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Das Tal

Die gebrochenen Puppen

von Paul Riedel (Autor:in)
105 Seiten

Zusammenfassung

Gleichberechtigung ist ein Wunsch, der von manchen Frauen und Männern sehr ernst genommen wird. Aber wie weit darf man für diese Freiheit gehen und welche Konsequenzen kann man verantworten? Heldinnen, Femme-Fatale und Psychospiele gehören zu Paul Riedels Lieblingsthemen. In „Das Tal“ werden diese drei Themen in einem Mystery-Roman zusammengebracht. Viele aktuelle Sozialaspekte sind Teil des Plots und insbesondere soll der Roman die Zielgruppe junge Frauen erreichen. Männer und Frauen, die durch einen besonderen Umstand im Leben psychisch gebrochen worden sind. Das Tal ist eine Modelagentur, wo die genannten gebrochenen Figuren zusammentreffen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Präambel

ein Mystery-Roman von

www.paul-riedel.de

©Paul Riedel, München 2017

Printed in Germany



Umschlag: © Paul Riedel, München 2017

Lektorat: Michael von Sehlen, Minden 2017



Erste Auflage 2017

Paul Riedel

Paul Riedel ist ein Name, der sich in meiner Familie seit mehreren Generationen wiederholt. Zwar könnte man vermuten, dass es in dieser Familie an Phantasie mangelt, was die Namensvergabe an die Neugeborenen anbelangt, aber keineswegs! Dies ist eine Familie, in der die Phantasie von Generation zu Generation fortschrittlicher gepflegt wird.

Von einem Kunsthistoriker zu einem Redakteur, weiter über einen technischen Zeichner und in der aktuellen Generation, das bin ich, Künstler und Informatiker. So sind die verschie­denen Paul Riedels der Kunst direkt oder indirekt treu geblieben. Da ich keinen Sohn habe, endet hier die Linie der Pauls, sofern nicht eine meiner Schwestern diese Prophe­zeiung überraschend widerlegt. Alle meine Vorfahren hatten ebenfalls neben der Kunst eine zweite Karriere.

Ich bin in Brasilien geboren und habe zunächst dort gelebt und eine gemischte Erziehung, auch ethnisch gesehen, genossen. Von schwarzen Ghettos, wo dem Umbanda, dem heidnischen Glauben aus Brasilien mit seiner Wurzel in Afrika, gefolgt wurde, über die italienischen, strengen Katholiken aus meinen neapolitanischen und umbrischen Ursprüngen mütterlicherseits bis zu den lutherischen des Vaters entwickelte ich eine umfassende Vision von Glauben und Realität.



Rache ist ein Leitmotiv, das bereits vielen Existenzen ein frühes Ende bereitet hat. Wenn man den Tod als Linderung oder Ende eines zugefügten Schmerzes vermutet, entdeckt man spätestens nach dem Tod seiner Peiniger, dass für manche Schmerzen keine Linderung existiert.

Schmerzen werden anderen aus vielen Gründen zugefügt. Machtmissbrauch, Ignoranz oder Charakterschwächen sind nur einige der vielen Gründe.

Die Personen oder Tiere, die solche Schmerzen erfahren, sind meistens schwächer oder unvorbereitet und bieten kaum Widerstand. Doch wenn sie diese Qualen überleben, kreieren sie eigene Werte, die weder mit Geld, Macht oder Besitz zu tun haben, sondern einfach nur mit dem Willen zu überleben.

Viele dieser Personen sind Kinder, die ebenso unschuldig sind wie unsere Haustiere, die nur ein Leben in Harmonie und Liebe suchen.

Nicht selten sind die Verursacher solcher schmerzlichen Erfah­rungen im Leben anderer Personen diejenigen, die an einen Gott glauben. Angeblich ein Gott des Erbarmens und der Liebe, Werte, die in den Taten derer, die an ihn glauben, selten anzutreffen sind.

Doch wenn man die Augen für die Realität öffnet, versteht man, dass das vorgebliche Erbarmen und die Liebe solcher höheren Wesen nur ein Lockmittel für dessen Opfer sind. In einem Strudel materieller Güter finden die Leidenden nur die Alternativen, zu resignieren oder Widerstand zu leisten oder gar der materiellen Welt eine neue Ordnung zu erklären.

Einige Opfer haben dies erkannt und sie wollen überleben.

Marionette

Auf der dunklen Wand schimmerte das erste Tageslicht, das durch das kleine Fenster auf der anderen Seite des Zimmers fiel. Angelika sah, wie das Licht an der Raufasertapete Formen schrieb, und überlegte, wie lange sie es noch in diesem Zimmer aushalten könnte. Die Tage zählte sie nicht mehr, aber es mussten bereits einige Jahre vergangen sein, dass sie dieses Zimmer unter Narkose betreten hatte. ‚Betreten!‘, dachte sie und fand das Wort unpassend.

Sie wurde dahin getragen wie ein alter Wäschekorb und mittlerweile glaubte Angelika, sie würde diesen Raum auch so, wie sie hereingekommen war, wieder verlassen. Getra­gen und nicht bei Bewusstsein.

Sie sammelte ihre Kräfte, um aufzustehen und das durch einen kleinen Schlitz geschobene Frühstück abzuholen. Bestimmt wieder eine feste Masse, die Pudding heißen sollte, oder das nicht identifizierbare Breigemisch, das ein Müsli darstellen sollte. Egal was, es würde eins wie das andere schmecken – wenn es denn schmecken würde.

‚Keinen Kontakt zum Personal‘, hörte sie in ihren Erinne­rungen den für sie verantwortlichen Arzt sagen.

‚Sie ist verwirrt und muss vor sich und der Umgebung geschützt leben, bis wir mit der Therapie Erfolg haben.‘

Ihren Arzt hatte sie bisher auch nicht zu Gesicht bekommen. Sie erinnerte sich nur, wie seine Stimme im Raum klang und wie die Assistentin zu allem, was er sagte, nickte und sich Notizen machte.

Sie bekam alles nur zum Teil mit, weil die Betäubungsmittel, die ihr verabreicht wurden, zu stark waren. Auch die nachfolgenden Tage wurden von Medikamenten getrübt und manchmal machte sie sogar ins Bett, weil sie die Kon­trolle über sich verlor.

‚Hebephrenie mit gefährlichen paranoischen Vorfällen‘, wiederholte die Assistentin und notierte die Diagnose im Krankenblatt.

Hilflos wurde sie auf einem Rollbett ins Zimmer hinein­geschoben und unsanft auf das Bett geworfen.

Das Sonnenlicht wurde etwas heller und sie erkannte eine Palme auf dem Raufasermuster.

Ihre Toilette war im selben Raum und entsprechend roch ihr Zimmer. Es war entweder der Geruch von billigen Seifen oder abgestandenem Urin. Selten kam ein Pfleger herein und noch seltener putzte jemand das Zimmer. Sie hatte nur die Wahl, es selbst zu reinigen oder den Gestank zu ertragen. Der Grieche, dessen Namen sie sich nicht merken konnte, befummelte sie immer wieder und sie schämte sich. Er war nicht mal unattraktiv, aber die Umstände gaben ihr das Gefühl, durch solche Berührungen schmutziger zu werden.

Heute sollte jemand zum Putzen kommen. Mit Sicherheit würde es der Grieche sein. Da dies meistens nur einmal im Monat geschah und es nun ungefähr das fünfzigste Mal war, dass ihr Zimmer gereinigt werden sollte, bestätigte sie sich, dass es mittlerweile vier Jahre sein mussten, dass sie in diesem Loch vergammelte.

„Angelika?“, rief eine Stimme an der Tür.

Sie drehte sich im Bett wieder zur Wand um.

Ein Guckfenster klappte auf, durch das zwei scharf blickende Augen zu sehen waren.

„Heute ist Reinigungstag.“ Es war der Grieche.

Angelika wimmerte wie ein eingeschnapptes Kind und zog die Bettdecke über den Kopf.

„Meine Liebe. Ich will dich nicht wieder betäuben müssen. Daher musst du mir versprechen, dass du weder auszu­brechen versuchst noch schreist.“ Die sanfte Stimme des Pflegers war bestimmend und trotz des liebevollen Tons klang sie bedrohlich.

„Ja“, jammerte Angelika.

„Steh auf. Nimm dir das Frühstück und zeige dich als nettes Mädchen und dann sind wir uns einig. O.k.?“

‚Mädchen?‘ Sie dachte an dieses Wort mit Verachtung, da sie über sechzig Jahren alt war und der Balg an der Tür kaum seine erste Rasur hinter sich hatte.

„Ja“, jammerte Angelika wieder. Es war ein lang ausgespro­chenes Ja.

„Ich komme in einer halben Stunde mit der Putzkarre. Ist das für dich in Ordnung, mein Schatz?“

Angelika wünschte sich die Kraft zu besitzen, den Pfleger mit dem Besen so zu züchtigen, dass er sie nie wieder ‚Mädchen‘ oder ‚Mein Schatz‘ nannte. Jedoch wusste sie, dass sie diese Kräfte kaum besaß, und Widerrede wäre in diesem Fall abso­lute Zeitvergeudung.

Die Palme an der Wand gab jetzt Platz für ein Diadem und etwas, was wie ein Pferd aussehen sollte. Dachte sie.

Ihre geistige Verfassung war auch nicht mehr so gut, weil sie nach so vielen Jahren in diesem Souterrain ohne Sonne und ohne menschlichen Kontakt auch ihren Bezug zur Realität verloren hatte.

„Es geht in Ordnung und heute werde ich ein gutes Mädchen sein. Wir werden sehr viel Spaß haben.“

Sie wartete auf eine Reaktion, welche diesmal wie erwartet kam.

„Du unerzogenes Luder. Ich komme gleich wieder.“

Sie sprang aus dem Bett und alle ihre Glieder schmerzten aus Mangel an Bewegung, aber seit zehn Tagen hatte sie es geschafft, ohne ihre Medikamente zu leben, und sie genoss sogar diese Schmerzen.

Und diesmal war sie vorbereitet, wenn er sie wieder sexuell belästigen würde, würde sie keinen Widerstand leisten. Diesmal war sie vorbereitet, dieser Gefangenschaft ein Ende zu setzen.

Am Tal in München sind Fußgänger den ganzen Tag, egal ob während der Woche oder am Wochenende, beschäftigt, die Stadt München anzuschauen, dort einzukaufen oder einfach in den Gaststätten ein Bier zu genießen.

Viele Firmen haben dort ihre Büros und je prominenter das Unternehmen, desto prunkvoller sind die Empfangshallen oder höherwertiger die Einrichtung in den Etagen, wo sich diese Büros befinden.

Einen Blick durch das antike holzumrandete Fenster auf dem Turm der Kirche Sankt Peter am Viktualienmarkt belegte, dass man sich in einem Unternehmen der gehobenen Gesell­schaft in der Stadt München befand.

Die Sonne kam grell und unerbittlich durch die davor heruntergelassenen Jalousien und zwang Anne aufzustehen und die Lamellen weiter zu kippen.

Ein angeblicher Heavy-Metal-Song, aber dafür fast zu lieb­lich, trällerte im Hintergrund, während sich Anne in einem Chat mit anderen virtuellen Freunde austauschte.

Anne war zwar kein Groupie dieser Band, aber sie war einer der Gründe für ihren eklektischen musikalischen Geschmack. Das Anhören dieses Lieds war einmal Teil einer Recherche gewesen.

Sie war bereits über dreißig Jahren alt, aber sie verdankte einer guten Natur, seit ihrem siebzehnten Lebensjahr kaum zu altern. Viele erstaunten, wenn sie ihr wahres Alter erfuhren, und andere dachten eher, sie hätte ihre Papiere gefälscht.

Während sie den Knopf an der Wand drückte, um die Jalousieneinstellung zu korrigieren, tauchten weitere Meldungen von anderen Chatteilnehmern am Bildschirm auf.

Ihre rechte Hand trug Zeichen einer Misshandlung, die sie vor einigen Jahren erlitten hatte. Als Hacker hatte sie einmal jemanden zu sehr auf die Füße getreten. Aus dieser unglück­lichen Begegnung blieben die Narben auf ihrer rechten Hand und ein verlorener kleiner Finger, den sie inzwischen beim Tippen nicht mehr vermisste.

Jedoch in manchen Momenten, wenn sie auf ihre Hand blickte, blitzten Erinnerungen von einem dunklen und stau­bigen Keller in der Schweiz auf, wo sie an einen Stuhl gefesselt unter harten Schläge um ihr Leben betteln musste.

Der Glanz eines smaragdenen Anwaltsrings, den sie am Ringfinger der Hand sah, die sie auf die rechte Wange schlug, war in ihre Erinnerung eingebrannt, als hätte man sie in Marmor gemeißelt. Auch eine diskrete Narbe unterhalb ihres Auges ließ sie diesen Tag nicht vergessen, auch wenn alles in der letzten Minute für sie ausgegangen war gut ausging.

Es ist bereits der dritte Hund, der hier solch sein Ende fand. Dieser Mann ist ein Monster.’ Der Eintrag im Chat purzelte hoch mit dem Avatar von ALize, die diese Meldung schrieb.

Die Jalousien knirschten weiter und mit Mühe drehten sich die Lamellen um.

Anne massierte kurz die Ansatzstelle des verlorenen Fingers, wo sie manchmal einen Krampf spürte.

Es würde irgendwann auch einen Menschen treffen, mir war das klar.‘ BetaMoron hatte noch ein Emoji mit Tränen gesetzt, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen.

Die Meldung, die diesen Kreis im sozialen Netz zusammen­ge­rufen hatte, war der Selbstmord einer Frau in Wolfrats­hausen, die ihr Ende durch eine Depression gefunden hatte.

Die Jalousien erreichten endlich die gewünschte Position, und Annes Finger schmerzten bereits etwas vom widerspen­stigen Drehknopf.

Franzi wurde so depressiv, seit Basco erschossen wurde, dass sie nur heulte, von morgens bis abends. Wir haben uns einige Male in Chats unterhalten.’ ALize reimte vermutlich mehr über diese virtuelle Freundschaft, als die Wahrheit erlaubte, aber keiner der anderen Teilnehmer fühlte sich veranlasst, diese Behauptung zu bestrei­ten.

Einige Daumen hoch, andere Emojis mit Tränen oder mit dem Mund nach unten bestätigten, dass viele diese Meldung gelesen hatten und ihren Beistand bekundeten.

Anne setzte eine Anfrage in einem Nebenfenster ab und erfuhr, dass zwischen Franzi und ALize tatsächlich mehr als fünfhundert Messages in gemeinsamen Chats ausgetauscht worden waren. Man konnte dieser Auswertung nicht entnehmen, ob die Meldungen zueinander passten oder ob die Antworten die vermeintliche Freundin berück­sichtigte, aber offensichtlich waren sie sich über den Weg gelaufen. Anne suchte noch die IP-Adresse von beide Teilnehmerinnen und bestätigte wieder, dass es wirklich Unterhaltungen zwischen beide Frauen gegeben habe.

ALize, wer kümmert sich jetzt um den kleinen Welpen?’, erkundigte sich BetaMoron.

Ich glaube, eine Freundin. Ich habe nichts darüber gelesen.’

Annes Pseudonym in diesem Chat war diesmal Fanny. Jeden Tag legte sie neue Profile im Internet in verschiedenen Chats und Social-Media-Plattformen an und informierte sich über die Geschehnisse in der Welt.

Aber Basco war schon alt. Welche Welpen meinst du, Beta?’ Anne erkundigte sich, da sie diesen Teil der Erzählung nicht kannte.

Der Täter, oder seine Freunde, haben ihr einen Welpen gekauft, als Ersatz für Basco, aber Sachen kann man ersetzen, Vertrauen nicht‘, erklärte BetaMoron. Der Begriff Vertrauter wird meistens bei Spielern von Dragons-and-Dungeons-Spielen benutzt, weniger für ein Tier, das mit seinem Meister seelisch verbunden ist. Daraus entnahm Anne, dass Beta­Moron ein Role Play Gamer war. Sie suchte in einem ande­ren Fenster auf ihrem Desktop den Namen BetaMoron und wurde sofort da fündig, wo sie es vermutete.

Aber wie sicher kann man sein, dass dieser Jäger den Hund wirklich absichtlich abgeschossen hat?’, mischte sich Anne unter ihrem Avatar erneut ein. Annes Avatar war ein rosa Einhorn mit blauen Flügeln.

In dem Abschiedsbrief von Franzi hat sie ihn namentlich erwähnt. Scheinbar hat sie ihn mehrfach der Tierquälerei beschuldigt, aber keiner tat was.’ BetaMoron schien bestens informiert zu sein. Sie gab auch einen Link zu dem Abschieds­brief ein. Franzi hatte diesen Brief kurz vor ihrem Tod in ihr Profil gepostet.

Ein Foto des Jägers neben dem Bezirkspolizeichef deutete auf seine besten Beziehungen zu der Stadtverwaltung und zu den örtlichen Politikern hin.

Das ist bestimmt ein Schwanzlurch mit Minderwertigkeits­komplex, der das an armen Tieren auslässt.’ ALize war nicht feinfühlig in ihrer Wortwahl. Der Avatar von ALize zeigte eine Piratin mit erhobenem Schwert, was der Unterhaltung um einiges mehr Nachdruck gab. Anne suchte in einem anderen Fenster nach Fällen von Misshandlungen an Tieren in der Region und war nicht überrascht, dass der Browser über tausend Einträge zurückbrachte. Sie verfeinerte die Suche und legte auch einen Zeitraum fest, um sicher zu sein, dass die Emotionen in dem Chat sich nicht mit Behaup­tungen von Trollen mischten. Immerhin waren es über dreihun­dert Fälle. Sie ließ diese Suchergebnisse auf wiederkehrende Begriffe untersuchen und da kam Peter-Antons Namen mehrfach und auch der Jagdverein „Zum Heiligen Hubertus“.

Das Lied im Hintergrund kam zum Ende und ein weitere folgte, diesmal mit mehr Bass und der hohen Stimme eines Mädchens, das offensichtlich noch die Reife erreicht hatte.

Wie alt war Franzi?‘, erkundigte sich Annes Avatar.

Ihre Nachbarin hat eine Todesanzeige aufgegeben. Schau hier im Link nach.’ BetaMoron fügte einen Link zu ihrem Eintrag hinzu. Anne klickte darauf und sah das Foto einer sechzigjährigen Frau, neben einem Golden Retriever, der offensichtlich kurz vor ihr von uns gegangen war.

Sie sind jetzt vereint‘, gab Anne mit einem weinenden Emoticon ein.

Ich hebe meinen Arsch vom Stuhl und werde zur Beisetzung fahren. Es ist sowieso hier im Nachbarort und ich habe nichts zu tun. Ich muss gegen diesen Arsch demonstrieren.‘ ALize platzierte einen Sticker mit einer arschwackelnden Banane, um ihre Aussage lustiger zu gestalten.

Ich kannte Franzi nicht, aber ich setze eine E-Card auf ihr Profil.‘

Beta, auch du kannst dich bemühen und eine Rose mit einer Beileidskarte zur Beisetzung hinschicken, und ja, du kanntest Franzi auch. Wir hatten uns mehrmals über die Aktion gegen Halal-Fleisch bei Freunden-Haus unterhalten.‘ ALize war sehr bestimmend. Freunden-Haus war ein Chat für Personen aus der Region, die sich über Lokales unterhielten.

Ja, ach die. Du hast recht.‘

Ich kann nicht hingehen. Das ist für mich zu weit‘, log Anne – wie immer. Sie konnte manchmal auch nicht mehr zwischen Realität und Fantasie unterscheiden, da sie so viele Avatare und erfundene Geschichten pflegte, dass sie manchmal sogar von einer anderen Persönlichkeit ihrer Personalitäten träumte. Nur ein gemein­samer Nenner half ihr, ihre wahre Identität zu bewahren. Ein blaues Einhorn, mit zarten rosa Flügeln, das sie stets als Symbol und Profilfoto einsetzte.

Ich könnte mich nicht so umbringen‘, schrieb ALize.

Ich muss weiterarbeiten‘, schrieb Anne und unterzeichnete wie immer mit ‚CU‘ als Zeichen des baldigen Wiedersehens, was aber selten zutraf.

Wie immer löschte Anne das Profil unter dem Namen Fanny und startete die Prozedur für das Anlegen eines neuen Pro­fils. Während diese Prozedur ablief, untersuchte sie den Vor­fall, den sie eben mit anderen Personen im Chat besprochen hatte.

Offensichtlich war dieser Peter-Anton ein grausamer Mensch, der aus Rache einen Hund namens Basco getötet hatte. Die Besitzerin fiel danach in eine tiefe Depression, vergiftete sich mit Tabletten und starb. Ihr Leichnam wurde einen Tag später von einer Nachbarin ge­funden.

‚Ein trauriger Fall, wie viele andere in einer Welt, in der jeden Tag Grausamkeiten geschehen‘, dachte sie.

Auf ihrem Desktop waren einige Mappen säuberlich be­schriftet und eine diese Mappen hieß Peter-Anton. Darin fügte sie die Protokolle der Chats ein, die sie besucht hatte, und einige Dokumente, die sie im Internet ermittelt hatte. Fotos, Zeitungsausschnitte und andere Links waren penibel dokumentiert und zeitlich eingeordnet.

Frühere Fälle von Tiergrausamkeiten waren dort auf einer Karte markiert und zeigten mögliche Verbindungen zu Peter-Antons Jagdverein. Sie zog Kreise um den Wohnsitz von Peter-Anton und das Jagdrevier seines Vereins.

Die Tür des Büros stand einen kleinen Spalt offen und wurde plötz­lich vollends geöffnet und ein kleiner Mann trat hin­durch.

„Hast du was Neues für uns?“ Gutto, der Bühnenbildner der Modelagentur „Das Tal“, kam herein.

„Mensch. Du bringst mich früher ins Grab.“ Anne war sichtlich von dem unerwarteten Auftritt Guttos erschrocken. Der musikalische Hintergrund übertönte fast alle anderen Geräusche in der Umgebung.

„Hast du Pornos im Internet geguckt? Du Luder“, machte sich Gutto über ihren Schreck lustig. Seine halb geöffneten Augen sollten die lüsterne Vermutung unterstreichen.

Annes Haare waren an diesem Tag nach oben frisiert. Locken aus schwarzen Haaren mit rötlichen Strähnen waren elegant aufeinandergelegt und vermittelten den Anblick einer Furi­enstatue.

„Das machen nur perverse Männer wie du und dein Mann. Ich suchte nach Details im Fall des Selbstmords und des armen erschossenen Hundes in Wolfratshausen.“

Tiermisshandlungen und Jäger waren für Anne inakzeptabel, aber Gutto brachten solche Fälle in Rage.

„Ich kann Jäger nicht leiden. Sie behaupten, der Umwelt zu helfen, indem sie sie zerstören.“

„Dieser hier ist ein besonderer Fall. Grausamkeiten sind nur ein Teil seiner Belastungen der Umwelt.“

Gutto, ein kleiner und rundlicher Mann, konnte sogar, wenn er sein Ärgernis ausdrückte, freundlich wirken.

„Ich wollte dir und deinem Mann die Akte schicken.“

„Nicht jetzt, mein Schatz. Wir sind noch mit der ehrenwerten Sophie und einer Modenschau in Frankfurt beschäftigt. Und du weißt, dass Fotobearbeitung und perfekte Bühnenbilder für eine Modenschau sich nicht zwischen Kaffee und Kuchen erledigen lassen. Bis nächste Woche sind wir nicht ansprech­bar. Ich habe auch einen Einsatz als Automechaniker, der heute noch erledigt werden muss.“ Gutto ging durch die Tür hinaus und seine kleinen Hände wedelten wie Schmetter­linge, als würde er damit fliegen wollen.

„Drama Queen“, beendete Anne die Unterhaltung.

„Mechano Queen, bitte!“ Gutto verschwand um die Ecke.

Das Telefon klingelte.

„Hi“, meldete sich Anne.

Sie nickte zweimal und drückte die Musik im Hintergrund etwas leiser.

„Ich habe eine Meldung, dass Eleonore ins Klinikum geht.“ Paloma, die Anwältin der Agentur, erkundigte sich.

„Ja, Paloma. Eleonore wird in zwei Wochen wieder woanders eingeliefert werden.“

„Schon wieder? Sie müsste mal einen Urlaub genießen.“

Anne nickte.

„Ob sie weiß, was sie tut? Wer kann das sagen? Sie ist ver­rückt.“

Paloma hörte einen Unterton in Annes Stimme und konnte diesen gut deuten.

„Hast du wieder Depressionen?“

„Nicht schlimmer als sonst. Der neue Fall bringt mir einige unangenehme Erinnerungen zurück, aber das geht bald weg.“ Anne machte eine Pause. „Ich denke.“

„Falls du ein Ohr brauchst, eins habe ich noch.“ Beide lach­ten. Paloma war auf einem Ohr taub. Als Kind war sie von ihrer eigenen Mutter misshandelt worden und hatte bei einer ungeschickten Ohrfeige einseitig das Gehör verloren.

„Du bist blöd“, neckte Anne.

„Welcher Fall ist dran?“

„Der Selbstmord der Frau in Wolfratshausen. Ich dachte, sie würde länger aushalten. Ich habe das nicht kommen sehen.“

„Mach dir keine Vorwürfe. Keiner von uns ist ein Hellseher oder eine Hellseherin.“

„Gutto will an Autos basteln, hat er eben erzählt.“

„Gutto? Das Auto will ich nicht fahren.“ Paloma lachte, was selten geschah.

„Ich denke, keiner würde das Auto fahren wollen, wenn er wüsste, dass Gutto sich daran zu schaffen gemacht hat. Bis später.“

Anne legte das Telefon ab und rief ihr neues Profil am Bildschirm auf. Ihr neuer Name war AliciaKee.

So fing sie eine Unterhaltung mit einer Zwangsprostituierten aus Brasilien an, die in einem Internetcafé in Frankfurt saß.

‚Ich habe gerade gelesen, dass du Angst hast, verprügelt zu werden? Echt jetzt?‘

Dies alles geschah bereits einige Monate zuvor, aber kaum ein Jahr später ist die Geschichte für Peter-Anton anders verlaufen, als er sich vorstellen könnte.

Ballerina

Eine Geschichte zu erzählen, ist nach Ablauf der Gescheh­nisse zum Teil sehr einfach durch die zeitlich gewonnene Distanz und die in der Vergangenheit gelösten Pro­bleme. Eleonore kämpfte immer mit ihrer Erinnerung, die leider manchmal aussetzte.

Obwohl einige Details mit der Zeit leider verblassen, hinter­lässt das Erlebnis selbst so unendlich tiefe Erinnerungs­spuren, die zu verwischen unmöglich scheint. So waren die Eindrücke der Welt in Eleonores Gedanken, als sich ihre Augen kurz vor dem Einschlafen bewegten.

Eleonore rang weiter mit ihren Gedanken und Erinnerungen und überlegte, wie sie ihr Erlebnis für das kommende Gespräch mit ihrem Therapeuten aufbereiten sollte.

Sie versuchte erst mit dem belebteren Teil ihres Lebens an­zufangen. Als junges Mädchen, das bestimmt nicht so hipp war, wie es gerne hatte sein wollen, musste sie einige Enttäuschungen im Leben einstecken, aber die, so wusste sie mittlerweile, gehörten zur Pubertät. Dramen und Intrigen wurden zu dieser Zeit gefühlsintensiver erlebt, als sie es in späteren Jahren ihres Lebens erfuhr. Diese Gedanken kon­kretisierten ihre Vorstellung von der bevorstehenden Sit­zung etwas.

Die Erkenntnis, dass sie in diesem Leben kein Supermodell werden sollte, hatte sie bereits mit sechzehn Jahren. Unpäss­liche Rundungen manifestierten sich um ihre Hüften, etwas das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Die fahle Farbe der Haut war vom Vater und scheinbar war diese Kombination zusammen mit dem schlechten Mode- und Schmink­ge­schmack ihrer Lieblingstante nicht gut gelungen, meinten einige Schulkolleginnen.

Ob sie das gegenüber dem Therapeuten erwähnen sollte, war sie sich noch nicht sicher.

„Nein“, sprach sie ihre Überlegung halblaut aus.

Darum wurde sie im Allgemeinen gegenüber Jungs etwas gleich­gültig, da sie Abweisungen und unreife Entschul­di­gun­gen über geplatzte Verabredungen lieber vermied. Die Män­ner, die sie trotz aller dieser Nachteile anschauten, schienen meist nicht ihre Weiblichkeit wahrzunehmen und wenn doch, waren sie alte, asoziale oder zwielichtige Gestalten, die in ihr eher den dringenden Wunsch nach einer Dusche weckten als eine irgendwie geartete Leidenschaft.

Frauen waren zu ihr meistens nur freundlich, wenn sie für sie nähte oder kochte. Ihre Familie pflegte eine Tradition mit Handarbeiten und sie verbrachte viele Stunden mit dem Entwurf neuer Kleider. Die waren ihr Puppenersatz und ihre Puppen waren ihre Models – ihr Leben lang.

Es darf nicht unerwähnt gelassen werden, dass es in der Schule noch „die Pausenlesben“ gab. So nannte man in der Schule die zwei Besitzerinnen des Cafés, in das einige Mäd­chen und auch Eleonore während der Mittagspause gingen. Sie waren sehr freundlich und hielten Ausschau nach „neuen Mitgliedern“, wie es böswillige Zungen in der Tratschrunde behaupteten. Eleonore fand beide sehr nett, aber nur als Bekannte, und ihre Freundschaft ging kaum über die Mittagsgrüße hinaus. Beide waren sich ihres Rufs bei den Schülern kaum bewusst, da, wenn man ein Café neben einer Schule bei den Mietpreisen der Stadt leitet, andere Sorgen im Vordergrund stehen. So verstand Eleonore auch, dass alle anderen Gerüchte mehr auf die Fantasie mancher Leute zurück­zuführen waren als auf Tatsachen.

„Lassen wir das lieber sein.“ Sie sprach wieder mit sich selbst und verwarf diesen Teil der Gedanken, da sie diese für zu privat hielt.

Eleonore hatte wenige Freundinnen und so stürzte sie sich irgendwann in die Suche nach Arbeit, von dem Traum erfüllt, mal den richtigen Mann für ihr Leben zu treffen.

So in Gedanken, zog sie ihre Bettdecke über ihre Schulter und vertiefte sich in eine Zeit in ihrer Vergangenheit. Sie schlief in eine traumlose Nacht hinein.

„Na, mein Schatz!“, begrüßte sie der Grieche.

Angelikas psychische Störung hatte sie in eine Mischung aus unschuldigem wie auch grausamem Mädchen verwandelt. Trotz des Alters war sie innerlich immer noch zum Teil unreif. Hebephrenie wird die Störung genannt, nach der toll­patschigen Göttin Hebe, die das Ambrosia auf der Götter­tafel verschüttete und zur Strafe vom jüngsten Liebhaber des Zeus, nämlich Ganymed, als Mundschenk ersetzt wurde.

„Haaii!“, sagte Angelika in einer langen Silbe, die fast so klang, als würde sie nicht mehr enden.

„Heute bist du friedlich. Das ist schön. Ich putze dein Zimmer und dann können wir miteinander spielen“, sprach der Grieche, während er den Putzeimer mit dem Besen hinein­zog.

Sie wusste, wie das ablaufen sollte und hatte seit einigen Tagen genauestens über den Ablauf nachgedacht.

Er ging kurz zum Flur und schaute, ob keiner hinter ihm oder in Hörweite war. Angelika wusste, was er vorhatte, da sie sich in den letzten Monaten alle seine Schritte genau gemerkt hatte. Er benahm sich fast wie ein Roboter, der immer das gleiche Programm abspulte.

Angelika holte unter ihrem Kopfkissen zwei Knäul hervor, die sie aus herabfallende Fäden aus ihrer Wäsche geformt hatte. Diese warf sie diskret unter das Bett, ganz in die Nähe der Wand.

„Unter dem Bett sind hässliche Wollmäuse“, schmollte Angelika und dabei zog sie kurz ihr Kleid hoch und putzte sich flüchtig die Nase.

„Sie werden alle weg sein, wenn ich fertig bin.“ Er machte eine Pause und riegelte die Tür zu und steckte das Schlüssel­bund in seine Tasche.

Angelika folgte den Schlüsseln mit ihren Augen wie ein Luchs, der auf Beute steht.

Der Grieche putzte oberflächlich den einzigen Tisch im Raum. Außer ihm gab es nur noch das Bett und einen Besucherstuhl, der selten benutzt wurde. Im hinteren Bereich waren noch die Toilette und eine prekäre Dusche, in der sich schon Schimmel ansammelte.

Zwei Schrauben rollten vor dem Wischmopp her und der Grieche sammelte sie auf und warf sie, ohne darüber nachzudenken, in den Müllsack, der auf dem Putzwagen auf­gestellt war.

„Die Toilette riecht schlecht.“ Angelika verzog die Nase, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen und zu zeigen, dass sie sich nicht alleine helfen konnte, und mit ihren Anmerkungen lenkte sie den Pfleger mit einer anderen Beschäftigung ab, bevor er sie wieder befummeln würde.

„Gefällt es dir jetzt so?“, fragte er bewusst freundlich, um die Spannung zwischen beiden abzubauen. Er wollte etwas Vertrauen aufbauen, damit er in den Genuss seiner Vor­haben kam und sie weniger Widerstand leistete.

„Willst du eine rosa Pille haben?“, fragte er. Diese Beruhigungspille machte sie willenlos und meistens schlief sie nach der Einnahme den ganzen Tag.

„Neeiiin!“ Der Grieche wusste, dass ein langes Nein das Ende des Spaßes bedeuten konnte, noch bevor er angefangen hatte, darum beließ er die Pille in seiner Tasche.

„Willst du heute mit mir spielen?“, fragte er, während er schnell mit dem nassen Mopp den Boden wischte.

„Jaaah!“ Angelika suchte unter der Matratze nach etwas, von dem der Grieche annahm, es wäre ihre Stoffpuppe.

„Hast du Gazou verloren?“

„Nein. Er sitzt am Fenster.“ Angelika zeigte mit dem Finger auf das Fenster, während sie mit der anderen Hand ihr Kleid nach hinten zog.

Das war das erste Mal, dass sie ohne Widerstand ja sagte und er freute sich. Er ging kurz vor die Tür und versicherte sich, dass niemand in der Nähe war. Die meisten waren im Urlaub und im unteren Stockwerk des Sanatoriums arbeiteten nur er und ein Kollege, den er meistens zum Einkauf schickte.

„Ahh. Das ist aber nett von dir. Wir werden uns ganz nett mit Gazou amüsieren.“

„Jaaah“, sagte sie wieder und hob ihr Kleid wieder etwas höher. Sie wusste, dass er sie trotz ihres Alters gern hatte, und sie nahm an, dass er selten auf eine Frau traf, die seinen Körpergeruch freiwillig ertrug.

Er merkte, dass an einer Stelle an der Wand etwas abgerie­ben worden war. Der Boden schien an dieser Stelle mit etwas geschliffen worden zu sein.

Er wischte schnell den Rest des Bodens und putzte zuletzt mit einem Tuch das Waschbecken und die Toilette.

„Leg dich ins Bett. Ich komme gleich zu dir.“

„Aber die Wollmäuse sind da.“

„Ich habe sie alle weggeputzt.“

„Nein. Ich sehe sie. Du musst sie mit der Hand wegjagen.“

Er zögerte etwas, ging aber doch auf die Knie und putzte unter dem Bett.

Er merkte, dass sich ein Teil des Bettgestells gelöst hatte. Bestimmt rührten die herabgefallenen Schrauben daher. Es war ein altes Bett und es hatte bereits einige Jahre ausgehalten, aber es war ihm klar, dass es irgendwann gewechselt werden musste.

„Wir müssen dein Bett reparieren.“

Er fand doch zwei Fadenknäuel weit unter dem Bett. Offensichtlich hatte Angelika sie selbst gewebt und unter das Bett geworfen. Er vermutete, dass sie gerne Verstecken spielte.

„Ich habe die Mäuse gefunden.“

„Ahh.“

„Siehst du. Jetzt sind sie alle weg“, sagte er, noch unter das Bett gebeugt. Er stützte sich beim Aufstehen an dem Bett ab und wusste nicht, wie es geschah, aber auf einmal zog sich metallene Kälte seinen Hals hinab in Richtung Magen und ein Geschmack wie von Eisen füllte seinen Mund.

So merkte er, dass das verlorene Metallstück vom Bett in seinen Körper hineingebohrt worden war. Ein letzter Gedanke machte ihm klar, dass die abgeschabte Stelle am Boden mal als Schleifstein benutzt worden war.

Schnelle Finger suchten in seiner Tasche und holten die Schlüssel heraus. Er wollte um Hilfe schreien, aber schnell schob ihm Angelika ein altes Höschen in seinen Mund.

Angelika holte Gazou vom Fenstersims und die nicht eingenommenen Tabletten der letzten zwanzig Tage fielen auf den nassen Boden hinunter.

Dem Griechen wurde klar, dass er Angelika unterschätzt hatte. Ein tragischer Fehler.

Er verlor sein Bewusstsein und hörte noch als Letztes, wie sich die Tür hinter Angelika schloss. Aufwachen tat er nie mehr.

Eleonore wachte nach einer gut durchschlafenen Nacht an einem sonnigen Märztag auf. Die Sonne drängte sich durch eine Spalte der schweren lila Gardine hindurch. Das vor der Gardine stehende große Fenster wurde nie mit den Fenster­läden verschlossen. Sie waren eher nur ein Dekor des großen Bauernhauses, das mitten in einem weitläufigen Gelände lag.

Es war wie an vielen anderen Morgen zuvor, zuerst musste sie die weiße Decke anstarren und sich überlegen, was an diesem Tag noch alles zu erledigen wäre. Sie hatte in Erinnerung, dass sie an diesem Tag um elf Uhr zu einem Gespräch mit ihrem Therapeuten verabredet war.

Ihre Migräne war an diesem Tag stärker zu spüren als sonst, was im südlichsten Bundesland, dem Freistaat Bayern, zu erwarten war. Bayern ist ein wunderbares Land, gesegnet von den Alpen und dem warmen Klima. Jedoch je schöner die Farbe des Himmels ist, desto stärker ist der Föneffekt. Diese warme und unsichtbare Luftwolke schenkte dem Himmel ein tiefes Blau und die meist dadurch wolkenlosen Himmel sahen aus wie einem Gemälde entnommen.

Ein kurzer Blick auf die Radiouhr auf dem linken Nachtschrank verriet, dass sie wieder länger geschlafen hatte, als sie eigentlich wollte. Ihr Schlafzimmer war so, wie man sich ein typisches Mädchenzimmer der achtziger Jahre vorstellt. Ob­wohl die Biedermeiermöbel klarstellten, dass das Dekor aus gutem Hause kam, waren einige Rockerposter an der Wand, die Geist und Gesinnung der Hausherrin verrieten.

Sie sah die geknitterten Ränder und einige Farbflecke an und dachte, dass diese Poster bestimmt schon bessere Jahre erlebt hatten.

Ihre Kleider lagen ordentlich auf einem Stuhl und wo ihre Schuhe sein sollten, konnte sie nicht sagen. Ihr wurde klar, dass die Kleider zu ordentlich dalagen, als dass sie von ihr hätten aufgeräumt sein wären.

Ihre Schminke, die Qualitäten aller Stufen umfasste, stand gesammelt auf einem Tablett wie in einem Ausverkauf auf dem Flohmarkt. Sie blickte darauf und sie erinnerten sie an ihre Tante.

Parfüms hatte sie nicht und wenn doch, würde sie sie bestimmt nicht in der nächsten Zeit wiederfinden können. Ihre Augen rollten noch einmal vom Fenster zur Decke und es bereitete ihr Mühe, die schwere Bettdecke zur Seite zu schieben.

Direkt neben ihr Schlafzimmer grenzte, hinter einer offenen Tür, das kleine Badezimmer. Die braunen Kacheln glänzten leicht im wenigen vorhandenen Licht, das durch eine Lüftung in der Decke fiel. Sie blickte wieder auf die Uhr und stellte fest, dass, seit sie sich aufzustehen vorgenommen hatte, schon über eine Stunde vergangen war. Mit einem fast katzenhaften Sprung aus dem Bett erreichte sie schnell das Badezimmer. Ihre Toilette war weder gründlich noch aus­reichend gewesen, stellte sie fest, als sie den Geruch unter ihren Achseln bemerkte. Das Ergebnis hatte leider nicht ganz den gewünschten Effekt und da sie wieder keine von Klei­dern und Tüchern freien Spiegel fand, musste sie die Haare schnell nach hinten durchkämmen und hoffen, dass sich dadurch ihr Aussehen entsprechend verbessert hatte.

Ihr Frühstück stand wie immer vorbereitet auf dem Tisch am anderen Fenster. Sie schlief meistens so tief, dass sie selten mitbekam, wenn die Bedienung das Zimmer betrat. Ihr war es ebenfalls egal, da sie mit der Bedienung nie gesprochen hatte oder den Wunsch verspürte, das zu tun. Ihr gingen viele andere Gedanken im Kopf herum, die kaum Zeit und Raum für Tratschen ließen. Sie wusste nur, dass sie keine Details verpassen wollte, wenn sie ihrem Therapeuten etwas erzäh­len würde. Dies sollte die letzte Sitzung sein, darum musste alles perfekt an seinem Platz liegen.

Sie trocknete wieder ihre Beine mit einem Badetuch und dabei bemerkte sie, dass ihre Haut sich manchmal unan­genehm trocken anfühlte, und sie dachte, sie benötige wieder eine Bodylotion. Sie durchsuchte ihre Kleider, prüfte sie nach und nach mit ihrer Nase, auf der Suche nach einem Kleid, das sauber war oder zumindest so roch.

Sie schaute durch das Fenster und sah, dass ein Auto die Auffahrt der Garage besetzte. So wusste sie, dass sie sich zu ihrem Termin wieder verspäten würde.

Ihr Höschen mit dem geplatzten Gummi, das sie versehent­lich angezogen hatte, rutschte an ihren etwas zu dünn gera­tenen Beinen zu Boden. Scheinbar war das Gummiband um das Kleidungsstück etwas zu alt geworden. Beinah ent­nervt zog sie es wieder hoch, verknotete es an der Seite und zupfte das ausgesuchte blaue Kleid zurecht.

Sie würde niemals ein so teures Stück Unterwäsche wegwerfen, darum wusste sie, dass sie sich später mit Nähen beschäftigen musste.

Sie spiegelte sich kurz im Fensterglas und versuchte heraus­zubekommen, ob sie ansprechend aussah.

„Details, Details.“ Sie warf ihre Hände nach oben und rannte zum Kleiderschrank, wo sie eine Brosche in der Form eines blauen Einhorns aus der Schublade holte und sie an der linken Seite über ihrer Brust auf dem Kleid anbrachte. Diese kleine Aufmerksamkeit von ihrer Freundin sollte ihr das Gefühl geben, nicht allein zu sein.

Sie war damit nicht ganz zufrieden, aber mehr konnte sie an diesem Tag nicht bieten. Sie öffnete die Tür zum Balkon und brachte das Frühstück, das die Bedienung ihr heute gebracht hatte, hinaus. Sie hatte zwar nicht vorgehabt, Richard, ihren Therapeuten, zum Frühstück einzuladen, aber da sie mit ihrer Vorbereitung so sehr im Verzug war, war dies unver­meidlich.

Die namenlose Bedienung schien dies bereits erahnt zu haben, denn ein zweites Gedeck stand bereits auf dem Balkon­tisch, was sie auf den Gedanken brachte, dass diese Bedie­nung sie offenbar besser kannte, als sie sich vorstellte.

Sie konnte hören, wie ein Auto durch das Ein­gangstor fuhr. Es musste der Lieferant der Küche sein. Sie beeilte sich mit dem Aufräumen ihres Zimmers, warf ein paar herumliegende Wäschestücke in den Wäschekorb und zog die Gardinen auf.

Es war wieder ein schöner Tag im Umland von München.

Ihre Füße schmerzten etwas und der Boden war kalt, aber sie konnte nicht mehr zurückgehen.

Am Ende des Flurs war eine Tür zum Hof, von der Angelika wusste, dass sie offen sein würde, weil der Grieche den Raum an den Putztagen durchlüften ließ.

Sie ging von der Tür direkt zu einem Busch hinter den Apfel­bäumen. Von dort war der Fluss nicht weit, erinnerte sie sich.

Angelika erinnerte sich beim Gehen an bessere Jahre, als sie dieses Klinikum mit ihrem Mann gegründet hatte. Es war ihr klar, dass sie krank war, aber es war ihr auch klar, dass das, was diese Krankheit ausgelöst hatte, irgendwann ein Ende haben musste.

Die trockenen Zweige auf dem Boden brachen unter ihren Füssen und einige Dornen drängten sich in ihre zarte Haut.

„Keine Zeit für Schmerzen oder Jammern.“ Angelika sprach mit Gazou, ihrer Stoffpuppe, die aus ihren Glasaugen in die Leere blickte.

Der Wind blies feucht und kühl, während sie den Hang hinunterging.

Sie erinnerte sich daran, als das Klinikum für gelangweilte reiche Damen eröffnet wurde. Sie war reich und ihr Mann war jung und schön, aber leider nicht besonders intelligent. Er lief im Sommer in einem knapp geschnittenen Tanga um den Swimmingpool und stolzierte mit dem prall gefüllten Stück Stoff vor lechzenden Frauen herum, die Angelika beneideten.

„Die Fitnessstunde fängt gleich an, meine Lieben, bitte alle zum Übungsraum“, hörte sie sich das Training ankündigen.

Es waren wunderschöne Jahre, die ihr außer Freude viele Feinde und Neider bescherten.

Der letzte Tag, den sie vor dem Ausbruch ihres Traumas erlebte, durchlief ihr Gedächtnis fast täglich.

„Ich hoffe, dass ich so schön werde wie du. Meine Fettpolster wollen nicht weg“, jammerte Nancy, eine Klientin.

„Sei nicht undankbar. In zehn Jahren gesammelte Kuchen und Knödelfette können unmöglich in zehn Tagen verschwin­den.“ Beide Frauen lachten.

„Angelika“, rief eine Assistentin.

„Ja. Was ist denn?“ Die Assistentin zog Angelika am Arm zur Seite und lächelte Nancy zu, die begriff, dass sie das Gespräch nichts anging.

„Es sind einige Männer da, die meinen, die neuen Besitzer des Instituts zu sein.“

„Wie bitte?“

„Ja, und einer wollte die Buchhaltungsunterlagen sehen.“

Eine Wallung durchlief ihren Körper und ihr schwindelte für einen Moment.

„Wo sind sie denn?“

„In deinem Büro.“

„Sag Eva, dass sie die Callanetics-Stunde übernehmen soll. Ich kümmere mich darum.“

Ihr erster Gedanke nach dieser Ankündigung war, dass ihr Mann etwas ohne ihre Genehmigung gemacht hatte und sie es wieder ausbaden musste.

Ihre Erinnerungen wurden von einem Ast unterbrochen, der mit Wucht gegen ihre Wange peitschte, als sie durch das Gebüsch hindurchging.

Dann sah sie den Fluss etwas weiter unten im Tal.

„Komm, Gazou. Wir wollen schwimmen.“

„Morgen, Leo!“ So nannte Richard sie und wie immer unterstrich er seinen Gruß mit einem Lächeln. Eleonore war immer wieder von seiner Art betört und sie brachte es nie übers Herz, zu sagen, dass er anklopfen sollte, bevor er hereinkam. Ihr kam in diesem Moment auch in Erinnerung, dass sie ihren eigenen Namen nicht gern mochte. Eleonore hieß ihre Tante, die sie so sehr liebte. Alle Mädchen ihrer Generation hatten schnittige Namen wie Krissi, Jessy, Lyvi, weshalb sie lieber Leo als Eleonore war.

Richard war nicht groß und sein leicht hervorstehender Bauch war zu bayerisch für ihren Geschmack. Er war meis­tens ebenso grau angezogen, wie seine Haare waren, aber diesmal hatte er das Muster mit einem violetten Schal mit Tartanmuster durchbrochen.

„Ich bringe unser Frühstück zum Balkon.“ Sie sprach wie in einer Waschmittelwerbung und lächelte mit einem kleinen Schwung auf der nicht existierenden Schleppe. Die Blumen­muster auf ihrem Baumwollkleid bemühten sich erfolglos auf dem von vielen Waschgängen ermüdeten Stoff um eine Bewegung.

Richard eilte ihr zu Hilfe. Seine Beine halfen ihm zwar wenig beim Gehen, aber er behielt das Gleichgewicht. Seine Behin­derung war nie ein Thema, da er zwar krumme Beine hatte, aber er konnte galanter gehen als viele andere Männer, die Eleonore kannte.

„Die Bedienung hat nur ein Orangensaft gebracht“, beklagte sich Eleonore merklich enttäuscht.

„Ich trinke aber keinen Orangensaft, Schätzchen.“ Sein Lächeln war unwiderstehlich wie immer und für eine Sekun­de vergaß Eleonore, was sie eigentlich vorhatte.

Geschirr und Besteck wurden ordentlich um den weißen Gusseisentisch mit einer fast zu kühlen Glasplatte verteilt und die Sitzkissen waren bereit, ihre Gäste zu empfangen. Richard war ordentlich gekleidet wie immer, bis auf das violette Tuch konnte man ihn als alles andere, aber nicht als einen Dandy bezeichnen. Eleonore biss sich jedes Mal aus Enttäuschung in die Lippen, weil sie es als Frau nie schaffte, dieses harmoni­sche Aussehen am Morgen zu erreichen. Gekämmte Haare und der Duft von Pinienholz zierten einen braun getönten Mann, der wie eine Gestalt aus einem Bild von El Greco, dem griechischen Maler aus dem Mittelalter, aussah.

Eleonore war bis zu diesem Moment noch nicht richtig auf­gewa­cht und sie erinnerte sich langsam, dass Richard ei­gent­lich da war, um die letzte Sitzung abzuhalten.

Sie bastelte kurz an ihren Erinnerungen und versuchte die Logik der Ereignisse immer wieder von vorne durchzugehen, aber sie war mittlerweile überzeugt, dass Erzählen nicht ihr Fach war. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie beide hier auf diesem Balkon gesessen hatten und sie zwar ihre Vorhaben durchziehen wollten, es aber am Ende nicht schafften und dann mit einem anderen Thema aufgaben.

„Das ist unsere letzte Sitzung, oder?“, fragte Eleonore zur Sicherheit.

„Ich denke, ja. Du bist meinem Verständnis nach bestens vorbereitet.“

„Wusstest Du, dass dieses Haus früher eine Schönheitsklinik war?“

„Ja. Ich kenne das Haus sehr lange.“

„Wie lange kennst du das Haus?“

„Lange. Ich weiß nicht mehr wie lange. Aber schweifen wir nicht ab und sprechen wir über deine Erinnerungen.“

„Wenn ich mir vorstelle, dass hier früher Frauen kamen, weil sie sich um ihre Figur Gedanken machten und nicht ihren Geisteszustand, fühle ich mich besser.“

Richard nickte und versuchte seinen Blick von Eleonores dürren Beinen abzuwenden.

Sie war überzeugt, dass die Geschichte vor einiger Zeit ange­fangen hatte, und sie war sich sicher, da zu beginnen, würde helfen, ihre Erlebnisse zu erzählen. Ihr kam der Gedanke, dass sie den Tisch bereits so aufgeräumt hätte und dass alles, was hier geschah, bereits da gewesen war, wie in einem Déjà-vu. Sicherlich waren das Nachwirkungen von zu vielen Drinks am Vorabend. Sie wollte vermeiden zu fragen, ob sie etwas getrunken hatten, aber ihr war klar, dass, egal was sie getrunken hatte, es zu viel gewesen war.

„Diesmal hoffe ich, dir besser zu erzählen, was eigentlich geschehen ist“, begann Eleonore mit etwas unsicherer Stimme. Sie goss dabei etwas Kaffee in eine Tasse und ihre Augen hingen an der aus der Kanne rinnenden Flüssig­keit.

„Wir haben Zeit. Ich habe heute sonst auch nichts zu tun und wie ich versprochen habe, werde ich den Morgen bei dir verbringen und morgen meinen Bericht bei deinem Boss abgeben.“ Richard lächelt wieder und trotz der auf seiner Oberlippe klebenden Reste eines abgebissenen Toasts sah er charmant wie immer aus. Vielleicht sogar etwas mehr, dachte sie.

„Ich fange da an, wo die Realität und meine Fantasie sich streiten, bei der Geschichte einer Frau, die nie existiert hat.“

Eleonore hatte sich bereits zweimal geräuspert und dreimal Anlauf genommen, ihre Erzählung anfangen zu wollen, und Richard interpretierte ihr Zögern als Ausdruck eines inneren Kampfes zwischen der Vorstellung der Realität und ihrer ein­gebilde­ten Realität. Dies war für therapeutische Ge­spräche normal und daher war Richard mit Geduld und Verstand auf dieses Verhalten vorbereitet. Sie brach ihr Vorhaben jedes Mal mit einer anderen Beschäftigung am Frühstücks­tisch ab. Meist wühlen Frauen in ihrer Tasche und Männer schlagen die Beine übereinander, es gibt viele An­zeichen von Unbe­ha­gen vor dem Überwinden einer Hürde.

„Ich kann dir nur erzählen, was mir erzählt wurde oder das, was ich mir vorstelle, dass es mir erzählt wurde. Letztendlich, was ich erfahren habe oder meine, erfahren zu haben. Bitte halte mich nicht für ganz verrückt, aber ich denke, ich habe die Situation irgendwie verstanden.“ Eleonore machte eine Pause und breitete eine rote Filzdecke über ihre Beine und warf einen Wollschal, den sie zum Balkon mitgenommen hatte, um ihre Schulter. Ihre Wörter klangen wie eine Ent­schuldigung und obwohl sie inhaltlich nichts erklärten, hörte Richard aufmerksam zu.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739379951
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Psychothriller Homophobie Liebe Zwangsprostitution LGBT Transvestit Krimi Ermittler

Autor

  • Paul Riedel (Autor:in)

Geboren in der brasilianischen Stadt Sao Paulo beendete er 2010 eine erfolgreiche Karriere in der IT- und Datenbanken-Branche und widmet sich seitdem seiner bildenden Kunst und Literatur. Er absolvierte eine Ausbildung als Psychotherapeut (HP), was seine Kenntnisse von der menschlichen Natur vertieft hat. Seine Muttersprache Portugiesisch prägt seine Romane durch ihren reichen Wortschatz, genau wie sein Interesse für die Antike mit ihrem Reichtum an literarischen Formen seinen Stil beeinflusst.
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Titel: Das Tal