebaut, mit markantem Gesicht, das ein sichelförmiger Schnurrbart zierte. Seine braunen Augen funkelten lustig und voller Elan.

»Wie sieht’s aus?«, meinte er neugierig grinsend und ignorierte den fragenden Blick aus dunkelbraunen Augen, den ihm Jennifer zuwarf. »Habe ich irgendetwas versäumt?«

»Nein, wir fangen eben an«, erwiderte Mark und nickte ihm zu.

»Diana wird ein paar Runden gehen, das Pferd warm reiten und uns einige Übungen vorführen.« Er wandte den Kopf der Frau zu.

»Jennifer achte besonders auf die Zügelführung. Wir haben in den beiden Wochen herausgefunden, dass deine Stute sehr hart im Maul war und dass die Kandare, die du verwendest, zweifelsohne die meisten Probleme ausgelöst hat.«

Die scharfe Kandare, die Jennifer bei ihren Ausritten benutzt hatte, um ihr Pferd besser unter Kontrolle zu haben, und eine strenge Zügelführung hatten die Stute mit der Zeit stetig störrischer werden lassen. Sie bockte, sobald Jennifer ihr die Gelegenheit dazu gab.

»Wir haben sie nach der Bodenarbeit mit dem Hackamore geritten«, erklärte Mark seinem Freund. »Aber heute hat sie eine Trense im Maul. Mal sehen, wie es ihr dabei geht.« Er wandte sich wieder an Jennifer:

»Diana versteht sich mit deiner Stute und ihre Zügelführung ist weich und kontrolliert. Du wirst sehen, dass Madonna fast ausschließlich auf Gewichtsverlagerung reagiert. Damit haben wir ihr die Möglichkeit genommen, sich auf die Trense zu stützen. Was dir wiederum hilft, sie gezielt einzusetzen.«

»Okay«, sagte Jennifer und dehnte das Wort, während sie bedächtig nickte. »Darf ich sie heute reiten?«

Mark runzelte die Stirn und überlegte einen Augenblick. Jennifer hatte ihre Freundin und die zwei Mädchen mitgebracht. Ein Nein würde sie schwer akzeptieren.

»Ich denke, sie ist so weit. Das bekommen wir hin«, sagte er und beugte sich zu ihr, damit nur sie ihn verstehen konnte.

»Wir werden ein paar Übungen am Boden absolvieren. Als Einstimmung für Madonna. Damit sie dich annehmen kann, wie sie mich und Diana in den letzten zwei Wochen angenommen hat. Danach kannst du in den Sattel. Ist das in Ordnung für dich?« Jennifer lächelte und sah Mark in die Augen, mit offenem Blick und einem Funkeln darin und er konnte sehen, dass sie sich freute.

Er ließ Diana ihre Runden reiten und sprang ins Viereck, um sie abzulösen.

»Das hast du gut gemacht. Du hast ein Gefühl für sie«, lobte er das Mädchen, das ihm mit strahlendem Lächeln dankte, tauschte das Zaumzeug gegen ein Halfter und nahm die Longe auf. Dann rief er Jennifer zu sich.

Nach einer guten Stunde legten sie eine Pause ein und Tom verabschiedete sich von seinem Freund.

»Kannst du morgen gegen neun bei mir vorbeikommen? Ich würde gerne mit euch reiten, wenn es für dich passt.«

»Ja. Neun Uhr geht in Ordnung«, erwiderte Mark.

»Wirklich interessant, wie ruhig das Mädchen geworden ist«, wies Tom auf die Stute, winkte den anderen und ging zu den Koppeln, um sein Pferd zu holen.

»Wir sehen uns«, rief er Mark im Davongehen zu und hob zum Abschied die Hand.

Sie arbeiteten noch zwei Stunden mit Madonna, der braunen Stute von Jennifer und zwei anderen Pferden, auf die Mark zu deren Freude, die beiden Teenager setzte.

 

Die Sonne stand hoch am Himmel und der Tag wurde so heiß wie vom Morgen versprochen, als Sarah und Nicole von der Schule nach Hause kamen. Sie sprangen aus dem Schulbus, warfen ihre Taschen neben dem Hauseingang ab und liefen hinter das Haus, um den Pool zu inspizieren. Arco, der große Schäferhund, der sie schwanzwedelnd begrüßte, folgte auf tapsigen Pfoten.

Übermütig streckten sie ihre Arme in den Pool, gelangten aber nicht bis ans Wasser. Viel fehlte allerdings nicht mehr.

»Wenn ich mich vornüberbeuge, sind die Fingerspitzen im Wasser«, strahlte Nicole.

»Und wenn du dich weit genug nach vorne beugst, liegst du mittendrin«, sagte ihre Schwester.

»Dann schwimme ich eine Runde und war die Erste im Pool«, lachte Nicole.

»Mit Hose und Schuhen schwimmst du nicht weit«, belehrte sie Sarah. »Und wir können die Poolparty vergessen. Papa wird echt sauer, wenn wir baden gehen und keiner dabei ist. Das hat er oft genug gesagt.«

Die beiden Mädchen liefen ins Haus, überfielen Mark, der das Mittagessen auftrug, und löcherten ihn mit Fragen, die sich um ihren Nachmittag drehten. Lächelnd und geduldig beantwortete er jede Einzelne und freute sich mit ihnen. Besonders über ihr Lachen der Vorfreude, für den kommenden Nachmittag.

Nach dem Essen sahen sie nach dem Pool. Das Wasser reichte jetzt bis zum Rand und Mark stellte es ab. Die Mädchen sprangen in Badeanzügen herum und konnten es kaum erwarten, ins eisige Nass zu springen.

Sarah saß am hölzernen Sprungturm, den Mark nach den Wünschen der Mädchen gebaut hatte. Nicole auf der Rutsche daneben. Einer Kinderrutsche, die sie für den Pool umgebaut hatten, und beide schauten auf Mark.

»Das Wasser ist eiskalt«, sagte er mit ernster Miene. »Ihr dürft rein, kommt sofort heraus und wärmt euch in der Sonne. Nicht abrubbeln, nicht herumlaufen. Erst vorsichtig abtrocknen, in der Sonne sitzen, dann laufen. Alles klar?«

»Ja, ja«, sagten die beiden nickend und sahen ihn erwartungsvoll an. Mark hob die Hand.

»Worauf wartet ihr?« Und die Mädchen warfen sich ins Wasser, kreischten vor Schreck und Vergnügen und schnappten nach Luft, weil ihnen die Kälte den Atem raubte.

Sie strampelten und hüpften auf Zehenspitzen, mit den Armen wedelnd zur Leiter, kletterten so schnell sie konnten aus dem Pool und lachten und schnauften vor Begeisterung.

Als ihre Freunde kamen, waren sie das dritte Mal im Wasser gewesen. Sie liefen zitternd und bibbernd in der Sonne herum, lachten über ihre Gänsehaut und die blauen Lippen und freuten sich auf den kommenden Sommer.

 

Am Montagmorgen trommelte der Regen sein monotones Lied an die Fenster des Schlafzimmers. Bleigraue Wolken hingen dick und bauchig am Himmel. Unbewegt und trist in ihrer drückenden Schlichtheit. Hinter dem Haus schienen sich die Bäume zu ducken, und über den Wiesen lagen graue Nebelschleier, wie schlafende Gespenster, von einer tausend Jahre alten Müdigkeit übermannt.

Die Luft hatte in der Nacht empfindlich abgekühlt.

Mark, dessen Fieberkurve gestern Abend schweißtreibend hoch gelegen hatte, fror unter seiner leichten Decke. Zitternd warf er einen Blick auf das offene Fenster und dann auf den Radiowecker.

Vier Uhr früh. Noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Aufstehen.

Sein Kopf schmerzte, als ob kleine Kobolde darin sitzen würden, um zu bohren, hämmern und zu fräsen.

Zwergenhaft fleißig.

Er überlegte, ob er das Fenster schließen sollte, oder besser eine zusätzliche Decke holen, um der Kälte zu trotzen, verwarf aber beides.

Nur ein wenig verharren, das Aufstehen hinauszögern. An der kleinen Welt hinter geschlossenen Augen, die keine Pflichten, keine Sorgen kannte, festhalten. Sobald er aus dem Bett stieg, war an ein Einschlafen, oder kurzes Dösen nicht mehr zu hoffen.

Entschlossen zog er die Decke enger um den Körper und beschloss noch zwanzig Minuten liegen zu bleiben.

 

Achtunddreißig Grad.

Nachdenklich legte Mark eine halbe Stunde später das Fieberthermometer zur Seite und dachte über seine Kopfschmerzen nach, die ihn seit geraumer Zeit quälten.

Gestern Abend war die Temperatur auf vierzigeinhalb Grad gestiegen. Sein Kopf machte Anstalten zu bersten und die Gelenke fühlten sich an, als hätte er jedes einzelne mit dem Hammer am Amboss bearbeitet. Und heute.

Nichts. Oder beinahe nichts.

Mit achtunddreißig Grad Körpertemperatur kann ich leben, dachte er. Das ist erhöhte Betriebstemperatur.

Für eine Weile hatte er überlegt, in der Nacht einen Arzt aufzusuchen, den Gedanken dann aber verworfen. Am Morgen würde das Fieber ohnehin weg sein.

Wie die Tage zuvor.

Er betrachtete sein Spiegelbild und seufzte.

Nachdenklich musterte er sein Spiegelbild, strich vorsichtig mit der flachen Hand über den Kopf und hob die Brauen. Seine Augen glühten dunkel. Das Ergebnis schlafloser Nächte. Wachgehalten von quälenden Schmerzen und bizarren Träumen, die ihn aus kurzen Schlafphasen holten. Irgendwie schien das ein seltsames Spiel zu sein. Am Abend hatte er hohes Fieber, das sich bis zum Morgen beruhigte und bis Mittag fast weg war.

Ich muss mich auf den Tag und die Aufgaben, die vor mir liegen konzentrieren, dachte er. Sonst bekomme ich das nicht auf die Reihe.

Sie hatten in der Zentrale die meisten Computer gesäubert und wieder im Einsatz. Aber jetzt galt es die Filialen zu betreuen, und die restlichen Rechner in den Büros in Gang zu bringen. Und all die Jobs zu erledigen, die das System am Laufen hielten.

Es war nicht das erste Mal, dass er mit Fieber arbeiten ging. Da gehörte erheblich mehr dazu, ihn aus der Bahn zu werfen. Warum sollte er sich auch mit unausgereiften Dingen, die er im Moment ohnehin nicht verstand, herumschlagen. Der Tag würde schlimm genug werden.

Mark stieg unter die Dusche, drehte das Wasser auf und ließ es eiskalt über seinen Körper fließen. Er liebte es, kalt zu duschen, bis die Haut prickelte und die Kälte ihm allmählich den Atem raubte. Danach fühlte er sich fit genug, um sich dem Tag und dessen Pflichten zu stellen.

 

Als er zwei Stunden später ins Büro fuhr, war vom Regen der Nacht nicht mehr viel übrig. Die Luft roch nach frischem Gras, dem nassen Laub der Sträucher und war erfüllt von einem betäubenden Blumenduft von den bunten Wiesenhängen neben der Straße. Die morgendliche Nässe von der Sonne so gut wie getrocknet.

Am fernen Horizont sammelten sich hohe Cumuluswolken zu riesigen, schneeweißen Türmen. Verharrten unbeweglich in der windstillen Luft.

Angenehmes Reitwetter dachte Mark und freute sich auf den Nachmittag. Noch waren die Temperaturen erträglich. Einen Monat später, wenn die Sommerhitze über den Hügeln lag, würden sie ihre Ritte in den frühen Morgen und in die Abendstunden verlegen müssen. Kurze Wanderungen zu Pferd, um dem Bewegungsdrang der Tiere zu genügen.

Oder die Regentage nützen.

Er lächelte still.

 

Am Nachmittag stand im Innenhof des Reitstalls die Hitze des Tages. Die alten Steinmauern waren aufgeheizt von der Sonne, und der kräftige Geruch nach Pferden lag schwer in der Luft.

»Hi, Schulaufgaben sind fertig, haben wir auf den Tisch gelegt, dürfen wir in den Pool?«

Erwartungsvoll standen Sarah und Nicole hinter Mark, der eben aus der Sattelkammer gekommen war, über ihren Gesichtern das sonnige Lachen der Vorfreude. Er drehte sich um und runzelte mit sorgenvoller Miene die Stirn.

»Die Pferde wären noch zu füttern und die Ponys müssten gestriegelt werden. Außerdem wollten wir die Sättel einfetten und … « Er wischte mit der Hand über die Augen und lächelte den Mädchen zu, die ungeduldig vor ihm zappelten, jede einen angeknabberten Apfel in der Hand.

»Worauf wartet ihr, holt euch die Badesachen und springt rein. Dafür helft ihr mir nachher beim Füttern, klar!«

»Jau!«, riefen Sarah und Nicole wie aus einem Mund und sausten aufgeregt los.

Mark wandte sich um, holte Sättel und Halfter und hängte sie auf die Stangen, an die sie die Pferde banden. Gewissenhaft bürstete er mit lauwarmem Wasser und einer milden Seife die Sättel ab, befreite sie von Schmutz, Haaren und altem Fett und hing seinen Gedanken nach.

In der Nachmittagssonne würden sie schnell trocknen und er konnte sie am Abend einfetten. Eine der Arbeiten, die er besonders mochte. Er liebte den harzigen Duft und die geschmeidige Festigkeit des Leders.

»Du musst den Sattel als deinen Freund betrachten«, erklärte er seinen Schülern gerne, um ihnen die Pflege näherzubringen.

»Nicht als Sitzgelegenheit. Er ist dein Freund, der dich auf dem Rücken des Pferdes trägt, er ist die Verbindung zu deinem Pferd. Und er erzählt dir Geschichten, erinnert dich daran, was ihr erlebt habt. Du musst nur zuhören. Pflege ihn gut, und er wird dir lange erhalten bleiben.«

Und die Kinder saßen auf der Bank, die Sättel auf ihren Knien, putzten und schmierten eifrig und atmeten tief den Geruch des Lederfettes ein. Um in manch unbeobachteten Moment sachte ihre Köpfe schief zu legen, und angestrengt dem Schweigen des Sattels zu lauschen. Im Kopf die Geschichten, die Mark ihnen erzählte.

Am Lagerfeuer, an verregneten Nachmittagen oder langen Winterabenden. Weil Geschichten hören unter Gleichgesinnten seinen Zauber nie verliert.

Als er fünf Sättel gewaschen hatte, mehr würden sie heute nicht schaffen, ging er in den Garten, plauderte ein paar Worte mit seinen Töchtern und holte ihnen gekühlten Fruchtsaft zum Trinken. Er setzte sich unter einen der Bäume, um in seinem Schatten über die Kopfschmerzen zu grübeln.

Sie hatten sich im Laufe des Tages fest eingegraben, pochten und hämmerten unermüdlich. Zwar im erträglichen Bereich, aber doch ermüdend in ihrer stetigen Beständigkeit.

Wenigstens habe ich sie im zurzeit unter Kontrolle, dachte er, lehnte seinen Kopf an die warme Rinde und versuchte den Lärm der Mädchen wegzublenden. Für einen Augenblick der Ruhe, nur kurz verschnaufen.

Er atmete den leichten Geruch nach Chlor ein, den ein aufkommender Wind zu ihm herübertrug, und döste für wenige Minuten ein, um mit einem Ruck aufzuwachen, als sein Kopf vom Baum rutschte. Nach einem Blick auf die Uhr raffte er sich auf und rief die Mädchen.

»Macht euch bitte fertig! Ihr habt noch eine Viertelstunde. Wir müssen vor dem Abendessen die Sättel fertigmachen!« Blieb dann einen Moment stehen, um sich zu sammeln und das leichte Gefühl des Schwindels, der ihn erfasst hatte, abzuwarten.

Über seine Augen hatte sich eine Schwärze, wie zähflüssiger Teer gelegt und ihm kurzfristig Orientierung und Gleichgewichtsgefühl genommen.

Verwirrt schüttelte Mark den Kopf und blinzelte in die Sonne.

Seine Kopfschmerzen hatten plötzlich mit schrecklicher Intensität zugelegt und hämmerten wild drauflos. Er zögerte kurz, drehte sich um, und winkte seinen beiden Töchtern zu, bevor er ging, den Mund zu einer schmerzvollen Grimasse verzogen.

Unter verhaltenem Stöhnen unterdrückte er den Impuls, die Hand an den Kopf zu legen, bis er außer Sichtweite war.

 

*

 

Die Abendsonne legte sich in langen warmen Strahlen über den Park und den angrenzenden Garten des gemütlichen Cafés, in dem Jennifer Aigner und ihre Freundin Barbara Rohan saßen. Sie trafen sich einmal die Woche, meist montags, um den Tag ausklingen zu lassen und über ihre Jobs, gemeinsame Interessen und das vergangene Wochenende zu plaudern.

Sämtliche Tische waren besetzt. Bunte Sonnenschirme versprachen kleine Schatteninseln, in denen die Gäste saßen und in ihren Kaffeetassen rührten, kalte Getränke schlürften, oder Eis löffelten.

Das Summen und Murmeln vieler Stimmen, leises Klirren von Besteck auf Porzellan und das Knirschen von Schritten auf Kies hingen als träge Geräuschkulisse in der Luft. Ein leichter Südwind trug den würzigen Geruch von frisch gemähtem Gras und fernem Kinderlachen aus dem Park in den Gastgarten. Spatzen balgten sich zwischen den Tischen um Kuchenbrösel, ohne sich um die Menschen ringsum zu kümmern.

Frauen und Männer jeden Alters spazierten oder liefen durch den Park, allein oder in Begleitung. In kurzen Hosen, Röcken oder elegant, aber luftig bekleidet und zeigten viel gebräunte Haut. Die Stadt pulsierte in bedächtigem Rhythmus, genoss den ungewöhnlich warmen Juni und vergaß auf die ruhelose Geschäftigkeit, die sie für gewöhnlich lenkte.

»Weißt du jetzt, was ich meine, wenn ich sage, dass er mit den Pferden spricht? Sie scheinen ihm zuzuhören«, sagte Jennifer und knabberte an einem Keks, der zu ihrem Cappuccino serviert worden war.

Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.

»Madonna hört ihn und richtet ihre Aufmerksamkeit nur noch auf ihn. Es scheint, als ob ich mich daneben in Luft aufgelöst hätte. Als ob sie sich bemühen würde, ihm zu gefallen.« Sie schüttelte den Kopf und ihre Augen funkelten.

»Auch bei unserem Ausritt am Sonntag war sie wie verwandelt. Sie ist mit mir nie so achtsam und leicht gegangen wie gestern. Kein bisschen störrisch oder hart. Wir waren unglaublich entspannt.«

Barbara lächelte still, die Lider gesenkt. Die blonden, schulterlangen Haare umrahmten ihr ovales Gesicht, das man durchaus als hübsch bezeichnen konnte. Erst das Lächeln ihres breiten Mundes, dass zwei Grübchen in ihre Wangen zeichnete, verlieh ihr eine Anmut, die bezauberte. Sie musste an die Argumente denken, die sie vor vier oder fünf Wochen überlegt und diskutiert hatten. Die Frage nach dem Sinn oder Unsinn, Jennifers geliebte Madonna in fremde Hände zu geben.

»Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der so viel Ruhe und Geduld ausstrahlt. Du spürst die Energie und die Kraft, die von ihm ausgehen«, erklärte Jennifer mit fester Stimme. Sie steckte den Rest ihres Kekses in den Mund und lächelte strahlend.

»Er gefällt dir«, bemerkte Barbara und ließ ein fröhliches Lachen hören. »Schwärmt hier ein kleines Mädchen von einem starken Kerl?« Sie sah ihre Freundin unverwandt an.

»Nein, natürlich nicht. Er ist verheiratet, denke ich«, winkte Jennifer ab und senkte verlegen den Kopf, ohne ihr Strahlen verbergen zu können.

»Die Besten sind immer vergeben«, erwiderte Barbara und beobachtete Jennifer.

»Ich meine, zugegeben, er sieht nicht toll aus. Er ist an und für sich nicht mein Typ. Ich kenne ihn nur in Jeans und Westernstiefel und er trägt immer diesen riesigen Hut. Aber wenn er mir in die Augen sieht, klopft mein Herz, das ich meine, er müsste es hören«, sagte Jennifer.

Ihr Blick wanderte zu den kleinen frechen Vögeln, die neben ihren Füßen herumtrippelten.

»Oh, oh. Du bist verliebt. Das gibt’s doch nicht. Jennifer und verliebt. Du kennst ihn doch gar nicht. Der Kerl ist tatsächlich verheiratet?« fragte ihre Freundin und nahm einen Schluck Kaffee.

»Na ja. Jedenfalls denke ich das. Er trägt keinen Ring. Gesehen habe ich sie auch nicht. Aber er hat zwei Töchter, soviel ich weiß.«

Barbara schüttelte den Kopf.

»Das heißt doch nicht, dass er verheiratet sein muss.«

»Nein. Heißt es natürlich nicht. Aber er ist es, sind sie doch immer, oder nicht?« Sie sah Barbara an. »Er beeindruckt mich mit seiner ruhigen Art. Mit seiner Stärke und mit seinem fröhlichen Lachen, wie er die Welt sieht. Er ist offenherzig und ursprünglich.« Sie zögerte einen Moment. »Und nein. Ich bin nicht verliebt«, bekräftigte sie ihre Aussage von vorhin und versuchte, ihre Stimme bestimmt klingen zu lassen.

Barbara sah ihre Freundin aus übertrieben großen blauen Augen an und die Zwei kicherten wie Schulmädchen, steckten die Köpfe zusammen, genossen den Abend und das Wetter und ihr Lachen dazu.

Allmählich sank die Sonne hinter die Bäume des Parks und tauchte die Sträucher am Rande des Gastgartens in golddurchflutetes Licht. Ein sanfter Wind spielte in ihren Blättern. Die Spatzen flogen hoch, setzten sich in die Büsche am Zaun und brachen plötzlich wie verabredet zu einem gemeinsamen Ziel auf. Ein paar Kaffeehausbesucher sahen ihnen nach, ins Gespräch vertieft oder in Gedanken versunken.

»Wie hat der Ausritt am Sonntag deiner Cousine und ihrer Freundin gefallen?«, fragte Jennifer und wandte sich Barbara zu.

»Es hat ihnen Spaß gemacht«, erwiderte sie. »Schöne Gegend haben sie da. Die hügelige Landschaft und so viel Wald hätte ich nicht erwartet. Und die Pferde sind gut in Form.« Sie nickte versonnen. »War nett, denke ich.«

»Am Samstag bin ich wieder dort. Vorher habe ich leider keine Zeit.« Jennifer sah Barbara fragend an und lächelte. »Hast du Lust mitzukommen?«

»Nein, dieses Wochenende geht bei mir nicht. Vielleicht nächsten Sonntag, Mitte des Monats. Mal sehen, kannst du mich zum Ausreiten anmelden?« Sie zögerte und ein breites Lächeln dehnte ihren Mund und zeichnete Grübchen in die Wangen. »Falls es dich nicht stört.«

Jennifer lachte beglückt und Barbara lachte mit ihr. Sie tranken noch ein paar Gläser Wein und es wurde später als üblich, bis sie aufbrachen. Sie hatten nicht weit zu ihren Wohnungen und gingen gemeinsam durch den Park unter dem gelb-orangen Licht der Straßenlaternen entlang.

Die Arme eingehakt kicherten sie angeheitert vom Wein und fröhlich gestimmt von den Geschichten, die sie sich erzählten.

 

*

 

»Hallo, jemand zu Hause?« Tom Malsen steckte den Kopf zur Stalltür herein und ließ den Blick über die leeren Boxen wandern.

»Keiner da. Alle unterwegs.« murmelte er, überquerte mit großen Schritten den regennassen Hof, öffnete die Tür zur Sattelkammer und warf dort einen Blick hinein. Einige Plätze waren nicht belegt, also war sein Freund entweder hinter dem Haus auf der Reitbahn oder ausgeritten. Schwungvoll drehte er sich um und stapfte durch den Hof, wich größeren Pfützen aus und wandte sich dem Tor zu, das auf die Weiden und die Reitbahnen führte.

Tom erinnerte sich daran, als der Mann aus der Stadt vor fünf Jahren hier eingezogen war. Er war am Haus vorbeigefahren, etwas langsamer als sonst, neugierig, wie weit der Städter mit der Arbeit war. Hatte ihm zugesehen, wie er schwere Koppelsteher eingegraben hatte. Beim Einhängen der Stangen, beim Spannen des Elektrodrahtes, beim Mähen der Wiese, als er sich mit dem alten Balkenmäher und danach mit der Sense abgemüht hatte.

Und irgendwann war das erste Pferd über die Koppel gelaufen.

Tom hatte gebremst, den Motor abgestellt und den Wagen auf der Straße stehen gelassen. Am Land, abseits der Hauptstraße, störte das niemand. Hier fuhr man vorbei, grüßte oder gesellte sich dazu. Auf ein Wort oder mehr. Zu bereden gab es immer etwas und sei es das Wetter, der Job oder Städter, die aufs Land gezogen waren.

Tatsächlich Pferde, hatte er gedacht und war strahlend die drei Schritte von der Straße zum Zaun gelaufen. Hatte die Hände auf die oberste Koppelstange gelegt und das Pferd bewundert, das unruhig auf und ab getrabt war. Es hatte nach Freunden oder Artgenossen gerufen, war die Wiese bis zum angrenzenden Bach galoppiert und wieder zurück zum Eingangstor. Schnell hatte es ein paar Grashalme gerupft, wie auf ein unhörbares Kommando den Kopf gehoben und war wieder losgelaufen. Diesmal in seine Richtung. War vor ihm stehengeblieben und hatte gewiehert.

Unglücklich und auffordernd.

»Na, was ist mit dir? Komm! Komm her zu mir!« Lockend hatte er der goldbraunen Stute die Hand entgegengestreckt, hatte sie beruhigen, anfassen, ihre Haut und ihr Fell spüren wollen.

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Sie könnte dich beißen. Ist ziemlich unangenehm.« Sofort war er zurückgezuckt und hatte Mark irritiert angesehen, der unbemerkt neben ihn getreten war.

»Beißt sie denn?«, hatte er skeptisch gefragt und der Stute, die kehrt gemacht hatte und in schnellem Galopp auf die andere Seite der Koppel gelaufen war, einen zweifelnden Blick nachgeworfen.

»Nein!«, hatte Mark erwidert. »Ich denke nicht. Aber sie könnte.«

Er hatte mit zusammengekniffenen Augen die Stute beobachtet, während er weitersprach. »Ich kenne sie nicht lange genug. Sie könnte beißen, schlagen, gegen den Zaun laufen, darüber springen, auf dich los gehen …« mit einem breiten Lächeln hatte Mark das ungläubige Staunen quittiert, das über seinem Gesicht gelegen war.

»Sie könnte aber auch zu dir kommen, sich anfassen lassen und einfach ein nettes Pferd sein.« Mark hatte ihm die Hand entgegengestreckt.

»Ich bin Mark Lissoni, sie ist ein schönes Tier, nicht wahr?«

»Ja, sie ist schön«, hatte er bestätigt. »Ich bin Tom Malsen. Aber wieso meinst du, sie würde beißen?«

»Das wird sie wahrscheinlich nicht. Zumindest habe ich nicht den Eindruck von ihr. Aber das kann man nie wissen«, hatte Mark erklärt. »Streck nie die Hand nach einem Pferd aus, das auf der Koppel herumläuft. Warte, bis sie zu dir kommt, bis sie ruhiger ist, die Ohren nach vorne richtet oder den Kopf senkt und die Ohren seitlich stellt. Dann ist sie bereit, sich anfassen zu lassen.«

»Okay!« Er hatte das Pferd betrachtet, das eine weitere schnelle Runde galoppiert war, bevor es den Kopf gesenkt hatte und erneut eine Handvoll Gras gerupft hatte, das sie aufgeregt, mit erhobenem Kopf gekaut hatte.

»Sie ist ziemlich unruhig.«

»Sie ist neu, ich habe sie vor einer Stunde aus dem Hänger geholt und es sind keine anderen Pferde hier. Deswegen ist sie etwas zappelig.« Mark hatte abgewunken. »In ein paar Tagen hat sie sich eingewöhnt, im Anschluss daran hole ich ihr einen Freund.«

»Fein«, hatte er gegrinst. »Dann kann ich hier bald mehr Pferde bewundern?«

»Du kannst auch reiten kommen, wenn du magst.« Mark hatte einen Moment gezögert und laut überlegt. »Ich brauche noch einen Monat, bis dahin habe ich die erste Reitbahn fertig und der Betrieb kann losgehen.«

»Ich habe irgendwann reiten gelernt, aber es war es nicht das, was ich mir vorgestellt habe.«

»Gut! Dann versuchen wir es auf die richtige Art, was hältst du davon?« hatte Mark gefragt und ihm einen forschenden Blick zugeworfen.

 

Zwei Monate später war er nervös und verkrampft auf der goldbraunen Stute gesessen, die friedlich und vorsichtig mit ihrer wankenden Last im Round Up dahingetappt war. Daneben hatten Marks Töchter in der Reitbahn galoppierend ihre Späße getrieben. Provozierend und wild.

Sie waren über kleine, selbstgebaute Hindernisse gesprungen, hatten sich weit aus dem Sattel gebeugt, waren seitlich auf ihren Pferden gehangen und hatten gekreischt vor Vergnügen.

Bis Mark sie zu Ordnung und Ruhe gerufen hatte.

Er hatte die Kinder um ihre Sorglosigkeit und Geschicklichkeit beneidet, mit der sie ihre Ponys bewegten.

Wollte er doch selbst schon als Junge ein Cowboy sein. Erst auf der Suche nach Abenteuern durch die endlosen Ebenen der Prärie galoppieren, schöne Frauen retten, gegen das Böse kämpfen, und des Abends am Lagerfeuer sitzen. Das Gefühl der Freiheit genießen, das den beiden Mädchen offensichtlich so selbstverständlich war.

Er hatte reiten gelernt, aber das Gefühl der Freiheit, auf einem Pferd zu sitzen und sich wohlzufühlen, wie er es in seinen Büchern gelesen hatte, war es nie.

Erst Mark hatte ihn gelehrt, Pferde nicht nur zu reiten, sondern zu verstehen. Er hatte ihn gelehrt, eins zu sein mit dem Pferd, sich wohlzufühlen und die Freiheit zu spüren.

Er hatte dem Jungen in ihm die Träume zurückgegeben. Dafür würde er ihm stets dankbar sein.

Hinter den Stallungen führte der Weg an den Koppeln vorbei, zu den beiden Reitbahnen und dem Round Up, wo Tom Mark schließlich fand.

Bei der Arbeit mit Tatjana, einer nervösen Stute und Diana, die ihm aufmerksam zuhörte. Sie standen mit ihren schweren Regenmänteln in der Mitte des kreisrunden Platzes, ließen das Pferd laufen, das Wasser tropfte von den breiten Hüten. Immer wieder sprang die Stute in wildem Galopp und feuerte nach hinten aus, aber Mark bremste sie ein. Erlaubte nur Trab, ließ das Pferd wieder laufen und bremste sie abermals ein, sobald sie in den Galopp umsprang.

»Hallo Tom, morgen kommt Annie, ihre Besitzerin«, rief ihm Mark zu, als er ihn bemerkte, hielt das Gesicht in den Regen und blinzelte. »Und dann sollte sie sich benehmen. Heute haben wir zwar einen Rückschritt. Aber das bekommen wir in den Griff.«

Er grinste verzerrt und lachte dann auf. »Hoffe ich zumindest.«

»Hi Mark, lass dich nicht stören«, winkte Tom. »Ich wollte nur sehen, wie’s dir geht.«

»Ist okay, Diana macht weiter. Gib mir zwei Minuten, ich komme gleich raus.«

Er warf dem Mädchen einen auffordernden Blick zu und reichte ihr das Seil und die Longe, die sie für ihre Arbeit verwendeten.

»Sie gehört dir, Diana. Lass sie nicht aus den Augen! Sie braucht etwa eine halbe Stunde. In zwanzig Minuten wendest du sie und lässt nicht locker. Wenn sie die nächsten zehn Minuten brav läuft, darf sie im Schritt gehen, dann hört sie auf dich und wir haben sie, wo wir sie morgen brauchen.«

Mit ein paar schnellen Schritten lief er zum Tor und schlüpfte hinaus.

»Ich bin hier, wenn du mich brauchst.«

Mark überquerte die Reitbahn und setzte sich zu Tom, der auf der überdachten Zuschauertribüne Platz genommen hatte.

»Scheiße, du siehst aus wie ausgekotzt«, bemerkte Tom trocken und betrachtete seinen Freund. »Stimmt irgendetwas nicht mit dir? Nimmt dich dein Job so ran? Oder ist es eine Frau, die dich nicht schlafen lässt?«

Er versuchte ein anzügliches Grinsen. »Vielleicht die Kleine, die am Sonntag mit dabei war und dich mit ihren großen Augen angestarrt hat, als wärst du ihr James Dean?«

»Ist es so schlimm? Habe ich das auf die Stirn graviert?« versuchte Mark auf Toms Anspielung einzugehen und lächelte gequält.

»Na ja, eine strahlende Schönheit warst du nie«, brummte Tom. »Aber im Moment siehst du so richtig gebraucht aus.«

Er nickte Mark zu. »So eine hübsche Frau kostet eine Menge Kraft, mein Freund. Du solltest Haferflocken zum Frühstück essen, damit du wieder zu Kräften kommst.«

»Danke, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen«, murmelte Mark. »Aber das ist es nicht. Zwischen uns läuft nichts.« Er verstummte grübelnd und sah Tom von der Seite an. »Wie kommst du auf James Dean?«

»War nur so ein Gedanke. John Wayne schien mir zu unpassend. Du hast nicht seine Figur. Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Mit der Kleinen. Nein. Ist nur zurzeit etwas viel.«

Tom grinste. Zumindest den schrägen Humor hatte sein Freund nicht verloren.

Aufmerksam beobachtete Mark Diana, die der Stute keine Chance gab, stehenzubleiben und erzählte Tom von dem Virus, den sie im Büro hatten und der ihnen das Leben schwer machte.

»Wir haben viel Arbeit und Ärger dadurch.« Er winkte ab, legte mit einem missmutigen Brummen beide Hände in den Nacken und streckte den Kopf weit zurück, um die Muskeln zu entspannen.

»Ich will mich als Hufschmied selbstständig machen, kann aber die Leute in der Firma nicht allein lassen. Das wäre nicht fair«, grinste er betrübt und schob mit der Hand den Hut nach hinten. »Hufschmied und Reitlehrer und meine Zeit selbst einteilen, das wäre so meines.«

Tom schnaubte grinsend und nickte.

»Hört sich gut an«, sagte er. »Wird aber nicht einfach werden.«

Er warf einen Blick auf Diana und verfolgte interessiert ihre Bewegungen, wie sicher sie die Stute kontrollierte.

»Vor allem solltest du zurückstecken und Pause machen.«

Mit einem Seitenblick musterte er Mark, der das hölzerne Dach über ihm betrachtete.

»Lade deinen Akku auf, bevor du diesen Schritt gehst. Du wirst es brauchen, sonst streckt dich dein Leben nieder. Es frisst dich, kaut dich gut durch und spuckt dich wieder aus. Denk darüber nach, ich weiß, wovon ich spreche!«

Mark lachte verdrossen.

»Danke, ich bin hart im Nehmen. Wenn mich das Leben niederstreckt, stehe ich auf und stelle mich der Herausforderung. Du musst deine Optionen in die Hand nehmen und die neue Perspektive sehen. Dann findest du auch auf deinen Pfad zurück. War schon immer so.«

Er sah seinen Freund an. »Aber danke für das Aufrichten. Ich werde deine Worte überdenken, den Bürojob aufgeben und mich um die Pferde und meinem Weg kümmern.« Mark zuckte mit den Schultern. »Worauf sollte ich auch warten.«

Schwerfällig stand er auf und ging durch den Regen, der immer noch in dünnen, silbrigen Strängen vom Himmel fiel, zum Round Up.

»Kommst du morgen!«, rief er über die Schulter zurück. »Wir reiten am Nachmittag aus.«

»Ich bin gegen dreizehn Uhr da«, erwiderte Tom und erhob sich ebenfalls. »Ich nehme die Sonne mit, falls du sie bis dahin nicht zu sehen bekommst.«

Er winkte Diana, die zu ihnen herübersah, und rief Mark ein »Grüße an deine Mädchen« zu, bevor er sich abwandte und zu seinem Wagen ging.

Über seinem Gesicht lag ein besorgter Schatten. Marks Auftreten gefiel ihm nicht. Hinter seinen Augen war ein unbestimmter Schmerz und seine Bewegungen wirkten nicht wie sonst. Die fließende Geschmeidigkeit, die Mark eigen war, wirkte gestelzt und kantig. Gerade so, als ob er sorgsam darauf bedacht war, keine falsche Bewegung zu machen, oder starke Schmerzen hatte.

Tom schüttelte den Kopf und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Sein Freund hatte noch nie über Schmerzen geklagt, fiel ihm ein.

Selbst als er mit einem Pferd, das ausgerutscht war, in den Koppelzaun gekracht und sich drei Rippen gebrochen, den linken Arm und das linke Bein gequetscht hatte. Oder der Hengst, der sich mit ihm überschlagen hatte. Marks Knie war tagelang wie ein Ballon geschwollen. Er hatte teuflisch gegrinst und die Zähne beim Sprechen nicht auseinander bekommen, aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als zugegeben, dass er vor Schmerzen nicht reden konnte.

Besorgt nahm sich Tom vor, in nächster Zeit ein Auge auf ihn zu haben.

 

*

 

Die Sonne blinzelte zwischen dünnen Wolken hindurch und ein sanfter Wind trocknete die Feuchtigkeit vom gestrigen Regen, der am Nachmittag nachgelassen und am frühen Abend aufgehört hatte. Vom Bach trieben feine Nebelschleier über die Koppeln und verloren sich in der warmen Luft. Aus den Blättern des Nussbaums fielen vereinzelt Tropfen und warfen tanzende Schattenmuster vor Marks Füße.

Annie saß kerzengerade aber entspannt auf ihrer großen Stute und lenkte sie mit leichter Hand durch die Reitbahn. Sie war am Vormittag gekommen und die anfängliche Nervosität, die sie die ersten Schritte gezeigt hatte, war rasch verflogen und hatte einer tiefen Zufriedenheit Platz gemacht.

»Es ist schön, wieder auf Tatjana zu sitzen«, strahlte sie Mark im Vorbeireiten an. »Kein Vergleich zum letzten Jahr.«

Mark nickte zustimmend. Er lehnte beim Aufgang zur Tribüne, vom Sonnenlicht beschienen, das in langen schrägen Strahlen auf die Reitbahn fiel, und blinzelte gegen das Blenden an. Hinter seiner Stirn pochten die Schmerzen. Hielten ihn fest in ihrem Griff und ließen wenig Spielraum für schnelle Bewegungen und rationales Denken.

»Du kommst besser zurecht, als ich dachte«, murmelte er heiser und konzentrierte sich darauf, die munteren Kobolde, die seinen Kopf als Bergwerk missbrauchten und fleißig hämmerten und klopften, nach hinten zu drängen.

»Sie geht angenehm, wehrt sich nicht gegen die Zügel und hat mehr Elan«, warf Annie ihm bei der nächsten Runde zu, die Augen nach vorne gerichtet. »Darf ich sie angaloppieren?« Ein Ruf über die Schulter, von der anderen Seite der Bahn und Mark schüttelte träge den Kopf.

»Lass dir Zeit. Geduld. Wie wir es besprochen haben«, erwiderte er, und trat bedächtig ein paar Schritte in die Reitbahn. Er hob den Kopf und sah direkt in die Sonne.

Das Licht sandte feurige Wellen durch sein Hirn und er sog scharf die Luft ein. Verharrte für einen Moment im Schritt, wandte sich mit fest geschlossenen Augen ab und wechselte zwinkernd die Seite, um sich zu sammeln. Vorsichtig sah er hoch und blickte der Reiterin nach, die er am Geräusch der Hufe davon traben hörte, ohne sie zu sehen.

Für einen langen Augenblick konnte er nichts erkennen, schirmte seine Augen gegen das Sonnenlicht ab und starrte angestrengt nach vorne. Langsam nahm die Welt wieder Konturen an und er konnte Annie sehen, die einen Bogen ritt und auf ihn zukam. Er hob die Hand und ließ sie anhalten.

»Lass sie die nächsten Runden rechts herum traben und mach dann Pause. Falls du unter der Woche kommen willst, kannst du gerne, jederzeit. Ruf mich an und sprich was Nettes auf den Anrufbeantworter.«

Er lächelte ihr aufmunternd zu und klopfte Tatjana auf den Hals.

»Ich bin dann im Haus, wenn du Fragen hast«, winkte er den beiden zu, rief den Hund, der am Eingang der Reitbahn gewartet hatte und ging, mit sorgfältig gesetzten Schritten zurück in den Hof, immer darauf bedacht, keine schnellen Bewegungen zu machen.

 

Drei Stunden später ließ Mark seine Blicke über die Gruppe von acht Pferden samt Reitern wandern, die sich vor ihm gesammelt hatten, und nickte ihnen zu.

»Wir gehen heute die Route über den Jägersteig. Die Mädchen gehen voraus, dann Tom und Sabine. Claudia und Diana, ihr bleibt hinter ihnen. Jennifer reitet an meiner Seite, sie kennt den Weg nicht. Wir machen den Schluss.«

»Sarah, Nicole, ihr geht vorne, aber schaut ab und an zurück und hängt uns nicht ab. Auf der langen Ebene könnt ihr die Pferde laufen lassen«, sagte er, und freute sich über die strahlenden Gesichter, die ihm entgegenblickten.

»Dort ist auch genug Platz für Claudia und Diana zum Überholen. Wir gehen links den Berg hinauf und sammeln uns oben bei der kleinen Birkengruppe.« Tom grinste die beiden Mädchen an und sandte ein Zwinkern.

»Das wird aber kein Wettrennen, klar?« Er warf Mark einen Blick zu und senkte die Stimme: »Wenn ihr mich gewinnen lasst, spendiere ich euch später ein Eis.«

Sarah und Nicole zwinkerten verschwörerisch, wie sie es von Tom gelernt hatten, und nickten sich lachend zu.

»Mal sehen«, rief Nicole über die Schulter, trabte ihr Pony an und Sarah zog den rechten Mundwinkel nach unten, begleitet von der Andeutung eines Kopfschüttelns.

Nie im Leben sagte die Geste. Sie rief den Hund und trabte hinter Nicole her, während für Tom nur ein Lachen blieb.

Gut gelaunt folgte die Gruppe und sie ritten die Koppeln entlang in den Wald.

Verstohlen beobachtete Jennifer Mark, während sie im kühlen Schatten unter einem dichten Laubdach gingen. Sie hatte auf den Reithelm verzichtet, da alle Reiter der Gruppe ohne Helm, nur mit Westernhüten ritten. Ihre sonnengebleichten Haare umrahmten das schmale Gesicht und betonten ihre Augen, die von einem dunklen, klaren Braun waren, wie Novemberlaub am Grund eines Wildbaches. Freudig lächelte sie Mark zu, sobald er in ihre Richtung sah und er lenkte schmunzelnd sein Pferd an die Seite von Madonna.

»Der Tag ist perfekt«, freute sie sich, und legte den Kopf für ein strahlendes Lachen zurück.

Die Luft war warm, aber nicht heiß. Klar vom Regen, wie frisch gewaschen und der Wald ringsum verbreitete einen betörenden Duft nach jungen Blättern und alten Bäumen, der beinahe berauschend wirkte.

Vor ihnen unterhielten sich die Mädchen mit leisen Stimmen, kaum dass sie das Rascheln der Blätter übertönten. Ab und an knarrte ein Sattel und hoch über ihnen ließ ein Eichelhäher seinen warnenden Ruf hören. Eindringlinge im Wald.

»Herrlich«, sagte sie als Bestätigung für sich selbst und wandte sich an Mark.

»An Tagen wie diesen wünschte ich, er würde endlos dauern.«

Sie versuchte Marks Blick einzufangen. Wollte sich in seinen Augen verlieren und finden. Ihm so nah wie möglich sein, aber seine Augen lagen im Schatten des Westernhutes, den er wie immer trug, verdeckt von einer dunklen Sonnenbrille.

Jennifer wünschte für einen Augenblick, sie wären allein in dem Wald unterwegs, der mit seinem Spiel von Licht und Schatten wie ein Zauberwald auf sie wirkte, und schalt sich sofort einen Narren.

Der Mann war verheiratet. Er hatte zwei Kinder, einen interessanten Job, einen Reitstall und ständig irgendwelche Frauen um sich. Sie dagegen war eine mittelalterliche, durchschnittliche Frau mit vierunddreißig, noch nie verheiratet und die letzte Beziehung lag auch schon zwei Jahre zurück.

Seufzend nestelte sie an ihren Zügeln herum und handelte sich einen verständnislosen Blick von Madonna ein, die den Kopf hob und ihre Aufmerksamkeit nach hinten richtete. Sofort korrigierte Jennifer ihre Haltung und riskierte einen vorsichtigen Seitenblick zu Mark.

Sein Gesicht wirkte an diesem sonnendurchfluteten Tag hagerer und ernster als sonst. Das fiel ihr erst hier im Schatten der Bäume auf, wo das Licht die Linien weicher zeichnete und sein Lächeln, wie in den Tagen wirkte, als sie ihn kennengelernt hatte.

»Ja«, meinte Mark und zog das Wort in die Länge, wie er das manchmal tat. »Es freut mich, dass es dir gefällt. Die Sonne hat Tom mitgebracht, sagt er zumindest«, schmunzelte er. »Die Gegend hat Mutter Natur für uns geschaffen, und dass wir heute hier reiten dürfen, haben wir uns verdient.«

Er sah sie für einen langen Moment an und ein Lächeln dehnte seinen Mund. »Und außerdem freut es mich neben einem hübschen Mädchen zu reiten«, sagte er und sah sie mit leicht geneigtem Kopf an. »Das gibt diesem Tag erst seinen Zauber.« Sein Lächeln vertiefte sich und er sah wieder nach vorne.

Jennifers Herz machte plötzlich einen Sprung, setzte für einen langen Schlag aus und ein zartes Rot färbte ihre Wangen. Sie strahlte Mark an und fand keine Worte, die sie erwidern könnte.

»Danke«, flüsterte sie, einen Ton in der Stimme, wie den, kleiner Mädchen beim Streicheln von Pferden.

Die Sonne leuchtete durch ein lichter werdendes Blätterdach und zeichnete goldene Punkte und Sterne auf den Waldboden und die Bäume und Pferde ringsum. Es sah aus wie fallende Goldmünzen und Jennifer schüttelte staunend den Kopf.

»In diesem Licht wirkst du wie eine der schönen Waldfeen, die an Tagen wie diesen, unter den Bäumen tanzen sollen. Bloß sehen kann sie nicht jeder. Nur Kinder und Verliebte«, meinte Mark und beugte sich zu ihr hinüber. Seine Hand ging hoch, um ihr eine vorwitzige Strähne aus dem Gesicht zu streichen, bevor sie diese mit ihrer typischen Kopfbewegung nach hinten werfen konnte, unterdrückte den Impuls aber im letzten Moment.

Jennifer, die seine Handbewegung bemerkt und richtig gedeutet hatte, blickte ihn lange an. In ihrem Bauch tanzten Schmetterlinge und sie wünschte sich, er hätte seinem Gefühl nachgegeben und sie berührt.

Sie wollte seine Hand in ihrem Gesicht, auf ihrer Haut fühlen und seine Wärme spüren. Am liebsten aber wollte sie die Zeit anhalten, um diesen Augenblick in Glas einschließen zu können.

Verlegen lachte sie auf, ihre Wangen glühten, und es war dieses Lachen, das Mark die Hand heben ließ, und seine Finger strichen eine Strähne aus ihrem Gesicht, die gar nicht da war.

 

Drei

 

Die Hölle lauert irgendwo in der Nähe deines Horizonts

Und manchmal gewährt sie dir einen tiefen Blick

In ihre schwarze Seele

 

 

Beim Lesen seiner Frühstückslektüre am Sonntagmorgen war Mark beim Überfliegen der Kleinanzeigen ein Eintrag unter dem Begriff ›Pferdesport‹ aufgefallen: ›Verkaufe Arabermischlingsstute, 4 Jahre, schwierig im Handling, nur an geübte Reiter‹, Telefonnummer lag bei. Preis nach Vereinbarung.

Geistesabwesend legte er die Zeitung beiseite.

Wir hätten noch Platz für ein Pferd im Stall, überlegte er. Schwierig im Handling hörte sich gut für ihn an. Vielleicht binde ich eines der Mädchen in die Ausbildung ein. Sabine würde sich freuen. Über die Probleme, die der Besitzer des Pferdes mit dem Tier hatte, machte er sich keine Sorgen.

Mark liebte schwierige Pferde. Sie waren seine große Leidenschaft.

»Warum lässt du dich mit diesen Teufelsbraten ein. Sie werden dich eines Tages umbringen, oder zumindest zum Krüppel schlagen«, hatte Tom ihn einmal entgeistert gefragt und nachdenklich hinzugefügt. »Obwohl, mit gebrochenem Halswirbel im Rollstuhl sitzen, in dem Fall würde ich das Umbringen bevorzugen. Wer will schon sein restliches Leben auf andere angewiesen sein. Ich meine, ohne Chance auf bessere Zeiten.«

»Wenn sie nicht mehr zum Reiten sind, wenn sie beißen, schlagen oder durchgehen, wenn sie für andere gefährlich werden, dann sind sie für mich interessant. Die friedlichen mit den kleinen Macken überlasse ich den Pferdeflüsterern«, hatte Mark geantwortet. »Außerdem schlagen oder beißen sie mich nicht. Keine Ahnung warum. Vielleicht weil ich ›Pferd‹ mit ihnen spreche und nicht ›Mensch‹. Vielleicht war ich in einem früheren Leben selbst ein Pferd. Ich denke es ist eine Art von gegenseitigem Respekt, die uns verbindet.« Er hatte mit den Schultern gezuckt und seinem Freund erklärt, dass diese Pferde von Menschen verdorben wurden. »Sie haben ihre Chance verdient, den Menschen wieder zu vertrauen. Das ist auch ein Grund, weshalb ich mit ihnen arbeite, das ist der Reiz daran.«

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, unter deren Wurzeln ein rhythmisches Klopfen hämmerte, und tastete unbewusst nach den Schmerzen, die zu ständigen Begleitern im Hintergrund geworden waren. Seine Gedanken eilten über das Wochenende hinaus, berechneten Stunden und spielten mit den Möglichkeiten, während der Blick zum Fenster ging, wo ein schmaler Streifen aus gleißendem Sonnenlicht eine Bahn von tanzendem Goldstaub über den Boden der Küche zauberte.

In der Wiese der gegenüberliegenden Straßenseite hüpften zwei Amseln geschäftig umher. Auf der Suche nach Würmern und vorwitzigen Käfern, die unbesorgt in der Wiese herumkrabbelten, ohne auf die tödlichen Schnäbel über ihnen zu achten. Er ließ einen Moment lang den Blick darauf verweilen und schaute dann auf eine kleine Wolke, die langsam über den blitzblauen Himmel wanderte. Die Geräusche des neuen Tages, der sehr warm zu werden versprach, sickerten an ihm vorbei. Er hörte Vogelzwitschern, das Brummen eines Autos, Hundegebell vom Nachbarhof und die Antwort von Arco, ein dumpfer Laut aus tiefer Brust.

Einer Eingebung folgend stand er auf und ging zum Telefon. Sogar das Gehen fiel ihm neuerdings schwer, aber es meldete sich niemand.

»Wird noch zu früh sein«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Um halb sechs sitzen offenbar nicht alle Pferdeleute beim Frühstück.«

Eine Stunde später, Mark war mit den Ställen fertig, meldete sich beim zweiten Versuch eine müde Stimme und sie verabredeten sich für Mitte der Woche.

 

»Guten Tag, sie kommen wegen der Stute, nicht wahr? Sie steht dort hinten«, wurde Mark schon beim Aussteigen aus dem Wagen von einer jungen, fast mageren Reiterin, die ihm mit ihrer Reitgerte die Richtung wies, begrüßt. Sie überquerte mit wiegenden Hüften den Parkplatz vor dem Reitstall und steuerte einen dunklen Volvo an, ohne sich weiter um ihn zu kümmern.

»Danke!«, rief Mark ihr nach, war aber nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte, bis sie mit der rechten Achsel zuckte und die Gerte ein wenig hob. In einer lässig leichten Bewegung, bei der Mark unwillkürlich lächeln musste.

Sabine sah ihr irritiert hinterher und murmelte ein paar Worte vor sich hin, die Mark nicht verstand. Ihr schulterlanges, blondes Haar, das in der Sonne leuchtete, umrahmte ein gleichmäßig geschnittenes Gesicht, aus dem laubbraune Augen blitzen. Vorwitzige Sommersprossen bedeckten ihre obere Gesichtshälfte und verliehen ihr ein sympathisches Aussehen. Sie war schlank, ohne dünn zu wirken, Mitte zwanzig, lebensfroh und lachte gerne.

Nur im Moment nicht.

Ihr missfiel die Art des Mädchens, wie arrogant sie Mark offensichtlich übersah und mit aufreizendem Hüftschwung davon stolzierte.

Forschend warf sie ihm einen Seitenblick zu und rückte an ihn heran, während sie die angezeigte Richtung einschlugen und in den geräumigen Innenhof eines alten Gutshofes einbogen.

Der Hof war an zwei gegenüberliegenden Seiten von Ställen flankiert. Die hintere Seite war mit dicken Bohlen eingezäunt. Dahinter befand sich ein Reitviereck. Zumindest konnten sie dort Reiter sehen, die sich auf ihren Pferden in gleichmäßigen Bahnen bewegten. Das Wohngebäude war stirnseitig. Von den beiden Balkonen konnte man auf die Reitbahn sehen.

Auch ein interessanter Ausblick dachte Mark, der einen Augenblick verharrte, um sich einen Überblick zu verschaffen.

»Wir sind von der Seite gekommen«, wandte er sich an Sabine. »Sie hat uns sozusagen zum Dienstboteneingang geschickt.«

Vor den Ställen waren jeweils in Hüfthöhe eine Reihe Balken mit Ringen zum Anbinden der Pferde an den Mauern befestigt. Ganz hinten stand ein mittelgroßes schwarzes Pferd und stampfte ungeduldig mit den Hufen auf, als es Mark und Sabine sah.

Unbewusst rückte er den Westernhut zurecht und straffte die Schultern. In seinem Kopf, irgendwo knapp über den Augenbrauen, starteten die kleinen Kobolde, die ihn in letzter Zeit quälten, eine winzige Motorsäge und versuchten offenbar ein Loch in den Schädel zu sägen. Mark atmete tief ein und wieder aus. Er ging neben Sabine über den Hof und blieb fünf Schritte vor dem Pferd stehen.

Aufmerksam beobachtete er jede Bewegung des Tieres. Kobolde, Motorsägen und Kopfschmerzen waren für den Augenblick vergessen und weit nach hinten gedrängt. Zur unwichtigen Nebensächlichkeit degradiert.

»Hallo Pferd! Bist du aber eine Schönheit. Sieh dir diese großen Augen an. Der schmale Kopf und die schönen Formen. Sieh dir ihre Beine an. Hast du schon einmal so vollendete Fesseln gesehen. Wie hoch sie den Schweif trägt. Und sie hat Temperament! Ich glaube, ich habe mein Traumpferd gefunden. Abgesehen davon liebe ich Rappen.«

Die nachtschwarze Stute, die kurz angebunden vor den Stallungen dieses großen altehrwürdigen Reitstalls mit den schönen Bogengängen und dem überdachten Brunnen im Hof stand, den Kopf zornig nach vorne gestreckt, Zähne entblößt, Ohren eng angelegt, verharrte reglos. Nur gelegentlich lief ein Zittern über ihre Schultern. Der Schweif peitschte rhythmisch und wild. Die linke Hinterhand hob sich mit vor Wut verkrampften Muskeln im Gleichklang seiner Bewegungen, bereit bei der geringsten Gelegenheit auszufeuern. Ein grollendes Abbild eines der gutmütigsten, anmutigsten und ehrlichsten Geschöpfe der Natur, von Menschenhand verdorben.

Es war nicht das erste Mal, dass Mark so ein Pferd sah. Wenngleich die Energie und die Wut, die das Pferd ausstrahlte, alle anderen in den Schatten stellte.

»Also, ich sehe nur Zähne und Klauen an dem Pferd«, schüttelte Sabine ungläubig den Kopf. Sie war hinter Mark stehen geblieben und wagte nicht, dem Tier zu nahe zu kommen. Unsicher trat sie zwei weitere Schritte zurück.

»Bist du sicher, dass es dieses Pferd ist, das sie verkaufen?«

»Ich hoffe doch!«

Sie hatte sich gefreut, als er sie vor ein paar Tagen gefragt hatte, ob sie nicht Lust hätte, mit ihm mitzufahren und ohne Zögern zugesagt.

»Ich kaufe mir ein Pferd, weißt du und da kann ich ein weiteres Augenpaar und ein anderes Urteil gut gebrauchen«, hatte er gesagt. Sabine runzelte die Stirn und warf Mark einen besorgten Blick zu.

»Hallo Pferd!« Behutsam trat er einen Schritt an das Tier heran.

»Vorsicht! Kommen sie ihr nicht zu nahe«, hörte er eine Stimme hinter sich und im nächsten Augenblick das böse Klacken zuschnappender Kiefer, die nur Zentimeter neben seinem abgewandten Gesicht in die Luft bissen.

»Wow, sie hat Temperament, oder wie immer du das bezeichnest«, murmelte Sabine und betrachtete ihn verdutzt, mit großen ängstlichen Augen, in denen sich das blanke Erschrecken spiegelte.

Ich muss mich konzentrieren und achtgeben, dachte Mark.

Es war eine Warnung der Stute. Hätte sie es beabsichtigt, hätte sie sein halbes Gesicht weggebissen. Die stummen, aber fleißigen Kobolde der letzten Tage hatten seine Instinkte geschwächt.

»Vertrauen sie ihr nie, sie ist heimtückisch und gemein«, belehrte ihn ein großer untersetzter Mann in blank geputzten Reitstiefeln jovial, der unversehens aus einer der Türen gekommen war. Er wuchtete einen Sattel auf den Balken, an dem das Pferd angebunden war.

»Wage es nicht!«, zischte er in ihre Richtung. Das Pferd tänzelte nervös zur Seite und feuerte kraftvoll nach hinten aus. Sofort trat er neben sie und schlug ihr im nächsten Augenblick die Faust in die Nieren.

»Ich habe dich gewarnt«, fauchte der Mann.

Sabine schnappte hörbar nach Luft und setzte zu einer zornigen Wortmeldung an, aber Mark warf ihr rasch einen grimmigen Blick zu.

»Komm schon, komm!« Grob zwängte der Mann das Gebiss, eine Kandare mit bleistiftdünnem Mundstück und langen Aufzügen, zwischen die Zähne der Stute und grinste Mark mit Todesverachtung an.

»Ich bin der Einzige im Stall, der näher als fünf Meter an sie herankommt.« Mit geübten Griffen schloss er die Schnallen des Zaumzeugs und trat beiseite, bevor die Stute nach ihm schnappen konnte.

»Warum wollen sie das Pferd verkaufen?«, fragte Mark und ignorierte den heißen Zorn, der in seinem Bauch rumorte und die stechenden Kopfschmerzen, die jetzt wieder stärker hinter seinen Augen wüteten. Vielleicht hätte er sich den Weg besser erspart. Zumindest sollte Sabine nicht mit ansehen, wie brutal der Kerl mit dem Pferd umging.

»Weil sie bloß Ärger macht und sich nicht benehmen kann«, sah ihn der Mann erstaunt an. »Habe ich das am Telefon nicht erwähnt? Sie braucht eine starke Hand.« Er musterte Mark von oben bis unten.

»Oh doch, doch«, beeilte er sich dem Grobian zu versichern. »Nur habe ich das nicht ernst gemeint.«

»Nein, nein«, meinte der Mann mit abfälligem Unterton in der Stimme. »Sie ist nicht einfach bockig, vertrauen sie mir. Ich erzähle ihnen keinen Scheiß, wenn ich das sage. Sie ist nicht nur ein Miststück, wie es im Buche steht, nein! Sie hat den Teufel im Leib!«

»Okay, ich denke, wir sparen uns das Reiten«, sagte Mark und trat näher heran.

Misstrauisch legte das Pferd die Ohren zurück und schnappte nach ihm.

Halbherzig.

Als ob sie selbst von ihrem Angriff nicht überzeugt wäre.

Beherzt griff Mark sofort zu, hielt die Stute am Zaumzeug fest, ohne die Kandare zu berühren, redete beruhigend auf sie ein und steckte ihr die linke Hand ins Maul.

Bevor der überraschte Besitzer Einspruch erheben konnte, öffnete er dem Pferd das Maul, überprüfte anhand der Zähne, dass das angegebene Alter stimmte, und ließ die Stute wieder los. Verdutzt schüttelte diese den Kopf, so dass die Kandare klirrend gegen die Zähne klapperte.

Mark klopfte ihr besänftigend auf den Hals und ließ seinen Blick über ihren dunklen Körper wandern.

»Können sie mir stattdessen das Pferd an der Hand vorführen. Einmal bis zum Ende des Hofes traben und wieder zurück?«

Der Mann stand mit großen Augen und fest zusammengepresstem Kiefer neben dem Pferd, ganz so als fürchte er, Mark würde ihm im nächsten Moment ebenso in den Mund greifen, um sein Alter zu schätzen.

»Wie? Wollen sie es jetzt reiten oder nur ansehen?«, knurrte er und schnitt eine Grimasse.

»Ich denke ansehen genügt mir«, erwiderte Mark geduldig. »Wenn sie das Pferd für mich traben lassen, kann ich ihre Gänge beurteilen und mir einen Eindruck machen.«

 

»Du hast dich entschieden, als du es dort stehen gesehen hast, nicht wahr?«, fragte Sabine später.

»Ja, aber ich wollte mich versichern, dass sie gesund ist.«

»Ich hätte ihn erwürgen können, als er das Pferd schlug.«

»Wäre eine Möglichkeit gewesen, aber dann wäre es schwierig geworden, an das Pferd zu kommen.« Mark atmete tief durch. »Solche Typen haben Angst vor Pferden. Deswegen schlagen sie zu. Um sie gefügig zu machen. Dabei übersehen sie: Ein Pferd vergisst nie! Irgendwann schlägt es zurück.«

Er legte den Kopf in den Nacken und massierte vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand die Nasenwurzel, genau zwischen den Augen.

»Werden die Schmerzen schlimmer?« Besorgt blieb Sabine mit klopfendem Herzen vor ihm stehen und sah zu Mark auf.

»Geht schon«, grinste er gequält und ließ die Hand sinken. Seine Miene wirkte abweisend.

»Heißt das, wir holen sie am Samstag?«

»Nein, Freitagabend. Nach den Reitstunden. Dann kann es noch zwei Stunden in den Auslauf. Zur Beruhigung. Und am Morgen darauf mit den anderen in die Koppel. Über das Wochenende ist immer jemand da, um auf sie achtzugeben. Bis Montag hat sie sich so weit eingelebt, dass wir wissen, wie sie sich mit den anderen versteht.«

Er setzte ein selbstbewusstes Grinsen auf, um ihre Sorgen wegen der Schmerzen zu zerstreuen und nickte ihr zu.

»Ich freue mich schon auf die erste Reitstunde.«

»Wenn wir es in den Hänger bekommen.«

»Darüber mach dir keine Sorgen. Das Einsteigen ist das kleinere Problem. Da wird das Aussteigen wohl spannender.«

 

Mark und Sabine waren keine zehn Minuten im blauen Bus unterwegs, als das schwarze VW–Golf Cabrio von Jennifer auf den Parkplatz des Reitstalls einbog. Sie musterte die Wagen, die bereits hier parkten, und versuchte sie den jeweiligen Besitzerinnen zuzuordnen, während sie ihr Cabrio ausrollen ließ und auf den Platz stellte, den Marks Bus freigemacht hatte.

Ein anthrazitfarbener Alfa, ein dunkler Van und ein alter Ford hatten die Schattenplätze besetzt, aber zumindest war Annies Peugeot Cabrio nicht dabei.

Jennifer schnaubte unwillig.

Sie mochte Annie nicht leiden. Sie mochte die Art nicht, wie sie Mark ansah mit ihrem herben Gesichtsausdruck, der stets ein wenig zu ernst war. Mit ihren glatten Haaren und den dichten Augenbrauen, die wie schwarze Raupen über ihrer Adlernase saßen.

Manchmal, dachte Jennifer, starrt sie Mark an, als ob er ihr gehören würde. Wie ein Haustier, dessen Besitzerin sie war. Sie benahm sich, als würde Mark sofort auf sie aufmerksam, wenn sie erschien. Auf der Straße, im Kaffeehaus oder an irgendeinem anderen Ort der Welt. Als wäre Mark für sie auf diese Welt entsandt worden.

Unvermutet ließ sie den Motor aufheulen und erschrak über ihre unsinnige Geste, drehte den Zündschlüssel herum und lehnte sich zurück.

Dass sie Annie nicht mochte, beruhte vermutlich auf gegenseitigem Verständnis, denn sie wechselten höchstens einen Gruß, gingen sich aber, soweit das möglich war, aus dem Weg. Sie atmete tief ein, stieg aus dem Wagen, und lächelte.

Angelockt vom Motorengeräusch kam Jennifer der Schäferhund von Mark, groß, schwarz und zottelig, den Weg entgegen getrottet. Er lief sofort schneller und wedelte mit dem Schwanz, als er sie sah.

Vergessen waren Annie und ihr Missfallen gegen sie.

»Hallo Arco!«, begrüßte sie ihn und verharrte im Schritt.

Der Hund sprang erfreut heran und warf sich mit dumpfem Krachen auf den Rücken. Seine schneeweißen Zähne blitzten hinter schwarz-rosa Lefzen, während er mit den Beinen strampelte und den riesigen Kopf vor Freude hin und her warf.

Jennifer setzte sich neben ihn, versenkte ihre Hand in seinem Fell und kraulte und klopfte seine Brust. Arco japste und grunzte zufrieden, streckte sich und genoss die Begrüßung, bis Jennifer laut lachend von ihm ließ.

Er drehte sich herum, sprang auf die Beine und legte seinen Kopf in Jennifers Schoß, bevor sie vollends aufstehen konnte.

»Oh du Charmeur«, lachte sie und wand sich hoch.

Als sie ihn das erste Mal sah, hatte sie sich gefürchtet. Vor seiner imponierenden Größe, seinen Zähnen und dem schwarzen Fell. Aber er hatte sich ihr als ein ungeschickter, aber behutsamer und liebenswerter Teddybär präsentiert und so schnell in ihr Herz geschmeichelt. Und jetzt liebte und bewunderte sie dieses große tapsige Tier, das so vorsichtig und bedachtsam sein konnte.

»Wo hast du Mark gelassen?«

Sie drehte sich im Kreis herum. Sein Wagen war da, aber der Bus nirgends zu sehen.

Schade, dachte sie und ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

»Komm mit!« Sie winkte dem Hund und Arco begleitete sie freudig wedelnd zu den Ställen. Dort überquerten sie den Hof und Jennifer griff sich im Vorbeigehen das schwarze Halfter, das sie gestern hier hängen gelassen hatte.

Zwei Pferde standen aufgezäumt und gesattelt an den Anbindebalken und sahen ihr neugierig nach. Der kastanienbraune Wallach sandte ein Schnauben hinter ihr her. Der gehört Claudia, überlegte Jennifer, aber die falbfarbene Stute neben ihm konnte sie nicht zuordnen. Die sah sie zwar gelegentlich auf der Weide oder im Auslauf, hatte aber noch nicht herausbekommen, wer ihre Besitzerin war.

Sie ging von dem Hund begleitet nach hinten, zu den Koppeln. Madonna begrüßte sie mit einem fröhlichen Wiehern, sobald sie um die Ecke bog und streckte ihr den Kopf entgegen. Jennifer strahlte und ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Sie lief zu ihrem Pferd und zwickte sie in die Mähne und klopfte ihren Hals. Madonna quittierte die Begrüßung mit entspanntem Schnauben. Sie legte ihren Kopf schwer auf Jennifers Schulter und zauberte ein glückliches Lächeln auf ihre Lippen.

»Wie gut, dass wir Mark gefunden haben«, flüsterte sie in das Pferdeohr, das ihr zuckend antwortete.

Tief sog sie den warmen vertrauten Geruch ihrer Stute ein und atmete langsam aus. Sie roch nach Pferd, nach langen Ausritten über weite Wiesen und durch dichte Wälder, nach endlosem Galoppieren und vielen gemeinsamen Stunden.

Ihre Gedanken wanderten zu Mark und ihrem letzten Ritt. Jennifer spürte das zitternde Flattern im Bauch, das sich in letzter Zeit einstellte, wenn sie an ihn dachte. Ihre Hand strich noch einmal sanft über den Hals des Pferdes, wollte berühren und spüren.

Das samtweiche Fell, von der Sonne gewärmt. Das leichte Beben der Muskeln unter ihren Fingern. Die starke Präsenz dieses Tieres, das sie liebte und das ihr vertraute. Für einen langen Augenblick genoss sie dieses Gefühl, ließ sich von ihm tragen.

Dachte wieder an Mark.

Erst als Madonna auffordernd schnaubte, legte sie ihrem Pferd das Halfter an und führte sie in den Hof. Claudia und eine mittelgroße Frau Mitte dreißig, sehr gepflegt gekleidet, beinahe zu elegant für wochentags, mit einer riesigen dunklen Hornbrille, die ihre fast schwarzen Augen unnatürlich groß wirken ließen, kamen ihr auf ihren Pferden entgegen.

»Hallo«, begrüßte Jennifer die beiden und musterte die Frau so unauffällig wie möglich. Sie trug ihre dunklen Haare schulterlang und lächelte Jennifer freundlich entgegen.

»Hi, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Katharina«, nickte sie und ließ ihren Blick freimütig über Jennifer schweifen. »Sehen wir uns auf der Reitbahn?«

»Ja, ich darf noch nicht allein ins Gelände«, erwiderte sie und biss sich auf die Unterlippe, weil sich ihre eigenen Worte, wie die eines kleinen Mädchens anhörten, und schob ein »Mark will es so«, hinterher.

»Fein.« Katharinas Augen blitzten für einen Moment auf, als wollte sie etwas sagen, wandte sich dann aber ab und folgte Claudia. Die Zügel nach Western-Art in der linken Hand, den rechten Arm an der Seite. Jennifer beeilte sich mit Putzen und Satteln und gesellte sich fünfzehn Minuten später mit Madonna zu den beiden ins Reitviereck.

»Wie gefällt es ihnen bei uns?« Katharina parierte ihr Pferd vor Jennifer durch.

»Oh gut, danke«, antwortete sie und setzte ein »Ich bin übrigens Jennifer«, nach.

»Ich weiß«, schenkte ihr Katharina ein warmherziges Lachen. »Sarah hat mir erzählt von ihnen.«

Sie lenkte ihr Pferd zur Seite und trabte es an. Leichtfüßig ging die falbfarbene Stute durch die Reitbahn und Jennifer musterte sie interessiert. Taxierte ihre Art zu sitzen und ihre Bewegungen am Pferd. Die einhändige Zügelführung und wie sie die Schultern straffte, als würde sie Jennifers Blicke wie tastende Finger im Rücken spüren. Sie folgte ihr mit Madonna im Schritt, um dem Tier Gelegenheit zu geben sich aufzuwärmen, wie sie sich selbst dehnte und streckte vor einem Lauf.

»Wo ist Mark heute, ich dachte, er wäre hier?«, wandte sie sich an Claudia, die im flotten Trab an ihr vorbeiging, und ließ ihren Blick durch das Viereck schweifen.

»Er ist mit Sabine unterwegs. Sie sehen sich ein Pferd an.«

»Ein Pferd für Sabine?«

»Nein, für ihn. Mark hat wieder mal ein Pferd für die Ausbildung gefunden.«

Jennifer hielt den Atem an.

»Warum ausgerechnet Sabine?«, fragte sie, bereute ihre Worte aber sofort.

Sie waren ihr herausgerutscht, bevor sie es verhindern konnte. Wie Worte manchmal voreilig über die Lippen kamen und nicht mehr zurückzuholen waren. Es blieb nur zu warten, was sie angerichtet hatten.

»Ich dachte, Samantha ist sein Pferd?«, rief sie Claudia hinterher, aber diese schien sie nicht gehört zu haben.

Jennifer wartete einen Moment und ließ Madonna antraben. Das Pferd spürte ihre unterdrückte Nervosität und reagierte sofort darauf. Antwortete mit leichtem Tänzeln, das sie früher mit kurzen Zügeln unterbinden wollte, jetzt aber weitgehend ignorierte. Sie machte sich schwerer und signalisierte Ruhe.

Warum ausgerechnet Sabine, fragte sie sich im Stillen noch einmal und warf mit einer energischen Kopfbewegung eine Strähne zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war.

»Ich bin schon gespannt, ob wir ein neues Pferd bekommen«, rief Claudia von der gegenüberliegenden Seite der Reitbahn. »Platz wäre ja.« Katharina warf einen kurzen Seitenblick zu Jennifer.

»Er wird Sabine in die Ausbildung einbinden. Deswegen ist sie mit.«

»Vielleicht ist das Pferd auch für Sabines Mum. Sie hat schon ein paar Mal erwähnt, sich ein Pferd zu kaufen. Sie ist in jungen Jahren viel geritten, hat sie mir erzählt«, ergänzte Claudia und nickte Jennifer zu.

Mit leichtem Schenkeldruck lenkte diese Madonna in die Nähe der beiden, um sich an ihrem Gespräch zu beteiligen und wechselte vom Trab in einen leichten Galopp.

»Sind die beiden Mädchen Marks Kinder? Sie nennen ihn beim Namen, aber nicht Papa.«

»Doch, aber nur untereinander. Wenn sie ihn direkt ansprechen, nennen sie ihn Mark. Ihre Mutter will das so.«

Katharinas Mundwinkel zuckten nach unten. »Keine Ahnung warum.«

»Und wer ist ihre Mutter?« Mit hochgezogenen Augenbrauen warf Jennifer Katharina einen fragenden Blick zu. »Ich habe die Frau noch nie im Reitstall gesehen.«

Katharina tat, als hätte sie nichts gehört und starrte auf einen imaginären Punkt zwischen den Ohren ihrer Stute. Ihre Nasenflügel blähten sich grimmig.

»Oh, die wirst du hier nicht sehen«, nahm ihr Claudia die Antwort ab. Sie hatte aufgeholt und ritt nun direkt hinter ihnen. Sie bogen in die Linkskurve bei der Markierung K über A ein und parierten zum Schritt durch.

»Sie ist eigentlich nie hier draußen. Sie mag keine Pferde.«

Katharina senkte die Stimme. »Sie mag auch keine Arbeit.«

»Sie sitzt vor dem Fernseher, liest oder ist irgendwo unterwegs«, fiel ihr Claudia aufgebracht ins Wort.

Das Mädchen sah sich aufmerksam um und fügte mit erhobenem Kopf und Verachtung in der Stimme hinzu. »Früher ließ sie sich manchmal sehen, machte Mark eine Szene, weil er zu viel Zeit mit den Pferden und dem Stall verbrachte. Sagte, sie müsste sich ganz allein um die Kinder kümmern und um alles andere. Dabei sind die Kinder am Vormittag in der Schule und danach laufen sie hier herum. Die Hausaufgaben erledigen sie allein oder mit Mark und er kocht für sie und macht auch ziemlich alles im Haushalt.«

Energisch nickte sie mit dem Kopf. »Das haben mir die Mädchen erzählt. Mark macht uns das Essen, haben sie gesagt. Rosanna vergisst immer drauf.«

Sie schüttelte unwirsch den Kopf und schnaubte empört.

»Die Mädchen beschweren sich nicht über ihre Mutter. Sie antworten nur auf Fragen oder reden untereinander«, nahm Katharina Sarah und Nicole in Schutz.

Claudia schnaubte und fügte ärgerlich hinzu. »Sie hat keinen Job und ist ziemlich hysterisch.« Sie warf den Kopf zurück, dirigierte ihren Wallach an den beiden anderen vorbei, galoppierte an und beruhigte sich erst nach drei Runden durch die Bahn.

»Wir sind anfangs ein paar Mal aneinandergeraten und sie wollte mich loswerden. Aber Mark hat sich nicht dreinreden lassen.« Katharinas Augen blitzten hinter ihrer großen Brille. »Dafür bin ich ihm dankbar.«

»Wir sind alle froh, sie nur selten zu sehen. Na ja, jeder, der sie besser kennt«, schnaubte Claudia und schimpfte zornig. »Sie ist ein falsches Biest!«

Aufgebracht sah sie sich um.

»Falls du ihr einmal begegnen solltest, ist sie freundlich und nett zu dir, und wenn du sie nicht näher kennst, findest du sie lustig. Aber sobald du ihr den Rücken zukehrst, fällt sie über dich her und erzählt schlimme Sachen über dich.« Sie neigte nachdenklich den Kopf. »Das heißt, solange ihr jemand Gehör schenkt.«

»Geh ihr aus dem Weg, wenn du sie siehst. Sie ist eine Schlange«, wandte Katharina ein und rief über die Schulter. »Und jetzt reden wir nicht mehr über sie. Sonst ist meine gute Stimmung für den Tag dahin.« Sie galoppierte ihr Pferd an und lief ein paar Runden.

Wortlos schloss sich Jennifer ihr an.

Vom Westen her kam leichter Wind auf und zupfte verspielt an den Haaren der Frauen. Leise raschelte er in den Blättern des Nussbaumes, der neben der Bahn stand, und es klang fast als würde er belustigt und verwundert über die Gespräche der Menschen die mächtige Krone schütteln.

Unter dem Baum lag der Schäferhund inmitten einer kühlen Insel aus Schatten, umringt vom sonnenwarmen Grün eines viel zu heißen Junis und döste. Jennifer fasste ihre Haare im Nacken zusammen, schlang ein Band darum und drängte die Gedanken an Rosanna weit von sich.

Was soll´s, dachte sie. Ich werde ihr aus dem Weg gehen.

Ihr Blick wanderte über die Reitbahn und die angrenzenden Koppeln.

Lange würde die Wiese heuer nicht mehr dieses sanfte Grün zeigen, überlegte sie wehmütig. Die Sonne würde ihr die Farbe wegbrennen, sie verdorren lassen und gegen ein staubiges Braun ersetzen.

Sie seufzte betrübt.

Sie konnte sich auf Anhieb nicht an einen Juni wie in diesem Jahr erinnern und hoffte auf einen kühlen Sommer. Das Reiten machte bei großer Hitze keinen Spaß. Sie liebte den Frühling und den Herbst. Sogar der Winter war angenehmer als ein brütend heißer Sommer.

Der Schatten des Nussbaumes neigte sich allmählich in die Spuren der Reitbahn und Katharina parierte ihr Pferd zum Schritt durch.

»Ich werde für heute Schluss machen, war nett mit euch zu plaudern«, wandte sie sich an Claudia und Jennifer und schenkte beiden ein freundschaftliches Lächeln. Offenbar hatte sie ihre gute Laune wiedergefunden.

Jennifer und Claudia zogen noch ein paar Runden über die Reitbahn, ritten einige Figuren und ließen ihre Pferde am langen Zügel auslaufen.

Als Jennifer eine halbe Stunde später Madonna auf die Koppel entließ, war Mark noch nicht zurück. Leise seufzend verabschiedete sie sich von Arco, der sie zu ihrem Wagen begleitet hatte, und fuhr nach Hause.

 

*

 

 

Von Westen her strich ein frischer Wind über das Land. Hoch am Himmel segelten ein paar Wolken und die Schatten der Häuser wurden zunehmend länger. Die Tische auf der Terrasse von Jennifer Aigners Lieblingscafé waren unbesetzt.

Bis auf zwei.

In stillem Einverständnis entschieden sich die beiden Frauen für einen geschützten Platz nahe der mannshohen Hecke. Mit Blick auf den Park auf der anderen Straßenseite.

Der Wind wehte Staub von den Wegen empor wie tanzende Gaukler, die unvermittelt auftauchten, um sich zu zeigen und wieder ins Nichts zu verschwinden. Barbara ließ sich auf einen Stuhl fallen und lächelte fröhlich. Sie trug dunkle Jeans, ein meerblaues Sweatshirt, passend zu ihrer Augenfarbe, riesenhafte, klappernde Birkenstocksandalen und über dem Arm einen leichten Pullover. Jennifer setzte sich gegenüber, mit dem Rücken zur Wand, die Terrasse vor Augen. Sie strich über ihren bunten Sommerrock. Zog das hellviolette T-Shirt, abgestimmt auf Rock und Lippenstift zurecht und warf eine dünne Lederjacke über die Lehne des Stuhles, der neben ihr stand.

Zwei Pärchen saßen ihnen gegenüber und unterhielten sich leise.

Eng zusammengerückt.

Fast so, als fürchteten sie, jemand könnte sie bei ihrem Gespräch belauschen.

Ein vorwitziger Spatz hüpfte verloren zwischen den Tischen herum, auf der Suche nach Krumen und pickte mit schnellen Bewegungen nach den Leckerbissen, die hier zu finden waren. Jennifer beobachtete ihn, in Gedanken weit weg, wie er mutig näherkam. Bereit beim geringsten Anzeichen von Gefahr die Flucht zu ergreifen. Das keckernde Lachen einer Frau und laute Wortfetzen drangen zu ihnen, als die Kellnerin die Tür öffnete, um sich um die wenigen Gäste hier draußen zu kümmern. Sie nahm den Geruch von Kaffee und vielen Menschen mit, die auf engem Platz versammelt waren.

Die Frauen bestellten einen sommerlichen Salat mit Gebäck und ein Glas Wein dazu.

»Also, dann erzähl mal.«

»Was willst du hören, wie mein Tag heute war?«

»Nein. Ja, auch. Aber später.«

»Wie es Madonna geht?«

»Nein!«

»Was gibt es denn noch Interessantes?«

»Jennifer. Mach es doch nicht so spannend.«

»Wie jetzt.«

»Mark. Erzähl mir von Mark. Hast du mit ihm geschlafen?«

»Barbara!«

»Warum nicht? Er sieht gut aus. Du bist verknallt in ihn. Bist du doch, das sehe ich dir an. Also worauf wartest du noch. Erzähl. Ich möchte es wissen!«

»Barbara!«, Jennifer sah ihre Freundin an. Mit lachenden Augen in denen sich die flüchtigen Gedanken spiegelten, die ihr durch den Kopf gingen.

»Ich kann ihn nicht einfach ins Heu zerren und mit ihm schlafen.«

»Warum nicht?« Barbara lachte und Jennifer lachte mit ihr.

Ein dunkles, seidig fließendes Lachen, das ein zartes Rot auf ihre Wangen, und in die Augen ein Leuchten wie flimmernde Sterne zauberte.

»Wann hast du das letzte Mal mit einem Mann geschlafen?«, fragte Barbara in ihrer direkten Art und Jennifer schwieg, und ihr Schweigen dehnte sich, stand zwischen ihnen und sie wusste, dass sie antworten sollte.

»Na also. Erfinde eine Ausrede, locke ihn ins Heu und vernasche den Kerl.«

»Du bist unmöglich«, lachte Jennifer wieder, mit der Hand auf dem Mund und schüttelte den Kopf.

Ihre Wangen wurden heiß bei der Vorstellung, wie sie mit Mark im Heu lag und der Gedanke daran ließ sie verstummen.

Ihre Blicke trafen sich, und sie brachen beide in Lachen aus. Übermütig und gut gelaunt.

Ein verirrter Strahl der untergehenden Sonne tastete sich durch die Kronen der hohen Bäume im Park gegenüber und malte zitternd kleine Kringel vor ihren Tisch. Für einen Augenblick wurde der Spatz, der zwischen den Tischen herum hüpfte in goldenes Licht getaucht und er verharrte abwartend, vom Finger Gottes berührt. Dann verlor sich das Licht und der kleine Vogel flog davon.

Barbara drehte ihren Kopf und ließ den Blick über die Terrasse wandern. Die beiden Pärchen schoben ihre Sessel zurück und erhoben sich. Sie warfen fragende Blicke in ihre Richtung, als misstrauten sie den fröhlichen Frauen, aber Barbara wandte den Kopf und sah auf die Uhr. In einer unbewussten Geste der Ungeduld.

Es war ein langer Tag und sie hatte Hunger.

»Also wie war dein Tag?«, fragte sie Jennifer erneut, aufmunternd schmunzelnd, eine Augenbraue erhoben.

Jennifer seufzte. »Er war gestern nicht im Reitstall. War mit einem der Mädchen unterwegs. Mark möchte sich ein Pferd kaufen, soviel ich gehört habe.« Sie zeichnete mit dem Finger kleine Ringe auf die Tischplatte und in ihren Augen und ihrer Stimme vibrierte ein Schimmer von Traurigkeit.

»Für sich oder das Mädchen?«

»Für sich, oder das Mädchen, so genau habe ich das nicht verstanden.«

Mit der typischen Kopfbewegung, die ihre Unsicherheit verriet, warf sie eine vorwitzige Strähne zurück und streckte den Rücken. Die Kellnerin brachte das Essen und den Wein, und Barbara stieß ihr Glas sachte an das von Jennifer.

»Trinken wir auf Mark!«, sagte sie.

Eine Bemerkung mit halbem Lächeln, das Glas schon am Mund, dann zog sie ihren Teller zu sich und nahm das Besteck, bevor Jennifer antworten konnte.

»Ich bin am Verhungern«, murmelte sie, spießte gebackene Putenstreifen und Salat auf die Gabel und seufzte beim ersten Bissen, dem Besten, wenn der Abendhunger am größten ist.

Schweigend aßen sie ihren Salat mit Gebäck, das im Backofen knusprig aufgewärmt war, bevor sie ihr Gespräch wieder aufnahmen.

»Mark bildet nicht nur Pferde von verrückten Hühnern wie mir aus, er kauft auch ab und an welche und verkauft sie dann wieder«, erklärte Jennifer, und legte Messer und Gabel beiseite, um nach dem Weißbrot zu greifen.

Nachdenklich tunkte sie Joghurtdressing aus ihrem Teller.

»Und du verrücktes Huhn verknallst dich in ihn«, lachte Barbara und sah ihre Freundin mit großen Augen an. Sie schenkte Jennifer ein warmes Lächeln, beugte sich nach vor und legte ihr die Hand auf den Arm.

»Du magst ihn wirklich, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Jennifer und dachte an ihren letzten Ausritt.

In ihrem Bauch und ihrem Herzen flatterten Schmetterlinge.

Ein stilles Lächeln dehnte ihren Mund und ließ sie strahlen.

Barbara nickte zufrieden, denn was erzählt stillschweigend mehr, als das stumme Lächeln eines verliebten Menschen.

Spätabends, als die Sonne längst hinter den Bäumen im Park verschwunden war, gingen sie nach Hause.

Jennifer bei Barbara eingehakt.

Sie war leicht angetrunken und lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Freundin. Ein langsames Gehen im Wind, ohne Worte, nur das Geräusch ihrer Absätze war in den Straßen zu hören.

 

*

 

 

Der Radiowecker holte Mark am Freitagmorgen mit einem Song der Eagles aus unruhigem Schlaf, in dem er sich mehr herumgewälzt hatte, als er stillgelegen war.

Das Laken zerwühlt im nächtlichen Kampf mit sich selbst, versuchte er sich aus den Tiefen der dunklen Welt, in die ihn sein Unterbewusstsein entführt hatte, zu befreien. Hatte aber Mühe die Augen zu öffnen. Schlaftrunken, die Lider bleischwer, versetzten die Kopfschmerzen ihn an dem Morgen in eine düstere Stimmung und die Eagles taten ein Übriges dazu. Sie checkten lautstark im Hotel California ein, aus dem sie nie wieder entkommen sollten.

Irgendwie hatte der Song etwas Prophetisches an sich. Ein Gefühl für das eigene Leben, seine Höhen, seine Tiefen und eine Leere, die ihn erfüllte.

Der Job, der Reitstall, sein Leben, seine Schmerzen im Kopf. Auf die eine oder andere Weise schien sich alles um einen Punkt zu drehen, an dem er nicht weiterkam.

Müde warf er einen Blick in das Halbdunkel des Zimmers, in dem noch die Schatten der Nacht in den Ecken hockten, ehe er sich unsicher aufraffte und auf nackten Sohlen ins Bad tapste.

Hohlwangig.

Zähneknirschend.

Die Kopfschmerzen hatten gestern am späten Nachmittag zugelegt, er hatte Mühe zu reden, war aber trotzdem am Abend fünfzig Kilometer nach Norden gefahren, um zwei Pferde zu beschlagen.

Bei der Heimfahrt hatte ihm das Fieber zu schaffen gemacht. Er hatte sich an die Stirn und an die Wangen gegriffen und war überrascht, wie heiß sich beides anfühlte. Es war schnell gestiegen und er hatte sich beeilen müssen, um rechtzeitig nach Hause zu kommen, den letzten Teil der Strecke fast im Blindflug, die Augen schwimmend in Tränen.

Als er endlich die ausständige Arbeit geschafft und völlig erledigt ins Bett gefallen war, hatte er die vierzig Grad Grenze mit Sicherheit überschritten. War eingeschlafen oder weggedämmert, aber so genau wollte er es ohnehin nicht wissen.

Vielleicht werde ich meinen Kopfschmerzen nie wieder entgehen, dachte er, und seine Gedanken gingen zu den Eagles. Möglicherweise sind sie ein Teil von mir und bleiben für immer erhalten.

Missmutig schüttelte er den Kopf, stieß mit einem Ruck die Tür auf und schloss geblendet die Augen, als das Licht im Badezimmer aufflammte und sich ein glühender Schmerz in seine Augen bohrte.

»Oh, Merde«, brach es aus ihm heraus. Im Kopf explodierten weiße Sterne und verdampften in feurigen Bahnen.

Lautlos.

Wie der Magnesiumblitz eines alten Fotoapparates.

Mark verharrte blinzelnd und wartete das Nachhallen der Schmerzen ab, die wie dunkle Wellen sein Hirn fluteten und ihn hilflos zurückließen. Hielt sich zitternd am Türrahmen fest.

Ich muss das Licht ändern, dachte er. Ich brauche eine gedämpfte Lampe, irgendetwas Warmes. Sonst komme ich eines Morgens herein und falle tot um.

Mit geschlossenen Augen tappte er weiter, das Gesicht zu einer bekümmerten Grimasse verzogen, einzig die kühlen Fliesen des Badezimmers gaben ihm Halt und fühlten sich beruhigend unter den Füßen an. Nach drei Schritten stieß er am Waschbecken an, tastete blindlings nach dem Wasserhahn und drehte kraftlos daran. Schöpfte mit beiden Händen kühles Wasser und wusch sich das Gesicht, um den Augen das Brennen zu nehmen und wach zu werden.

Betrübt betrachtete er sein Spiegelbild und griff nach der Zahnbürste.

»Wie soll ich bloß diesen Tag überstehen!«

 

Über St. Pölten lag die klare, friedliche Stimmung einer kleinen Stadt, die das Wochenende und einen weiteren frühen Sommertag vor sich hatte. Die Temperaturen bewegten sich im erträglichen Bereich. Die Menschen freuten sich über die Sonne und den blitzblauen Himmel, kramten gut gelaunt in ihren Kleiderschränken nach leichten Sachen und fühlten sich beschwingt und fröhlich. Der Straßenverkehr hielt sich in Grenzen und Mark kam mühelos voran.

Die Fahrt ins Büro verlief ohne weitere Komplikationen. Sogar die fleißigen Kobolde in seinem Kopf schienen sich am Vormittag mit ihm versöhnt zu haben und verhielten sich ruhig.

Viele Menschen waren wegen des anhaltend schönen Wetters auf ein Zweirad, motorisiert oder mit Muskelkraft, umgestiegen. Motorräder, Mofas und Fahrräder wuselten auf den Straßen, und hielten den Verkehr flüssig.

Ein Motorrad wäre vielleicht eine Option, überlegte Mark, als eine rote Ducati mit ihrem charakteristischen Sound an ihm vorbeizog. Der Fahrer trug einen schwarzen Sturzhelm mit abgedunkeltem Visier.

Es war schon eine ganze Weile her, fiel ihm ein, dass er seine geliebte Suzuki verkauft und gegen einen Campingbus eingetauscht hatte. Einer plötzlichen Eingebung folgend fuhr er den Firmenparkplatz von der anderen Seite an. Hier war der Abstellplatz für Motorräder und seine Augen wanderten über die bunte Vielzahl an verschiedenen Modellen, während er vorbeirollte.

Ein schwaches Lächeln erhellte seine Züge. Er stellte den Wagen ab und kam zurück, um einen Blick auf die farbenprächtige Galerie zu werfen.

»Schön. Da wäre das eine oder andere Teil für mich dabei«, murmelte er und musterte bewundernd die unterschiedlichen Maschinen.

»Interessierst du dich etwa für so ein höllisches Ding.« Die Frage beim Anhalten, ein Fuß noch am Pedal, stand Jochen hinter ihm. Er saß auf seinem Rennrad, mit Jeans, Hemd, Krawatte und Radhelm. Ein fast surrealer Anblick, aber Mark war so vertieft in den Anblick der Motorräder, dass er ihn nicht bemerkt hätte.

»Warum nicht?«, meinte er und wandte den Kopf.

»Ich dachte, du bist umweltfreundlich mit 4WD unterwegs.«

»Für Kurzstrecken und die Freizeit sind sie die idealen Begleiter. Aber für das Büro müsste ich sehr früh aufstehen, um es rechtzeitig zu schaffen.«

Jochen zuckte mit den Schultern und schob sein Fahrrad in die überdachte Abstellfläche neben die Motorräder. Er holte ein Kettenschloss aus seinem Rucksack, steckte den Helm hinein, sperrte das Rad ab, nestelte an der Krawatte herum und folgte Mark in das Bürogebäude.

»Auf geht’s. Neuer Tag, neue Herausforderungen.«

Mark winkte den Damen am Empfang zu und wünschte einen schönen guten Morgen, was ihm ein breites Lächeln von Margot und ein fröhliches Zwinkern von Elisabeth einbrachte. Jochen grüßte nickend und grinste Mark im Aufzug jovial an. Was Mark mit einem Schulterzucken und breitem Lächeln quittierte.

Mit einem sanften Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung und schwebte nach oben. Der schwache Duft von verschiedenen Parfüms, vermischt mit dem schweren Geruch nach Rasierwasser hing in der engen Kabine. Der Lift hielt im obersten Stockwerk und Mark trat zur Seite.

»Nach dir, Boss.«

Sie starteten ihre Computer, erledigten die morgendlichen Rituale, Unterlagen sichten, nach Prioritäten sortieren, Posteingang checken und teilten die Arbeiten ein, die zu erledigen waren. In der Werkstatt nebenan klapperte ein Metallteil, das zu Boden gefallen war, gefolgt von einem unterdrückten Fluch.

Robert war wie stets vor ihnen da und zerlegte eben eines seiner ›Kisten‹, wie er die selbst zusammengestellten Desktops durchaus liebevoll nannte. Jochen und Mark verharrten kurz, sahen sich an und grinsten.

»Guten Morgen, Robert!«, riefen die beiden fast gleichzeitig und erhielten ein undeutliches Brummen als Antwort.

»Wir sollten endlich ein fähiges Mädchen einstellen«, sagte Jochen laut zu Mark. »Als Unterstützung in der Werkstatt und gleichzeitig hätten wir ein freundliches Gesicht am Morgen.«

»Gerne«, knurrte Robert im Nebenzimmer und steckte im nächsten Augenblick seinen Kopf aus der Tür. »Wenn ihr jemand findet in vernünftiger Größe ... so um die einsneunzig, die könnte mit mir auf euch hinuntersehen.«

»Wäre dann nicht deine Frau eifersüchtig? Immerhin wäre deine neue Hilfe beinahe doppelt so groß wie sie.«

»Die müsste das nicht unbedingt erfahren«, winkte Robert ab und verschwand wieder im Nebenzimmer, gefolgt vom freundschaftlichen Lachen seiner beiden Kollegen.

Bis vor dem ersten Kaffee hielten sich Marks Schmerzen an diesem Vormittag im erträglichen Bereich. Aber so gegen zehn Uhr legte sich schlagartig ein unsichtbares Band um seinen Kopf und zog zu.

Unbarmherzig und gnadenlos.

Mark schnappte nach Luft und wandte sich ab. Schaffte es mit letzter Kraft die Arme nicht hochzureißen, um die Hände schützend auf den Kopf zu legen. Er beugte den Rücken, senkte den Kopf und tastete unter dem Schreibtisch nach dem Koffer des Laptops. Kramte sinnlos zwischen Stiften, Blöcken und Unterlagen herum, nahm eine schmale Werkzeugtasche heraus und warf sie wieder hinein.

Es wird schlimmer, hämmerte ein Gedanke in seinem Hirn.

Verdammt, es wird richtig schlimmer.

Er zwang seinen Körper sich zu erheben, einen Fuß vor den anderen zu setzen und lenkte ihn zur Kaffeemaschine.

Ein Kaffee dachte er. Ich brauche einen Kaffee. Ich muss mich irgendwo festhalten. Ich schaffe das. Ich bringe das durch. Das wird wieder. Step by Step.

Tränen schossen ihm in die Augen und er kniff sie zusammen, fütterte von schweren Schmerzen gequält die Maschine und drückte gewohnte Knöpfe, ohne hinzusehen. Zählte die Sekunden, bis das gurgelnde Röcheln endlich verstummte. Die Hand zitterte unkontrolliert, als er Milch und Zucker in die Tasse schüttete und umrührte. Irritiert hielt er sie mit ausgestreckten Fingern eine Weile von sich und starrte sie an, als ob irgendein seltsames Tier darüber kriechen würde.

Aus dem Nichts erschienen und kaum zu spüren.

Seine Hand war für gewöhnlich so ruhig, als wäre sie in der Luft erstarrt. Festgefroren in der Zeit. Aber jetzt schien sie ihm wie ein eigenständiges Lebewesen zu winken.

Was ist nur los mit mir, was geschieht da, dachte er entsetzt. Doch ein erneuter Schub, ein Zerren und Reißen im geschundenen Kopf ließen die Gedanken wie zu groß geratene Seifenblasen zerplatzen.

Er legte beide Hände um die Tasse, um den flatternden Fingern Halt zu geben und schlürfte bedächtig das heiße Getränk. Ein paar Sekunden Zeit, ehe alles Denken, alles Grübeln in ihm zersprang.

Tatsächlich zogen sich die Schmerzen nach dem ersten Schluck Kaffee zurück und Mark atmete erleichtert auf. Er trank noch einen Schluck, senkte den Kopf, als würde er über ein wichtiges Detail nachsinnen, ging zur Tür, drehte dort um und kehrte zum Schreibtisch zurück. Erschöpft stellte er die Tasse ab und spreizte die Finger. Wartete ab, nach der Bewegung, bei der man nichts weiter als zusehen kann. Aber die Finger blieben ruhig. Es war vorbei, das flattrige Zittern, die Hand wieder reglos.

»Ich mache heute früher Schluss, wenn nichts anliegt, Jochen.«

»Ja, geht klar«, antwortete der und sah unvermittelt über den Rand seines Notebooks. »Kaufst du dir etwa ein Motorrad?«

»Nein«, winkte Mark ab und versuchte bedächtig zu klingen.

»Wir holen heute ein neues Pferd, ein ziemliches Temperamentbündel. Dafür brauche ich ein paar Stunden.«

Jochen schüttelte den Kopf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm.

»Du und deine Pferde. Also doch 4WD. Irgendwann sollte ich bei dir vorbeisehen.«

»Was findest du bloß an diesen dummen, Heu fressenden Ungetümen.« Robert war unbemerkt aus dem Nebenraum gekommen und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. »Fressen, kacken, schlagen aus und beißen.« Er klapperte ungeduldig mit dem Löffel gegen die Maschine, bis der Kaffee durch war, gab ein paar Tropfen Milch in die Tasse, nahm einen Schluck und fügte überzeugt hinzu: »Rechnen können sie auch nicht.«

Jochen schmunzelte in den Bildschirm und Mark schenkte ihm ein verhaltenes Grinsen, während Robert im Nebenraum verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten. Alle Antworten diesbezüglich waren längst in freundschaftlichen Diskussionen erwogen, geprüft und festgehalten. Der Einwurf rein rhetorischer Natur, um einer aufgeschnappten Bemerkung die Fußnote zu verleihen.

Zwei Stunden später fuhr Mark den Computer herunter, erhob sich und ging.

»Bye!« Ein Zuruf, die Hand zum Gruß erhoben. Seine bösartigen Koboldfreunde hatten eben ihre grausame Arbeit wieder aufgenommen und ihr ehernes Band um seinen Kopf einige Zacken enger gezogen.

 

Ausgelassen, mit klopfendem Herzen lief Sarah über die Koppel hinter dem Haus dem Garten entgegen, schlüpfte unter den Balken durch und war mit wenigen Schritten im Stall, den Schäferhund im Schlepptau. Sie hatte am Waldrand beim Bach gespielt, den Wagen mit dem Hänger kommen gesehen und die Unruhe der Herde gedeutet.

Das neue Pferd, Gesprächsthema seit Tagen, war endlich angekommen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739430201
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
FSME Trauer Freundschaft Pferd Tod Beziehung Liebe reiten Reitstall

Autor

  • Marc de Sarno (Autor:in)

Mein Name ist Marc de Sarno. Ich bin Jahrgang 1961, verheiratet, habe drei Kinder und lebe und arbeite in Österreich. Ich habe verschiedene Ausbildungen absolviert und arbeite mit Pferden, so weit ich mich zurückerinnern kann. In meiner freien Zeit laufe ich, bin beim Mountainbiken, wandern, Kanu fahren oder Bogen schießen. Und sonst bin ich sportlich mit meiner Ducati oder gemütlich mit unserem Wohnmobil unterwegs, lese gerne Krimis, Thriller, historische Romane.
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Titel: Wilde Rosen im September