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Sie haben so einen seltenen Tumor, sie sollten Lotto spielen!

von Uta Winter (Autor:in)
90 Seiten

Zusammenfassung

Von einem Tag auf den anderen verändert sich das Leben der Autorin, als sie mit Anfang 40 an einem sehr seltenen bösartigen Tumor erkrankt. Dieses Buch schildert so offen wie möglich ihre persönlichen Erfahrungen im Umgang mit dem Leben nach der schweren Operation zur Entfernung des Nierentumors. Da der bei ihr diagnostizierte Krebs sehr selten ist, erhält Uta Winter von den Ärzten wenig Informationen und es fehlt an Angeboten zur psychologischen Betreuung und Nachsorge. Auch der Kampf um die Anerkennung ihrer Erkrankung als Schwerbehinderung, den die Autorin schildert, gestaltet sich schwierig.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sylvester

Um mich herum ist es dunkel, manchmal erhellt eine einzelne verfrühte Rakete den Nachthimmel. Ich liege in meinem Bett und bin allein, das Atmen fällt mir schwer. Mein fünfjähriger Sohn und mein Mann sind schon den ganzen Abend bei guten Freunden von uns, um den Beginn des neuen und hoffentlich gesunden neuen Jahres zu feiern. Ich habe meine Familie gebeten, trotzt meiner akuten Lungenentzündung unsere Freunde zu besuchen und Spaß zu haben. Sie sollten das Jahr schön ausklingen lassen und nicht darunter leiden, dass ich schon wieder krank bin.

Das ist nicht die erste Pneumonie in meinem Leben. Schon als Kind war ich sehr oft krank und anfällig für alle möglichen Infekte. Mein Vater sagt bis heute, dass ich von unserer drei Geschwistern immer sein Sorgenkind gewesen wäre und obwohl mir das immer ein wenig peinlich ist, muss ich doch sagen, dass er nicht ganz Unrecht hat. Mit sieben Jahren, gerade zu meinem Schulanfang, musste ich fast direkt nach der Einschulungsfeier für mehrere Wochen ins Krankenhaus und wäre dort fast verstorben. Ich weiß, wie es ist, plötzlich schwer krank zu sein, kaum aufstehen zu können und sich klein und schwach zu fühlen.

Die Diagnose am Vormittag dieses letzten Tages im Jahr, nach stundenlangem Warten in der völlig überfüllten Notaufnahme des Universitäts-Krankenhauses meines Wohnortes, hatte mich nicht wirklich überrascht. Das typische Röcheln in meinem Hals und die starken Atembeschwerden kannte ich zu gut. Überrascht hat mich etwas ganz Anderes. Der junge Assistenzarzt, der die Diagnose stellte, gab mir zusammen mit meinem Rezept für ein Antibiotikum einen persönlichen Ratschlag auf den Weg: „Sie sollten einmal darüber nachdenken, warum eine junge Frau wie Sie aus heiterem Himmel eine Lungenentzündung bekommt“?

Ich habe das damals nicht weiter beachtet. Mit Anfang 40, erfolgreich im Berufsleben stehend, war ich fast die Alleinverdienerin meiner kleinen Familie, weil mein Mann verkürzt arbeitete und sich vorrangig um unseren gemeinsamen Sohn, der damals noch in den Kindergarten ging, kümmerte. Es war faktisch kein Raum für Ruhe und Besinnung oder gar so etwas wie Reflexion in meinem Leben. Meine Zeit war gut durchorganisiert und ich funktionierte wie eine gut geschmierte Maschine, bei der es nur ab und an zu kleinen Unterbrechungen im ansonsten reibungslosen Getriebe kam.

Nur wenige Monate später sollte ich über die Worte des Arztes ganz anders denken. Doch erst einmal wusste ich noch nicht, was auf mich und meine Familie zukommen würde und das war vermutlich auch besser so.

Der schwarze Nachthimmel erhellte sich und das Knallen der Sylvesterfeuerwerkes wurde lauter. Herzlich willkommen neues Jahr! Was Du mir wohl bringen magst?

Etwa einen Monat später

Zunächst ging das neue Jahr weiter, wie das alte geendet hatte. Ich quälte mich immer noch mit meiner misslichen Lungenentzündung, von der ich das arge Gefühl hatte, dass meinem schwachen Körper die Kraft fehlte, um sich von ihr zu erholen. Wenn ich an die enorme Größe meines Tumors denke, der ein paar Monate später bei mir diagnostiziert werden sollte, dann meine ich heute, dass ich damals schon an zwei Fronten gekämpft habe und es einfach noch nicht wusste.

Langsam und jeden Tag ein wenig, ging es mir wieder etwas besser und ich konnte sogar schon wieder kleine leichte Spaziergänge an der frischen Luft unternehmen. Aber es blieb dabei, irgendetwas lief mich nicht recht zu Kräften kommen und ich fühlte sehr deutlich, dass mir die Energie für einen normalen Alltag noch fehlte.

Fünfjährige Kinder sind sehr mobil und wissbegierig und fordern noch die volle Aufmerksamkeit ihrer Eltern. So habe ich noch gut in Erinnerung, dass mir das tägliche Spielen und die intensive Beschäftigung mit meinem kleinen Sohn nach dem Kindergarten und an den Wochenenden während der Zeit meiner Genesung einfach oft zu viel waren. Das tat mir unendlich leid und ich hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Gleichzeitig hatte sich in mir selbst jedoch eine gewisse Apathie breitgemacht und ich war sehr froh, dass sich mein Mann fürsorglich um ihn kümmerte.

Endlich war ich etwa Ende Januar so weit genesen, dass ich mir zutraute, wieder auf Arbeit zu gehen. Naja, um ehrlich zu sein, natürlich hätte ich mich noch gern etwas länger erholt, aber wer den ständigen Druck kennt, wie gut geölt und ohne Sand im Getriebe, funktionieren zu müssen, weil die durch den Hauskauf entstanden Schulden nicht gerade gering sind, der weiß auch, dass ich dabei nicht unbedingt eine faire Wahl hatte.

Die wenigen Tage, die ich nach meinem Wiedereinstieg auf Arbeit durchhielt, waren gelinde gesagt sehr schlimm. Mühsam versuchte ich meine Aufgaben zu erledigen und den riesigen Berg abzuarbeiten, der sich während meiner fünfwöchigen Abwesenheit angehäuft hatte. Es war nicht zu übersehen, dass ich noch lange nicht fit genug war, und mich mühsam durch meinen langen Tag quälte. Ich glaube, ich hielt eine Woche durch, dann saß ich abends wieder auf meinem Sofa, hustete und bekam keine Luft mehr. Mit Schrecken hatte ich wieder das knatschende Geräusch in meiner Lunge wahrgenommen, das so typisch auf eine erneute Lungenentzündung oder einen Rückfall hinwies. Schlimmer noch, diesmal war auch noch mein Kind erkrankt. Wir hatten beide hohes Fieber und waren zu geschwächt, als dass wir noch eigenständig einen Arzt hätten aufsuchen können. Der Bereitschaftsarzt, den mein Mann schließlich rief, diagnostizierte bei meinem Sohn eine Bronchitis und bei mir eine weitere Pneumonie.

Nicht, dass ich es nicht geahnt hätte, trotzdem war ich in diesem Augenblick am Boden zerstört. Schon wieder krank! Schon wieder fast zu schwach, um sich irgendwie selbst zu behelfen. Was war das nur für ein ödes und blödes Jahr. Gerade einmal fünf Wochen alt und schon so schiefgelaufen. Zum Glück konnte ich ja nicht in die Zukunft sehen, was noch auf mich zukommen sollte. Ironischerweise, und das erscheint mir bis heute wie ein kleiner Hinweis des Schicksals, war die Ärztin, die damals Rufbereitschaft hatte Oberärztin am Klinikum und sollte mir ein halbes Jahr später in einer noch viel ernsteren Situation, nämlich beim Aufklärungsgespräch für meine Tumoroperation gegenübersitzen.

Das alles wusste ich jetzt noch nicht. Im Frühjahr des Jahres 2010 war der Tumor noch weit weg und undenkbar. Noch lag ich nur auf meinem Sofa und konnte nicht viel machen, außer Süppchen und Tee zu schlürfen und manchmal zwischen Sofa und Bad ganz langsam hin und her zu schleichen. Ich war schlicht zu schwach für alles und konnte mich an keinerlei Aktivitäten, die über Schlafen und Essen hinausgingen, beteiligen. Ab und an musste ich zu meiner behandelnden Ärztin, die aber nicht mehr tat, als meine Krankschreibung immer wieder zu verlängern. Im Rückblick habe ich das Gefühl, in dieser Zeit, unterbrochen von Arztbesuchen und Nahrungsaufnahme, sechs Wochen fast nur geschlafen zu haben. Damals habe ich mich schon gewundert, dass ich so gar nicht wieder zu Kräften kam und mich nur ganz langsam erholte.

Mir war glasklar, dass ich nach zwei langwierigen Lungenentzündungen kurz hintereinander einige Zeit brauchen würde, um wieder auf den Damm zu kommen. Aber etwas war diesmal anders, das habe ich schon im Frühjahr dieses schweren Jahres gespürt. Alles war nur noch mühsam und zäh. Als ich meine behandelnde Ärztin darauf ansprach, ob eventuell noch etwas Ernsteres hinter meiner nicht enden wollenden Schwäche stecken könnte, wurde ich allerdings sinngemäß mit den Worten abgewimmelt, sie wüsste schon was zu tun sei und schon hatte ich mein drittes Antibiotikum verschrieben bekommen, welches nun endlich helfen sollte. Ende März, als der Frühling sich mit Macht zurückmeldete, kam auch ich allmählich zu Kräften, ohne jedoch zu alter Stärke zurück zu finden.

Zum Glück kann ich mich in einer solchen Situation voll und ganz auf meinen Mann verlassen, so dass unser Sohn, der sich schon nach wenigen Tagen von seiner Bronchitis erholt hatte, in dieser Zeit nicht noch mehr unter der Situation leiden musste und ich, als ich endlich wieder zu mehr als nur Schlafen und Essen in der Lage war, nicht auch noch auf einen gigantischen Berg ungewaschener Wäsche und eine chaotische Wohnung stieß.

Die nächsten Wochen hatte ich keine Zeit darüber nachzudenken, was eigentlich in den vergangenen Monaten mit mir und meiner Gesundheit passiert war. Unser gemeinsamer Sohn sollte dieses Jahr im August eingeschult werden und so hatten wir alle Hände voll damit zu tun, in unserem kleinen Reihenhaus, dass wir vor ein paar Jahren gekauft hatten, den Dachboden auszubauen, damit er aus seinem kleinen Kinderzimmer ausziehen konnte und ihm für die Schulzeit ein schönes großes und sonniges Zimmer zur Verfügung stehen würde. Langsam liefen auch die Vorbereitung für die Schulzeit an. Ein passender Ranzen mit Rennautos wurde samt Sportbeutel und Schulutensilien gekauft und alles für die bald anstehende Einschulungsfeier organisiert.

Dazu hatte ich eine Vielzahl an liegen gebliebenen beruflichen Projekten abzuarbeiten, so dass mir meine zunehmenden Rückenschmerzen am Anfang gar nicht weiter auffielen. Schmerzen im Rücken begleiten mich seit einem unfallbedingten Bandscheibenvorfall während meines Studiums, der leider auch operiert werden musste, schon lange Zeit in meinem Leben. Normalerweise hatte ich diese aber ganz gut mit gezielten Übungen unter Kontrolle. Die Beschwerden wurden jedoch stärker und auch untypischer, deshalb beschloss ich schließlich doch, wieder meine Ärztin aufzusuchen.

Die allgemeinmedizinische Arztpraxis, in der ich schon wegen meiner Lungenentzündungen behandelt wurden war, diente auch als Ausbildungszentrum für Medizinstudenten. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden und ich lasse mich jederzeit von lernbereiten Studenten medizinisch analysieren. Was ich hier erlebte, fand ich dann aber doch reichlich seltsam. Ein junge Medizinstudentin untersuchte mich nur oberflächlich, erhob keine Anamnese und drückte mir anschließend einen Zettel mit therapeutischen Gymnastikübungen für den Rücken in die Hand. Ich war entsetzt und kam mir vor wie in einem falschen Film. Eine differenzierte Untersuchung durch einen Facharzt erfolgte auch auf meine ausdrückliche Nachfrage nicht. In diesem Augenblick beschloss ich, meine behandelnde Ärztin zu wechseln und ich denke, dass dies vielleicht die Entscheidung war, die mein Leben gerettet hat.

Die Zeit ging ins Land und der Schulanfang unseres Kindergartenkindes rückte näher und so war die Zeit angefüllt mit Arbeiten, dem Ausbau unseres Dachgeschosses, der nun endlich fertig wurde, den Vorbereitungen für die Schuleinführung und unserem Sommerurlaub in den Bergen. Ich war frohen Mutes, weil ich glaubte, die Schwierigkeiten der letzten Wochen und Monate allmählich überwunden zu haben und mich außer meinem hohen Blutdruck keine weiteren wesentlichen Zipperlein plagten. Sogar meine unerklärlichen, starken und untypischen Rückenschmerzen hatten sich irgendwie verflüchtigt.

Die Raumforderung

Zu dieser Zeit, in den warmen Sommermonaten, als mein Leben wieder beschwingt und leicht war, eröffnete ganz in der Nähe unseres Wohnortes eine neue Praxis für Allgemeinmedizin. Der Vorteil bei einer Praxiseröffnung, welcher Fachrichtung dieses auch sein mag, ist ja oft, dass nicht von vorneherein ein fester Kundenstamm existiert und Termine etwas leichter zu erhalten sind. Da ich meine Allgemeinärztin sowieso wechseln wollte, stellte ich mich eine Woche nach Praxiseröffnung dort einmal vor.

Die Ärztin, welche etwa in meinem Alter war, fiel mir durch ihre analytische Herangehensweise an meine Beschwerden auf. Während alle anderen Mediziner meinen hohen Blutdruck einfach als gegeben akzeptiert hatten, wollte sie meine Nebennieren mittels Ultraschalls untersuchen, um auszuschließen, dass diese die Ursache dafür wäre.

Später bin ich mit ihr ins Gespräch gekommen und siehe da, meine Ärztin hatte vor ihrem Medizinstudium auch noch Biologie mit der Spezialisierung auf Tierphysiologie studiert, das erklärte für mich die sehr klare Art und Weise ihrer Arbeit, die sich von der meiner bisherigen Allgemeinärztin wie Tag und Nacht unterschied.

Am Morgen des Tages, an dem meine Nebennieren per Ultraschall untersucht werden sollten, ging es mir ausgezeichnet. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Untersuchung ohne Befund bleiben würde. Niemand in meiner Familie hatte, soweit es mir bekannt war, jemals ein Problem mit den Nebennieren gehabt. Was sollte da schon sein? Meinen zu hohen Blutdruck schob ich damals schon auf den Stress, den ich durch die Doppelbelastung durch Berufstätigkeit und familiären Verpflichtungen nun einmal unbestreitbar hatte und habe. Tatsächlich ist mir meine Hypertonie bis heute erhalten geblieben und erfährt immer eine wundersame Senkung, wenn ich in den Urlaub fahre und alles um mich herum ruhig und entspannt ist.

Nun ja, meine Nebennieren waren im Ultraschall tadellos zu erkennen und wiesen auch keinerlei Besonderheiten auf. Stattdessen kreiste der Kopf des Ultraschallgerätes verdächtig und lange immer wieder über meiner linken Körperhälfte. Intensiv drückte es gegen meinen oberen hinteren Bauchraum, während die Ärztin die gräulichen Bilder auf dem Bildschirm studierte, die für mich aussahen wie eine dicke Nebelsuppe. Zumindest bis zu dem Augenblick, als sie mir schließlich erklärte, dass es direkt neben meiner linken Niere eine unklare Raumforderung gäbe, deren Ursprung nicht eindeutig zugeordnet werden könne und die in etwa die Größe meiner linken Niere hätte.

Ich bin Naturwissenschaftlerin, ich wusste also, dass eine Raumforderung zunächst einmal nur bedeutete, dass sich in meinem Körper eine Struktur befand, deren Ursache unbekannt war. Eine Raumforderung muss nicht bösartig sein. Es kann sich bei ihnen zum Beispiel auch um Zysten, also um mit Flüssigkeit wie Blut oder Eiter gefüllten Hohlräumen handeln. Schon vor 10 Jahren, als ich noch eine junge Frau war, musste mir aus der Brust eine etwa 2 cm große Zyste entfernt werden, die initial als Brustkrebs diagnostiziert wurden war. Ich konnte mich noch genau an meine Gefühle beim Erhalt der Diagnose Brustkrebs, an meine Angst und die Erleichterung nach der Operation erinnern, nach der sich alles nur als ein gutartiges Adenom herausstellte, an das mich heute nicht viel mehr als eine verblasste Narbe erinnerte.

All diese Bilder hatte ich sofort wieder im Kopf und ich beschloss, anzunehmen, dass es sich auch diesmal um nichts Bösartiges handeln müsste. Aber ein gutartiger Tumor oder was auch immer – so groß wie eine Niere – also etwa 10 cm – das war schon eindeutig etwas, was mir Angst machte. Wie kam dieses große unklare Gebilde nur in meinen Körper und was hatte es da schon angerichtet? Warum hatte ich bis auf Rückenschmerzen überhaupt gar nicht gespürt, wie es sich in mir entwickelte und immer größer und größer wurde? Ich bin eine kleine und schlanke Frau, ich stelle mir bis heute die Frage, warum ich diesen großen Tumor in mir nicht irgendwie bemerkt habe und wie dieser das umliegende Gewebe verdrängen konnte. Wie lange er wohl schon in mir heranwuchs?

Stellen Sie sich ein Gebilde vor, das größer ist als ihre eigene Faust und dieses Gebilde mit unklarem Ursprung und undefinierter Funktion befindet sich unerkannt seitlich in ihrem unteren Rücken. Vielleicht können Sie dann in etwa nachvollziehen, wie ich mich damals bei der Erstdiagnose gefühlt habe.

Ich beschloss diesen Befund, der ja noch sehr unklar und vage war, zunächst einmal nur mit meinem Mann und einer guten Freundin zu besprechen. Mein Mann hatte schon viele Höhen und Tiefen mit durchgestanden und uns beiden machte Mut, dass sich schon einmal eine Raumforderung als ein harmloses Adenom entpuppt hatte. Meine Freundin sprach mir bei einer guten Tasse starken Kaffees, ebenfalls Mut zu und meinte, ich sollte auf die Kraft meines Körpers vertrauen und alles würde sich klären. Meinen Eltern und meinen Geschwistern erzählte ich zunächst nichts von meinem unklaren Befund und auch sonst erzählte ich erst einmal niemandem weiter von dem Ergebnis der Sonographie. Menschen sind sehr verschieden und während die einen in einer solchen Situation den ermutigenden Zuspruch ihrer Familie und Freunde brauchen, habe ich schon immer sehr viele Dinge mit mir selbst ausgemacht und nur wenige sehr enge Vertraute in Krisensituationen in mein Leben gelassen. Tatsächlich wollte ich meine Familie auch nicht schon wieder beunruhigen. Alle waren nach meinen beiden Lungenentzündungen noch immer sehr besorgt um mich, da brachte ich es einfach nicht über mich, ihnen eine erneute schlechte Nachricht zu überbringen. Erst einmal wollte ich in Ruhe abklären, was eigentlich mit mir und meinem Körper gerade vor sich ging.

Aus diesem Grund ließ ich mich nach der Diagnose auch nicht krankschreiben, ich fühlte mich ja körperlich nicht schlechter als vorher. Tief in meiner Seele sah es ganz anders aus. Trotzdem ging ich ganz normal weiter auf Arbeit und nahm nur ein paar Tage Urlaub, um den Schulanfang unseres Sohnes vorzubereiten.

Ich kann mich noch wie heute an seine Schuleinführung an einem warmen und schönen Sommertag, Ende August 2011, erinnern. Wenn ich mir heute die Bilder ansehe, dann erkenne ich in meinem Gesicht die Angst und Besorgnis um die Zukunft, die sich widerspiegelt und die ich tapfer versuche weg zu lächeln. Mein Sohn war damals gerade sechs Jahre alt geworden und in meinem Körper wuchs eine vor wenigen Tagen diagnostizierte unklare große Raumforderung heran. Mein Mann und ich, wir ließen uns jedoch die gesamte Feier nichts anmerken und ich vermute, dass bis auf meine eingeweihte Freundin auch niemand etwas von meinem tatsächlichen Seelenzustand mitbekam. Überhaupt versuchte ich in dieser Zeit, insbesondere vor meinem kleinen Sohn, meine erhebliche Besorgnis nicht zu zeigen, um ihm einen schönen und unbeschwerten Schulanfang im Kreise der Familie zu ermöglichen.

Wie auch immer, das Gebilde, wie ich es nannte oder auch korrekter, die unklare Raumforderung, die mir im Moment eigentlich keinerlei weitere körperliche Beschwerden, ja nicht einmal Rückenschmerzen verursachte, musste natürlich weiter diagnostisch abgeklärt werden, noch war ja völlig unklar, um was es sich handelte.

In dieser bedrückenden Zeit habe ich meine behandelnde Allgemeinärztin als große Hilfe in Erinnerung. Ihr Mann war, manchmal gibt es im Leben wirklich eigentümliche Zufälle, niedergelassener Nierenspezialist und als solcher in der etwa 20 km entfernten Nachbarstadt in eigener Praxis tätig. Damit ich nicht extra zu ihm für eine weitergehende Diagnostik oder zu einem anderen Spezialisten fahren musste, bot sie mir an, dass er mich morgens vor seinem Arbeitsbeginn in ihrer Praxis noch einmal mit ihr zusammen untersuchen würde. Ich empfinde für dieses engagierte Entgegenkommen auch heute noch eine große Dankbarkeit. Gerade in der Zeit, in der mir viele angstvolle Gedanken und Sorgen durch den Kopf gingen, war ich froh, dass ich mich nicht auch noch um weitere Facharzttermine kümmern musste, die ich vermutlich auch nicht gleich am nächsten Tag erhalten hätte.

So ging ich mit gemischten Gefühlen morgens um sieben Uhr in die Praxis und ließ diesmal von einem Spezialisten ausführlich meine Nieren beschallen. Der Nephrologe bestätigte den bereits bekannten Befund. Neben der linken Niere befand sich ein etwa 10 cm lange Neubildung unklarer Herkunft und unklarer Spezifikation. Weitere Aussagen waren leider nicht möglich, was nicht gerade beruhigend war.

Die nächste Untersuchung, welche sich fast unmittelbar anschloss, war eine Computer-tomographie in einer Praxis für Radiologie und Nuklearmedizin. Die Atmosphäre in solchen Praxen ist ja immer etwas trostlos. An den Wänden hängen zwar meist farbenfrohe und betont freundlich und optimistisch wirkende Bilder aber die im Wartebereich sitzenden Patienten schauen auf Grund der zu befürchtenden Diagnosen meistens doch sehr ernst und verschlossen drein. In der CT-Untersuchung zeigte sich, wie nicht anders zu erwarten, schon im nativen Zustand, also ohne Kontrastmittel, eine große Raumforderung, welche sich zunächst nicht von der linken Niere differenzieren ließ. Nach der Kontrastmittelgabe ließ sich die linke Niere eindeutig von der raumfordernden Formation abgrenzen. Da die Raumforderung das Kontrastmittel aufnahm, nicht aber die Niere, schienen die beiden auch nicht miteinander in einer direkten Verbindung zu stehen. Der Ursprung des Gebildes blieb damit weiterhin unklar.

Auch die CT-Untersuchung hatte damit keinerlei weiteren Erkenntnisse über das Wesen des „Gebildes“ erbracht. Die Radiologen gaben in ihrem Befund an, dass es sich am ehesten wohl um ein entzündlich bedingtes Jejunumkonglomerat, also um eine Veränderung im mittleren Abschnitt des Dünndarms handeln könnte. Möglich wären auch Raumforderungen anderen Ursprungs, beispielsweise ein Lymphom. Lymphome sind in der Regel bösartige Tumoren des lymphatischen Systems. Der in Frage kommenden Möglichkeiten ergaben sich also viele, von einer relativ harmlosen entzündlichen Veränderung bis zu einem sehr bösartigen Tumor, ließ die Diagnose zur CT-Untersuchung Spielraum für ausgiebige Internetrecherchen, die fast alle nicht besonders beruhigend waren.

Wie nun weiter? Sowohl die Ultraschalluntersuchung als auch das CT hatten keine klaren oder sich widersprechende Diagnosen erbracht. Es war immer noch völlig offen, was das nicht gerade kleine Gebilde unbekannten Ursprungs in meinem Körper eigentlich war. Es half nichts, es musste endlich eine brauchbare Diagnose her, um Klarheit zu bringen und mir auch meine innere Ruge wieder zu geben.

Ich bin eine sehr rationale Person und bilde mir ein, auch mit schwierigen Lebenssituationen gut umgehen zu können. So sehe ich mich zumindest selbst und das wird mir auch von meiner Familie und Freunden bestätigt. Wie vielen Menschen machen jedoch auch mir im Leben am meisten unklare Situationen Angst. Ich finde, sobald man seinen Feind kennt, kann man einen Plan schmieden, um sich aus der Situation zu lösen aber gegen einen unbekannten Feind kämpft es sich am schwersten.

Auch diese Raumforderung machte mir vor allem eines, nämlich Angst. Selbst wenn es sich nicht um einen bösartigen Tumor handeln würde, müsste ich das Geschwulst irgendwann allein auf Grund seiner schieren Größe entfernen lassen, was nach einer Vielzahl von Operationen in meinem Leben eine erneute Operation bedeutet hätte. Meine Gedanken kreisten unablässig um die Frage, ob es sich nicht doch um eine bösartige Veränderung handeln könnte. Wie sollte es dann weitergehen? Als Hauptverdienerin meiner Familie musste ich dafür sorgen, dass unser nicht gerade geringer Hauskredit und zudem das monatliche Schulgeld für die Grundschule meines Sohnes, einer auf Sprachen spezialisierte Ersatzschule, pünktlich überwiesen werden konnten. Wie sollte das alles ohne finanzielle Rücklagen funktionieren? Mit diesen drückenden Gedanken ging ich abends ins Bett, konnte kaum schlafen und stand zermürbt zerschlagen und völlig übermüdet morgens wieder auf. Auf Arbeit hatte ich zum Glück sehr viel Routinearbeit zu erledigen, so dass es vermutlich nicht weiter auffiel, dass ich sehr unkonzentriert bei der Sache war.

Mit Abstand am Schwierigsten war es, gegenüber unserem Sohn, der gerade seine ersten Tage in der Grundschule war und dabei war, neue Freunde zu finden, optimistisch und froh zu bleiben. Er sollte nicht merken, welche schwere Gedanken mich und meinen Mann beschäftigten. Deshalb widmete ich mich, sobald ich zu Hause war, intensiv ihm. Wir machten zusammen Hausaufgaben, sprachen über all die Dinge, die er neu gelernt hatte und bauten zusammen Legotürme. Abends kreisten dann wieder die finsteren Ahnungen in meinem Kopf und wollten mich nicht loslassen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135480
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Krebs besiegt Krebs Heilung Krebserkrankung Krebs Diagnose Sarkom Erfahrungsbericht

Autor

  • Uta Winter (Autor:in)

Von einem Tag auf den anderen verändert sich das Leben der Autorin, als sie mit Anfang 40 an einem sehr seltenen bösartigen Tumor erkrankt. Dieses Buch schildert so offen wie möglich ihre persönlichen Erfahrungen im Umgang mit dem Leben nach der schweren Operation zur Entfernung des Nierentumors.
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