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Wolfsblut im Sternenregen

von Maya Shepherd (Autor:in)
107 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 17

Zusammenfassung

In Sternen wohnen die unschuldigen Seelen von Menschen, die zu früh aus dem Leben gerissen wurden. Wenn ihr Licht erlischt, finden sie Erlösung und ziehen als Sternschnuppen ein letztes Mal durch die Nacht. Doch was, wenn Unzählige von ihnen auf einmal vom Himmel stürzen? Ist das der Anfang vom Ende? Wenn einem nur noch sechs Tage bleiben, um das Schicksal der Welt zu entscheiden, kann jede Minute entscheidend sein.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Mittwoch, 24. Oktober 2012

23.45 Uhr

Maggy und Jacob gelangen durch das Portal im Spreepark nach Königswinter. Ihr Weg führt sie zu Schloss Drachenburg, das sich nun unter der Herrschaft von Vlad Dracul befindet. Dieser empfängt sie und bietet ihnen ein Bündnis gegen Elisabeth an. Mit seiner Vampirarmee will er ihnen helfen, sie zurück in den Spiegel zu verbannen. Der Zauber kann allerdings nur von einer Hexe in der Nacht eines Blutmonds gewirkt werden. Um sicher sein zu können, dass Margery und die Vergessenen Sieben sich auf diesen Handel einlassen werden, nimmt Vlad Maggy gefangen und schickt Jacob los, um den anderen seinen Vorschlag zu unterbreiten. Sollten sie sich dagegen entscheiden, wird er Maggy nicht freilassen. Als Zeichen seines guten Willens gibt er Jacob seine magische Pfeife zurück.

Donnerstag, 25. Oktober 2012

7.00 Uhr

Ember und Philipp erfahren aus der Zeitung, dass Schloss Drachenburg von einem gewissen Vladimir Dragoran gekauft wurde. Sie vermuten, dass sich Vlad Dracul dahinter verbirgt.

8.00 Uhr

Will hinterfragt seine Gefühle für Margery, seitdem er weiß, dass sein Herz aus den beiden Herzhälften von Mary und Jacob zusammengesetzt wurde. Er fürchtet, dass er vielleicht nur glaubt, in Margery verliebt zu sein, weil er die Liebe ihrer Mutter in sich spürt. Als er ihr von seinem Verdacht erzählt, erkennt sie, dass Will ebenfalls sterben würde, wenn es Dorian gelingen sollte, Mary zu töten.

8.15 Uhr

Ember begleitet Philipp zum Polizeirevier, wo er eine Aussage zu seiner Entführung machen soll. Eine Beamtin erkennt Ember jedoch wieder, da polizeilich nach ihr gesucht wird. So kommt es, dass auch Ember sich einem Verhör unterziehen muss. Dabei geht es vor allem um Joe, der seit seiner Flucht aus Berlin als vermisst gemeldet ist. Die Polizei hat herausgefunden, dass er im Internet nach Ember gesucht hat. Sie gibt ihnen den Hinweis, dass Joe zuletzt in Begleitung einer Julia unterwegs war und sie zusammen die Schlosskommende in Ramersdorf besuchen wollten.

Danach wird sie aus dem Verhör entlassen und von ihrer Stiefmutter Barbara abgeholt. Ember versucht, mit ihr über deren Sohn Roman zu sprechen, der sie regelmäßig bedrängt. Aus Angst davor, dass Ember die Polizei benachrichtigen könnte, schließt Barbara sie in ihrem Haus ein.

8.30 Uhr

Auch Philipp muss sich den Fragen der Polizei stellen. Als er von einem ihm angebotenen Getränk trinkt, verliert er das Bewusstsein. Das Letzte, was ihm auffällt, ist, dass der Polizist einen Splitter in seinem Auge hat.

11.00 Uhr

Joe begibt sich in Begleitung von Rosalie zu Embers Wohnhaus, da er hofft, sie dort anzutreffen oder zumindest auf einen Hinweis zu stoßen, der ihm verrät, wo er sie und die anderen finden kann. Kurz bevor sie dieses jedoch erreichen, bittet Rosalie ihn, den anderen erst einmal nicht ihre wahre Identität zu verraten. Sie fürchtet, dass sie ihr sonst keine Chance geben würden. Joe hat dafür Verständnis und willigt vorerst ein.

11.30 Uhr

Roman verschafft sich Zutritt zu Embers Zimmer und bedrängt sie dort. Bevor er handgreiflich werden kann, stürmen Joe und Rosalie den Raum, um ihr zu Hilfe zu eilen. Roman erhält eine Tracht Prügel und die Warnung, nicht die Polizei zu verständigen, da sie sonst wiederkommen würden. Sobald sie das Haus verlassen haben, fragt Ember ihre beiden Retter, wo sie den letzten Tag gewesen sind. Die Erklärung, welche ihr die beiden liefern, stimmt sie skeptisch, dennoch beschließt sie, mit ihnen zum Friedhof zurückzukehren.

Zur selben Zeit wird Maggy in der Bibliothek von Schloss Drachenburg gefangen gehalten. Vlad Dracul versucht, ihr in einem Gespräch deutlich zu machen, warum das Böse Ansichtssache ist. Dabei verrät er ihr auch ein paar Erlebnisse aus seiner Vergangenheit.

13 Uhr

Philipp kommt in der Gewalt der Königin wieder zu sich. Sie will von ihm wissen, wer die anderen der Vergessenen Sieben sind. Als er sich weigert, ihr etwas zu verraten, droht sie ihm damit, seinen Eltern etwas anzutun, die sich gerade auf dem Weg zu ihm befinden.

Auch wenn es Philipp schwerfällt, kann er sich dennoch nicht dazu durchringen, auch nur einen Namen seiner Freunde preiszugeben. Wütend reißt die Königin ihm sein Herz aus der Brust.

Derweil spürt Margery im Totengräberhaus, dass ein Teil ihres Herzens soeben gestorben ist. Sie weiß instinktiv, dass es sich dabei um Philipp handelt, und erzählt Will, Simonja und Lavena von seinem Tod.

Sie sind alle zutiefst schockiert, werden aber in ihrer Trauer von Jacob gestört, der gehofft hat, sie auf dem Friedhof zu finden. Er berichtet ihnen von Maggys Gefangennahme durch Vlad Dracul und dessen Forderung für ein Bündnis. Als Margery ihm sagt, dass dies vielleicht bald nicht mehr nötig sei, weil Dorian vorhabe, die Königin zu töten, klärt Jacob sie darüber auf, dass es sich bei der Königin nicht um ihre Mutter handelt. Mary wird in dem schwarzen Spiegel gefangen gehalten. Sollte Dorian jedoch die Königin töten, könnte Mary niemals in ihren Körper zurückkehren.

13.30 Uhr

Dorian hat in seiner Zelle auf den perfekten Zeitpunkt gewartet, um die Königin töten zu können. Diesen sieht er gekommen, als er beobachtet, wie sie allein durch die Korridore des Kerkers geht.


Donnerstag,

25. Oktober 2012

Noch 6 Tage


Schlüsselwort

Donnerstag, 25. Oktober 2012

13.45 Uhr

Bonn, Schlosskommende Ramersdorf, Verlies

Dorian zögerte nicht, sondern packte die falsche Königin von hinten und schlug ihren Kopf gegen die Wand. Das tötete sie zwar nicht, machte sie aber benommen. Ein überraschter Laut entwich ihren Lippen, als ihr die Beine wegsackten. Der Angriff hatte sie gänzlich unvorbereitet getroffen. Blut lief ihr aus einer Platzwunde auf ihrer Stirn über das Gesicht, als Dorian sie in eine der angrenzenden Zellen zog. Sie sollte dort sterben, wo zuvor Unschuldige hatte leiden müssen – nicht wie eine Königin, sondern wie eine Verbrecherin.

Es musste schnell gehen, denn die nächste Patrouille war bereits auf dem Weg. Dorian riss der Königin grob ihre funkelnde Kette vom Hals, woraufhin die Edelsteine auf den schmutzigen Boden prasselten. Danach schloss er seine Hände um ihren Hals und drückte zu. Er würde Genugtuung empfinden, wenn er sah, wie das Licht in ihren Augen erlosch, und er sicher sein konnte, dass der Kampf endlich vorüber war. Dieses Biest würde niemandem mehr schaden, am wenigsten Margery. Er hatte einmal versagt und dafür bitter bezahlt.

Entsetzen stand in den Augen der falschen Königin, als sie den Sohn des Drachen erkannte. Sie blinzelte gegen das Blut an, welches ihr die Sicht raubte. »Töte mich«, krächzte sie gegen den festen Griff seiner Hände an, »und deine Mary ist für immer verloren.«

Ein boshaftes Funkeln schlich sich in ihren Blick. Obwohl Dorians Hände um ihren Hals lagen, fühlte sie sich ihm immer noch überlegen. Den ersten Moment des Schreckens hatte sie schnell überwunden.

Die Erwähnung von Marys Namen war wie eine Klinge, die in Dorians Herz gestoßen wurde. Aber sie führte nicht dazu, dass er von der Frau vor sich abließ, sondern er verstärkte seinen Druck. Er blickte in das Gesicht, das er einmal mehr geliebt hatte als alles andere auf der Welt, und empfand nur noch Hass. Die falsche Königin hatte nicht nur Mary getötet und ihr Aussehen gestohlen, sondern auch ihr Andenken beschmutzt und sie in ein Monster verwandelt, das sie zu ihren Lebzeiten nie gewesen war. Die Bürger Engellands würden sich nicht als gütige Königin an sie erinnern, sondern sprachen von ihr nur als die Blutige Mary, deren Grausamkeit keine Grenzen gekannt hatte. Die falsche Königin hatte nicht nur sie getäuscht, sondern auch Dorian und Margery glauben lassen, dass Mary keine Liebe mehr für sie in sich trug.

»Du hast sie mir bereits vor langer Zeit genommen«, entgegnete er skrupellos. »Ich werde nicht zulassen, dass du auch noch meine Tochter tötest.«

Er hatte die Hoffnung verloren und sich damit abgefunden, dass er Mary niemals wiedersehen würde. Sie war tot, und alles, was ihm blieb, war die Rache. Die Hexe würde für ihre Taten bezahlen und musste ausgeschaltet werden, bevor sie noch mehr Unheil anrichten konnte.

Für Margery.

Für Rosalie.

Und letztlich auch für Mary. Um ihre Kinder zu schützen, wäre sie zu allem bereit gewesen.

»Du kannst mich nicht aufhalten«, spie sie ihm entgegen. »Niemand kann das.«

Sosehr er sie auch verabscheute, musste er ihre Furchtlosigkeit anerkennen. Er hatte nie zuvor jemanden getroffen, der so sehr von sich selbst überzeugt war. Aber ihre Boshaftigkeit würde ihr schon bald vergehen – dafür würde er sorgen.

Entschlossen drückte er fester zu. Die Königin schnappte nach Luft und ihre Augen quollen hervor, in die sich nun doch eine Prise Angst schlich. Erkannte sie, wie ernst es war?

»Mary ist nicht tot«, würgte die falsche Königin hervor. Ihre Gesichtshaut lief bereits bläulich an.

»DU LÜGST!«, brüllte Dorian und konnte es gar nicht erwarten, dass sie für immer verstummen würde. »Das ist nur ein Trick, aber darauf falle ich nicht mehr herein.«

Sie spürte, wie sie starb, und hätte ihm alles erzählt, nur um ihr Leben zu retten. Er durfte sich nicht von ihr beirren lassen – sie musste sterben.

»Lass …«, stieß sie aus, aber kam nicht weiter, weil ihr die Luft wegblieb. »Beweis …«

Es bereitete ihm Genugtuung, sie derart hilflos zu erleben. Es war nur noch eine Frage von Sekunden.

»Spiegel«, würgte sie in blanker Verzweiflung hervor.

Es war wie ein Schlüsselwort, denn unweigerlich musste Dorian daran zurückdenken, wie alles mit den Spiegeln begonnen hatte. Seitdem diese einen Weg in das Schloss gefunden hatten, begann Mary, sich zu verändern. Er hatte immer geahnt, dass es etwas mit ihnen zu tun haben musste, aber war nie auf eine Erklärung gestoßen.

Nur einen Moment war er abgelenkt, da traf ihn ein Schlag hart im Rücken. Er stöhnte auf und blickte sich um, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Holzknüppel erneut in seine Richtung geschwungen wurde. Instinktiv ließ er die falsche Königin los, um den Angriff abzuwehren. Seine Hände bekamen die Waffe zu fassen und entrissen sie dem Zwerg, der sie geschwungen hatte.

Rumpelstein stürzte sich auf ihn. Er mochte Dorian körperlich unterlegen sein, aber das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Dabei kreischte er aus vollem Hals, sodass sämtliche Wachen, die sich in der Nähe befanden, alarmiert wurden.

Die falsche Königin nutzte die Ablenkung, um sich auf allen vieren außer Reichweite zu schleppen. Sie war noch nicht wieder im Besitz ihrer Kräfte, sondern rang weiterhin nach Atem. Aber es würde nicht lange dauern, bis sie sich erholt hätte oder Verstärkung eingetroffen wäre.

Dorian ahnte, dass er seine Chance vertan hatte, und versuchte, sich von dem klammernden Griff des Zwerges zu befreien. »Warum dient Ihr dieser Hexe?«, rief er verständnislos. »Seid Ihr mit einer bösen Seele zur Welt gekommen oder hat sie etwas gegen Euch in der Hand?«

Er wusste nichts von Rumpelstein, aber er war ihm von jeher nicht geheuer gewesen. Es waren nicht nur sein ungepflegtes Äußeres und die Gerüchte, die man über ihn hörte, sondern ihn umgab auch etwas Unheimliches. Die echte Mary hätte ihn nie in der Nähe ihrer Tochter geduldet.

»Ich stelle mich auf die Seite der Gewinner«, fauchte Rumpelstein und kratzte Dorian mit seinen langen, schmutzigen Fingernägeln über das Gesicht.

Gerade als er den Zwerg zu fassen bekam und ihn zu Boden drückte, platzten zwei Wölfe in die Zelle. Sie knurrten und fletschten ihre Zähne, während sie sich ihm bedrohlich näherten. Einer von ihnen war braun, der andere schwarz mit einem silbrigen Glanz. Beide hatten golden glühende Augen.

Sie stürzten sich auf Dorian, der nun von Rumpelstein ablassen musste. Mit ihren scharfen Zähnen bissen sie ihn in den Unterarm, als er sie abzuwehren versuchte. Er schrie vor Schmerz auf und trat um sich, dadurch machte er die Tiere jedoch nur noch aggressiver. Das schnappende Geräusch ihrer Kiefer war zu hören, als sie nach ihm fassten. Haut riss und Blut floss, während Dorian seine Gegenwehr aufgab und sich zusammenkrümmte. Er hatte keine Chance.

Der schwarze Wolf thronte über ihm, bereit, ihm die Kehle aus dem Hals zu reißen, als die falsche Königin ihm Einhalt gebot. »Töte ihn nicht«, befahl sie mit rauer Stimme. »Ich brauche ihn lebend.«

Knurrend ließ der Wolf von ihm ab. Mit gesträubtem Fell trat er zu seiner Herrin, die sich wieder aufgerichtet hatte. Die Haut rund um ihren Hals war mit einem dunklen Mal versehen, wo zuvor ihre Kette gelegen hatte.

Drei seelenlose Jäger erreichten nun die Zelle und richteten ihre Armbrüste auf Dorian. Er war von Feinden umzingelt.

Die Königin betrachtete ihn mit einer Mischung aus Zorn und Triumph. »Es ist kein Zufall, dass deinem Töchterlein genau dann die Flucht gelingt, wenn Papa wieder unter den Lebenden weilt«, sprach sie ihn an. »Ich vermute, dass du noch das Blut ihres treuen Jägers auf deinen Lippen schmeckst.«

Sie meinte Wilhelm und vermutete richtig, dass es sein Blut gewesen war, das Dorian zurück ins Leben geholt hatte. Er würde sich jedoch lieber die Zunge abbeißen, als ihr auch nur irgendetwas zu verraten. Deshalb schwieg er. Sein Körper war übersät von Bisswunden, die bereits pochend zu heilen begannen.

»Er kann ihnen nicht allein geholfen haben«, ergriff Rumpelstein das Wort. Geduckt kauerte er neben der Königin. »Im inneren Kreis versteckt sich ein Verräter.«

Die Königin bedachte ihren Diener, der ihr gerade das Leben gerettet hatte, mit Geringschätzung. »Ein falscher Jäger?«, überlegte sie und schaute zu ihren drei Wächtern mit den Armbrüsten, die viel zu spät aufgetaucht waren. Sie kontrollierte sie nur durch die Splitter in ihren Augen. »Oder ein treuloser Wolf?« Ihr eisiger Blick glitt zu dem Wolf mit dem schwarz-silbrigen Fell und den goldenen Augen. Die Tiere waren durch einen Zauber an sie gebunden. »Meist hintergehen einen jene, die einem am nächsten stehen und von denen man es am wenigsten erwarten würde«, zischte sie und starrte verächtlich auf Rumpelstein herab, als würde sie ihn beschuldigen.

Dieser ließ sich davon nicht verunsichern. »Ihr werdet es herausfinden, Majestät«, beteuerte er demütig.

»Das werde ich«, versicherte sie ihm drohend, bevor sie ihr Augenmerk wieder auf Dorian richtete. »Aber zuvor werde ich dafür sorgen, dass Vater und Tochter sich wieder in die Arme schließen können.« Sie lächelte ihn boshaft an, als sie auf ihn zutrat. »Was glaubst du, mein Schöner, wie viel ist deinem lieben Kind dein Leben wert? Mehr als ihr eigenes?«

Dorian wünschte sich, dass der Wolf ihn umgebracht hätte. Er wäre lieber tot, als Margery in Gefahr zu bringen. Die Königin würde ihn benutzen, um das Mädchen zu sich zu locken. Was immer jetzt geschehen würde, war seine Schuld. Er war ein Narr und hatte erneut versagt!

»Legt ihn in Ketten«, befahl die Königin ihren Jägern genüsslich. »Wir werden noch viel Spaß miteinander haben.«

Dorian kämpfte gegen die Männer an, als sie sich ihm näherten. Es brauchte mehrere Pfeile und scharfe Wolfszähne, um ihn unter Kontrolle zu bringen. Die Wunden wären bereits in wenigen Stunde verheilt, aber der Schmerz würde weiter in seiner Brust wüten. Am schlimmsten war es, zu wissen, dass er nichts tun konnte. Sie waren ihm überlegen und er konnte sich allein nicht befreien.

Als er bewegungsunfähig am Boden lag, ragte die Königin über ihm auf und lächelte mit dem Gesicht eines Engels auf ihn herab.

»Mary«, krächzte er entkräftet. »Lebt sie noch?«

Wenn es auch nur einen Funken Hoffnung gab, wäre sein Zögern nicht umsonst gewesen. Er hätte nicht alles ruiniert, sondern einen großen Fehler vermieden. Mit diesem Gedanken könnte er sich trösten, um dem standzuhalten, was ihm nun drohte.

Das Lächeln der Königin wurde noch breiter. »Mary ist an einem Ort, an dem sie lieber tot als lebendig wäre.«

Traurige Wahrheit

Donnerstag, 25. Oktober 2012

14.00 Uhr

Königswinter, Friedhof des versunkenen Mondes, Totengräberhaus

Es war schwer, dem Drang zu widerstehen, nicht direkt aus dem Haus zu stürmen und zur Schlosskommende zu eilen, um zu verhindern, dass Dorian Marys letzte Chance auf Rettung zunichtemachte. Margery konnte den Gedanken kaum ertragen, dass ihre Mutter die ganzen Jahre hinter dem Spiegel gelebt haben sollte, unfähig, in das Geschehen einzugreifen. Sie hatte immer gehofft, dass es eine Erklärung für ihr Verhalten gab. Als Kind war sie erfinderisch darin gewesen, sich Ausreden für die bösen Taten ihrer vermeintlichen Mutter einfallen zu lassen. Aber vor allem im letzten Jahr hatte sie sich gezwungen, zu akzeptieren, dass die Königin zu ihrer Feindin geworden war. Sie hatte Mary aufgegeben.

»Wir brauchen eine spiegelnde schwarze Oberfläche«, entschied Jacob und hastete die Stufen vom Keller hoch in den Flur.

Margery lief ihm aufgeregt nach, dicht gefolgt von Will. Simonja blieb bei Lavena, die sich weiterhin im Untergeschoss vor der Sonne versteckt halten musste.

Jacob ging von einem Raum zum anderen, bis sein Blick auf den ausgeschalteten Fernseher im Wohnzimmer fiel. Er war genau das, was er gesucht hatte, auch wenn er sich unsicher war, ob sein Vorhaben funktionieren würde.

»Margery, komm zu mir«, forderte er die Prinzessin auf.

Nebeneinander nahmen sie vor dem Gerät auf dem Boden Platz und blickten in eine dunkle, leicht verzerrte Spiegelung ihrer selbst.

»Du musst dreimal ihren Namen aussprechen«, flüsterte Jacob andächtig.

Margery blickte ihn skeptisch an, aber tat, was er verlangte.

»Mary«, sagte sie laut, wobei ihre Stimme vor Nervosität bebte. »Mary.«

Ängstlich suchte sie den Blick von Will, der sich im Hintergrund hielt und sie ermutigte, fortzufahren.

»Mary!«

Sie starrten gebannt auf den Fernseher, doch nichts geschah. Nur die Enttäuschung zeigte sich mit jeder Sekunde, die verstrich, immer deutlicher auf Margerys Gesicht.

»Warum funktioniert es nicht?«, wollte sie kläglich von Jacob wissen. Ihr Hals fühlte sich wie zugeschnürt an.

»Ich hatte gehofft, dass es mit jeder schwarzen Spiegelung klappt«, antwortete er entschuldigend. Er hatte nur ein einziges Mal mit Mary sprechen können. Seitdem er sich wieder an die Vergangenheit erinnern konnte, hatte bisher die Zeit gefehlt, um es noch einmal zu probieren.

»Was, wenn es zu spät ist?«, hauchte Margery verzweifelt und kämpfte mit den Tränen.

Jacob schüttelte bestimmt den Kopf. »Selbst wenn Dorian die Königin bereits getötet hätte, würde das an Marys Zustand nichts ändern. Ihre Seele wäre immer noch in dem Spiegel gefangen.«

Nur könnte sie dann nie wieder in ihren Körper zurückkehren, ergänzte Margery gedanklich.

»Da!«, schrie Will plötzlich und deutete auf die dunkle Oberfläche des Fernsehers.

Die Spiegelung verschwamm wie bei einem See, in den ein Stein geworfen worden war. Nur langsam klärte sich die Sicht und anstatt der Umrisse von drei Personen war dort nur noch eine zu erkennen. Helle Locken rahmten ein Gesicht mit weit aufgerissenen Augen ein. Unglaube stand in ihnen. Erst bebten die Lippen der Frau, dann ihr ganzer Körper. Es war unverwechselbar die Königin, aber sie hatte nichts Herablassendes oder Gemeines mehr an sich, sondern wirkte schwach – am Boden zerstört.

»Margery?«, krächzte sie, ehe ein lautes Schluchzen ihrer Kehle entwich. Unbändige Sehnsucht lag darin. Nach all der Zeit schien sie kaum glauben zu können, dass sie nun wirklich die Möglichkeit hatte, mit ihrer Tochter zu sprechen.

Tränen lösten sich aus Margerys Augen und perlten über ihre Wangen. »Mama? Bist du es wirklich?« Auch sie konnte nicht fassen, was hier gerade geschah. Noch vor einer Stunde hätte sie diese Wendung für unmöglich gehalten. Es war, als würde ein Traum in Erfüllung gehen. Dort war ihre Mutter, ihre echte Mutter. Die Frau, die sie so sehr geliebt hatte und die keinem Menschen je etwas zuleide getan hätte. Sie existierte immer noch.

Mary presste hilflos ihre Hände gegen die Scheibe. »Ich bin hier. Ich war es die ganze Zeit«, wisperte sie gequält. »Es tut mir so leid, dass ich dir nicht helfen konnte.«

Margery rutschte auf ihren Knien direkt vor den Fernseher und drückte ihre Hände gegen die ihrer Mutter – die kalte Oberfläche zwischen ihnen. Wenn sie die Distanz doch nur hätte zerbrechen können. Sie waren sich näher als in den vergangenen Jahren und dennoch unerreichbar füreinander. So viel war geschehen und die verlorene Zeit konnte ihnen niemand je zurückgeben. Wenn Margery doch nur früher verstanden hätte, was vor sich ging.

»Ich hätte wissen müssen, dass du es nicht bist«, weinte sie schuldbewusst. »Du hättest niemals so grausam sein können.«

Tief in ihrem Herzen hatte sie es gespürt, aber dieses Gefühl immer mehr verdrängt, weil es keinen Sinn ergab und sie schwächte. Erfolglos hatte sie versucht, zu akzeptieren, dass es die Mutter aus ihren Kindheitserinnerungen nicht mehr gab, dabei war sie die ganze Zeit zum Greifen nah gewesen – verborgen hinter einer dunklen Spiegeloberfläche.

»Du konntest es nicht wissen!«, widersprach Mary ihr energisch. Sie machte ihrer Tochter keinen Vorwurf, genauso wenig wie sonst irgendjemandem. »Du warst noch ein Kind …« Ihre Stimme brach, als sie erkannte, wie groß ihre Tochter geworden war und wie viel sie verpasst hatte.

»Mama«, schluchzte Margery aufgelöst. Ihr fehlten die Worte, um zum Ausdruck zu bringen, wie sehr sie ihre Mutter vermisst hatte. Sie hätte alles dafür gegeben, um sie umarmen zu können. Das Verlangen war so übermächtig, dass sie sich sogar genau an den Duft ihrer Mutter nach Apfelblüten erinnerte. Sie fühlte sich wieder wie das achtjährige Mädchen, das nicht verstehen konnte, warum seine Mutter es von einem Tag auf den anderen nicht mehr liebte.

Mary brauchte keine Erklärung. Sie fühlte den Schmerz ihres Mädchens wie ihren eigenen. »Mein armes Kind«, seufzte sie. »All die Jahre musstest du unter dieser schrecklichen Hexe leiden. Das war das Schlimmste für mich. Ich musste tatenlos zusehen, wie sie dich quälte, und konnte dir nicht helfen. Wenn Jacob nicht gewesen wäre …«

»Dorian will sie töten«, platzte es aus ihm heraus. »Dorian will die falsche Königin töten.«

»Dorian?«, wiederholte Mary fassungslos. »Ist er nicht tot?« Entsetzen stand in ihrem Blick. Auch sie hatte versucht, sich mit einer vermeintlichen Wahrheit abzufinden, die ihr Herz nicht akzeptieren konnte.

Unter Tränen lachte Margery. »Nein, er ist genauso wenig tot, wie du es bist.« Es war unglaublich, aber sie hatte ihre Eltern zurück. Jetzt musste alles gut werden. »Er weiß nicht, dass du in dem Spiegel gefangen bist. Wenn er die Königin tötet, dann …« Sie konnte es nicht aussprechen – so durfte es nicht enden.

»Dann kann sie dir nichts mehr antun«, erwiderte Mary beruhigend.

Scheinbar hatte sie jede Hoffnung verloren, dass sie je wieder frei sein würde. Vielleicht hatte sie das gemusst, um überleben zu können. Margery konnte sich gar nicht vorstellen, wie es sein musste, Jahre mit den eigenen Gedanken gefangen zu sein, die sich immer im Kreis drehten. Die meisten hätten an Marys Stelle wohl den Verstand verloren. Was hatte sie am Leben erhalten? An welche Hoffnung hatte sie sich geklammert?

»Das ist nicht das Ende, Mary«, sagte Jacob bestimmt. »Ich werde einen Weg finden, um ihn aufzuhalten. Das verspreche ich dir!«

»Du kannst nicht jeden retten«, warnte Mary ihn, ehe ihr Blick zurück zu ihrer Tochter glitt und sich ein zufriedenes Lächeln auf ihre Lippen legte. »Ich bin glücklich, solange es meine Kinder sind.«

Margery hatte erst am Tag ihres sechzehnten Geburtstags in Engelland von Vlad Dracul erfahren, dass sie eine lebende Schwester hatte. Ihr Name war Rosalie und wenn sie ihrem Großvater glauben durfte, wollte diese ihren Tod. Sie kam jedoch nicht dazu, ihre Mutter danach zu fragen, denn ein Klopfen an der Haustür ließ sie alle innehalten.

Sobald Margery den Blick von ihrer Mutter abwandte, war diese verschwunden. Zurück blieben nur ihr eigenes Spiegelbild und die kalte Oberfläche des Fernsehers.

»Mama«, rief sie erschrocken und klopfte gegen die Scheibe. Sie war noch nicht bereit, sie so schnell wieder gehen zu lassen, nachdem sie gerade erst wieder zueinandergefunden hatten. »Mama!«

Panisch hämmerte sie gegen den Fernseher und brüllte dazu: »Mary, Mary, Mary«, aber diese zeigte sich nicht mehr. Der erneute Verlust brannte ein Loch in ihre Brust und schürte ihre Angst, dass sie ihren Vater zu spät warnen würden. Sie durfte ihre Mutter nicht verlieren. Nicht schon wieder. Das könnte sie nicht verkraften, nachdem sie nun endlich die Wahrheit kannte.

Verzweifelt fuhr sie zu Jacob herum. »Wo ist sie hin?«

»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Das ist auch erst das zweite Mal, dass ich Kontakt zu ihr aufgenommen habe. Vielleicht ist es nur für eine kurze Zeit möglich.« Er deutete zur Tür. »Wir müssen uns jetzt erst einmal um unseren Besuch kümmern, danach können wir es noch einmal versuchen.«

Es fiel Margery schwer, sich von dem Fernseher zu lösen, da er ihre einzige Verbindung zu ihrer Mutter war. Ihr Innerstes war in Aufruhr und fühlte sich wund und verletzlich an. Wie sollte sie auch nur einen klaren Gedanken fassen, wenn sie nur an ihre Mutter denken konnte?

Will hob seine Armbrust an und schritt auf die Tür zu, während Jacob sich schützend vor Margery aufbaute. Ein Blick durch den Spion ließ Will aufatmen und als er öffnete, trat Ember ein. Ihr Anblick erinnerte Margery daran, dass es in ihrem Leben noch mehr Menschen gab, für die es sich zu kämpfen lohnte – Ember war einer davon. Sie war ihre erste Freundin gewesen und hatte sich bedingungslos für sie eingesetzt. Ohne sie wäre Margery vielleicht nicht mehr am Leben.

Schnell kam sie hinter Jacob hervor und schlang ihre Arme um ihre Freundin. Es tat gut, auch sie an ihrer Seite zu wissen. Ember war jedoch nicht allein gekommen, sondern in Begleitung von Joe und einer Fremden.

Will traf der Anblick seines besten Freundes wie ein Pfeil ins Herz. Vor weniger als zwei Wochen hatte ein geheimnisvoller Brief sie aus ihrem gewohnten Leben nach Königswinter gelockt – seitdem war nichts mehr wie zuvor. Sie hatten beide getrennt voneinander Herausforderungen meistern müssen, die so gewaltig waren, dass sie nicht hatten wissen können, ob sie sich je wiedersehen würden.

Ohne zu zögern, umarmten sie einander und kamen sich dabei fast wieder wie die zehnjährigen Jungen vor, die sich gemeinsam gegen den Rest der Welt gestellt hatten. Es fühlte sich richtig an, dass sie nun wieder vereint waren. So hatte es begonnen und so musste es weitergehen. Sie konnten die Abenteuer nur gemeinsam bestehen.

Erst jetzt, da Joe wieder bei ihm war, erkannte Will, wie sehr er ihm zuvor gefehlt hatte. Ohne Joe und Maggy, ohne seine Familie, war er nur ein halber Mensch. Sie brachten die besten Seiten in ihm zum Vorschein. Sie kannten ihn, wie es sonst niemand tat.

»Na, hast du endlich ausgeschlafen?«, zog Joe ihn scherzhaft auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Wurde aber auch Zeit. Maggy ist ohne dich kaum auszuhalten. Ist sie auch hier?«

Er wollte ihm von der Gefangennahme durch Vlad Dracul erzählen, doch dann erinnerte er sich wieder an das fremde Mädchen, das etwas unbeholfen im Eingang stand, und musterte es, unsicher, wie viel er vor ihm preisgeben durfte.

Joe bemerkte seine Bedenken, trat neben sie und legte ihr sowohl beschützend als auch besitzergreifend den Arm um die Schultern. »Das ist Julia. Ich verdanke ihr mein Leben.«

»Hallo zusammen«, sagte sie mit einem schiefen Grinsen. »Keine Sorge, ich bin bereits in diese verrückte Geschichte eingeweiht. Ihr könnt also offen reden.«

Obwohl Margery sich sicher war, dass sie das Mädchen noch nie zuvor gesehen hatte, kam ihr etwas an ihm, das sie nicht benennen konnte, vertraut vor. Dennoch war es seltsam, dass jemand Unbeteiligtes einfach so in ihr Versteck spazierte. Fragend blickte sie zu Ember.

»Die Königin hatte sich Joe geschnappt, aber Julia hat ihm geholfen, zu fliehen«, ergänzte diese widerwillig, als hätte sie Zweifel daran, dass es sich dabei um die Wahrheit handelte. Trotzdem schien sie dem Mädchen zu vertrauen, denn sonst hätte sie es nicht mit zum Friedhof gebracht.

Margery versuchte, ihre widerstreitenden Gefühle, die sie sich nicht erklären konnte, zu ignorieren. Sie hielt Julia freundlich ihre Hand entgegen. »Hallo, ich bin Margery.«

Julia ergriff diese und sah ihr in die Augen. »Ich habe schon viel von dir gehört. Du bist also die Prinzessin, für die sieben Menschen bereit sind, zu sterben.«

Eine angespannte Stille breitete sich im Flur aus. Julias Wortwahl war ungewohnt für jemand Außenstehenden, beinahe anklagend. Sie musterte Margery mit Neugier, als versuche sie, zu verstehen, was sie so besonders machte. Dabei hielt sie ihre Finger etwas länger und fester als nötig, ehe sie diese wieder freigab.

»Sie sieht aus wie Mary«, murmelte Jacob auf einmal. »Das gleiche Haar, die blauen Augen …«

»Wer?«, fragte Julia unbeeindruckt.

Margery erlaubte sich nun, sie etwas genauer zu betrachten, und sah die Ähnlichkeit ebenfalls, auch wenn sie nicht unbedingt auf den ersten Blick sichtbar war. Julia trug ihr Haar streng zurückgebunden und wirkte auch sonst eher draufgängerisch. Aber das Himmelsblau ihrer Iriden war unverkennbar.

War es das? Erinnerte dieses fremde Mädchen sie an ihre Mutter?

»Das ist Zufall«, behauptete Joe, ehe Jacob sich weiter erklären konnte. »Viele Blondinen haben blaue Augen.«

Margery versuchte, Julia direkt anzusehen, doch diese hatte sich von ihr weggedreht.

War das wirklich nur eine Verwechslung? Konnten sich zwei Menschen so ähnlich sehen, ohne miteinander verwandt zu sein? Was, wenn Jacob sich irrte? Immerhin war ihr Name Julia und nicht Rosalie.

»Nein, das ist es nicht«, entgegnete Jacob. »Ihr ganzes Gesicht …«

Joe baute sich vor Julia auf und schirmte sie mit seinem Körper vor den Augen der anderen ab. Warum tat er das? Was fürchtete er, das sie entdecken könnten?

»Was ist mit Maggy?«, fiel er Jacob ungehalten ins Wort. »Ich will wissen, wo meine Schwester ist!«

Die anderen waren hin- und hergerissen zwischen Jacobs Bemerkung und Joes Frage nach seiner Schwester. Schließlich war es Will, der sich dazu entschloss, die Neuankömmlinge auf den neusten Stand der Entwicklungen zu bringen. Er erzählte ihnen von Maggy und Vlad Draculs Bedingungen für ihre Freilassung, ebenso von Mary, die im Spiegel gefangen gehalten wurde, und von Dorian, der die falsche Königin umbringen wollte. Nur Philipps Name fiel in seinem Bericht nicht.

Ember entging dieses Detail nicht. »Ist Philipp noch nicht von der Polizei zurückgekehrt?«, fragte sie schließlich, weil sie die Ungewissheit nicht länger ertrug.

Ob sie die traurige Wahrheit besser aushalten könnte?

Für einen Tag

Donnerstag, 25. Oktober 2012

14.30 Uhr

Königswinter, Friedhof des versunkenen Mondes, Totengräberhaus

Die längsten Sekunden in Embers Leben verstrichen, als ein angespanntes Schweigen auf ihre Frage folgte. Eine erdrückende Trauer legte sich über die Gruppe, die ihr Antwort genug hätte sein sollen.

»Er ist tot.«

Es war Margery, die sie von der Ahnungslosigkeit befreite, auch wenn die Wahrheit sich mehr wie eine Strafe anfühlte.

In Embers Ohren begann es zu rauschen. »Was?«, murmelte sie verständnislos. Sie hatte ihre Freundin gehört, aber konnte es nicht glauben. Alles in ihr sträubte sich dagegen, diesen Gedanken zuzulassen. Sie wollte nicht, dass die Bedeutung in ihr Innerstes vordrang. Unsichtbare Barrieren erhoben sich vor ihrem Herzen und schirmten es ab.

Margery hielt sie behutsam an beiden Armen fest und schaute ihr eindringlich in die Augen. »Ich habe gespürt, wie der Teil von mir, der in seinem Herzen war, gestorben ist. Die Königin muss ihn irgendwie in ihre Gewalt gebracht haben.«

Nein. Sie wollte das nicht hören. Sie wollte Margery nicht sehen, nicht ihr Mitleid und nicht ihr Bedauern. Wenn Ember sie länger betrachten würde, müsste sie ihr glauben.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Philipp mit seinem einnehmenden Lächeln, dem sie nur so schwer hatte widerstehen können. Er war voller Leben gewesen und hatte selbst in schwierigen Situationen die Ruhe bewahrt. Niemand sonst konnte Menschen ein so gutes Gefühl geben wie er. Er erhellte jeden Raum, den er betrat, durch seinen Charme und seinen Humor.

»Nein«, entfuhr es ihr stur und sie schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann nicht sein.«

Sie riss sich von Margery los und blickte von einem Gesicht zum anderen. Irgendjemand musste ihr doch sagen können, dass es ein Missverständnis war.

Philipp und sie waren zusammen bei der Polizei gewesen, um wenigstens den Schein eines normalen Lebens aufrechtzuerhalten. Dort hätte er sicher sein sollen. Es durfte nicht sein, dass die Königin ihn sich ausgerechnet dort geschnappt hatte. War es danach geschehen? Vielleicht, als er vor dem Gebäude auf sie gewartet hatte?

Margery zog sie erneut an sich. »Es tut mir leid«, raunte sie ihr ins Haar. »Ich weiß, wie gern du ihn hattest.«

Ember konnte ihren Trost nicht ertragen. Er machte es endgültig und drohte jeden Zweifel in ihr zu löschen. »Was willst du damit sagen?«, brauste sie auf und riss sich von Margery los. Sie würde alles abstreiten, wenn es Philipp nur wieder lebendig machte.

Margery erklärte es nicht, sondern blickte sie nur entschuldigend an. Sie wussten beide, wie sie es gemeint hatte. Es war unübersehbar gewesen – für jeden. Nur Ember hatte sich innerlich dagegen gesträubt. Sie hatte nicht wahrhaben wollen, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte, und immer wieder neue Ausreden erfunden, um ihren Gefühlen aus dem Weg gehen zu können. Zuletzt hatte sie sogar versucht, Philipp von sich zu weisen, indem sie ihm vorwarf, unsensibel zu sein. Noch während sie es aussprach, hatte sie gewusst, wie falsch sie lag. Nun würde sie niemals die Gelegenheit erhalten, es richtigzustellen.

Nein! Das konnte nicht wahr sein. Das war nicht fair! Er würde niemals erfahren, wie sehr sie ihn für seine Freundlichkeit und seinen Mut bewundert hatte. Nicht erst jetzt, sondern schon sehr lange. Auch in Engelland war er immer wie ein Lichtblick in dem dunklen Schloss gewesen, nicht nur für Margery, sondern auch für sie. Bei seinen seltenen Besuchen hatte er einen Glanz in die Einsamkeit gebracht, der alles etwas strahlender wirken ließ. Sie hatte ihn aus der Ferne bewundert, ohne je das Wort an ihn zu richten. Was sollte ein Prinz auch von einer Dienstmagd wissen wollen? Und überhaupt gab es Wichtigeres.

Es gab immer Wichtigeres.

Das war die beste Lüge von allen. Es war ihr leichtgefallen, sich einzureden, dass sie keine Zeit hätten und sich auf den bevorstehenden Kampf konzentrieren mussten. Danach, sollte es ein Danach geben, hätte sie sich immer noch Gedanken um ihre unbedeutenden Gefühle machen können.

Seltsamerweise hatte sie immer daran geglaubt, dass es ein Danach geben würde. Bis jetzt.

Jetzt spielte es keine Rolle mehr, was sie gefühlt oder nicht gefühlt hatte. Sie brauchte nicht mehr darüber nachzudenken und konnte ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Wesentliche richten. Aber warum fühlte sich dann auf einmal alles so sinnlos an? So als könnten sie gar nicht mehr gewinnen, weil sie das Wichtigste bereits verloren hatten?

»Lasst uns ins Wohnzimmer gehen«, schlug Margery vor und legte erneut ihren Arm um Ember. Sie meinte es gut und wollte für sie da sein, doch für Ember fühlte sich das ganze Haus plötzlich zu eng an. Die starrenden Blicke der anderen brannten sich wie Feuer in ihre Haut. Was erwarteten sie von ihr? Dass sie in Tränen ausbrach? Warum tat sie es nicht? Warum blieben ihre Augen trocken?

»Ich brauche einen Moment für mich«, würgte sie hervor und bahnte sich einen Weg durch Joe und Julia zurück ins Freie.

»Bleib in der Nähe«, hörte sie Jacob hinter sich rufen, aber sie dachte nicht an die anderen, Margery oder die böse Königin.

Ihr Kopf dröhnte, als sie die ersten Grabsteine passierte und weiter auf den Friedhof lief. Dort lagen die Toten – viele von ihnen waren längst vergessen. Wenn es niemanden mehr gab, der um sie weinte, wurden ihre Gräber einfach ausgehoben und neue Särge hineingelegt. Neue Verstorbene, die es wert waren, dass man ihren Verlust betrauerte.

Nichts war unendlich und sie hätte es von allen am besten wissen sollen. Sie konnte nur deshalb zwischen den Jahrhunderten wechseln, weil sie unbedeutend war. Das Leben ging auch ohne sie weiter. Sie hinterließ keine Spuren, sondern widmete ihr Dasein jedes Mal einem höheren Zweck. Auch in Engelland war es nie um Philipp gegangen, genauso wenig wie um sie oder irgendeinen anderen der Sieben. Sie hatten alle das Risiko gekannt und waren es willentlich eingegangen, um Margery und Engelland zu schützen.

Doch seitdem hatte sich etwas verändert. In ihr hatte sich etwas verändert. Es war ihr Herz, denn es gehörte ihr nicht mehr allein. Philipp hatte sich einen Platz darin erkämpft, obwohl sie ihr Innerstes so tapfer verteidigt hatte. Einen Fleck, der jetzt ausblutete. Tropfen für Tropfen vergoss ihr Herz die Tränen, die sie ihren Augen verbot. Obwohl sie nun die Wahrheit kannte, blieb da immer noch dieser winzige, irrationale Zweifel, dass es nicht die ganze Wahrheit war. Es durfte nicht sein!

Warum hatte sie es nicht gespürt, als er aus dieser Welt gewichen war? Hätte sie es nicht fühlen müssen? Hätte ihr Herz nicht wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde stehen bleiben müssen? Das Leben konnte doch nicht einfach weitergehen, als wäre nichts geschehen.

Nun kamen die Tränen doch. Wie eine Flut rollten sie über Ember hinweg und zwangen sie in die Knie. Sie weinte laut und mit abgehackten Schluchzern, als ob sie zu lange die Luft angehalten hätte. Neben dem nächsten Grabstein sank sie zu Boden und gab sich dem Schmerz hin, der sich in ihr ausbreitete. Er war derart überwältigend, dass sie nicht glaubte, dass er jemals wieder vergehen würde. Alles in ihr loderte lichterloh – ein verzehrendes Feuer, das nichts als Asche zurückließ.

Es war schlimm gewesen, als sie ihre Mutter verloren hatte, aber das hier war anders. Maria hatte den Tod nicht gefürchtet und ihm stolzen Hauptes entgegengeblickt – bereit für ein neues Leben. Aber für Philipp gab es keine zweite Chance. Sie würden sich nicht wiedersehen, weder in dieser noch in einer anderen Welt. Warum hatte ausgerechnet er sterben müssen? Warum hatte es nicht sie anstatt ihn getroffen? Wenn sie doch nur die Zeit zurückdrehen könnte – sie hätte ihr Leben für seines gegeben.

Die Liebe, die nun Embers Herz verbrannte, würde immer unerfüllt bleiben. Immer würde sie sich fragen, was hätte sein können, wenn sie etwas mutiger gewesen wäre. Hätte Philipp ihre Gefühle erwidert? Hätte er sie geküsst? Hätten sie zusammen glücklich sein können, und sei es auch nur für einen Tag? Wenn Ember bereits gestern gewusst hätte, dass sein Leben heute enden würde, wie hätte sie seine letzten Stunden mit ihm verbracht? Gewiss hätte sie ihm keine Vorwürfe gemacht, sondern ihn wissen lassen, dass es für sie immer nur ihn gegeben hatte. Was interessierten sie die Mädchen, die er vor ihr gehabt hatte? Sie waren vergangen, aber sie hätte seine Gegenwart sein können.

Wenigstens für einen Tag.

Doch dieser Tag würde niemals kommen, denn Philipp war tot. Es war so ungerecht und sie spürte einen Groll auf diese Welt, die ihn ihr genommen hatte, allen voran die böse Königin.

Wie sollte sie ohne ihn weiterleben? Wie sollte sie den Glauben an das Gute bewahren, wenn sie ihn verloren hatte? Er war das Beste gewesen, was ihr seit Langem passiert war. Er hatte es nicht verdient, zu sterben – er am wenigsten.

Wiedervereinigung

Donnerstag, 25. Oktober 2012

14.45 Uhr

Königswinter, Friedhof des versunkenen Mondes, Totengräberhaus

Rosalie hatte sich schon oft den Moment ausgemalt, wenn sie Margery gegenübertreten würde – es kam nie so, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Ihre erste Begegnung war im Schloss Drachenburg gewesen, auch wenn Margery sich nicht mehr daran erinnerte. Mitten in der Nacht hatte Rosalie sich aus Neugier in ihr Zimmer geschlichen, um zu sehen, wie ihre Schwester lebte. Es war dunkel gewesen und deshalb hatte sie nicht allzu viel erkennen können, aber das Gefühl von Neid und Ungerechtigkeit in ihrem Inneren hatte sie nicht vergessen. Als Margery aufgewacht war, hatte Rosalie sie in die Spitze des Nordturms gelockt und sie dort niedergeschlagen, ohne auch nur ein Wort mit ihr gewechselt zu haben.

Damals wie heute erschien Margery ihr ungemein naiv. Eine Fremde betrat ihr Versteck und alles, was sie tat, war, ihr die Hand zu reichen. Die Herzlichkeit ihrer Schwester rührte Rosalie nicht, sondern machte sie wütend, weil es ein weiterer Beweis dafür war, wie unterschiedlich ihre bisherigen Leben verlaufen sein mussten. Nur jemand, der behütet aufgewachsen war, konnte es sich leisten, Fremden mit Freundlichkeit zu begegnen. Rosalie hatte hingegen gelernt, in allem Unbekannten einen Hinterhalt zu vermuten.

Joe hatte zwar versprochen, dass er ihr Geheimnis nicht verraten würde, aber es fiel ihr schwer, ihm zu vertrauen. Nicht, weil er ihr je Grund gegeben hätte, an ihm zu zweifeln, sondern weil sie es nicht gewohnt war, sich auf andere zu verlassen. Es war immer ein Risiko.

Umso weniger konnte sie verstehen, dass Margery ihr Leben von sieben Personen abhängig machte, wovon einer bereits das Zeitliche gesegnet hatte. Wie konnte sie mit der Gewissheit weiterleben, die Schuld an seinem Tod zu tragen? Sie mochte nicht das Schwert geschwungen haben, das sein Herz durchbohrt hatte, aber es war nur ihretwegen auf ihn gerichtet worden.

Sie musste sich zwingen, Margery nicht allzu offensichtlich zu mustern, denn sie spürte den bohrenden Blick des Märchenschreibers deutlich auf sich. Seitdem sie das Haus betreten hatte, starrte Jacob sie an.

Sie sieht aus wie Mary, hatte er gesagt und Rosalie damit kein Kompliment gemacht. Sie wollte nichts mit ihrer Mutter oder irgendjemandem aus ihrer Familie gemein haben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739489032
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Grimm Rotkäppchen Dornröschen Märchenadaption Schneewittchen Vampire Romance Fantasy Urban Fantasy Historisch

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
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Titel: Wolfsblut im Sternenregen