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Nebelmann

Eine Liebe auf Wangerooge

von Rudy Namtel (Autor:in)
74 Seiten

Zusammenfassung

Eine mystische Novelle. --- Wetterphänomen auf Wangerooge. Menschen geraten in Panik. Was hat Mariannas Freund damit zu tun? Dann findet man einen Toten … --- Marianna ist endlich wieder bei Hinnerk, der nur im Sommer auf Wangerooge arbeitet und im Winter in seinem Heimatort Varel lebt. Seit einigen Tagen wird die Insel von einem kalten Nebel geplagt. Marianna wird Zeuge, wie eine Mutter mit Kind panisch vor einem schwarzen Mann in diesem Nebel flieht. Am nächsten Tag erkennt diese Mutter in Hinnerk diesen schwarzen Mann wieder und bekommt wieder Panik. Marianna, voller Zweifel über ihren Freund, erlebt ebenfalls eine Nebelattacke des schwarzen Mannes. Auch sie erkennt Hinnerk und muss vor ihm fliehen. Die nächsten Tage sind geprägt von Spurensuchen und Recherchen. Marianna kommt dem Geheimnis auf die Spur. Die Erzählung verknüpft die Geschehnisse mit realen historischen Ereignissen. Lassen Sie sich überraschen! --- Umfang der Print-Ausgabe: 114 Seiten --- Leserstimmen: »Erlkönig trifft Schimmelreiter in »The Mist« ;-) …« --- »… die Insel so schön beschrieben, dass ich fast glaubte, selbst schon einmal dort gewesen zu sein« --- »… eine mystische Geschichte, in der der Autor mit der Angst vor dem Unbekannten spielt. … Wenn man - wie ich - das Meer liebt, sollte man diese Geschichte unbedingt lesen.«

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tag 1: Ankunft

»Macht drei sechzig.«

Marianna bezahlt, greift das Getränk und das Papptellerchen mit Bockwurst, Brötchen und Papierserviette und geht zu ihrem Fensterplatz.

Das Schwanken der Fähre, die gerade abgelegt hat, stachelt ihre freudige Erwartung an. Endlich wieder Wangerooge! Marianna blickt durch das große Fenster aufs Wattenmeer hinaus. Das Wasser liegt ruhig. Die nur ganz leichten Wellen geben der Welt da draußen das Flair eines großen Spiegels. Noch kann sie von dieser Sitzposition die Insel nicht sehen. Noch liefern die kleinen Windparks am Festland den Augen die Fixpunkte. Wenn sie ihre kleine Mahlzeit gegessen hat, wird sie aber das Oberdeck aufsuchen. Von dort kann man Wangerooge in seiner ganzen Länge bewundern.

Die dumpfen Vibrationen des Schiffsdieselmotors geben den gefühlten Kontrast zur visuellen Ruhe da draußen. Eintönig bollert das Aggregat, das wahrscheinlich direkt unter ihren Füßen irgendwo arbeitet, vor sich hin. Doch irgendwie auch beruhigend. Und gleichzeitig die Unruhe anfeuernd, die man hat, wenn man gerade eine Reise oder einen Reiseabschnitt angetreten hat.

Endlich wieder Wangerooge!

Ein halbes Jahr liegt ihr letzter Besuch im Frühjahr zu Saisonbeginn zurück. Seit damals hat sie ihren Hinnerk nicht mehr gesehen. Was sind schon Telefonate gegen einen Besuch.

Schon bei ihrem ersten Urlaub auf der Insel vor drei Jahren lernte sie den Kellner aus dem Upstalsboom kennen. Hinnerk Harms, drei Jahre älter als sie. Der gutaussehende Blondschopf stammt aus Varel am Ufer des Jadebusens und ist nur im Sommer zum Geldverdienen auf dem Eiland.

»Mensch, Marianna, verknallst dich in einen Saisonarbeiter in einem Touristenort. Das ist ja wie in einen Skilehrer im Winter.« Sie war sich der möglichen Oberflächlichkeit oder Kurzlebigkeit dieser Verbindung klar bewusst. Doch sie ließ sich in ihre Gefühlswelt hineinfallen – voll und ganz. Ihr Herz raste, wenn sie ihn nur sah. Schon nach zwei Tagen verzichtete sie ganz darauf, im Upstalsboom zu speisen oder auch nur einen Drink zu nehmen, wenn Hinnerk Dienst hatte. Allerdings fiel ihr das auch nicht schwer, da jenes Hotelrestaurant, das Gerken, eher nicht ›ihre Kragenweite‹ hatte.

»Hallo Gnädigste?«

Marianna wendet sich um. Der Bootsmann mit dem Sammelschiffchen für die Seenotrettung steht neben ihr.

»Na klar.« Marianna kramt zwei Münzen hervor und wirft sie ein.

»Und, werden wir pünktlich sein?«

»Na, ich glaube nicht. Das Wasser steht trotz Flut sehr niedrig. Da müssen wir langsamer machen als sonst.« Der Bootsmann lächelt freundlich und geht weiter zum nächsten Tisch.

Marianna kennt das schon. Sie wird jetzt zum siebten Male einen Urlaub hier verbringen – Hinnerk sei Dank.

Ihre Beziehung ist allerdings schon von einer recht ungewöhnlichen Art. Sie treffen sich nur hier, obwohl es doch ein Einfaches sein sollte, dass Hinnerk sie in den Wintermonaten einmal besuchen käme. Tut er aber nicht. Er reist nicht gern. Er bleibt im Vareler Umland. Jobbt hier, bleibt hier. Und Marianna zieht es dann auch nicht in den Norden. Sie telefonieren miteinander, tauschen Emails aus. Mehr nicht. Als hielte sie Hinnerk oder ihre eigenen Gefühle auf Abstand. Irgendwie bleibt er doch nur ein Urlaubsflirt – aber ein permanenter. Sie hält ihre Gefühlswelt und auch ihre Zukunftsplanung auf Distanz. Tatsächlich weist sie eine feste Bindung von sich. Warum will sie ihren Hinnerk dann doch hier auf der Insel treffen? – Sie weiß es nicht. Sie will es auch nicht wissen. Sie will ihn nur treffen. Jetzt. Auf »ihrer« Insel.

Marianna wirft die Papierreste ihrer Speise in die Abfalltonne und steigt nach oben. Obwohl sie es von ihrem Fensterblick ja schon wissen sollte, überrascht es sie doch, dass kein Wind ihre Haare zerzaust, als sie das Oberdeck betritt. Kein Lüftchen regt sich. Aus dem kleinen »Schornstein« dröhnt das Motorengeräusch in Auspuffgase verpackt heraus. Marianna hat jetzt einen freien Blick auf die Insel.

Zur Linken markiert das markante Paar aus Westturm und neuem Leuchtturm den Inselwesten, den ‚linken‘ Rand. Lang zieht sich das flache Inselband nach rechts. Marianna kann noch keine weiteren Einzelheiten erkennen. Sie weiß auch gar nicht mehr, ob sie von hier aus schon den kleinen alten Leuchtturm mitten im Dorf erkennen könnte. Jetzt kann sie es keinesfalls. In dem Bereich, wo sie ihn vermutet, liegt eine kleine Nebelbank über oder vor der Insel. Von dem Dorf ist nichts zu sehen. Doch der Rest des Horizontes ist frei – in strahlendem Blau. Ein perfekter Willkommenstag.

Die Zeit vergeht. Gleich werden sie den Anleger erreichen. Um den Schiffsausgang herum, wo in wenigen Minuten der Ausstiegssteg hinausgeschoben wird, bildet sich eine Menschentraube. Marianna versteht das. Familien oder kleine Gruppen wollen schnell vom Schiff, um sich gute Plätze für die folgenden zwanzig Minuten in den bereitstehenden Zugwaggons zu sichern. Wie gesagt, Marianna versteht dies. Doch als Alleinreisende kennt sie keine Eile. Die kleine Inselbahn wird ja doch erst losfahren, wenn der letzte Passagier eingestiegen ist. Als Einzelreisender ist es ihr egal, wo sie dann sitzt. Alle werden gleichzeitig am Bahnhof Wangerooge ankommen. Also steht Marianna noch auf dem Oberdeck und beobachtet das Anlegemanöver.

»Hinnerk!« Da unten steht Hinnerk! Marianna brüllt aus Leibeskräften. Sie winkt. Sie strahlt vor Freude übers ganze Gesicht. »Hallo, Henni!«

Der Mann am Kai winkt zurück. »Hallo, Marianna! Hallo!«

Damit hat Marianna nicht gerechnet. Man erwartet Ankömmlinge doch erst am Bahnhof. So wie immer. Jetzt ist er hier zum Anleger hinausgekommen.

Als eine der letzten verlässt Marianna das Schiff und fällt ihrem Hinnerk um den Hals.

»Henni!« Ein inniger Kuss in heftiger Umarmung entlädt ihre Aufregung. »Halt mich!«

»Ist das schön, dass du da bist, Mary!«

Für einen kurzen Moment stehen sie so verschlungen da. Dann müssen sie sich eilen, in einen der blau-weißen Waggons zu steigen. Die Gepäck-Container sind schon alle auf die Inselbahn verladen.

Während der Fahrt über die Salzwiesen pendelt Mariannas Blick immer wieder zwischen ihrem Hinnerk und der Wasser-Wiesen-Landschaft da draußen hin und her.

»Schau! Hasen!« Als sähe sie die Tiere hier das erste Mal.

Hinnerk lacht. Er ist so glücklich wie sie.

Nach der erfolgten Gepäckausgabe im Bahnhof folgen sie der Zedeliusstraße in Richtung Dorf-Zentrum. Die Rollen des Koffers rattern über die Pflastersteine der Straße. Vorbei an Edens Fahrradladen und dem gegenüberliegenden alten Leuchtturm, der jetzt das Museum beherbergt. Die Turmspitze verschwindet in den Nebelschwaden und ist kaum zu erkennen.

»Da oben …« Marianna greift Hinnerks Hand fester. Hinnerk weiß, was sie meint. Oben im Turm wurde das alte Leuchtturmwärter-Zimmer zu einem Trauzimmer umfunktioniert – Romantik pur für alle das Meer liebenden Hochzeitspaare. Marianna erschrickt ein wenig vor sich selbst – an Heirat hat sie noch nie ernsthaft gedacht.

Der Koffer rattert weiter. Dieses Rattern, dessen Echo von den Hauswänden kräftig zurückgeworfen wird, hat auf Marianna etwas ganz besonders beruhigendes. Zum einen verkörpert es das unverrückbare Zeichen, dass sie endlich angekommen ist, zum anderen versprüht es ein Gefühl großer Sicherheit über ihre Liebe. Hinnerk würde niemals Arm in Arm mit ihr unter so einem Getöse durch die Hauptstraße der Insel schlendern, wenn er hier irgendetwas mit einer anderen Frau laufen hätte. So etwas geht hier in Windeseile von Mund zu Mund. Hinnerk ist nur für sie da und für keine andere. Sie umfasst ihn fester.

Da ist der Dorfbrunnen, die Bäckerei, und dort der Kurpark. Marianna verspürt dieses Gefühl von ›wieder zu Hause sein‹, obwohl sie hier niemals ihr Heim hatte.

Durch die Fußgängerzone weiter zur Peterstraße. Marianna hat sich jedes Mal über diese Zone gewundert. Autos gibt es hier ja nicht. Nur die Radfahrer müssen hier absteigen – wenn sie es denn tatsächlich tun. Aber so eine Zone macht schon etwas her.

Nach wenigen Minuten erreichen die beiden Mariannas Quartier nahe der katholischen Kirche.

Das Appartement ist ausreichend groß für eine Belegung durch zwei. Marianna war schon zweimal hier – so gesehen ist sie dann doch ›wieder zu Hause‹.

»Alles wie immer, oder?« Das war mehr ihre Feststellung als eine Frage. Denn Marianna will jetzt keine Konversation führen. Sie wartet auf Hinnerks Zärtlichkeit. Ihr Blick fällt auf das Bett. Umso verwunderter ist sie, als Hinnerk darauf tatsächlich antwortet – und nicht mit einer Floskel.

»Nein, nicht so ganz.«

»Wie?« Marianna erschrickt. Ihre Kehle schnürt sich leicht zusammen. »Ist was – ich meine mit uns?«

Hinnerk schüttelt den Kopf. »Nein, Mary.« Er nimmt sie wieder fest in seine Arme. »Ich liebe dich mehr denn je. - Aber mit dem Klima, dem Wetter, stimmt etwas nicht.«

Marianna ist verwirrt. Sie hat auf der Fahrt hierher nichts, aber auch gar nichts von Klimawandel gespürt. Natürlich kennt sie alles, was allgemein über die globale Veränderung berichtet wird. Aber hier hat sie nichts verspürt.

»Was meinst du?«

»Schau einmal hinaus.«

Marianna weiß, dass sie von ihrem Fenster hier das Meer nicht sehen kann. Denn zwei Häuserreihen stehen noch zwischen ihrer Unterkunft und dem Strand. Aber sie schaut trotzdem.

»Wie immer.«

»Du siehst den Nebel?«

»Klar.« Leichte Nebelschwaden tanzen vor dem Haus. Aber nicht so stark, dass sie nicht hindurch sehen könnte. Sie kann die anderen Häuser gut erkennen. »Und? Ist doch normal.«

»Nein, Mary, dieses Jahr scheinbar nicht.«

Marianna schaut noch einmal hinaus. Aber da ist nichts Ungewöhnliches. Fragend guckt sie zu Hinnerk.

»Kalter Nebel. Das ist ein kalter Nebel.«

Marianna denkt an den Fußweg von eben. Aber ihr war nichts aufgefallen. Klar, sie hatte ihren Anorak angezogen. Aber auf einer Anreise oder Abreise ist das so – was man am Körper trägt, muss man nicht in einer der Hände halten. Ihr ist nicht kalt gewesen. Sie zuckt mit den Schultern.

»Wir haben so etwas hier noch nicht erlebt, Mary. Auch wenn wir beide es gerade nicht spüren konnten – in den letzten Tagen fühlte es sich dann und wann im Nebel wie im winterlichen Sibirien an. Eiskalt.«

Marianna nahm das ungläubig zur Kenntnis. Kühle im Nebel ist ja normal. Die Sonne hat ja ihre gewohnte Kraft nicht mehr. Aber im Herbst wie in einem arktischen Winter – kaum zu glauben. Hinnerk sieht ihr die Zweifel an.

»Du wirst es erleben, wenn es so bleibt. Wir haben dadurch scheinbar schon einen ersten Toten. Eine ältere Dame, Besucherin wie du, lag vorgestern während eines solchen Nebels eiskalt in der Fußgängerzone, obwohl man sie noch zehn Minuten vorher wohlgelaunt beim Bäcker gesehen hatte. – Die Menschen hier bekommen es richtig mit der Angst zu tun.«

»Okay. Ich werde aufpassen.« Marianna nimmt Hinnerk bei der Hand und zieht ihn in die andere Ecke des Appartements.

»Vergessen wir jetzt den Nebel?«

»Nichts lieber als das. Wir vergessen …« Hinnerk zieht sie fester an sich. Marianna spürt seine Erektion, als ihr Oberschenkel sich zwischen seine Beine schiebt.

»Du kannst mich einnebeln, wie du willst. Und wenn mir kalt wird – lass dir was einfallen …« Sie lacht.

Hinnerks Küsse wandern über ihren Oberarm. Sie reißt sich los.

»Ups! Die Vorhänge! Sicher ist sicher.« Schnell hat sie die Stoffbahnen zusammen gezogen. Dann ist sie wieder bei ihrem Hinnerk. Und er bei ihr …

 

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Tag 2: Jana

Am nächsten Morgen macht Marianna sich zu ihrem ersten ausgedehnten Spaziergang ihres Urlaubs auf.

Ihren gestrigen Abend hat sie gemütlich mit einem Buch in ihrem Appartement verbracht. Hinnerk hatte seinen täglichen abendlichen Dienst. Wenn er spät abends oder mitternächtlich seine Arbeit beendet, begibt er sich in seine kleine Wohnung und steht am folgenden Vormittag irgendwann spät auf. Vor drei Jahren, als sie sich kennen und lieben gelernt hatten, hielten sie das noch anders. Sie verbrachten jede Nacht miteinander. Doch das war für beide letztlich eine belastende Situation. Hinnerk fehlte des Morgens noch eine gesunde Portion Schlaf, und Marianna vermisste die erhoffte Erholung. Sie fühlte sich für ihren Hinnerk verantwortlich. Sie opferte ihren Vormittag und blieb bei ihm, bis er schließlich geduscht hatte und sie ihm ein Frühstück zubereitet hatte. Beide waren damit nicht glücklich.

In Sportschuhen, Leggins und Windbreaker streift Marianna zwischen den Strandkörben hindurch über den Sandstrand nach Westen. Der Himmel ist blau und klar. Schiffe sind deutlich erkennbar. Sie sind nördlich der Insel auf ihrem Weg in die Jadebucht oder – etwas weiter draußen – in die Weserbucht. Oder sie schippern jeweils in die andere Richtung hinaus in die Nordsee.

Leere prägt das Strandbild. Der Touristenstrom des Sommers ist schon lange abgeebbt. Marianna genießt die Ruhe. Hier und da lässt sie sich in einen leeren Strandkorb fallen. Dann schließt sie die Augen und saugt das Rauschen des Wassers und die Frische der Luft in sich auf. In der Ferne weist der neue Leuchtturm ihr den Weg am Strand entlang. Mit den Augen den Sand nahe der Wasserlinie absuchend schlendert sie weiter. Sie hält aber nicht nach irgendetwas Bestimmtem Ausschau. Sie ist einfach nur offen für die Inselkleinigkeiten: Muscheln, besonderes Strandgut, markante Steine. Wenn sie etwas entdeckt, untersucht sie es genauer. Und wirft es dann weg. Fast immer.

Schon vor dem Leuchtturm macht sie kehrt. Ab hier wird der Strand deutlich schmaler. Flutbefestigungen prägen das Küstenbild. Sie bummelt zurück. Am Cafe Pudding verlässt sie den Strand wieder. Als sie um den ehemaligen Bunker herumkommt, in dem jetzt die schicken Damen ihren Kuchen mit Kaffee genießen, sticht ihr der Nebel in der Fußgängerzone ins Auge. Am Strand hat sie keinerlei Dunstspur gesehen. Aber hier versperrt eine Nebelwand den Blick die Zedeliusstraße hinunter. Eine Wand mit der klar strahlenden Sonne darüber.

Marianna ist hungrig und überlegt, wo sie eine Kleinigkeit essen wird. Vielleicht in der Fischbar? Oder dem Imbissstand beim Metzger? Oder doch ins Hanken? Nein, so viel Hunger hat sie doch nicht, dass sie sich schick in ein Restaurant setzen will. Sie entscheidet sich für den Fisch und taucht in den Nebel ein.

Die Kälte kriecht unter ihre Kleidung. Ihr Windbreaker ist nutzlos. Sie ist viel zu dünn angezogen. Marianna disponiert um, sie will nicht hier draußen essen. Zu kalt, einfach viel zu kalt. Der Betreiber der Fischbar wartet warm eingepackt auf Kundschaft. Es ist aber unübersehbar, dass er tatsächlich überrascht ist, eine Kundin zu sehen.

»Sie sind aber mutig, meine Dame.«

»Nur weil ich eine dünne Jacke anhabe?«

»Ja, deshalb auch.«

Sie bestellt und lässt sie sich ihre Mahlzeit einpacken. Dann eilt sie zurück zur Peterstrasse. Erst in ihrem Appartement kommt die Wohligkeit wieder zurück.

Nach ihrem Mittagessen genießt sie die Wärme der Dusche. Während des Tages ungewöhnlich für sie, doch sie verlangt jetzt nach diesem Wohlgefühl. So einen Kälteschock im Herbst hat sie tatsächlich noch nie erlebt. Sie kann sich keinen Reim darauf machen. Hoffend, das Gefühl der Wärme zu konservieren, schlüpft sie in den Bademantel.

Ein durchdringender Schrei schreckt sie auf! Eiseskälte läuft wieder ihren Rücken hinunter. Der Schrei einer panisch brüllenden Frau! Marianna stürzt zum Fenster und blickt auf die Peterstraße. Eine junge Frau mit einem Kind im Arm stolpert über den Bürgersteig und hastet auf den Hauseingang zu.

»Hilfe!! So helft mir doch!« Das schrille Kreischen hallt von den Hauswänden auf der anderen Straßenseite zurück.

Marianna, noch immer im Bademantel, eilt zur Appartementtür und reißt sie auf. Sie drückt den elektrischen Haustüröffner, doch offensichtlich öffnet die Haustür sich nicht. Stattdessen hört sie nur die Schreie der Frau und ihr heftiges Schlagen gegen die Glastür.

Marianna greift den Schlüssel und rennt die Stufen hinunter. Sie steckt den Schlüssel in das Schloss. Dabei sieht sie durch die Glasscheibe der verzweifelten Frau ins Gesicht. Die weit aufgerissenen Augen und der zum Schrei verzerrte Mund jagen ihr einen markdurchdringenden Schrecken ein.

»Bitte!!«

Marianna reißt die Tür auf. Die Frau fällt mit dem Kind ins Hausinnere. Wie automatisch wirft Marianna die Tür zu, obwohl sie draußen keine Gefahr erkennen kann, nur leichte Nebelschwaden im seichten Luftstrom.

Zupackend hilft sie der zitternden Frau auf.

»Geht es Ihnen gut?«

Sie schaut der anderen ins panische Gesicht.

»Wie geht es Ihrem Kind?«

Der Kleidung und dem Haarschnitt nach zu urteilen muss es ein Junge sein, vielleicht vier oder fünf Jahre alt.

»Wie geht es ihm?«

Der Kleine zittert am ganzen Körper.

»Ist er weg, Mutti?«

»Ja, mein Kleiner, er ist weg.« Die Stimme der Mutter zittert noch immer, hat aber die panische Schrille verloren.

Marianna schaut noch einmal auf die Straße. Ohne die Türe zu öffnen, schweift ihr Blick durch das Glas prüfend nach links und dann nach rechts die Straße entlang. Menschenleer.

»Danke.« Die Frau greift Mariannas Hand. »Danke.«

»Kommen Sie erst einmal mit nach oben. Ich mache uns einen Kaffee, okay?«

Die Frau nickt. Den Jungen noch immer auf dem Arm folgt sie Marianna die zwei Stockwerke hinauf.

Der Duft frisch aufgebrühten Kaffees erfüllt den Raum. Der Junge sitzt auf dem Schoß seiner Mutter und klammert sich mit beiden Armen noch immer fest an sie.

»Magst du ein Stück Schokolade?« Es ist das Erste, was Marianna einfällt. Und wahrscheinlich auch das einzige Passende, was sie greifbar hat. Auf Kinder ist sie nicht eingestellt. Noch nicht. Der Kleine nickt. Marianna knackt die Ritter Sport auf und schiebt sie dem Jungen hin. Dann gießt sie der Frau und sich Kaffee ein und setzt sich.

»Was ist passiert?«

Die Frau zittert noch immer.

»Ich bin Marianna.« Sie hofft, mit dieser Vorstellung die Spannung zu lösen.

»Danke! Nochmals vielen Dank!« Die Frau braucht noch einige Atemzüge, um sich zu beruhigen.

»Ich bin Jana. Und das hier – das ist mein kleiner Max.« Sie nimmt einen Schluck aus der Tasse. »Wir wohnen in der Villa Kunterbunt.«

Marianna zuckt mit den Schultern.

»Muss ich die kennen?«

»Nein. Ist aber gleich hier um die Ecke. Er …«, sie deutet auf Max, »… und ich machen dort unsere Kur.«

»Hm.« Marianna kann damit nichts anfangen.

Jana lächelt – zum ersten Mal. »Eine Mutter-und-Kind-Kur.«

Marianna nickt – ohne dass sie dadurch wirklich schlauer geworden wäre. Sie ist schon zum siebten Male hier und kennt noch immer nicht alles. Das ist jetzt aber auch egal.

»Was ist auf der Straße passiert?«

Max hat die Worte aufgefangen. »Der Mann …«

Jana drückt ihn wieder fester an sich. »Es war einfach nur gespenstisch. Plötzlich tauchte ein Mann vor uns auf. Einfach so – aus dem Nichts.« Jana schließt die Augen und herzt ihren Max innig.

»Was wollte er?«

»Ich weiß nicht … Er war einfach nur da. Aus dem Nichts. Und er streckte seine geöffneten Hände nach uns aus – als wolle er uns packen.«

»Ganz schwarz war der!« Max beteiligt sich aufgeregt.

»Ja, schwarz.« Jana schluckt. »Na ja, nicht der Mann. Sein Gesicht war hell. Er sah aus, wie Männer hier halt so aussehen. Aber seine Kleidung war schwarz. Schwarze Stiefel, langer schwarzer Mantel, schwarzer …« Jana überlegt.

»Schwarzer ›was‹?«

»Na ja, ein Hut war es nicht. Auch keine Mütze. Ach, ich weiß nicht, wie man das nennt. Mit einer langen, nach hinten gezogenen Krempe.«

»Ein Südwester?«

Jana schaut fragend.

»Na, so eine Kopfbedeckung, wie die Fischer sie tragen?«

»Ja, genau.«

Vor Mariannas Augen formt sich ein Bild. Das Bild eines Seemanns in klassischem Outfit: wasserfeste Stiefel, ein schwarzer Wachsmantel, ein schwarzer Südwester auf dem Kopf. Sie beschreibt das Jana gegenüber mal in ihren eigenen Worten. Jana nickt.

»Sie haben ihn auch gesehen?«

»Nein, Jana, aber Ihre Beschreibung passt nur zu gut. Da ist es nicht schwer für mich, mir sein Bild vorzustellen. – Ach, sollen wir uns nicht duzen, wo wir uns sowieso mit unseren Vornamen ansprechen?«

»Klar.« Jana willigt freudig ein.

»Aber irgendwoher muss er ja gekommen sein.«

»Ich weiß es nicht.«

»Hat der Nebel ihn vorher verdeckt?«

»Bestimmt. Oder auch nicht. Ich weiß es nicht. So dicht war der Nebel ja nicht. Ich konnte schon so zwanzig oder gar dreißig Meter weit schauen. Und er war vorher nicht da. Aber dann – urplötzlich. Aus dem Nebel.« Jana holt tief Luft. Der Schrecken sitzt ihr noch immer in den Gliedern.

Marianna schenkt ihr nochmal Kaffee nach. Jana schaut zum Fenster.

»Ich hasse diesen Nebel.«

»Aber das ist doch nichts ungewöhnliches. Ich habe hier noch keinen Urlaub ohne etwas Nebel erlebt.«

»›Etwas‹ ist ja wohl auch übertrieben.«

»Wieso?«

»Max und ich sind jetzt seit einer Woche hier. Und an jedem Tag – wirklich an jedem – hatten wir diesen Nebel. Nicht irgendeinen Nebel – nein, DIESEN Nebel.«

Marianna schaut auch hinaus.

»Was heißt ›dieser‹ Nebel?«

»Du bist wohl ganz neu hier, wie?«

»Wenn du es neu nennen magst – ja, ich bin gestern erst angekommen. Und?«

»Du hast das hier noch nicht erlebt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dir sagen: ›Geh doch einfach hinaus‹. Aber das kann ich nicht sagen. Das würde ich niemandem raten.«

Marianna schaut wieder hinaus. Nachdenklich. Gestern Hinnerk. Heute Jana. Was ist mit diesem Nebel?

»Der Mann?«, fragt sie Jana.

»Ja. Und nein. Ich habe einfach Angst, wenn der Nebel mich umstreift. WIR haben Angst.« Jana drückt Max fest an sich.

»Etwas anderes als dieser Mann?«

»Ich kann es nicht beschreiben. Ich bin draußen im Nebel – und die Angst packt mich.«

Marianna erkennt, dass sie mit Fragen in dieser Richtung nicht weiter kommt. Sie kann auch keine Phobien anderer Menschen auflösen. Sie will nicht weiter fragen.

»Ihr könnt gerne bleiben, bis der Nebel sich aufgelöst hat.«

»Danke. Und wenn er bleibt?«

»Wenn es dir lieber ist, begleite ich euch gern zu eurer Villa. Okay?«

Jana nickt erleichtert.

Die Frauen und das Kind verbringen einen gemütlichen Nachmittag. Die Anspannung ist schließlich wie weggeflogen. Der Nebel auch.

»Danke, Marianna. Wir machen uns auf.«

»Wirklich alles okay?«

Jana schaut noch einmal prüfend zum Fenster hinaus. Sie kann vom Nebel keine Spur entdecken. »Ich denke, ja. Es ist auch nicht nötig, dass du mitkommst. Aber Danke für dein Angebot.«

Marianna bringt beide hinunter zur Haustür. Sie wollen sich morgen wiedersehen. Dann wird Marianna auch die Villa kennenlernen.

»Also, bis morgen.«

Marianna ist froh, dass sie nicht mitgehen muss. Hinnerk kommt gleich.

 


*
 

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Hinnerk hat sich Mariannas Schilderung angehört und ist ratlos. „Von einem ›schwarzen Mann‹ habe ich noch nichts gehört. – Doch soweit ich gehört habe, werden auch andere in diesem Nebel von Angstgefühlen befallen.«

»Wer?«

»Keine Ahnung. Aber seit vier, fünf Tagen machen die Gerüchte ihre Runde.«

»Was für Gerüchte?«

»Na ja, dass es in dem Nebel nicht ganz geheuer ist. Und vor allem sehr kalt. Und dann noch die Tote vor drei Tagen …« Hinnerk schaut zum Fenster hinaus. »Ach, und die Kirchen sind in den letzten Tagen voller. – Nee, blödes Wort. Hier ist eine Kirche nicht ›voll‹. Dazu gibt es zu wenig gläubige Menschen. Aber es sind deutlich mehr Menschen als die sonst übliche Handvoll, die sich auch ohne Gottesdienst nachmittags in den Gotteshäusern einfinden. Im evangelischen natürlich mehr als im katholischen.«

Marianna stellt sich gerade vor, dass die beiden Pfarrer den Nebel sogar begrüßen. Könnte ja sein. Die Vorstellung amüsiert sie; sie weiß natürlich, dass das Unsinn ist.

»Ich werde es ja noch erleben. Einige Tage bin ich ja noch hier.« Womit sie leicht untertreibt. Marianna erlebt heute gerade ihren zweiten Inseltag. Sie wird noch mehr als zehn Tage hier sein. »Kommst du morgen mit?«

»Wohin?«

»Jana und Max treffen.«

Hinnerk überlegt einen Moment. »Na ja, wenn dir daran liegt.« Wirkliche Lust darauf scheint er keine zu haben. Aber für Marianna …

»Fein. Und du hast morgen wirklich den ganzen Tag Zeit?«

»Ja.« Hinnerk grinst. »Mein ›Frei‹-Tag. Den ganzen Tag.«

Er nimmt Marianna in den Arm. Küsst behutsam ihren Hals. Streicht zärtlich durch ihr Haar. »Und heute habe ich meinen ›Frei‹-Nachmittag. Den ganzen Nachmittag.« Sanft zieht er sie in die andere Ecke des Zimmers.

»Die Vorhänge …«

»Komm, pfeif drauf.«

Sie fallen aufs Bett. Draußen ist es noch hell.

 

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Tag 3: Neudeich

Direkt nach dem Mittag des Folgetages holt Hinnerk Marianna ab.

»Du kennst diese Villa Kunterbunt?«

»Na klar. Ich glaube, es gibt hier auf der Insel nichts, was ich nicht kenne. Hier ist alles total überschaubar.«

»Und wie ist diese Villa? Kunterbunt hört sich schon mal gut an.«

»Na, Mary, erwarte mal nicht zu viel. Das ist ein ganz normales Kurheim. Mit einem bei Pippi ausgeliehenen Namen. – Aber ich bin mir gar nicht sicher, dass wir da überhaupt hineinkönnen. Ist halt ein abgeschlossener Kurbereich.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739304465
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Wattenmeer Wangerooge Nordsee Küste Ostfriesland Watt-Grab Inseln Sturmflut Friesland

Autor

  • Rudy Namtel (Autor:in)

Der Durchbruch gelang Rudy Namtel mit dem Buch »Watt-Grab«, das einen fiktiven Mord mit den aktuellen Entwicklungen auf der Insel Wangerooge verknüpft. Ob Krimi, Science Fiction oder Liebesgeschichte, ob Roman oder Short Story – Namtel fühlt sich in jeder Disziplin wohl. Oft spielen bei ihm Länder und Orte gewichtige Nebenrollen oder liefern wie in der Novelle »Nebelmann« historische Hintergründe. Der gebürtige Westfale lebt mit seiner Familie in einem hessischen Dorf.
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Titel: Nebelmann