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Lara & Jan

von Karen Nieberg (Autor:in)
141 Seiten

Zusammenfassung

Als Lara eines Abends wie aus dem Nichts an Jans Tür in Stockholm klopft, ist aus dem Mädchen von einst eine bezaubernde Frau geworden. Doch es gibt gute Gründe, sich nicht in Lara zu verlieben, denn sie ist nicht nur zwanzig Jahre jünger, sondern auch die Tochter seiner Ex. Und dann ist da ein dritter Grund, der sich wie eine düstere Wolke über Laras Besuch schiebt ... Während sich Lara ihrer Gefühle für Jan mit jedem Tag sicherer wird, wird Jan hineingezogen in das Drama von drei Frauen, die sich lieben und trotzdem aneinander zu zerbrechen drohen. “Ein Buch, von dem der Leser nicht los kommt, das unter die Haut geht.” - Garmisch-Partenkirchner Tagblatt

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über das Buch

Als Lara eines Abends wie aus dem Nichts an Jans Tür in Stockholm klopft, ist aus dem Mädchen von einst eine bezaubernde Frau geworden. Doch es gibt gute Gründe, sich nicht in Lara zu verlieben, denn sie ist nicht nur zwanzig Jahre jünger, sondern auch noch die Tochter seiner Ex. Und dann ist da ein dritter Grund, der sich wie eine düstere Wolke über Laras Besuch und zwischen sie und Jan schiebt …

Während sich Lara ihrer Gefühle für Jan mit jedem Tag sicherer wird, wird Jan hineingezogen in das Drama von drei Frauen, die sich lieben und trotzdem aneinander zu zerbrechen drohen.

Über die Autorin

Karen Nieberg hat in Deutschland, Norwegen und Schweden gelebt und ist die Verfasserin mehrerer erfolgreicher, preisgekrönter Romane. Obwohl in verschiedenen Genres zuhause, greifen all ihre Romane Themen von Konflikt und Liebe in Familien auf.

Karen Nieberg ist ein Pseudonym von Birgit Jaeckel, unter dem die Autorin ihre Skandinavien-Romane veröffentlicht, so den Krimi „Ins Eis“.

1

Verhaltenes Klopfen an der Wohnungstür riss Jan aus der Betrachtung des hochgeschlossenen Kostüms der Nachrichtensprecherin. Er stellte den Fernseher auf lautlos, schleuderte die Fernbedienung zwischen die Sofakissen und angelte nach seinen Socken unter dem Tisch. Im Fernseher wechselte das Bild vom Amerikakorrespondenten zurück zur Moderatorin. Jan glaubte, unter dem ungewöhnlich hohen Kragen einen Striemen zu erkennen. Wenn er sich nicht irrte, zog sie die eine Schulter einen Hauchbreit höher als die andere. Der Anblick bereitete Jan vages Unbehagen. Nachrichtensprecherinnen schienen stets makellos.

Das Klopfen an der Tür wiederholte sich. Die universellen drei Mal. Lauter.

Auf dem Weg zur Tür verfingen sich Jans Zehen in den Riemen seiner Notebook-Tasche und rissen diese um. Der dumpfe Knall erinnerte ihn daran, dass er sich seit zwei Jahren einen Teppich für den Flur kaufen wollte. Der Besucher hatte mittlerweile die Klingel entdeckt. Ein heller Glockenschlag hallte durch den Gang und endete abrupt. Jan öffnete die Tür.

»Hejsan, Jan!« Gesungen im Klang von vertrauten Reimen wie Bauklötze, aus denen sich Kinder ihre Welt erbauten. Das Lächeln eines Tieres, das nicht wusste, ob es willkommen war, blitzte Jan entgegen.

Dieser war so perplex, dass er gar nicht erst auf die Idee kam, die Begrüßung zu erwidern.

Das Mädchen auf der anderen Seite der orange gestrichenen Schwelle verwandelte sich in eine ältere Version seiner selbst, hörte auf, nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten und alte Begrüßungsformeln zu singen. Sie hob die Lider, um Jans Blick zu begegnen. Ihre Stimme klang kehliger, erwachsener, als er sie in Erinnerung hatte. »Erkennst du mich noch?«

Sie trug einen Trekkingrucksack und drückte einen kleineren gegen die Brust, welcher ebenfalls schwer wiegen musste, denn ihre Arme bebten unter der Anspannung. Jans Gast, jedenfalls, hätte sofort alles auf physische Anstrengung geschoben, hätte er sie gefragt. Zumal Nervosität Jan gegenüber etwas Neues, Unbekanntes war, und sie sich nur allzu gerne hinter der Schwere des Gepäcks versteckte.

Jan blinzelte, als wäre er gerade aufgewacht.

»Mein Gott, Kleines, wo kommst du denn her?« Er unterbrach sich. Die Anrede, die wie selbstverständlich auf seine Zunge hüpfte, schien es nicht zu treffen, nach sechs – oder waren es sieben? – Jahren, in denen sich Gesichtszüge aus der Teenager-Weichheit herausgeschält, Körper und Ausstrahlung an Fraulichkeit und Substanz gewonnen hatten.

»Lara«, verbesserte er sich, »Lara, meine Güte! Wie bist du ins Haus gekommen?«

»Die Haustür stand offen. Zum Glück, sonst stünde ich immer noch davor. Die Schweden und ihre Türcodes mit den Klingeln auf der Innenseite, einfach idiotisch! Außerdem war dein Handy ausgeschaltet. Jedenfalls wollte ich dich eigentlich nicht so überfallen. Tut mir leid.« Sie verstummte. Jan starrte sie immer noch an. »Komme ich ungelegen?«

»Was? Nein, absolut nicht. Komm rein!« Begeisterung breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Verdammt, Lara! Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch so!« Er malte eine vage Größenangabe vor seinen Bauch, die langsam in die Höhe wuchs, weil er feststellte, dass er maßlos übertrieb. Eine Sekunde später legte er seine Hand auf ihre Wange und beugte sich vor, um sie über den Rucksack hinweg an sich zu ziehen. »Was machst du hier?«

Lara neigte den Kopf unter Jans Umarmung, spürte seine Lippen auf ihrem Scheitel. Früher hatte ein solcher Kuss Schlafenszeit bedeutet, Licht ausschalten, fort mit dem Buch. Seltsam, schoss es ihr durch den Kopf, es fühlte sich genauso an wie früher. Laras Mutter hatte solch elterliche Reflexe schon lange abgestreift, Berührungen, Tonfall, Sätze hatten sich dem Alter ihrer Töchter angepasst. Einzig bei Familienfeiern, wenn sich das Alte-Tanten-Syndrom der weniger frequentierten Verwandtschaft über Lara und ihrer Schwester entlud, zeigte die Bevormundung ihr faltiges Gesicht und ließ selbst ihre Mutter die Augen verdrehen.

Jetzt, bei Jans gedankenloser Begrüßung, roch nichts nach ewiger Kindheitsverdammnis, sondern nach etwas Älterem: Heimat. Geborgenheit. Urvertrauen. Welch antiquierte, große Wörter. Lara spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten.

Inzwischen hatte Jan Lara von ihrem Gepäck befreit, ohne deren verstohlenes Augenwischen zu bemerken. Mit dem Trekkingrucksack lief er voraus ins Wohnzimmer. Lara folgte ihm. Im Vorbeigehen bückte sie sich und lehnte die Notebook-Tasche zurück an die Wand.

Jan entledigte sich des Rucksacks, indem er ihn auf seinen Fernsehsessel fallenließ, dann drehte er sich zu Lara um. Er legte zwei Fingerspitzen unter ihr Kinn, um es sacht anzuheben. »Lass dich anschauen, Mädchen. Toll siehst du aus!«

Lara war sich sicher, dass sie fürchterlich aussah: ungeduscht, verschwitzt, mit einem verlaufenen Kajalstrich um von Müdigkeit umschattete Augen. Wärme breitete sich von Jans Fingern über ihr Gesicht aus.

Lara sah beiseite, ihre Finger spielten mit einer Rucksackschlaufe. »Genau wie ich es erinnere«, murmelte sie.

»Was meinst du?«

»Das hast du früher immer gesagt: »›Toll siehst du aus! Vad fin du är!‹« Ihre Zunge holperte durch das Schwedisch, aber die überkippende Art, wie sie das fin in die Länge zog, brachte Jan zum Lachen.

»Habe ich das? Mmh, pädagogisch nicht besonders wertvoll, aber es hat immer gestimmt.« Er ließ ihr Kinn los.

»Kommst du gerade aus der Kletterhalle?« Sie deutete auf Jans T-Shirt, in dessen Mikrofaser-Schwarz Spuren von Magnesium klebten. Jan senkte das Kinn bis zur Brust, zog den Stoff am Saum in die Länge und rubbelte mit dem Daumen über die wolkigen Flecken. Hinter ihm auf dem Bildschirm flogen Tennisbälle mit einhundertachtzig Stundenkilometern über ein Netz.

»Aus der Boulderhalle«, korrigierte er, das Rubbeln aufgebend. »Ohne Sicherung, mit Matten. Erinnerst du dich? Wir haben das an deinem Geburtstag mal gemacht. Ich glaube, da warst du zwölf.« Er legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. »Vor zehn Jahren.«

»Fast. Jedenfalls ist es eine Ewigkeit her.«

»Ewigkeiten relativieren sich mit dem Alter.« Er musterte sie abermals lächelnd, die Arme mit den vom Klettern geweiteten Adern und Sehnen locker vor der Brust verschränkt. »Möchtest du etwas trinken?«

»Kann ich hierbleiben?«

Der Schuss traf ihn unvorbereitet. »Was? Äh, ja. Ja, klar!« Er sah sich etwas ratlos um, wie wenn er überlegte, ob er jetzt sofort das Sofa ausziehen sollte. Dann drehte er nochmals den Kopf zu ihr, die Frage von eben auf den Lippen: Was hat dich hierhergebracht?

Lara kam ihm hastig zuvor. Vertrauen, hätte sie antworten können, aber das klang albern nach jahrelanger Entfremdung. Oder: Ich musste weg und ich wusste nicht, wohin. Stattdessen sagte sie nur: »Ich hatte nicht vor, dich so zu überfallen. Also wenn es dir nicht passt oder du was vorhast, suche ich mir eine andere Bleibe. Die Jugendherberge in Stockholm soll cool sein.«

»Ich kann absagen, kein Problem.«

»Nicht meinetwegen Ich tauche einfach so auf …«

»Nein, kein Thema. Das geht schon klar.«

»Deine Freundin?«

»Ja, aber macht nichts, das versteht sie. Sie ist entspannt.« Jan fischte in den Tiefen der Notebook-Tasche nach seinem Telefon und schaltete es an. Das Handy begrüßte ihn mit Happy Birthday.

»Du hast doch im Januar Geburtstag«, bemerkte Lara. »Am 16.«

»Ist mir noch gar nicht aufgefallen.« Er zwinkerte ihr zu und wählte eine Nummer. Immerhin schrieb er nicht nur eine Kurznachricht als Absage, das gefiel Lara.

Jans Stimme veränderte sich. »Åsa, hej! Du, förlåt mig, jag har fått oväntat besök – min ex-exflickväns dotter.«

Ex-exflickväns dotter – die Tochter der Ex-Exfreundin. Jans Worte zeichneten das Abbild von Lara als Vierzehnjähriger, als er und ihre Mutter sich getrennt hatten. Lara versuchte, Jans schwedischer Unterhaltung zu folgen. Auf eine Frage erwiderte er, dass er es nicht wüsste. Entweder bezog er sich darauf, was Lara hier suchte, oder auf die Dauer von ihrem geplanten Aufenthalt in Stockholm. Beides gute Fragen.

Lara sah sich in der Wohnung um. Die Tür zur Küche stand offen; eine angeschnittene Zimtschnecke lag auf der Küchenplatte neben der Spüle. Hinter der Schlafzimmertür herrschte Dunkelheit, draußen noch der helle skandinavische Sommernachtabend.

»Jag ringer dig på måndag.« Montag würde er sie wieder anrufen. Lara war ein bisschen stolz darauf, wie viel sie verstand. Dann lachte Jan tief auf – ein Lachen, das früher Laras Mutter vorbehalten war. Lara fühlte sich wie damals, als sie und Marie spät nachts an der Schlafzimmertür ihrer Mutter gelauscht hatten. Zumindest bis ihr Kichern zu Jan und Marina vorgedrungen war. Da hatte es Ärger gegeben.

Lara schlüpfte aus den Straßenschuhen. Jan hatte unterdessen sein Handy weggelegt. »Gib her!« Er nahm ihr die Schuhe aus den Händen und trug sie den Gang entlang.

»Das kann ich selber machen!«, rief Lara hinter ihm her, während er die Turnschuhe, die nach der langen Reise bestimmt schlimmer muffelten als ein Elch, in seinen Schuhschrank verfrachtete.

»Was, selber aufräumen? Nun, das ist was Neues.« Es dauerte einen Moment, bis Lara kapierte, dass er sie mit der Unordnung ihrer Kindheit aufzog. Vornehm streckte sie ihm die Zunge heraus.

Jan schenkte Lara ein Glas Wasser ein und ließ sich neben ihr auf das Sofa sinken. Dann erinnerte er sich abermals an ihr aktuelles Alter, denn er fragte: »Oder wolltest du Bier? Ich habe nur Lättöl hier. Leichtbier. Oder vielleicht ein Glas Wein?«

»Wasser ist perfekt, danke.«

Er wandte sich ihr zu, einen Arm locker über die Lehne gelegt, ein Bein angewinkelt, das andere ausgestreckt. Im Fernseher begann die Eröffnungssequenz von Sex and the City.

»War sie böse?«

»Wer?«

Lara verdrehte die Augen. »Deine Freundin.«

»Überhaupt nicht. Åsa ist unkompliziert. Sie war auch gar nicht traurig, weil ich abgesagt habe. Sie hat noch Arbeit zu erledigen.«

»Was macht sie?«

»Sie ist Geografin.«

»Ist Åsa ein finnischer Name?«

»Nein. Wie kommst du darauf?«

»Mama sagte mal, du wärest mit einer Finnin zusammen.«

Jan warf einen Blick auf den Fernseher, der weiterhin im Stummmodus lief, und verzog die Mundwinkel, als er sah, welche Folge lief. Lara kannte Sex and the City nicht gut genug, um seine Erheiterung nachzuvollziehen, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, bei der die gesamte Serie auf DVD aufgereiht neben Meyers Universallexikon im Wohnzimmer thronte.

»Wie geht es deiner Schwester?«, wechselte Jan das Thema.

»Marie ist in Oxford. Sie hat dort einen Studienplatz für Kunstgeschichte ergattert.«

»Ist das wahr?« Wenn er sich richtig entsann, hatte Marie in der Schule nie viel Enthusiasmus an den Tag gelegt, aber sie hatte immer gerne gezeichnet.

»Ja, voll die Streberin.« Lara umklammerte ihre Knie mit den Händen. »Ich wollte sie besuchen, aber dann … Es gefällt ihr dort ganz gut.«

»Kommt sie mit Englisch zurecht?«

»Marie war in der Elften ein halbes Jahr auf Schüleraustausch in Schottland.«

»Stimmt, da war was. Deine Mutter hatte mir in einer Weihnachtskarte davon erzählt. Ich habe mich noch gewundert; Marie war immer der anhängliche Typ.«

Das war früher, hätte Lara sagen können, als du noch mit uns lebtest. Stattdessen fragte sie: »Schreibt ihr euch immer noch? Du und Mama?«

»Das haben wir vor zwei Jahren aufgegeben. Was ist mit dir? Mein letzter Stand war, du wolltest Medizin studieren? Wie weit bist du?«

Laras Schultern unter ihrem blassblauen Shirt zuckten in übertriebener Gleichgültigkeit, wie er fand. Sie schwieg.

Jan hakte nach: »Du bist doch noch in Erlangen, oder?«

»War.«

»Das heißt?«

»Ich habe das Studium geschmissen.«

»Wieso das denn?«

Lara sah am Fernseher vorbei aus dem Fenster, wo ein paar Schleierwolken Dunst in den Himmel malten. Zuhause würde jetzt die Sonne untergehen, doch in Stockholm schien die Nacht weit entfernt.

»Vielleicht wechsele ich die Uni oder gehe ins Ausland. Vielleicht studiere ich auch gar nicht. Keine Ahnung.«

Jan öffnete den Mund, um zu fragen, was sie denn dann bitte zu machen gedachte, und schloss ihn wieder. Als ob er ihr Leben in drei Fragen erfassen und Lara vorrechnen könnte, was sie besser tun und lassen sollte. In diesem Moment gönnte er sich die Erleichterung, nicht Laras Vater zu sein, das Thema Studium und Karriere auf sich beruhen zu lassen, davon auszugehen, dass Lara schon ein Konzept ihres Lebens im Hinterkopf hatte, das sich wie ein Phönix aus der Asche erheben würde, sobald sie erst drei Monate älter wurde. Da saß kein Kind vor ihm und schon gar nicht seines.

Er musterte ihr Profil. Er hatte eben zwei Sekunden gebraucht, bis er die älteste Tochter seiner Exfreundin in der jungen Frau an der Tür erkannte. Wie viel schmaler Lara gewesen war, als er sie zuletzt gesehen hatte, die werdende Frau mehr Ahnung denn Wirklichkeit. Das war im Sommer nach seiner und Marinas Trennung gewesen, ein Besuch, der so unbehaglich verlief, wie es zu erwarten gewesen war. Unbehaglich für ihn, weil er plötzlich ein Fremder war in einer Familie, die einst – beinahe – seine gewesen war.

Danach hatte Marina ihren Weihnachtskarten noch eine Zeitlang Fotos von Lara und Marie beigelegt, oder die beiden Mädchen hatten Jan selbst geschrieben und Schnappschüsse in ihre Briefe geklebt: beim Hineinbeißen in einen Granatsplitter, beim Faschingsumzug, zwei Kusshände werfende, auf Kleopatra geschminkte Gesichter mit schwarzen Perücken, in denen Glitzer tobte. Irgendwann hatte auch das geendet: Abonnement gekündigt; die Leben trennten sich endgültig. Jan machte ihnen deshalb keinen Vorwurf; er hatte sich genauso verhalten. Er war Geologe, er wusste, wie es lief: Die Zeit erodierte früher oder später jedes Gebirge und Expartner schneller als alles andere. Gestern der Fels in der Brandung, morgen der Sand im Getriebe.

»Wie geht es deiner Mutter?«

Lara stand auf und trat ans Fenster. »Ihre Heilpraxis läuft gut; die letzten drei Jahre hat sie Vollzeit gearbeitet. Manche Kunden fahren über fünfzig Kilometer, nur um sich von Mama irgendwelche Tees abzuholen. Warme-Füße-Tee oder Ich-werde-feucht-Tee, du weißt schon. Sie und Papa haben wieder geheiratet.«

»Ist nicht wahr!«

Von Jans Fenster aus sah Lara das Wasser. Ein paar vereinzelte Segelboote kreuzten in lauer Brise, die Segel blütenweiß vor dem Blau des Meers. Oder des Sees? Lara musste nachdenken, ihre Ausflüge nach Stockholm lagen lange zurück. Blickte sie auf die Ostsee oder auf Mälaren, das Süßwassergewässer, das Stockholms westliche Hälfte prägte? Die Wellen auf dem Wasser verrieten nichts. Doch, es musste sich um die Meerseite Stockholms handeln, entschied sie, denn die Altstadt lag zu ihrer Linken.

»Glaub es nur, Jan, es ist wahr. Mama und Papa haben vor eineinhalb Jahren wieder geheiratet.«

Jan rechnete zurück und stellte fest, dass er um diese Zeit die letzte Weihnachtskarte von Marina erhalten hatte. Damals hatte er selbst vorgehabt, vielleicht, doch, wahrscheinlich zu heiraten. Er hatte ebenfalls nicht mehr geschrieben.

»Diesmal ohne schwangeren Ausflug nach Las Vegas, dafür mit Ehevertrag«, schob Lara nach, weil Jan nichts sagte und sie die Stille nicht ertrug.

Er lachte. »Nimm das als Beispiel für die Entwicklungsgeschichte romantischer Beziehungen.«

Sie hatte eine andere Reaktion erwartet. Nicht unbedingt Entsetzen, aber milde Überraschung angesichts Marinas zweiter Heirat mit Paul schien Lara zu wenig. Da war Jans Staunen, sie vor seiner Tür vorzufinden, größer gewesen.

Lara und Marie hatten anders reagiert, als sie erfuhren, dass ihre Eltern erneut heiraten wollten. Auf einen Moment des Versteinerns war zu laute Freude gefolgt. Aber wie hätten sie ihre Reaktionen messen sollen, wo niemand in ihrem Umfeld Eltern vorzuweisen hatte, die heirateten, sich trennten und dann wieder heirateten – Vergleichsgrößen, an denen Lara hätte ablesen können, ob sie und Marie normal waren.

Unterhalb von Jans Wohnung schlenderte eine Gruppe deutscher Touristen vorbei. Das Fenster war nur gekippt, weshalb ihre Beschwerden über die Innenstadtmaut Stockholms bis an Laras Ohren trugen.

Jan verschwand in der Küche und kehrte wenige Minuten später mit Käse, Trauben und Crackern zurück. Lara stand noch immer am Fenster. Ihre Jeans, hatte er den Eindruck, hing ein wenig lose an ihrer Gestalt.

»Sie ist schwanger«, sagte Lara.

»Wer ist schwanger? Marie?«

»Mama.«

Jan entglitt eine Traube, die auf halbem Weg zum Mund gewesen war. Der Ausreißer fiel zu Boden und rollte unter die Couch. Lara verzog die Mundwinkel, als sie Jans leises »Fan!« hörte, der vertraute schwedische Fluch, von dem er früher immer behauptet hatte, er bedeute das Gleiche wie Mist. Sie und Marie hatten es geglaubt und jeden Kompost der Nachbarschaft mit »Fan-Haufen« betitelt, bis sie älter wurden und nicht länger »Ich liebe dich« in verschiedenen Sprachen herunterleiern konnten, sondern »Fuck«.

Unterdessen rechnete Jan zurück. Marina war ein Jahr älter als er, also dreiundvierzig. Er hatte immer gedacht, sie wollte keine weiteren Kinder.

Der Trupp deutscher Touristen verschwand um eine Ecke. Lara lauschte, wie Jan nach der verlorenen Traube tastete und dabei mit dem Kopf gegen den Couchtisch stieß.

»Papa behauptet, Mamas biologisches Alter sei viel geringer als was in ihrem Pass steht.«

»Ach ja?« Jans Stimme klang etwas gedämpft. »Wollte sie das Kind? Ich meine, war es geplant?«

»Das habe ich sie nicht gefragt.«

Jan kam wieder hoch, die Traube triumphierend zwischen Daumen und Zeigefinger. Lara stützte sich auf den Heizkörper unter dem Fenster. Ihre Stirn berührte das Glas.

Jan warf einen Blick auf Sarah Jessica Parker im Fernseher, die Mr. Big dabei zusah, wie er im Auto davonfuhr, und widmete sich dann wieder Laras Anblick am Fenster. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, die Schultern hochgezogen. Aus irgendeinem Grund erinnerte ihn der Anblick an die Nachrichtensprecherin von eben. Da war etwas Fremdes an ihr, fand er, Lara nicht länger die kleine Beinahe-Tochter von einst.

»Wann ist der Geburtstermin?«

»In zwei Wochen.«

»Deine Mutter bekommt in zwei Wochen ihr drittes Kind, nach neunzehn Jahren, und du setzt dich nach Schweden ab?«

»Ich bin sicher, sie schafft das ohne mich.« Lara hörte selbst, wie flach ihre Stimme klang.

»Das wohl schon, aber willst du nicht dabei sein? Ich meine, immerhin ist das dein –« Jan unterbrach sich. »Was wird es überhaupt?«

»Ein Mädchen.« Laras Kopf ruckte zur Seite, sodass Jan nur ihren Hinterkopf sah. Ihr Pferdeschwanz pendelte im Echo der Bewegung.

»Papa hat’s nicht so mit den Y-Spermien«, sagte sie immer noch gepresst, doch lauter als zuvor, und die Scheibe beschlug sich im Zwiegespräch mit ihrem Atem. »Die Spermientricks der Männer. Wie funktioniert das noch mal? Weibliche Spermien überleben länger? Das heißt, ein paar Tage vor dem Eisprung und die Chance auf ein Mädchen steigt?«

Das war nicht die Sorte Unterhaltung, mit der sich ihre Wege damals getrennt hatten. Was sieben Jahre ausmachten, um vom Kind zum Erwachsenen zu gleiten. Dagegen hatten dieselbe Zeitspanne in Jans Leben entwicklungstechnisches Ödland gebracht. Mit Kindern werde es nie langweilig, hatte Marina ihm am Beginn ihrer Beziehung gewarnt. In diesem Moment verstand Jan die Wahrheit jenes verlorenen Versprechens.

Er verteilte Käse auf die Salzcracker und garnierte alle mit einer Traube. Dann erinnerte er sich an den Lachs im Kühlschrank, den Lara als Kind zwar nicht gemocht hatte, doch er wollte nicht ausschließen, dass sich sogar das geändert hatte.

»Wie denkt deine Schwester darüber, dass sie nicht länger das Nesthäkchen ist?«, fragte er aus der Küche, während er die Lachsverpackung aufschlitzte und den angebissenen Teil der Zimtschnecke mit demselben Messer abschnitt.

»Weil es ein Mädchen ist?«

»Was hat das mit dem Geschlecht zu tun?«

Eine gute Frage und so schwedisch in ihrer Gleichberechtigung. Lara kreuzte die Arme vor dem Körper und spannte die Muskeln, bis sie fest gegen die Rippen drückten. Sie blieb still. Still, wie es die Telefonleitung geblieben war, als sie und ihre Mutter gemeinsam Marie die Botschaft überbracht hatten: »Du wirst die große Schwester von einem Mädchen, Marie.« Die Leere auf der anderen Seite des Freizeichens, Verbindung abgebrochen. Ihre Mutter hatte auf marode britische Telefonleitungen geschimpft, aber Lara wusste es besser. Sie wusste, weshalb Maries Schweigen einen anderen Grund als eine gekappte Verbindung hatte. Marie hatte sich einen Bruder gewünscht.

»Es ist schön, dass Marina und dein Vater wieder glücklich sind«, sagte Jan. »Im zweiten Anlauf.«

Lara löste sich vom Fenster. Sie griff sich einen Cracker plus die restliche Zimtschnecke und versank mit beidem in den Sofakissen. »Du meinst das ehrlich, nicht wahr, Jan?«

»Weil sie meine Ex ist?« Er schnaubte. »Wir haben uns nicht im Stellungskrieg getrennt, das weißt du. Da gab es nicht einmal eine Schlacht.«

»Ja, ich glaube, ich weiß es.« Crackerstückchen bröselten auf die Couch, als sie abbiss. Lara versuchte, sie aufzufangen, trotzdem verteilte sich die Hälfte auf ihrer Kleidung und dem Sofabezug. Eilig kehrte sie die Krümel mit den Fingern zusammen.

Sex and the City endete. Es folgte Werbung, deren Darsteller bei abgestelltem Ton wie Fische wirkten, die ihre Münder bewegten. Jan beugte sich an Lara vorbei, um seine Hand unter die Kissen in ihrem Rücken zu schieben. Sein Oberkörper verdeckte den Blick auf Fernseher und Fenster, seine plötzliche Nähe eine Flut, an der tausend Tage Kindheit klebten. Jan fand die Fernbedienung zwischen den Kissen und richtete sich wieder auf, seinen vertrauten Duft mit sich nehmend. Benutzte er in Schweden dasselbe Waschmittel wie ihre Mutter vor Jahren in Deutschland? Und selbst wenn, weshalb roch ihr Vater dann nicht ebenso? Lara überlegte, ob sie Jan danach fragen sollte.

Es klackte, als der Fernseher erstarb. Jan fragte, ob sie mit dem Flugzeug gekommen sei. Doch Lara hatte Interrail genutzt. Eine schlaflose Nacht lang hatte sie im Zug gesessen und war in Malmö beim Dösen auf einer Parkbank von Touristen für eine Obdachlose gehalten worden.

»Was hättest du gemacht, wenn ich nicht hier gewesen wäre?«

»Unter den Brücken von Slussen geschlafen.«

Slussen und die Hafenanlagen in Hamburg standen für die Horrororte aus Laras Kindheit. Dreimal waren sie mit Jan in den Sommerferien nach Schweden gefahren. Einmal hatten sie die Strecke von Nürnberg in den Norden nachts zurückgelegt. Lara, die nicht schlafen konnte, hatte durch die Fenster des Kombis die gewaltigen Stahlmonster der Elbstadt betrachtet, Lindwürmer mit scharfen Kanten und Krallen, behaftet mit kalten Lichteraugen – eine Szenerie, die sie ihr ganzes Leben lang mit der Düsternis und dem drohenden Weltuntergang eines Blade Runners vergleichen würde. Im Elbtunnel war Laras geflüsterte Frage, wann sie denn endlich die andere Seite erreichen würden, im von den Wänden widerhallenden Lärm der Fahrzeuge untergegangen. Ihr Flüstern hatte von der Angst gezeugt, ein zu lautes Wort würde den Stein und Beton um sie zum Einsturz bringen, der Elbe die Tore öffnen, bis sich das Wasser von oben auf sie stürzte, ein tosender Strudel aus Gischt und Finsternis. Dann tauchte das Auto aus dem Elbtunnel wieder auf, Marie schnarchte in ihrem Sitz und vor ihr langte ihre Mutter hinüber, um Jan den Nacken zu massieren. Lara atmete auf und vergaß ihre Monster – bis sie fünf Tage später in Stockholm bei Slussen ihre Familie verlor.

Slussen, der zentrale Knotenpunkt in Stockholms Innenstadt, wo Meer und See aufeinandertrafen, ein Gewirr aus halbdunklen Gängen und U-Bahntunneln. Eingehüllt in das Brausen von Autos, Motorrädern und eine Sprache, derer sie nur ein wenig Nachmittags-zum-Spaß fähig war, irrte Lara die Unendlichkeit einer Zehnjährigen in diesem zwischen zwei Gewässern eingequetschten Labyrinth umher. Erneut war die Angst vor überfluteten Tunneln über sie hereingebrochen. Was würde mit ihr geschehen, wenn die Schleusen brachen und sich der See ins Meer ergoss oder umgekehrt? In Panik war Lara losgerannt. Eine Spritze war unter ihren Füßen zerbrochen, das hatte sie etwas beruhigt, denn wo Ärzte waren, konnte es nicht allzu schlimm sein, oder? Voller Zorn auf ihre Mutter, Jan und Marie, die nicht auf sie gewartet hatten, hatte Lara Rotz und Tränen über ihre Ärmel verteilt, bis Jan sie endlich fest an der Hüfte ergriffen und begleitet vom Hupen eines Autos in den Schutz seiner Arme gezogen hatte.

Das nächste Mal, als sie sich durch Slussen zur U-Bahn bewegten, hatte sich Lara von Jan huckepack tragen lassen. Sie hatten beide so getan, als wäre es ein Spiel von Ross und Reiter und nicht dieses schrecklichste Schaukelpferd kindlicher Apokalypse: Verlorenheit.

Jan und Lara prosteten sich zu, während sie die Geschichte rekapitulierten. Lara überlegte, vielleicht war sie deswegen nach Stockholm, zu Jan, gefahren: Erinnerungen an unkomplizierte Zeiten, in denen eine Umarmung Monster noch besiegte.

Lara legte einen Ellenbogen auf die Rückenlehne der Couch und stützte ihren Kopf gegen die Faust, während sie auf Jans Frage, was sie gemacht hätte, wäre er nicht zuhause gewesen, zurückkam. »Ich habe aus Malmö in deinem Institut angerufen. Du warst in einer Vorlesung, daher wusste ich, dass du in der Stadt bist. Sonst wäre ich in Malmö geblieben. Eine Schulfreundin studiert dort.« Lara unterdrückte ein Gähnen.

»Bist du müde?«

»Ich habe in letzter Zeit nicht so viel geschlafen.«

Jan gab ihr einen Klaps auf den Oberschenkel und richtete sich auf. »Lass mich die Couch ausziehen, dann kannst du schlafen. Bleibst du über das Wochenende?«

»Wenn es dir recht ist?«

»Natürlich! Ich würde mich freuen. Wir könnten morgen in die Schären rausfahren. Wie klingt das?«

»Fantastisch!«

»Na dann machen wir dir mal ein Bett, Kleines!«

Lara wachte mitten in der Nacht auf. Sie war von einer Sekunde zur anderen hellwach, ohne dass sie ein bestimmtes Geräusch aus dem Schlaf gerissen hätte. Blaulicht rauschte unter Jans Wohnzimmer vorbei, warf wabernde Lichtspiele an die Wohnzimmerdecke. Die Luft im Zimmer war stickig. Lara stand auf und kippte das Fenster. Ein zweites Blaulicht näherte sich, Polizei. Sie sah dem Fahrzeug nach, wie es dem Straßenverlauf folgte und außer Sicht verschwand. Der Baum vor Jans Gebäude bewegte sich im Wind. Sein Rauschen klang in der Stille der schlafenden Stadt wie ein Ozean. Lara machte sich in der Küche auf die Suche nach einem Glas. Jans Schlafzimmertür war geschlossen, daher knipste sie das Licht an.

Die Spüle war aufgeräumt, eine Topfpflanze mit Petersilie stand neben dem Fenster, ein weiterer Topf mit Thymian auf einem Regal. Ein englischer Thriller lag auf dem Küchentisch, daneben eine ausgelesene Zeitung. Lara angelte sich ein Glas aus dem Schrank; Wasserflecken zierten seinen Rand. Aus einer Laune heraus streckte sie sich, um die Weingläser weiter oben im Küchenschrank zu begutachten. Alle trugen sie Wasserflecken. Lara lächelte ihr dunkles Spiegelbild im Küchenfenster an. Ihre Mutter hasste Wasserflecken; Jan dagegen hatte die Gläser immer lufttrocknen lassen. Einmal hatten er und Laras Mutter sogar deswegen gestritten. Lara war damals zwölf und selbstverständlich auf Jans Seite gewesen, ebenso Marie. Wen kümmerten schon ein paar Flecken, das Glas war doch sauber!

Einige Jahre später hatten beide Mädchen ihre Einstellung zu Flecken geändert. Lara, weil sie die Dinge schön haben wollte, und Marie … Marie hatte begonnen, Licht zu meiden, schwarz zu tragen und davon zu reden, dass Laras Haut so viel glatter und reiner sei als ihre.

Zurück im Wohnzimmer sank Lara im Schneidersitz auf das improvisierte Bett, zog ihren Tagesrucksack an sich und kramte nach dem Handy. Sie schaltete den Flugmodus aus und bedeckte es mit dem Kissen, während ihre Nachrichten luden. Erst als Stille herrschte, befreite Lara das Telefon von seinem Schalldämpfer. Das Display verwies auf zwei SMS sowie zwei entgangene Anrufe ihrer Mutter. Von Marie: nichts.

Lara legte ihren Rucksack beiseite, ging in die Küche und machte das Licht aus. Zurück unter ihrer Decke drückte sie den Ausschaltknopf des Handys. Das Gerät schaltete sich ab. Sie hatte keine einzige Nachricht gelesen.

Lara hatte den Platz am Bug der Fähre ergattert, dort, wo die Reling einen spitzen Winkel bildete und unter ihr der Kiel das Wasser schäumend teilte. Ein paar Kinder hingen wie Meerkatzen an den Streben neben ihr, von Zeit zu Zeit stieß ein Ellbogen oder Knie gegen Laras Hüfte. Sie lauschte dem Geschnatter und spürte vagen Triumph, wann immer sie einen vollen Satz verstand. Jan hatte früher, nachdem Marina in ihren Schränken Platz für seine Sachen geschaffen hatte, jeden Tag mit Lara und Marie ein wenig Schwedisch gesprochen. Einen Satz beim Frühstück hier, die Zeile eines Lieds dort, eine Gute-Nacht-Geschichte im Urlaub. Ja, nej, tack, god morgon, mjölk, vatten, bröd med ost och skinka. Det var inte jag! Das war ich nicht! Und das wichtigste, das Zauberwort: Schau!

»Titta!« Wie ein Echo erklang das Wort aus rauchiger Frauenkehle in Laras Rücken. Lara wandte sich um und beobachtete, wie die Augen zweier in oberschenkelkurze Röcke gekleideten Mütter Jan einem Screening unterzogen, sich unbemerkt glaubten hinter ihren Sonnenbrillen, die jedoch an den Seiten einen verräterischen Spalt freiließen. Jans Sonnenbrille saß quer über seinem Scheitel. Drei Zentimeter langes, von Silber durchzogenes schwarzes Haar umspielte die Gläser, in denen sich der Himmel spiegelte und deren Ränder die ausgeprägte Linie seiner Wangenknochen betonten.

Sie würde Marie davon erzählen müssen, überlegte Lara. Marie war die Künstlerin, die in allem mehr sah als andere. Die Geschichten zu erzählen wusste von Einhörnern, Drachen und Fischen in den Wolken, wundersame Geschichten, die sie vielleicht einmal ihrer neuen Schwester erzählen würde, der Unerwarteten. Ja, grübelte Lara, bestimmt würde Marie das tun. Womöglich würde sie die Sagenwesen und Wolkenhelden vom Himmel auf Papier bannen, damit die Kleine sie besser erkennen konnte. Sie würde eine Märchenschwester für die kleine Schwester sein. Lara hingegeben bliebe dann nur die Rolle der vernünftigen Schwester – ebenfalls eine Art von Verdammnis.

Wo kommt der denn her?, fragte eine der beiden Mütter. Die andere stieß sie warnend mit dem Ellbogen an, da Lara direkt neben ihnen stand und Jan sich an den übrigen Fahrgästen vorbei in Hörweite manövrierte.

»Bitteschön! Eiskonfekt hatten sie leider nicht.« Jan reichte Lara eine Eistüte, irgendetwas mit Nuss laut Verpackung. Beim Klang der deutschen Sprache starrten die Kinder der beiden Frauen ihn an.

»Så synt!« Schade, seufzte die eine Mutter ins Ohr ihrer Freundin, die mit den Achseln zuckte und den Kopf in den Nacken legte, um die Sonne über die Unterseite ihres Kinns streichen zu lassen. Sie zuckte nicht einmal, als eines der Kinder auf ihren Fuß trampelte.

»Von welchem Stamm war deine Großmutter nochmals?«, erkundigte sich Lara, während sie das Eis auspackte. Dabei kannte sie die Antwort.

»Algonquin. Sie ist in Quebec geboren.« Jan war zu drei Vierteln schwedischer Abstammung und zu einem Viertel Indianer. Sein Großvater hatte sich als Auswanderer in Kanada niedergelassen, eine Algonquin-Frau geschwängert, die bei der Geburt des gemeinsamen Kindes gestorben war. Daraufhin hatte sich der Großvater schnellstmöglich eine neue schwedischstämmige Braut organisiert, worüber in Jans Familie die Geschichte kursierte, dass er sie auf eine Zeitungsanzeige hin aus einem amerikanischen Kaff nach Kanada importiert hatte. Ein Jahr später war er mit ihr, dem gemeinsamen sowie dem unehelichen Sohn – welcher nach Ansicht der Familie seiner indianischen Mutter erfreulicherweise nicht allzu ähnlich sah – zurück nach Schweden gezogen. Dort hatte ihm sein Onkel einen Job bei Volvo verpasst, womit sich eine bis dahin aufregende Wildwestgeschichte im gesellschaftlichen Durchschnitt verlor. Der Rest von Jans Familiengeschichte gestaltete sich eher gewöhnlich: Eine blauäugige Schwedin, ein Schwede mit nachtschwarzer Iris und Bronzeton zeugten ein Kind. Die blauen Augen pflanzten sich fort, andere Merkmale purzelten weiter fröhlich durcheinander. Insofern war Jan ein Ergebnis aus dem Lehrbuch für Genetik mit schwarzen Haaren, hohen Wangenknochen auf leicht getönter Haut, Augen von der Farbe der klaren Gewässer Skandinaviens und mit dem Drang, festen Wänden immer wieder zu entkommen. Mendel, dachte Lara, wäre zufrieden mit dieser Erbse gewesen.

»Mama ist mit Keanu Reeves zusammen«, hatte Marie ihren Schulfreundinnen gegenüber behauptet, eine Woche nachdem ›Speed‹ im Fernsehen gelaufen war. Von ihrer älteren Schwester hatte ihr das einen Schubs eingetragen.

»Keanu Reeves sieht ganz anders aus«, hatte Lara getönt, die sich dank des Altersvorsprungs mit Männern einschlägig auskannte. »Er hat dunkle Augen, nicht blaue, außerdem ist er alt.«

»Was hat Papa eigentlich für Augen?«, hatte Marie gefragt. Nach einigen Diskussionen hatten die beiden Schwestern die Frage aufgegeben. Es war erstaunlich schwer, sich an die Feinheiten seiner Erscheinung zu erinnern, solange ihr Vater in China lebte und sie ihn nur zweimal im Jahr für wenige Wochen sahen.

Das Motorengeräusch veränderte sich, während das Boot beidrehte und mit dem Heck voran eine Pier ansteuerte. Das Wendemanöver rückte das Markenzeichen der kleinen Stadt in Laras Blickfeld: eine wuchtige Inselfestung, der die Poesie von Ruinen fehlte. Rund die Hälfte der Ausflügler packten Rucksäcke zusammen, steckten Kinder in Buggys und drängten schwatzend die Gangway hinunter an Land.

»Vaxholm«, erklärte Jan. »Wir bleiben bis Grinda an Bord.«

Lara fing mit der Zungenspitze ein herabtropfendes Stück Vanilleeis auf. Sie hatte den Eindruck, dass die beiden Mütter, die mit ihrem lebhaften Nachwuchs ebenfalls an Bord blieben, sie beobachteten. Doch da sie ihre Gesichter Lara jetzt direkt zuwandten, konnte sie ihre Augen hinter den getönten Brillengläsern nicht länger erkennen.

»Wenn du es einsamer bevorzugst, können wir auch weiter hinausfahren«, fuhr Jan fort. Laras Zunge formte das Eis unterdessen genüsslich zu einem spitzen Turm. »Grinda ist für Stockholmer das, was für Deutsche der Baggersee ist, also ziemlich überlaufen. Skärgården mag über zwanzigtausend Inseln haben, aber der Stockholmer tummelt sich bevorzugt mit allen anderen auf einer einzigen.«

Die Fähre legte ab. Sie fuhren weiter zwischen den Schären hindurch, vorbei an Häusern, deren einstiger rustikaler Holzhüttencharme frischgestrichenen Villen gewichen war. Eingebettet in eine Landschaft aus glitzerblauem Wasser, im Wind grünschillernden Bäumen und malerisch platzierten Felsen, erweckten sie den Eindruck, als hätte sich Gott an Photoshop ausgetobt.

Sie erreichten Grinda am fortgeschrittenen Vormittag. Lara wollte sich sofort an die Fersen der mit Körben, Bastmatten und Badetüchern behängten vielbeinigen Echse heften, die sich vom Bootssteg entlang durch den Wald schlängelte, doch Jan hielt sie zurück. »Die andere Seite der Insel ist ruhiger.«

Er führte sie auf einem schmaleren Weg nach rechts fort vom sommerlichen Pilgerstrom. Eine Familie mit drei Kindern und einem Dackel sowie zwei Pärchen folgten ihnen.

Sie schlugen ihr Lager bei zwei flachen Felsen auf. Eine Fichte spendete spärlichen Schatten. Schwimmer, Segelboote, Motorboote, Fähren und Kajaks bevölkerten die Wasserstraße zwischen den Inseln, durch die der Schiffsverkehr an Grinda vorbeizog. Wellen brachen sich von Zeit zu Zeit am Ufer im Nachklang größerer vorbeirauschender Boote.

Lara atmete tief ein. »Fühlt sich wie Ferien an«, murmelte sie.

Jan fand, sie klang überrascht. Er wusste immer noch nicht, was Lara eigentlich vor seine Tür geweht hatte. Männerprobleme? Studiumskrise? Jedenfalls sah sie so aus, als könnte sie Ferien gebrauchen. Wenn sie sich unbeobachtet wähnte, stahl sich eine gedankenverhangene Erschöpfung in ihre Züge und zeichnete sie älter – zumindest bis sie lachte und sich zwei Grübchen neben ihren Mundwinkeln formten.

Nun, vielleicht konnte er zumindest das für sie tun. Er hatte die Mädchen immer gerne zum Lachen gebracht. Sie hatten so hemmungslos gelacht.

Jan zog sein T-Shirt über den Kopf, löste die Klettverschlüsse seiner Sandalen und hüpfte zur Seite, da er prompt auf Nadeln trat. Unter der wadenlangen Hose trug er bereits seine Badehose. »Kommst du mit?«, fragte er, in Richtung Ostsee gestikulierend, die selbst hier draußen nicht die Bezeichnung ›Meer‹ verdiente.

»Ich komme gleich nach.« Lara genierte sich, vor Jan Top und Jeans ausziehen, daher wartete sie, bis er ihr den Rücken zuwandte und über die Felsen zum Wasser tänzelte. Er hatte nach wie vor den Körper eines Kletterers, stellte sie fest.

Im Alter von zwölf Jahren hatte Lara erstmals der Gedanke durchblitzt, dass Jan und ihre Mutter ein schönes Paar waren. Die Erkenntnis hatte bei einem Elternabend zugeschlagen, als sie die Eltern ihrer Mitschülerinnen mit ihrer Mutter und Jan verglich. Die schwarzen Haare und leuchtend blauen Augen, diese Ein-Viertel-Indianer-Exotik mit einem Hauch fremdländischen Akzent, ließ die Lehrerinnen die Köpfe zusammenstecken. Laras Klassenleiterin hatte gefragt, ob der Lebensabschnittsgefährte – mit Betonung auf dem mittleren Wort, was Laras Misstrauen erweckt hatte –, ob der Lebensabschnittsgefährte ihrer Mutter aus dem Elsass käme; die Direktorin wollte wissen, welche Sprache sie daheim sprächen.

Zur selben Zeit hatten Laras Schulfreundinnen zu kichern begonnen, wann immer Jan sie mit ein paar locker hingeworfenen Worten unterhielt oder in voller Exkursionsmontur mit dem Geologenhammer an der Seite zur Tür hereinspazierte und Laras Mutter im Vorbeigehen einen Kuss gab. Einmal hatte er Marina sogar in den Nacken gebissen, während diese vor der Spüle kauerte, den Arm tief in das hinterste Küchenfach versenkt. Marina hatte halbherzig nach seiner Wade geschlagen, doch Lara erinnerte sich vor allem an Jans Raubtiergrinsen, mit dem er Laras Freundinnen über Marinas Hintern hinweg zugezwinkert hatte.

Er war jetzt zweiundvierzig, rechnete Lara nach. Und womöglich attraktiver denn je, falls sie das richtig beurteilte.

Jan kraulte bereits fünfzig Meter vom Ufer entfernt, bis Lara vorsichtig einen Zeh ins Wasser streckte. »Jetzt sei kein Frosch!«, hallte es herüber. Ein Stück links von ihr platschte es, als der Dackel ihrer Felsnachbarn ins Wasser sprang. Ihre ersten Armzüge erinnerten Lara an ihre Oma: steif hochgereckter Hals, kurze abgehackte Bewegungen, hörbares Schnaufen, bis sich ihr Körper der niedrigeren Wassertemperatur ergab. Sie tauchte bis zum Scheitel unter. Der Dackel bellte wie verrückt einen Wasservogel an.

»Na, wie ist es?« Jans Kopf tauchte neben ihr aus der Tiefe.

Lara leckte sich die Lippen, schmeckte fades Salz. »Kein Baggersee.« Sie drehte eine Seehundrolle im Wasser. Jans tretende Füße waren verschwommene Schemen schräg unter ihr.

»Waren wir als Kinder auch mal hier?«

»Erinnerst du dich nicht mehr?«

Laras Kopfschütteln ließ Wasser in ihr Gesicht schwappen. Sie wischte sich über die Augen und war froh, dass sie keine Wimperntusche aufgelegt hatte, nur einen Hauch von Kajal, sonst würde sie jetzt aussehen wie eine verheulte Krähe.

»Du müsstest damals acht gewesen sein. Wir haben in Skärgården gezeltet, zehn Tage lang.«

Ein Zupfen in den Tiefen von Laras Langzeitgedächtnisses förderte zwei, drei Bilder hervor. »Das war der Astrid-Lindgren-Sommer, nicht wahr?«

»Ja«, grinste Jan, »die war auch mit dabei.«

Lara drehte sich auf den Rücken. Ein paar Wolkenfetzen trieben über ihr dahin, doch die Sonne gleißte zu stark, um lange in den Himmel zu blicken. Ihre Strahlen glänzten auf Tropfen in Jans Wimpern.

»Das war mein erster langer Urlaub mit euch Kindern«, fuhr Jan fort und drehte sich ebenfalls auf den Rücken. »Drei Wochen am Stück, ohne Möglichkeit, mich zwischendurch zurückzuziehen. Meine Mutter meinte, das würde niemals gutgehen. Aber das hat sie ab der ersten Minute, als ich ihr von Marina erzählte, behauptet.«

»Du hast dich trefflich geschlagen.« Lara steuerte die Felsen an. Jan folgte ihr. Er hätte Lara einen Vortrag halten können, wie nahe er damals daran gewesen war, sie und Marie auf einer Insel auszusetzen. Nach zehn Tagen mit ständigem Geschrei wegen lebensbedrohlicher Spinnennetze, Essensgezicke, Nicht-Einschlafen-Wollen, aufgeschlagener Knie und Dauergezanke war der Ruf der Freiheit manchmal überwältigend geworden. Einfach alles stehen und liegen lassen und sich eine Freundin ohne Kinder suchen. Aber es hatte eben auch andere Momente gegeben, voller … Einheit.

Jetzt, im Nachhinein, wusste Jan, Lara und Marie waren einfache Mädchen gewesen. Die meisten seiner Freunde, die eine Beziehung mit einer alleinerziehenden Mutter anfingen, ernteten zu Beginn deutlich mehr Ablehnung als er damals.

»Haben wir dich abgelehnt? Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern.« Sie kletterten zurück ans Ufer. Jan reichte Lara ein Handtuch.

»Nein, nicht abgelehnt. Aber ihr hättet lieber euren Vater zurückgehabt, das ist doch natürlich. Im Übrigen hat es auch seine Vorteile, eine andere Rolle einzunehmen als die des großen Erziehers.« Jan pumpte die Lungen auf und trommelte sich mit den Fäusten auf die Brust.

Spielerisch schlug Lara mit dem Handtuch nach ihm. »Ich fand es immer beeindruckend, wenn du zornig warst. Richtig zornig, mit Brüllen und allem. Du wärst ein guter echter Vater gewesen.« Den letzten Satz murmelte sie nur noch, die Heiterkeit verebbte. Lara wandte sich ab. Sie und Marie hatten Jan nie als Vater betrachtet. Sie wusste nur nicht, ob sie traurig darüber sein sollte oder erleichtert.

»Interessant, dass du das am Brüllen festmachst.« Jan wuschelte sich durch die Haare, bis Tropfen spritzten. Die Feuchtigkeit gab seinen silberdurchwirkten Haaren für einen Augenblick ihre Jungenhaftigkeit zurück. Lara hätte gerne gewusst, welche Vermutungen die beiden Mütter von eben über sie angestellt hatten. Vater und Tochter waren sie ja eindeutig nicht. Ob sie über den Altersunterschied gelästert hatten? – Mit Sicherheit.

»Wieso hast du eigentlich keine Kinder?«, fragte sie und wunderte sich ein bisschen über ihre Forschheit. »Was war mit dieser Finnin, von der Mama erzählt hat? Das klang schon recht nach Hochzeit und allem Drum und Dran.«

»Wir haben es Anfang letzten Jahres beendet.«

»Aber wolltet ihr heiraten?«

»Das war mein Plan mit 40.«

»Warum habt ihr es nicht getan?«

»Wir hatten einfach unterschiedliche Lebensvorstellungen.« Er ließ sich auf sein Handtuch fallen.

»Ist das nicht ein bisschen abgedroschen? Ich habe dich für romantischer gehalten.«

Jan schaute sie lange an. Es war ein neuer, anderer Blick als zuvor, intensiver und von dunklerem Blau. Als ob er sie plötzlich als eine Person wahrnähme, die andere Antworten forderte. Verunsichert senkte Lara die Lider. Stille wechselte zwischen ihnen hin und her. Dann folgte Jan ihr über die Grenze, die sie gerade überschritten hatte.

»Eine Heirat ist ein Versprechen, mit dem anderen zusammen sein zu wollen, und ein Vertrag. Für mich allein brauche ich den nicht, für meine Partnerin, die selbst gut verdient, nicht versorgt werden muss und klar macht, dass sie absolut keine Kinder will, auch nicht. Sie sah das anders.«

Lara kniete sich neben ihn auf sein Handtuch. Sie war sich nicht sicher, ob sie ein Recht auf diese Fragen hatte, aber sie stellte sie trotzdem. »Habt ihr euch deshalb getrennt? Weil sie keine Kinder wollte?«

»Sagen wir, es war der Anfang der Einsicht, dass wir in vielerlei Hinsicht unterschiedliche Pläne, Träume, Vorstellungen von unserem Leben hatten.«

»Weil du Kinder wolltest und sie nicht.«

»Da kam mehr zusammen. Sie wollte ein Projekt annehmen, für das sie ein Jahr nach Südamerika hätte gehen müssen. Für mich machte es keinen Sinn, vor einer so langen Trennung zu heiraten, nur um es zu formalisieren.« Jan beäugte misstrauisch eine Ameise, die sich anschickte, sein Handtuch zu erkunden. »Plus et cetera, et cetera.«

Nähe ohne Nähe, hätte er sagen können, aber er tat es nicht.

»Ich verstehe.«

Jan bezweifelte dies. Im Nachhinein war es leicht, Dinge so zu erklären, dass jeder sie verstand. Sogar er. Damals hatte es für ihn dagegen keine Gewissheiten gegeben, nur Fragezeichen, den Zwang zu Entscheidungen und das Kunststück, sich weder etwas einreden zu lassen noch sich selbst etwas einzureden.

Er schnippte ein Rindenstückchen gegen Laras Wade. »So, jetzt hast du mich genug ausgequetscht. Jetzt bist du dran.«

Lara hatte ihn nach seiner neuen Freundin fragen wollen. Wie hieß sie noch gleich? Åsa. War es etwas Ernstes? Falls Jan überhaupt zwischen Ernstem und Unernstem unterschied, was wusste Lara denn schon über ihn, wie er so tickte als Mann? Dieser Jan, dem sie jetzt gegenübersaß, erschien ihr wie Neuland in einem Ozean an Vertrautem. Abgesehen davon hatte sie überhaupt keine Lust, über sich selbst zu sprechen.

Lara stand auf und begann sich abzutrocknen. Jan ließ sie nicht aus den Augen. »Also Mylady, Zeit für ernste Fragen: Was hat dich nach Stockholm verschlagen? Lauert da ein Skandal?«

»Mein Leben ist nicht so abwechslungsreich wie deins«, lenkte sie ab.

»Deshalb schmeißt du ja auch dein Studium.«

Lara wusste nicht, ob er sie aufzog, aber seine Augen lachten nicht. Sie beugte sich kopfüber nach vorne und legte sich das Handtuch über die Haare. Jans Stimme folgte ihr durch den violetten Stoff hindurch. »Männerprobleme?«

»No man no cry«, murmelte es hinter Laras Frottee, während sie ihre Haare frenetisch trocken rubbelte.

»Ich dachte, du wärst vielleicht als Beziehungsflüchtling nach Schweden gekommen.«

»Als Beziehungsflüchtling?«

»Marina hatte mir mal geschrieben, du hättest einen Freund. Nett, wenn auch ihrer Meinung nach etwas langweilig.«

Verblüfft tauchte Lara wieder hinter ihrem Handtuch auf. »Das hielt drei Jahre. Echt, hat Mama das geschrieben? Dass sie ihn langweilig fand?«

»Wortwörtlich.«

»Zu mir hat sie nur gesagt, sie hätte immer gefunden, dass wir nicht gut zusammenpassen.«

»Und seitdem?«

Sie bückte sich nach dem Rindenstück, das er nach ihr geschnippt hatte, und zerkrümelte es zwischen den Fingern. »Geschichten«, antwortete sie knapp.

Jan musste lachen. »Ich habe Geschichten. Meine Kollegen haben noch mehr Geschichten. Mit Anfang zwanzig Geschichten? Das sind Whatsapps.«

»Und das ist Altersarroganz!« Laras Augen blitzten herausfordernd, während sie ihn mit ihrem Handtuch bewarf. Jan fing es und schmiss es zurück. Doch er verfehlte, abgelenkt von diesem Funkeln in Laras Augen, welches er bei einer Frau, die nicht den Status der Tochter der Ex einnahm, als sehr sexy empfunden hätte.

Jan sprang auf, grapschte nach seinem Shirt und verkündete: »Ich glaube, ich könnte was zu essen vertragen.«

Von Sonne und Baden glücklich ausgelaugt, kehrten sie am Ende des Tages nach Stockholm zurück. Sie aßen bei Jan zu Abend, bis diesem aufging, dass sein Gast im besten Ausgeh-Alter war. So stürzten sie sich um kurz nach zehn ins Stockholmer Samstagabend-Nachtleben. Jan entführte Lara nach Östermalm, das Schickeria-Viertel Stockholms, wo sie zunächst zwanzig Minuten in der obligatorischen »kö«, der Schlange vor dem Eingang des Clubs, ausharrten. Eine Gruppe Studenten wartete vor ihnen, nach Stockholmer Art in den aktuellen Modetrend gekleidet, der die Schaufensterpuppen der großen Kaufhäuser zierte, weshalb sie alle auch recht ähnlich aussahen.

»Das ist es, was ich von Deutschland her vermisse«, flüsterte Jan Lara ins Ohr. »Ein wenig mehr Individualismus.«

Laras Sorge richtete sich dagegen auf die Frage, ob sie mit der Fleecejacke, ihrem unscheinbaren Top und Bootcut geschnittenen Bluejeans überhaupt am Türsteher vorbeikommen würde. Einige Minuten später – sie hatten sich dem Einlass bis auf fünf Meter genähert – entdeckte Jan weiter hinten in der Schlange Bekannte. Er drückte Laras Unterarm und entschuldigte sich für einen Augenblick.

Lara spürte dem Druck seiner abgleitenden Finger nach und nutzte die Gelegenheit, ihren Pferdeschwanz zu öffnen und die Haare auszuschütteln. Mit zwei Haarklammern zwischen den Zähnen und verdeckt vom Schleier ihres eigenen Haars, musterte sie die Schweden in der Gruppe vor sich ungeniert von oben bis unten. Jan hatte recht. Sie sahen alle aus, als hätten sie sich von der gleichen Verkäuferin beraten lassen. In diesem Moment trafen die Studenten aus unerfindlichen Gründen nach fast einer halben Stunde Anstehen den Entschluss, wie ein einziges Wesen aus der Schlange zu treten, und Lara fand sich direkt mit dem Türsteher konfrontiert.

»Personkort!«, verlangte dieser.

Lara zückte ihren Personalausweis. Der Türsteher entriss ihn ihr, studierte Vorder- wie Rückseite, dann schüttelte er gelangweilt den Kopf. »Minimum age twenty-three!« Er winkte das nächste Pärchen zu sich.

Mit brennenden Wangen fiel Lara aus der Schlange. Weiter hinten unterbrach Jan seinen Smalltalk. Lara nickte Jans Freunden einen Gruß zu und kämpfte um ein Lächeln. Ihr Rauswurf war ihr peinlich, deshalb murmelte sie auf Deutsch: »Der Schuppen ist nur für Leute ab dreiundzwanzig.«

»Mist, daran habe ich überhaupt nicht gedacht.« Jan warf Lara einen Blick zu, der sie nicht unbedingt glücklicher machte. Die Leute vor ihnen drehten sich kurz um. Jemand lachte. Die Schlange schob sich einen Meter weiter. Jan ratterte ein paar Worte auf Schwedisch an seine Bekannten herunter. Die Frauen gurrten daraufhin mitleidige Worte, die nicht ernst gemeint klangen. Einer der Männer sagte entschuldigend: »Usually they are more tolerant towards young women.«

Lara behauptete, sie sei eh müde.

»Das kann man nicht ändern.« Jan verabschiedete sich von seinen Bekannten, eine der Frauen küsste er auf die Wange. Während sie sich von der Kneipe entfernten, bot Jan Lara seinen Arm an, den sie ungeschickt nahm. Das Leder seiner Jacke war fest und weich zugleich unter ihren Fingern. Jan folgte nicht der Mode, sondern trug seinen eigenen, relaxten Stil. Lara vermutete, dass ihre Mutter an Jans Geschmack einen nicht unerheblichen Anteil hatte.

»Wahrscheinlich werde ich wegen dir jungem Ding gleich noch von der Polizei angehalten«, lachte Jan.

Lara schwieg; sie fand die ganze Aktion nicht lustig. Aber es war schön, an seinem Arm neben ihm zur U-Bahn und von dort nach Hause zu gehen.

Jan war als Student nach Deutschland gekommen, aus einer Laune und der Faszination für die Alpen heraus. Womöglich hatte es etwas mit einer jungen Münchnerin zu tun, die er einmal auf einem Campingplatz auf den Lofoten getroffen hatte. Sie war seine erste ungeschickte Liebe gewesen. Beim Abschied hatte er ihr seine Adresse gegeben, ebenso die Telefonnummer auf einem separaten Zettel – sicher war sicher! – und einen Troll aus knorrigem Holz zum Erinnern. Sie hatte sich nie mehr gemeldet. Dennoch hinterfragte Jan seine spätere Studienortentscheidung nicht. Seine Eltern wunderten sich ein wenig, »Du hast Deutsch doch gehasst!«, aber immerhin lag Deutschland näher als die USA. Die Wahl seines Studienfachs hingegen folgte keiner Bauchentscheidung: Seit Jan denken konnte, wollte er Geologe werden. Sein Vordiplom hatte er nach vier Semestern in der Tasche, trotz ausgedehntem Partyleben und zweier eher uninspirierter Beziehungen. Damals begann die Zeit, in der er die Alpen für sich entdeckte, das Klettern und Bergsteigen. Sein Steckenpferd wurde die Glazialmorphologie, die von Gletschern geschaffenen Landschaften, die Jan aus seiner Heimat kannte. Plötzlich verbrachte er die Sommerferien wieder in Schweden; später ließ seine Diplomarbeitsbetreuerin einige Kontakte spielen, damit er einen Platz als wissenschaftliche Hilfskraft auf einem Forschungsschiff ergatterte. Im folgenden Sommer betrat Jan die heiligen Planken der Polarstern mit dem Ziel Arktis.

Er war die gesamte Reise über seekrank gewesen.

Geläutert vom Meer und von Schiffen, auf den Lippen den mit Flüchen gespickten Eid, nur noch Berge, Erde oder allenfalls Sand unter seine Sohlen kommen zu lassen, dazu sechs Kilo leichter, zog er von München nach Erlangen, um am dortigen geologischen Institut eine Assistentenstelle anzutreten. Die überschaubare Studentenstadt mit ihrem hohen Bildungsgrad und unprätentiösem Publikum gefiel ihm, das Unterrichten machte ihm Spaß, die Doktorarbeit ging ihm leicht von der Hand. Doch sein Körper schien dauerhaft geschwächt von Seekrankheit und Gewichtsverlust. Jan wurde schnell müde, das Klettern strengte ihn an, außerdem nervte das ständige Rutschen seiner Hosen.

Kurz vor Weihnachten erzählte ihm ein Kollege von einer Cousine, die habe »so eine Fortbildung in Traditioneller Chinesischer Medizin oder so ähnlich« gemacht. Sie hätte Ärztin werden wollen, das Medizinstudium jedoch abgebrochen. Jetzt würde sie etwas Eigenes auf die Beine stellen. Jans Kollege beteuerte, bestimmt wüsste die wunderheilende Cousine irgendein Mittelchen, das Jan wieder mehr Speck auf die Rippen packen und seine Müdigkeit beenden würde. In Jans Ohren klang das nicht allzu vielversprechend, so winkte er ab – bis die Weihnachtsfeier des Instituts im Garten eben dieses Kollegen stattfand, Winter-Grillen unter grauem Himmel und bei matschigen fünf Grad plus.

An diesem Tag lieferte besagte Cousine Salate und Kuchen ab. Wie ultrahübsch sie war, hatte sein Kollege nicht erwähnt, und so vergaß Jan seine Ablehnung gegen chinesische Abendkurs-Quacksalberei, überließ Folienkartoffeln, Würstchen und Steaks der Glut und verwickelte die Kuchenbäckerin in ein Gespräch. Die schien die klamme Kälte im Garten nicht zu stören, und so hatten sie sich über eine Stunde lang unterhalten.

Am nächsten Tag hatte sie ihm überraschend ein in Leinen gewickeltes Päckchen ins Institut gebracht, dazu eine auf blassgrünes Papier gekritzelte Anleitung, wie er den Tee zuzubereiten hätte. Sie hatte ein blondes Mädchen an einer Hand gehalten, ein zweites, jüngeres Kind hatte sich wie ein Äffchen in ihren Mantel gekrallt und hinter der mütterlichen Hüfte vorbei auf Jans mit Gesteinen überladenen Schreibtisch gelugt.

Ob sie nur seinetwegen von Nürnberg nach Erlangen gefahren sei, hatte er seinen Besuch gefragt. Sie hatte ihn angelächelt, ein Lächeln, das bis tief in ihre Augen reichte. Jan hatte daraufhin die beiden quengelnden Anhängsel schlagartig ausgeblendet.

»Natürlich«, hatte sie auf seine Frage geantwortet, »Service ist alles. Wer weiß, vielleicht wirst du ja mein erster fester Kunde?«

So hatte er Marina kennengelernt.

»Ich erinnere mich an diesen ersten Besuch bei dir im Institut.« Lara streckte sich, bis ihre angewinkelten Unterarme an das Autodach über ihr stießen. Ihre Brüste folgten der Bewegung und wanderten unter ihrem Seidenshirt ebenfalls ein Stück höher. Jan fragte sich, wieso er das eigentlich bemerkte, genaugenommen, nicht wieso, sondern was er sich dabei dachte. Stirnrunzelnd schaltete er Motor und Scheibenwischer aus.

»Der Türgriff war in Form einer Muschel«, kramte Lara unterdessen in ihren Erinnerungen. »Oder etwas Ähnlichem.«

»Etwas Ähnlichem. Also ist dir unser fossiler Türgriff im Gedächtnis geblieben, ich aber nicht.«

»Der Türgriff war etwas ganz Besonderes.« Doch der Spott schmolz in der Wärme ihres Lächelns. Das Mädchen, das am Freitag so überraschend vor seiner Tür aufgetaucht war, mit dem vorsichtigen Blick eines aus dem Tierheim geholten Hundes, wurde immer zutraulicher, stellte er fest. Zumindest dann, wenn sie wie jetzt über die Vergangenheit sprachen, was Lara gerne tat. Manchmal schien sie das Gespräch regelrecht in eine solche Richtung zu dirigieren. Jan war sich nur nicht sicher, was hinter dieser Nostalgie steckte.

»Ich weiß noch, wie Mama an dem Abend zu mir und Marie ins Zimmer kam und sagte, wir würden dich ab jetzt vielleicht häufiger sehen.«

»Du hast daraufhin ›Ist gut!‹ gemurmelt, hast dich umgedreht und bist eingeschlafen.«

Das hatte Lara nicht mehr gewusst.

»Doch, es ist wahr. Und das Jahr darauf dasselbe, als Marina euch fragte, wie ihr es fändet, wenn ich bei euch einzöge. Einfach nur: ›Ist gut‹. Jan löste seinen Gurt und wandte sich ihr im Sitz zu, eine Hand hinter ihrer Kopfstütze. »Wenn ihr gewusst hättet, wie nervös ich damals war. Ich hätte schwören können, dass ihr das nicht wolltet. Dein Vater war jedenfalls nicht sonderlich begeistert, als er von Marinas und meinen Plänen erfuhr.«

Draußen hastete eine Familie an Jans in die Jahre gekommenem Volvo vorbei zum Museumseingang. Regen trommelte auf das Autodach. Lara kniff die Augen zusammen, ganz auf die Vergangenheit konzentriert. »An dem Tag, da hattest du uns bestochen. Das war nach dem Ausflug in diesen Steinbruch. Du hast uns nach Archäopteryxen suchen lassen, mit Hammer und Meißel. Das war cool! Ich habe daheim immer noch eine Platte mit Pflanzenresten und Fossilien von damals.«

»Der Solnhofener Plattenkalk. Ich hätte nicht gedacht, dass der unvergesslich bleibt. Immerhin konnte ich eine gewisse geologische Grundbildung legen.«

Lara mochte Jans Lächeln. Die Art, wie sich die Haut neben seinen Augenwinkeln in langgestreckte Fältchen bog, Weichheit über die hohen Wangenknochen tupfte. So hatte sie Jan nicht in Erinnerung gehabt.

»Wenn du das nächste Mal nach Nürnberg kommst, machen wir das wieder, abgemacht?«

»Versprochen.« Jan gestikulierte nach draußen. »Sollen wir?«

Ein Besuch im Naturhistorischen Museum war Jans Vorschlag gewesen, als sie beim Frühstück die über der Stadt dräuenden Wolken beäugt hatten. Außerdem würde Jan somit etwas Arbeit erledigen können, da er einem Freund mit einem Ausstellungskonzept über die Geschichte der Stockholmer Schären half. Er hatte Lara gefragt, ob es ihr recht sei, wenn er Johan anriefe und ihn fragte, ob er an einem Sonntag Zeit hätte.

Natürlich war es in Ordnung für sie, sie würde sich gerne das Museum anschauen, während Jan sich mit seinem Freund traf. Ihr sei völlig klar, wie sehr sie ihn überfallen hätte, und dann das mit Jans Freundin, seine geplatzten Pläne. Sie wolle ihn nicht auch noch von seinem Job abhalten.

Jetzt war Jan in den Tiefen des aus dem Jugendstil stammenden, vom Barock inspirierten Museumsgebäudes verschwunden, während Lara an der Fauna Schwedens vorbeischlenderte, die sich dem Besucher als ausgestopfte, voneinander durch sterile Gänge getrennte Familie präsentierte: Vögel im freien Flug, Biber, die an ihrem Zuhause bauten, Wölfe, die sich die Schnauzen leckten, ein Fuchs mitten im Jagdsprung auf einen Lemming, eine auf ihre Zeit wartende Eule, ein staksiges Elchkalb und am anderen Ende des Saals die unendlich traurigen Augen eines Seehunds.

In einer leeren Vitrine spiegelte sich schemenhaft Laras Gesicht. Einen Moment lang glaubte sie, in den Umrissen ihre Schwester zu erkennen, dabei sahen sie sich schon seit Langem nicht mehr ähnlich. Vielleicht rief die Zeitlosigkeit des Museums diese Illusion hervor, eine durch Äonen angehäufte Schwere, die das Raum-Zeit-Gefüge krümmte und den zwischen den Ausstellungsräumen Wandernden in eine andere Epoche verfrachtete. Lara gefiel dieser Gedanke. Sie lehnte sich gegen die Vitrine, die ihr Maries Abbild gezeigt hatte, und schrieb ihrer Schwester eine Nachricht:

– Bin im Urlaub; Interrail macht’s möglich. Ein alter Freund, du wirst dich wundern! Richtest du Mama aus, dass es mir gutgeht? Ich melde mich.

Lara drückte auf Senden, bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, und schaltete danach sofort den Flugmodus ein.

Nein, sie würde nicht darauf warten, ob Marie ihr antwortete. Sie würde sich diesen Tag mit Jan nicht verderben lassen.

Versteckt zwischen zwei Schautafeln beobachtete Jan, wie Lara aus dem Stand heraus nach vorne hüpfte und das Ergebnis mit der Zeichnung verschiedener Sprungweiten von Säugetieren an der Wand verglich. Die Experimente zum menschlichen Körper schienen sie zu faszinieren, trotzdem bemerkte er Schatten unter ihren Augen, so als hätte sie kurz zuvor geweint.

Jan wusste noch immer nicht, was Lara nach Stockholm geführt hatte. Jedes Mal, wenn er die Frage wie einen Stein in den Teich ihrer Unterhaltung warf, ging sie einfach unter. So nonchalant wie charmant Lara ihm auswich, ließ die Situation Jan ratlos zurück. Dabei empfand er einen Hauch von Unergründlichkeit als durchaus reizvoll an einer Frau. Er hasste es, wenn Leute ihre Leben wie Wurstplatten auf die Anrichte knallten, noch bevor man zum Aperitif gegriffen hatte, und es widerstrebte ihm, Lara auszuquetschen. Sie war nicht seine Tochter. Außerdem, wie oft war er schon bei einem Kumpel aufgetaucht, mit einem Pack Bier und dem Satz »Ich will nicht drüber reden!« auf den Lippen?

Jan wollte es dennoch wissen. Das Problem war nur, wie nachbohren, ohne auf ersatzväterlichen Inquisitor zu machen, eine Rolle, die ihm nicht nur schlecht stand, sondern die Lara gar nicht ernstnehmen würde. Jan war nie ein Vaterersatz für Lara und Marie gewesen, und die Mädchen hatten ihrerseits gut zwischen allgemeiner Erziehung und elterlicher Einflussnahme zu unterscheiden gewusst. Niemals war auf eine von Jans Ermahnungen hin der Gegenangriff »Du bist nicht mein Vater!« gefallen, was Jan zwar stolz gemacht, bisweilen jedoch auch bedauert hatte. Jetzt, mit dieser herangewachsenen Frau, war die Frage ›Was bin ich für dich?‹ komplizierter geworden, das vertrackte Definieren einer Beziehung, für die es keinerlei gesellschaftliche Anleitung gab.

»Schon fertig?« Lara hatte Jan entdeckt und machte einen Satz auf ihn zu, sodass er einen Moment lang glaubte, sie wollte sich wie früher in seine Arme werfen. Auf halbem Weg nach oben besann er sich und ließ die Hände, die sich ihr entgegengestreckt hatten, wieder sinken.

»Johan wurde von seiner Frau einberufen. Mette hat heute Geburtstag, und es gibt irgendeine Katastrophe mit dem Kuchenbuffet für die Verwandtschaft. Keine Sahne, zu wenig Beeren für den Kuchen, kein koffeinfreier Kaffee, jetzt muss er einkaufen gehen und …«

»Komm mit!« Lara hörte ihm schon gar nicht mehr zu, sondern zerrte ihn am Ärmel hinter sich her. »Ich habe einen Test für dich. Ich habe mittelmäßig abgeschnitten. Wollen wir doch mal schauen, was ein alter Mann wie du noch so draufhat!«

Sie schob ihn in etwas, was wie eine Telefonzelle aussah, und zwängte sich hinter ihm hinein. Es war so eng in der Kabine, dass ihr Körper gegen seinen presste, was Jan prompt bemüßigte, ihr den Kommentar mit dem »alten Mann« zu verzeihen.

»Ein Hörtest«, erklärte Lara und deutete auf die Armatur vor ihnen. »Du drückst auf diesen Knopf hier, sobald du etwas hörst. Aber ich glaube, die Anlage funktioniert nicht richtig, oder ich bin tauber, als ich dachte.«

»Das machen die Discos«, murmelte er in das von blonden Haaren bedeckte Ohr, das kaum mehr als eine Handbreit vor ihm schwebte. »Jetzt seien Sie still, Fräulein Berckmann, ich muss mich konzentrieren.«

Am Ende stellte das Naturhistorische Museum fest, dass Jans Gehörsinn noch mehr zu wünschen übrigließ als Laras.

»Das liegt an Discos!«, äffte Lara ihn nach, während sie kichernd nach draußen drängte und ihr Ellenbogen eine Delle in Jans Pullover und ein Echo auf seiner Haut darunter hinterließ.

»Das liegt an Frauen«, berichtigte Jan würdevoll, der die Vermutung hegte, die Armaturen der Testkabine hätten bei jedem zweiten Drücken nicht reagiert. »Ihr erzählt uns so lange, wir würden schlecht hören, bis wir es selbst glauben und unser Gehör einfach das Handtuch wirft.«

Lara rieb sich das Kinn. »Ich verstehe ja, dass man Mama vieles vorwerfen könnte, aber das eigentlich nicht.«

»Nein«, gab Jan zu. »Das kam erst nach ihr.«

»Wie habt ihr es eigentlich geschafft, dass ihr noch so gut übereinander sprechen könnt, du und Mama? Das schaffen die wenigsten. Ich übrigens auch nicht«, fügte sie nachträglich hinzu.

»Ja, das ist eine grandiose Leistung«, kommentierte er trocken. »Die unerträgliche Leichtigkeit der Trennung.«

Laras Stirn verzog sich; sie verstand nicht, wie er das meinte. Jan milderte seine Worte mit dem Hinweis, ihn nicht zu ernst zu nehmen.

»Ich habe ›Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins‹ gelesen«, bemerkte Lara für den Fall, dass es Jan beeindrucken würde.

»Wie findest du das Buch?«

Sie zögerte. »Verstörend.«

»Freut mich zu hören.«

Abermals wusste sie nicht, was genau er meinte. Er lächelte schon wieder. Jans Lächeln, beobachtete Lara von der Seite, zog seine Augen ein Stück in die Länge und verdunkelte sie. Das hatte sie früher nie bemerkt.

»Warst du nicht einmal dann sauer auf Mama, als sie wieder etwas mit Papa angefangen hat?«

Jans Schritt stockte. Sie waren auf dem Weg zum Ausgang. Eine geführte Gruppe umbrandete sie wie Wellen eine Sandbank. Da war sie wieder, die Grenze, über die er ihr bereits einmal, auf Grinda, gefolgt war. Erwachsene Fragen, erwachsene Antworten. Jan holte tief Luft.

»Ich war nicht sauer. So war das damals nicht. Das Feuer zwischen uns, zwischen deiner Mutter und mir, war schon lange nur noch am Rauchen, als Paul aus China zurückkehrte.«

»Ich dachte, sie hätte dich mit Papa betrogen.«

»Das hat sie nicht.« Er fuhr sich durch die Haare, unschlüssig, wie viel er preisgeben sollte. »Paul war höchstens der Auslöser, um Schluss zu machen.«

Er hob eine Hand zu ihrem Kinn und ließ sie, sobald er ihre Haut berührte, wieder fallen. »Ihr Mädchen habt mir ziemlich gefehlt, wusstet ihr das? Erst dachte ich: Klasse, wieder frei, keine pubertierenden Bälger, tun und lassen, wann und wie es mir gefällt. Aber das erste Jahr ohne euch war irgendwie leer.«

»Du hast uns auch gefehlt.«

Kopfschüttelnd hielt er ihr die Tür auf. »Euer Vater kehrte zu euch zurück. Ihr wart aus dem Häuschen. Das weiß ich.«

»Nicht als Vater. Als Freund.«

Sie ging an ihm vorbei nach draußen.

Paul und Marina waren Nachbarn gewesen, bis Paul, acht Jahre älter, zum Studium nach Köln gezogen und den elterlichen Haushalt mit zwei Taschen und einem Moped verlassen hatte. Bei seiner Rückkehr als frischgebackener Ingenieur waren sie an Marinas siebzehntem Geburtstag zusammengekommen. Vier Jahre später wurde Marina ungeplant schwanger. Mitten im Medizinstudium pausierte sie ein Jahr, in dem sie während Windelnwechseln, Stillen und Kind-Bespaßen Bücher über chinesische Medizin, Akupunktur und Heilkräuter verschlang. Zum folgenden Wintersemester kehrte sie an die Uni zurück, um drei Monate später gänzlich das Handtuch zu werfen. Da war sie bereits mit Marie schwanger.

Die zweite Geburt, Hochzeit, Hausbau, es folgten drei Jahre perfektes Familienleben und zwei weitere dasselbe zumindest nach außen hin. Kaum Sex, Marie, etwas sensibel und nachdrücklich Pauls Aufmerksamkeit einfordernd, Streit über die Wahl von Kindergarten, Schule sowie Marinas Ausbildung und Aufbau der eigenen Selbständigkeit, dazu Pauls Ambitionen in der Firma – falls Tränen und deutliche Worte flossen, dann hinter geschlossenen Türen. Am Ende brachten Paul und Marina es fertig, dass die Kinder die Trennung ihrer Eltern nicht als eine gescheiterte Beziehung und sich selbst als eine schiffbrüchige Familie erlebten, sondern als eine notwendige Konsequenz aus Lebensumständen, in denen sich nichts Persönliches versteckte.

»Euer Papa muss geschäftlich nach Brasilien«, hatte Marina ihren Töchtern erklärt, »und danach vielleicht nach China. Das ist gut für seine Arbeit. Er wird uns natürlich besuchen kommen.« Die Mädchen hatten es hingenommen. Eineinhalb Jahre lang sahen sie ihren Vater alle drei Monate, danach ging Paul nach China; seine Besuche wurden seltener. Zu dieser Zeit begann Marina ihre Beziehung mit Jan und schaffte es abermals, dass die Mädchen keinerlei Verratsgedanken hegten. Ihre Liebe hielt sieben Jahre lang, großzügig gerechnet. Gegen Ende des sechsten kehrte Paul nach Nürnberg zurück. Marina schwärmte von Pauls neuer Gelassenheit; Jan dagegen fand ihn steif, wenngleich Paul den Mädchen gegenüber lieb und charmant war. Aber was zählte Jans Meinung? Die Beziehung mit Marina war von Leidenschaft hinüber zu von Gewohnheit gesteuerter Freundschaft gekrochen. Egal ob sie es bemerkt hatten oder nicht, hatten sie dieser Schnecke offenbar nicht genügend Wert beigemessen, um sie rechtzeitig aufzuhalten, umzudrehen und zum Ausgang zurückzuschicken. Vieles, was sie damals unterlassen hatten, hatte Jan im Nachhinein bedauert, doch bis heute erinnerte er sich vor allem an die schönen Momente, die sie geteilt hatten. Zu viert.

»Was ist?«

»Was soll sein?«

»Du siehst aus, als hättest du gerade ein Weihnachtsgeschenk ausgepackt.«

»Der Film ist witzig.«

»Das war gerade die Szene, wo du eigentlich annehmen müsstest, Diego wäre tot.«

»Oh. Tatsächlich. Ist er aber nicht.«

»Lenk nicht ab!«

»Wenn ein Mann mit Chips, Wein und einer hübschen jungen Frau auf der Couch Ice Age schaut, darf er sich doch wohl mal freuen, oder?«

Lara errötete.

Jan dachte entsetzt: Scheiße, habe ich gerade geflirtet?

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sein Handy blinkte. Er hatte Ton und Vibrationsalarm ausgeschaltet, aber das Leuchten des Displays verriet, dass jemand versuchte, ihn anzurufen. Er ignorierte das Flimmern und konzentrierte sich wieder auf den Film. Laras Zehen spielten unterdessen mit den Fransen des Couchteppichs.

»Siehst du? Diego lebt.«

»Wie oft hast du den Film schon gesehen?«

»Dreimal. Gehört zur glazialen Grundausbildung, quartärgeologisches Basisseminar. Ich habe meine Studenten eine Arbeit darüber schreiben lassen. Einer der Schlauberger betitelte seinen Aufsatz mit ›Nuts – The evolution of lust. How scarcity in a high glacial environment drives the development of sexual behaviour, courtship and love‹: Wie Mangel in hocheiszeitlicher Umgebung die Entwicklung von sexuellem Verhalten, Balz und Liebe begünstigt. Ich habe ihm eine Eins gegeben.«

Sie kicherte. »Musst du morgen an die Uni?«

»Ich habe um fünf einen Termin.«

»Soll ich dich danach abholen? Ich wollte mir gerne das Unigelände anschauen.«

»Frescati Campus? Klingen da etwa potenzielle Zukunftspläne durch?«

»Vielleicht.«

Es war der perfekte Zeitpunkt, um sie zu fragen, wie lange sie zu bleiben gedachte. Jan sah zu Lara hinüber. Sie hatte sich nach vorne gebeugt und lachte, als die Schlussszene mit Scrat, dem Säbelzahneichhörnchen, begann. Jan stopfte sich den Mund mit einer Handvoll Chips zu.

Am Montag verließ Jan seine Wohnung, während Lara noch schlief. Er hatte keine Jalousien im Wohnzimmer, daher erhellte Tageslicht die rechte Hälfte ihres Gesichts, in das blonde Strähnen wie vom Schlaf verstreute Liebkosungen fielen. Über Lara dräute ein blaues Kissen auf der Rückenlehne der Couch, das jeden Moment das Gleichgewicht verlieren und auf sie runterzukippen drohte. Vorsichtig hob Jan das Kissen herunter und widerstand dem Drang, eine der Haarsträhnen auf Laras Wange zur Seite zu streichen.

Im Institut stand erst einmal die wöchentliche Mitarbeiterbesprechung an. Die Reihe war diesmal an Jan, frische Milch und Kanelbullar – Zimtschnecken – zu besorgen, deshalb machte er einen Umweg zum Bäcker. Es hatte aufgehört zu regnen, der Himmel war jedoch bewölkt, so entschied er sich gegen sein Fahrrad und für die U-Bahn. An der Universität kochte er Kaffee und betrat rechtzeitig den Besprechungsraum, um den Schluss der wöchentlichen Tirade der Laborchefin über rücksichtslose Studenten im Allgemeinen und nicht eingehaltene Sicherheitsvorschriften im Besonderen mit anzuhören.

»Da hat jemand für dich angerufen, Jan«, informierte ihn eine Forschungsassistentin, bevor er die Kaffeekanne abstellen und die Tür des Besprechungsraums hinter sich schließen konnte. »Deutscher Akzent. Vor zehn Minuten.«

Jan nickte und stahl sich wieder nach draußen. In seinem Zimmer wählte er Laras Nummer, doch ihr Telefon war ausgeschaltet. Also rief er seine eigene Festnetznummer an, die sonst praktisch nur seine Eltern benutzten. Lara nahm nach dem fünften Klingeln ab.

»Sorry«, sagte sie etwas atemlos, »aber ich habe gesehen, dass du dein Handy hast liegen lassen. Und du hast mir nicht gesagt, wo ich deine Ersatzwohnungsschlüssel finde.«

»Auf dem Schuhschrank im Gang.«

»Oh.« Er hörte ihre leisen Schritte. Es klimperte gedämpft. »Tut mir leid, da hätte ich auch selbst mal nachschauen können. Aber ich dachte, bevor ich deine Schubladen durchwühle …«

»Die Pornohefte sind unter meinen Socken, dritte Schublade im Schlafzimmer.«

»Wusste ich’s doch!« Ihr Lachen war befreit. »Dann sehen wir uns später!«

»Was wirst du heute machen?«

»Sightseeing. Das Rathaus. Shopping. Mal schauen.«

»Lara, wenn du mit deiner Mutter sprichst, sag ihr schöne Grüße!«

»Was? Ja, okay. Mach ich. Danke. Ciao!«

Sie legte auf. Jan runzelte die Stirn und hoffte, dass es sich bei dem, was immer in seinem Magen zu rumoren begann, um Hunger handelte.

Den Rest des Vormittags quälte er sich durch ein Seminar und das Referat eines Studenten im zweiten Studienjahr. Der Vortrag war so miserabel, dass Jan am liebsten nach der Hälfte abgebrochen hätte. Er hatte sich in die letzte Reihe gesetzt; eine Studentin drehte sich immer wieder zu ihm um, um an völlig falschen Stellen zustimmend zu nicken und mit den Wimpern zu klimpern. Als Jan beim Mittagessen einer Kollegin sein Leid klagte, trug ihm das allerdings nur Spott ein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739487632
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Schwestern Young Adult familiendrama Schweden Missbrauch liebesroman Stockholm

Autor

  • Karen Nieberg (Autor:in)

Karen Nieberg hat in Deutschland, Norwegen und Schweden gelebt und ist die Verfasserin mehrerer Romane. Obwohl in verschiedenen Genres zuhause, greifen all ihre Romane Themen von Konflikt und Liebe in Familien auf. Karen Nieberg ist ein Pseudonym von Birgit Jaeckel, unter dem sie ihre Skandinavienromane veröffentlicht, so den Krimi "Ins Eis".
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Titel: Lara & Jan