Lade Inhalt...

Träume aus Gold und Stroh

von Maya Shepherd (Autor:in)
120 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 11

Zusammenfassung

In Träumen ist nichts unmöglich: Tote können wieder ein Teil unseres Lebens sein, wir erreichen die Ziele, von denen wir nicht einmal zu hoffen wagen, und wir sind mit den Menschen zusammen, nach denen wir uns sonst nur aus der Ferne sehnen. Ich bin in der Lage, Träume zu schenken. Meine Begabung hat sich herumgesprochen und dadurch wurde die böse Königin auf meine Familie aufmerksam. Sie nennt mich Rapunzel. Manchmal frage ich mich, ob es nicht eher ein Fluch ist, anders zu sein.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1812

Margery

Nachdem Margery Wilhelms Medaillon aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter gestohlen und bei der Flucht einen von Embers unsichtbar machenden gläsernen Schuhen auf der Treppe verloren hat, versteckt sie sich im Keller in einem Schrank. Von dort muss sie mit ansehen, wie die Königin ein Mädchen umbringt und in dessen Blut badet. Sie hält das Medaillon umschlossen und wünscht sich, dass Wilhelm ihr zu Hilfe kommt. Als dieser tatsächlich unter einem Vorwand den Raum betritt, wirft die Königin ihm vor, sie verraten zu haben. Sie legt ihre Hände um seinen Hals, um ihn zu erwürgen. Daraufhin verlässt Margery ihr Versteck in der Hoffnung, das Interesse ihrer Mutter von Wilhelm auf sich zu lenken.

Diese will Wilhelm dennoch töten. Bevor es jedoch dazu kommt, taucht eine vierte Person auf, die den Raum in grünen Nebel hüllt. Es ist Jacob, der Margery mit sich zieht. Als der Dunst sich lichtet, befinden sie sich zusammen mit Wilhelm bei den königlichen Ställen. Dieser ist verwirrt und behauptet, dass er all das schon einmal erlebt und es sich damals anders abgespielt habe. Jacob versucht ihm zu erklären, dass sie nicht mehr zwischen Traum und Erinnerung unterscheiden können, da die Vergangenheit durch sie verändert wird.

Reitend fliehen sie in den Finsterwald. Die Königin ist ihnen mit ihren Wölfen und den seelenlosen Jägern dicht auf den Fersen. Die drei gelangen an einen Abgrund, sodass sie ihren Verfolgern nicht entkommen können.

Margery zeigt Wilhelm sein Medaillon, welches sie von ihrer Mutter zurückgeholt hat. Er glaubt, dass er sie damit alle retten könnte, weil es bedeuten würde, dass die Königin nun keine Macht mehr über ihn hat. Als er das Schmuckstück berührt, hofft er, aus einem Traum zu erwachen, doch es geschieht nichts. Stattdessen hat die Königin sie eingeholt und kreist sie mit ihren Anhängern ein.

Jacob fordert sie zu einem Zweikampf heraus. Weil die Königin sich darauf aber nicht einlässt, sieht er keinen anderen Ausweg, als erneut in seine Pfeife zu blasen und grünen Nebel zu erzeugen.

Wilhelm wird im Kampf von einem Messer in die Brust getroffen, während Jacob als Einzigem die Flucht gelingt. Margery findet Wilhelm und fleht ihre Mutter an, ihm mithilfe von Magie das Leben zu retten. Diese verweigert ihr den Wunsch und lässt sie von den Jägern gefangen nehmen, um sie bis zu ihrem Geburtstag in einem Turm im Wald gefangen zu halten.

Will/Wilhelm

Die Königin lässt den schwer verletzten Wilhelm in den Keller ihres Schlosses bringen, um ihn dort zu töten. Als sie versucht, ihm das Herz aus der Brust zu reißen, verspürt sie große Schmerzen, die es ihr unmöglich machen, Wilhelm etwas zuleide zu tun. Rumpelstilzchen erkennt, dass dafür der Zauber der geteilten Herzen verantwortlich sein muss. Wilhelm trägt eine Hälfte des Herzens der Königin in seiner Brust, auch wenn diese sich nicht mehr daran erinnern kann, es je mit ihm geteilt zu haben. Das macht es für sie unmöglich, ihn zu töten. Um zumindest die Macht über ihn zurückzuerlangen, setzt die Königin ihm erneut Spiegelscherben in die Augen ein, die sie alles sehen lassen, was er sieht. Außerdem machen sie ihn emotionslos.

Wilhelms letzter Gedanke gilt Margery. Dabei erinnert er sich daran, dass sie noch sein Medaillon bei sich hat.

Maggy/Gretel

Maggy erwacht auf einer ihr unbekannten Lichtung mitten im Wald. Sie erinnert sich daran, in den goldenen Apfel gebissen zu haben, um in die Traumwelt von Engelland zu gelangen und dort nach Will und den Vergessenen Sieben zu suchen. Plötzlich spricht ein Frosch sie an, der sie für jemand anderen zu halten scheint. Um nicht sein Misstrauen zu erregen, tut Maggy, was er sagt.

Er rät ihr, ins Lebkuchenhaus zurückzukehren, um Baba Zima nicht länger warten zu lassen. Die Hexe erwartet sie bereits zornig und trägt ihr auf, die Rüben mithilfe ihrer Magie zu schälen. Maggy ist sich nicht bewusst darüber, magische Kräfte zu besitzen, und noch weniger, wie man Gebrauch von ihnen macht. Durch die Anweisungen des Frosches gelingt es ihr, den Befehl von Baba Zima auszuführen.

Als sich jedoch herausstellt, dass die Hexe die Rüben nur als Beilage für einen Braten möchte, der aus einem gefangenen Knaben bestehen soll, kann Maggy nicht länger tatenlos zusehen und stürzt sich auf die Kinderfresserin.

Während sie miteinander kämpfen, betritt eine weitere Person den Raum. Es ist ein Mädchen in Maggys Alter, welches einen roten Umhang und eine Sense bei sich trägt. Sie nennt Maggy Gretel und stellt sich selbst als Simonja vor. Sie ist nicht nur die Enkelin der Hexe, sondern auch der Tod. Der Baum des Lebens hat ihr aufgetragen, ihre Großmutter umzubringen. Diese verwandelt sich in einen Raben und flieht aus dem Lebkuchenhaus.

Sie kommt jedoch nicht weit, da sie von einem Wolf gefangen wird, der sie als Vogel zurück zu Simonja trägt. Die Hexe kehrt in ihre menschliche Gestalt zurück und fleht ihre Enkeltochter um Erbarmen an. Als diese sich ungnädig zeigt und ihre Sense hebt, um Baba Zima den Kopf vom Hals zu schlagen, lässt diese den Schokoladenboden rund um das Haus schmelzen, sodass Simonja und der Wolf darin feststecken und versinken wie in einem Moor.

Die Hexe wendet sich nun wieder Maggy zu und befiehlt ihr durch ihre Magie, in das Haus zurückzukehren und in den Ofen zu klettern, um sich darin braten zu lassen. Maggy kann sich nicht dagegen wehren. Doch der Frosch springt aus ihrer Tasche in das Gesicht von Baba Zima, sodass diese für einen Moment die Kontrolle über Maggy verliert. Diese nutzt die unerwartete Chance und schnappt sich den Frosch, bevor sie die Hexe in den Ofen stößt und die Tür verschließt. Baba Zima stirbt in den Flammen.

Simonja und ein junger Mann eilen in das Lebkuchenhaus, da der Zauber, der sie an den Boden band, mit dem Tod der Hexe erlosch. Der junge Mann stellt sich als ein Gestaltwandler heraus, der zwischen Mensch und Wolf wechseln kann. Sein Name ist Arian und er ist ein Freund von Simonja.

Bevor die beiden die Hütte verlassen, erkundigt sich Simonja bei Maggy nach Hänsel und fragt sie, ob es etwas Neues von ihm gibt. Maggy ist erstaunt über diese Frage, da sie angenommen hatte, dass ihr Bruder von der Hexe getötet wurde.

Später spricht der Frosch sie auf ihre Unwissenheit an. Ihm ist nicht entgangen, dass sie weder zu wissen scheint, wer sie selbst ist, noch, wer er ist. Maggy gibt zu, dass sie sich nicht daran erinnern kann, was geschehen ist. Durch ein paar gezielte Hinweise lässt der Frosch sie seine wahre Identität erraten. Er ist Hänsel und somit ihr Bruder, auch bekannt als Joe.

Maggy hat ihn in einen Frosch verwandelt, um ihn vor der Hexe zu beschützen. Sie ist die Einzige, die den Fluch rückgängig machen kann. Nur hat sie nie herausgefunden, wie es funktioniert, sodass Hänsel seit fast einem Jahr als Frosch leben muss.

2012

Joe kauft sich am Berliner Hauptbahnhof eine Fahrkarte nach Königswinter. Da noch etwas Zeit bis zur Abfahrt bleibt, beschließt er, sich in einem Café zu stärken. Er hat gerade seine Bestellung aufgegeben, als er von einem Mädchen angesprochen wird, welches ebenso hübsch wie unverschämt ist. Sie macht sich grundlos über ihn lustig und beleidigt ihn. Zum Abschluss klaut sie auch noch seinen Kaffee. Er ärgert sich zwar über sie, aber denkt sich nichts weiter bei der Begegnung.

Ausgerechnet ihr begegnet er jedoch im Zug. Sie hat eine Platzreservierung für den Sitz neben ihm. Beide sind davon wenig begeistert, das hindert sie aber nicht daran, sich zu unterhalten. Dabei kommt heraus, dass sie ebenfalls nach Königswinter unterwegs ist.

Aus der anfänglichen Ablehnung entwickelt sich zwischen den beiden eine Unterhaltung, an der sie beide Gefallen finden. Das Mädchen stellt sich Joe als Julia vor. Als sie ihn nach dem Grund für seine Reise fragt, behauptet er, dass er auf einer geheimen Mission sei, von der das Schicksal der Welt abhängt. Sie lacht darüber, da sie ihm natürlich nicht glaubt.

Der Tag der offenen Tür

Königswinter, Bahnhof, Oktober 2012

»Also dann«, meinte Joe unsicher. »Wir sind da.«

Julia und er standen sich vor dem Ausgang des Bahnhofs von Königswinter gegenüber. Die Fahrt hatte keine siebzehn Stunden gedauert und sie waren auch nicht an einem verlassenen, in Nebel gehüllten Bahnsteig angekommen. Es fiel kein blutiger Schnee vom Himmel. Alles war vollkommen normal. Für einen Sonntagvormittag waren sogar relativ viele Leute unterwegs, die sich an ihnen vorbeischoben, da sie den Weg blockierten.

»In welche Richtung musst du denn? Oder darfst du mir das auch nicht verraten?«, scherzte Julia. Vielleicht hoffte sie insgeheim, dass sie doch noch ein Stück zusammen gehen könnten.

Joe hätte nichts dagegen gehabt. Absolut nicht. Die Zeit mit ihr war wie im Flug vergangen, aber er wusste nicht, wie er ihr erklären sollte, dass er nach einem Mädchen suchte, das er überhaupt nicht kannte, ohne dabei komisch zu klingen. Je mehr er ihr erzählte, für umso bekloppter würde sie ihn halten. Eigentlich wäre es sogar egal, immerhin würden sie sich nie wiedersehen. Aber er wollte sie dennoch nicht tiefer in die Sache hineinziehen.

»Ich werde hier abgeholt«, erwiderte er deshalb ausweichend und schloss dadurch aus, dass sie denselben Weg hatten. »Und du?«

»Ich auch«, grinste sie. »Mal sehen, wer schneller ist.«

Joe zwang sich, ebenfalls zu lächeln, auch wenn ihm jede andere Antwort gelegener gekommen wäre. Jetzt musste er warten, bis sie weg war, dabei hatte er es eilig, zur Handwerkskammer zu kommen.

Er hatte sich vor seinem Aufbruch aus der WG einen Plan von Google Maps ausgedruckt, immerhin konnte er sein Handy nicht benutzen. Demnach müsste er etwa zwanzig Minuten zu Fuß gehen, aber oft stimmten die Angaben nicht und man brauchte tatsächlich viel länger. Der Tag der offenen Tür würde nur bis zum frühen Nachmittag gehen und er konnte sich nicht einmal sicher sein, dass die Ember Harms, die er dort zu treffen hoffte, auch wirklich jene war, für die er sie hielt.

Julia musterte ihn interessiert von der Seite. Das Schweigen zwischen ihnen war seltsam, nachdem sie die ganze Zugfahrt über ohne Unterlass miteinander geredet hatten. Spürte sie seine Nervosität?

»Fährt hier gleich ein Batmobil vor oder schießt eine TARDIS aus dem Boden?«, feixte sie, um die Stille zu überbrücken.

Joe schnaubte. »Ich finde es sehr schmeichelhaft, dass du mich für einen Superhelden hältst, aber ich muss dich leider enttäuschen, denn ich bin nur ein gewöhnlicher Mensch und nicht einmal ein Zeitreisender.« Er blickte die Straße demonstrativ rauf und runter, als würde wirklich jeden Moment ein Auto um die Ecke biegen, auf das er wartete. »Mein Chauffeur müsste aber gleich mit dem Aston Martin kommen.«

Sie kicherte belustigt. »James Bond also.«

»James?«, wiederholte Joe mit gerunzelter Stirn. »Wer ist schon James? Das ist höchstens ein Name für einen Butler.« Er streckte ihr seine Hand hin, wobei er seinen verruchtesten Blick aufsetzte. »Mein Name ist Bond. Joe Bond.«

Sie legte ihre Hand in seine. Die schlichte Berührung sorgte für ein ordentliches Kribbeln in seinem Bauch. »Ich wollte schon immer ein Bond-Girl sein«, sagte sie und imitierte seine Miene, nur dass sie dabei wirklich verführerisch und nicht albern aussah.

In der kurzen Zeit, die sie einander kannten, hatte es immer wieder Augenblicke gegeben, in denen die Luft zu brennen schien und alles um sie herum in den Hintergrund trat. Joe hatte so etwas zuvor noch nie erlebt. Es machte ihn an, aber noch mehr bereitete es ihm Angst. Bevor er noch errötete, ließ er sie lieber los und trat einen Schritt zurück, um etwas Distanz zwischen sie zu bringen. Auch wenn Julia keine ganz so unausstehliche Zicke war, wie er zu Anfang gedacht hatte, traute er ihr nicht. Sie spielte nur mit ihm, und selbst wenn nicht, er hatte keine Zeit, um es herauszufinden. Ihre Begegnung würde sich auf eine unvergessliche Zugfahrt beschränken.

»Dein Chauffeur ist ziemlich unzuverlässig«, stellte sie fest, da bereits gut zehn Minuten seit ihrer Ankunft verstrichen waren.

»Deine Verwandten aber auch«, konterte Joe und bemühte sich, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Wenn sie nicht bald abgeholt wurde, müsste er sich eine Ausrede einfallen lassen, um sich von ihr zu verabschieden.

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist nichts Neues.«

Dabei bemerkte er einen Ausdruck an ihr, der ihm zuvor noch nicht aufgefallen war. Obwohl sie behauptete, dass es anders war, wirkte sie enttäuscht. Es war wie ein Funken ihres Inneren, der durch ihre sonst so unbekümmerte Fassade brach. Auch ein scheinbar perfektes Mädchen hatte seine Sorgen.

Er hätte sie gern danach gefragt, verbot es sich aber. Sie war eine Fremde und dabei musste es auch bleiben.

»Ruf sie doch mal an«, schlug er ihr vor.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich fahre mit dem Taxi und lasse sie die Rechnung bezahlen«, entgegnete sie mit einem schadenfrohen Grinsen. Was immer er zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden. »Soll ich dich ein Stück mitnehmen?«

»Das ist wirklich nett von dir, aber ich werde einfach noch etwas warten«, lehnte er höflich ab. »Es regnet ja nicht.«

Für einen Tag Mitte Oktober war es sogar ziemlich mild.

»Okay.«

Sie stand vor ihm und schaute mit ihren großen blauen Augen zu ihm auf, als suche sie nur nach einem Grund, zu bleiben.

»Wie lange bleibst du eigentlich in Königswinter?«, hörte Joe sich plötzlich fragen.

Er hätte ihr eine schöne Zeit mit ihrer Familie wünschen sollen und vielleicht die Hand zum Gruß heben können, aber stattdessen zog er das Gespräch in die Länge. Warum hatte er Julia auch ausgerechnet jetzt treffen müssen? Warum nicht in zwei Wochen, wenn das alles vorbei wäre? Oder bereits vor einem Jahr?

Schlechter Einfall, dachte er direkt. Vor einem Jahr hätte sie mich keines Blickes gewürdigt. Kein Mädchen steht auf dicke Jungs. Schon gar keins wie Julia.

»Ich weiß noch nicht genau, vielleicht eine Woche. Und du?«

Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit.

»Vermutlich bis zum ersten November«, antwortete er ihr und verriet damit mehr, als er wollte.

Rumpelstein hatte gesagt, dass sich am einunddreißigsten Oktober das Schicksal der Welt entscheiden würde. Entweder würde Schneewittchen sterben oder ihre Mutter. Ganz gleich, wie es auch ausgehen mochte, Joe hoffte, dass er nicht allein nach Berlin zurückreisen musste, sondern Maggy und Will bei sich haben würde. Ihretwegen war er nach Königswinter gekommen und ohne sie konnte er nicht heimkehren. Sie waren seine Familie. Sie zu verlieren würde ihn zerbrechen, sodass er diese Möglichkeit nicht einmal in seinen Gedanken zuließ.

»Hey, wäre es nicht verrückt, wenn wir uns dann zufällig wiedersehen würden?«, sagte sie mit einem zaghaften Lächeln. »Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir ausgerechnet am selben Tag und zur selben Zeit mit demselben Zug zurückfahren?«

»Vermutlich gleich null«, gab er zu, hoffte aber dennoch, dass es so kommen würde. Wäre das nicht sogar ein Zeichen, wenn nicht gar Schicksal?

Verdammt, jetzt höre ich mich schon an wie Maggy.

»Wäre aber cool«, setzte er möglichst lässig hinterher.

Sie nickte. »Ja, fände ich auch.«

Vielleicht hoffte sie, dass er nach ihrer Handynummer fragen würde, aber er tat es ganz bewusst nicht. Zum einen, weil er ihr dann hätte erklären müssen, warum er im einundzwanzigsten Jahrhundert ohne Smartphone unterwegs war, und zum anderen, weil er gar nicht in Versuchung geführt werden wollte, sich eventuell doch früher bei ihr zu melden.

Er nickte ihr mit einem schiefen Grinsen zu. »Komm gut bei deiner Familie an.«

»Du auch, bei wem auch immer«, erwiderte sie und winkte ihm zum Abschied, ehe sie auf das nächste Taxi zulief, welches nicht weit entfernt stand.

Erst jetzt bemerkte Joe, dass sie gar kein Gepäck hatte. Sie trug nur eine weiße Lederhandtasche über ihrer Schulter, vermutlich von irgendeinem teuren Designer. Da passte nicht einmal genug für eine Übernachtung rein.

Wer fuhr Verwandte besuchen, ohne irgendetwas mitzunehmen? Bei dem Begriff hatte er an Tanten, Onkel oder Großeltern gedacht, aber eventuell war auch ein Elternteil gemeint. Vielleicht war Julia ein Scheidungskind, das sowohl in Berlin als auch in Königswinter ein Zuhause hatte. Das würde den traurigen Ausdruck von zuvor erklären.

Er sollte sich wirklich keine Gedanken darüber machen, denn die Wahrscheinlichkeit, sie wiederzusehen, war tatsächlich gleich null. Aber es hatte etwas angenehm Normales, sich über ein Mädchen den Kopf zu zerbrechen, anstatt über Flüche, Vampire, Hexen und Phönixe nachdenken zu müssen.

Er hätte erleichtert sein müssen, als das Taxi an ihm vorbeifuhr, aber stattdessen fühlte es sich wie eine verlorene Chance an.

Schnell öffnete er seine Sporttasche und holte die Wegbeschreibung hervor. Er hatte genug Zeit vertrödelt.

Die Handwerkskammer war in einer ehemaligen Schule untergebracht. Es war ein altes Gebäude mit Ziegeldach, weißer Fassade und grünen Fensterläden. Eine Mauer umschloss den Hinterhof. Von dort waren Musik und Stimmengewirr zu hören. Außerdem stieg Joe der Duft von süßen Crêpes und Bratwürstchen in die Nase. Sein Magen reagierte darauf mit einem Knurren, immerhin lag sein Frühstück schon einige Stunden zurück. Dazu kam der Stress.

Früher hatte er sich bei Sorgen immer mit Essen getröstet. Entweder Fast Food oder unüberschaubare Mengen von Süßigkeiten. Manchmal auch beides durcheinander. Es hatte ihn viel Überwindung gekostet, sich das abzugewöhnen und seinen Kummer stattdessen mit Ablenkung zu bekämpfen. Allerdings musste er sich jetzt auf den Grund für seine Reise konzentrieren: Ember Harms finden!

Die Eingangstür stand offen und war mit bunten Luftballons geschmückt. Dahinter wurde er direkt von einem Jungen seines Alters begrüßt, der ihm einen Flyer mit den Programmpunkten in die Hand drückte. Joe überflog sie schnell, bis er die Vorführung zur Glasbläserei mit einer Raumangabe fand.

Ein Blick auf die Uhr im Foyer verriet ihm allerdings, dass er diese um fünfzehn Minuten verpasst hatte. Es waren die fünfzehn Minuten, die er mit Julia vor dem Bahnhof gewartet hatte, anstatt sich auf den Weg zu machen.

Zähneknirschend folgte er dennoch den Hinweisschildern, die ihn in den Hinterhof führten. Sicher blieben die Auszubildenden länger, als ihre eigentlichen Vorführungen dauerten, um Fragen zu dem Beruf zu beantworten.

Trotz des Getümmels und der einzelnen Stände entdeckte er schnell eine große Plane, unter der sich ein Ofen befand. Davor stand ein Mann mittleren Alters, der in ein erhitztes Glasröhrchen blies, sodass daraus eine Kugel entstand. Er formte sie unter den Augen der Zuschauer.

Joe hielt derweil Ausschau nach einem Mädchen mit roten Haaren. Vielleicht kümmerte sie sich um den Verkauf der Glasfiguren und Vasen. Oder sie machte gerade Pause, denn er entdeckte niemanden, auf den Embers Beschreibung gepasst hätte. War es möglich, dass sie in dieser Welt anders aussah?

Er schlenderte um den Stand und tat so, als hätte er großes Interesse an den gläsernen Kerzenständern. Möglichst unauffällig hob er einen nach dem anderen an, hielt ihn gegen das Licht und überflog den Preis. Eigentlich hoffte er nur darauf, von einer Auszubildenden angesprochen zu werden. Er hätte auch selbst das Wort ergriffen, allerdings war der Meister umringt von Leuten und jemand anderes war an dem Stand nicht zu entdecken.

Zwischen den kleinen Figuren entdeckte er plötzlich einen winzigen Schuh. Er war filigran gearbeitet und sein Glas schimmerte in allen Regenbogenfarben wie ein Swarovski-Stein, sobald das Licht darauf fiel. Maggy hätte er gefallen. Es war eindeutig eine Anspielung auf Cinderella. Das war nicht unbedingt verwunderlich. Aber bestimmt hatte sich nie jemand der anwesenden Leute gefragt, warum Aschenputtel in dem Märchen ausgerechnet einen Schuh aus Glas trug. Joe kannte nun die Antwort.

»Das ist wirklich ein tolles Stück«, sprach ihn plötzlich der Meister an, dem nicht entgangen war, wie Joe die Miniatur bewunderte.

Die Zuschauer hatten sich aufgelöst und schlenderten nun an ihnen vorüber.

»Haben Sie das hergestellt?«, fragte Joe höflich.

»Nein, das war meine Auszubildende im ersten Lehrjahr. Sie ist sehr talentiert.«

Der Mann sprach voller Anerkennung über seine Schülerin. Vermutlich hatte er nie zuvor eine solche Begabung erlebt.

»Ist sie heute auch hier?«, erkundigte Joe sich möglichst beiläufig. »Ich interessiere mich auch für eine Ausbildung im Kunsthandwerk und würde ihr gern ein paar Fragen stellen.«

»Ember ist schon weg, aber du kannst gern mit Julian sprechen. Er ist bereits im dritten Lehrjahr und macht nächstes Jahr seine Abschlussprüfung«, schlug der Meister ihm vor und winkte einen Jungen von einem der Getränkestände herbei.

Joe musste sich zwingen, seine Enttäuschung zu verbergen. Warum war Ember schon weg? Die Veranstaltung sollte doch noch einige Stunden gehen. Wie konnte er jetzt an Informationen über sie kommen, ohne sich verdächtig zu benehmen? Womöglich war das alles eine Sackgasse und er verschwendete nur seine Zeit, wenn er weiter nach diesem Mädchen suchte.

Julian war ein schlaksiger Junge, der seine braunen Haare in einem Pferdeschwanz trug. Er wirkte schüchtern, als er mit gesenktem Blick zu ihnen trat.

»Julian, dieser junge Mann würde sich gern über die Ausbildung informieren. Kümmerst du dich bitte darum?«

Es war keine Frage des Meisters, sondern eine Aufforderung. Er klopfte seinem Lehrling auf die Schulter, ehe er wieder an den Ofen zurückkehrte.

Joe reichte ihm seine Hand. »Hallo, ich bin Joe«, stellte er sich freundlich vor.

Der andere erwiderte zwar die Geste, aber er hatte einen schlaffen Händedruck. Es war mehr ein Tätscheln. »Hallo. Wie kann ich dir helfen?«

»Ist es schwierig, einen Ausbildungsplatz als Glasbläser zu bekommen?«, begann Joe, weil er nicht wusste, was er fragen sollte, um auf Ember zu sprechen zu kommen.

Julian zuckte mit den Schultern. »Es gibt nur wenige Stellen und verhältnismäßig viele Bewerber.«

Joe tat so, als würde er verstehen, wovon der andere sprach. »Sicher werden Mädchen bei der Einstellung bevorzugt, oder?«, meinte er und stieß Julian vertraulich mit der Schulter an, als wären sie Verbündete.

Der lächelte zwar unsicher, ging aber ansonsten nicht darauf ein. »Ich glaube nicht.«

»Ich habe im Programmheft gelesen, dass eine Ember Harms die Vorführung gemacht hat. Leider habe ich sie verpasst. Aber gerade habe ich erfahren, dass sie erst im ersten Lehrjahr ist. Warum hast du denn nicht dein Können gezeigt? Du bist doch sicher viel besser als sie, oder?«

Julian sah ihn an, als würde er die Frage nicht verstehen. »Niemand ist besser als Ember. Herr Borowski hat sie schon für Wettbewerbe angemeldet. Sie wird vermutlich ein Lehrjahr überspringen.«

Joe verspürte ein aufgeregtes Kribbeln. Das konnte kein Zufall sein. Diese Ember musste genau jene sein, nach der er suchte. Er musste sie kennenlernen, und das so bald wie möglich.

»Wow, das ist beeindruckend. Meinst du, ich könnte mich auch mal mit ihr unterhalten?«

»Sie ist leider schon weg«, entgegnete Julian. »Direkt nach ihrer Vorführung musste sie gehen.«

»Wie schade«, seufzte Joe. »Warum das denn?«

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es ging ihr nicht gut.«

»Könntest du mir vielleicht ihre Telefonnummer geben, damit ich sie anrufen kann?«

Julian, der zuvor sowohl in seiner Mimik als auch Tonlage ziemlich ausdruckslos gewesen war, reagierte plötzlich misstrauisch. »Das ist gegen den Datenschutz.«

»Ich verrate es keinem«, meinte Joe und zwinkerte ihm zu. »Ich will ihr nur ein paar Fragen stellen und ich habe dich doch auch nicht nach ihrer Adresse gefragt. Was ist schon dabei?«

Julian schüttelte bestimmt den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du unbedingt mit ihr reden möchtest, musst du in die Werkstatt kommen und dort nach ihr fragen.«

Joes Hoffnung, an die Nummer zu kommen, war nur gering gewesen, sodass Julians Reaktion ihn nicht überraschte. »Ist sie morgen denn da?«

»Wenn sie nicht zum Arzt geht und sich krankschreiben lässt, dann ja«, entgegnete der Auszubildende leicht genervt.

»Kannst du mir bitte die Adresse geben?«

Wortlos reichte Julian ihm eine Visitenkarte. »Hast du sonst noch irgendwelche Fragen?«

»Nein, das war es schon. Vielen Dank«, verabschiedete sich Joe und sah zu, dass er von dem Gelände kam. Sicher würde Julian seinem Meister von dem seltsamen Gespräch erzählen und dann wäre es besser, wenn er nicht mehr in der Nähe war.

Schnell lief er durch die kopfsteingepflasterten Gassen, die von alten Fachwerkhäusern gesäumt wurden. Es war ein uriges Städtchen, ganz anders als das laute und volle Berlin. Antike Schilder hingen über den geschlossenen Ladeneingängen und bepflanzte Blumentöpfe sorgten für Farbkleckse. Die Restaurants hatten Namen wie ›Zur goldenen Gans‹ oder ›Altes Fährhaus‹. Ein bisschen schien die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Ein gemütlicher Ort, an dem man sich wohlfühlen konnte.

Dieses Bild war so vollkommen anders zu dem, das sich ihm bei seinem ersten Besuch geboten hatte: Nebel, verlassene Straßen, verrammelte Türen, zugenagelte Fenster. Alles düster und grau. Er war wie in eine Parallelwelt eingetaucht, zu der er nun keinen Zutritt mehr hatte, während seine Schwester und sein bester Freund noch darin gefangen waren.

Als er eine Art Stadtzentrum erreichte, in dessen Mitte eine Kirche thronte, ließ er sich auf einer Bank nieder. Ältere Ehepaare und Familien mit Kindern schlenderten an ihm vorbei.

Irgendwie musste er den restlichen Tag und die Nacht rumbekommen, bevor er morgen die Werkstatt aufsuchen würde. Eventuell könnte er Ember abfangen, bevor sie ihre Arbeit aufnahm. Vorausgesetzt, dass sie kam und sich nicht krankmeldete. Das wäre die schlimmste Option.

In seinem Portemonnaie hatte er noch etwa fünfundfünfzig Euro. Wenn er Glück hatte, könnte er sich damit eine Nacht in einem Mehrbettzimmer in einer Jugendherberge leisten. Was sollte er dann allerdings die nächsten Tage machen, falls Ember gar nicht die war, für die er sie hielt, oder sie sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern konnte, so wie Maggy? Er konnte nicht davon ausgehen, dass sie ihn bereitwillig zu sich einladen würde, sobald sie ihn sah.

Kurzzeitig überlegte er, noch mal das Lebkuchenhaus aufzusuchen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Zum einen würde er es vermutlich gar nicht finden und zum anderen wollte er dort nicht allein sein. Er war jetzt sozusagen obdachlos.

Obwohl es in Königswinter nun viel harmloser und normaler war als noch vor einer Woche, hätte er sofort getauscht, wenn dafür Maggy und Will wieder bei ihm gewesen wären. Er vermisste sie beide. Zu dritt war alles so viel leichter. Er brauchte sich um nichts Gedanken zu machen, da seine Schwester mit ihrem klugen Kopf immer eine Lösung fand. Will sorgte dafür, dass es ihnen in jeder noch so aussichtslosen Lage einigermaßen gut ging. In ihrer Gegenwart konnte er den Miesepeter spielen und brauchte sich nicht zusammenzureißen. Nun war er jedoch auf sich allein gestellt. Er musste das alles irgendwie hinbekommen. Er musste sie retten, auch wenn er nicht wusste, wie.

Ein unerwartetes Wiedersehen

Königswinter, Bahnhof, Oktober 2012

Nachdem Joe sich bis zum Abend in der Stadt herumgetrieben hatte, beschloss er, die Nacht im Bahnhof zu verbringen. Dort wäre es sicherer und wärmer als draußen. Es gab auch eine öffentliche Toilette, in der er sich am nächsten Morgen waschen und die Zähne putzen könnte. Schließlich sollte niemand merken, dass er eine Schnupperwoche als Obdachloser machte. Außerdem wäre es ein guter Ausgangspunkt, um zu der Werkstatt zu gelangen.

Sobald das Gebäude jedoch in Sichtweite war, stieg ihm der unverwechselbare Geruch von Knoblauch, gebratenem Fleisch und salzigen Pommes in die Nase. Zu seiner Rechten befand sich ein kleiner Dönerladen. Durch die Scheibe strahlte ihm ein warmes Licht entgegen und er konnte den großen Spieß sehen, der sich im Kreis drehte. Das Fleisch darauf war knusprig. Joe lief das Wasser im Mund zusammen, als er sah, wie der Verkäufer mehrere dünne Bahnen davon abschnitt.

Eigentlich hatte er sich bei einer Bäckerei ein paar trockene Brötchen zum Abendessen kaufen wollen, schließlich musste er sein weniges Geld zusammenhalten. Aber nachdem er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte, überwältigte ihn sein Hunger. Ehe er sich bremsen konnte, kündigte ein Glockenläuten an der Tür sein Eintreten an.

Der Duft war hier noch viel überwältigender und dazu war es angenehm warm. Auch wenn die Temperaturen mild waren, spürte Joe nach mehreren Stunden draußen dennoch, dass es bereits Herbst und nicht mehr Sommer war. Seine Füße waren eiskalt und die Nacht würde noch schlimmer werden. Ein paar Minuten, vielleicht auch eine Stunde, in diesem Lokal würden ihm guttun.

Leise arabische Musik spielte im Hintergrund, als er sich eine Dönertasche und einen heißen Apfeltee bestellte. Zufällig wurde gerade einer der drei Tische frei, sodass er sich an diesem im hinteren Teil des Ladens niederließ.

Der erste Biss in das weiche Brot war eine Wohltat. Es kam ihm vor, als hätte er nicht nur ein paar Stunden nichts gegessen, sondern tagelang. Am liebsten hätte er alles heruntergeschlungen, aber er zwang sich, langsam zu essen, um möglichst viel Zeit im Warmen verbringen zu können.

Aus purer Langeweile begann er, die Speisekarte zu studieren.

»Na, Geheimauftrag ausgeführt?«, sprach ihn auf einmal eine bekannte Stimme an.

Erschrocken riss er den Kopf hoch und sah Julia vor sich stehen, die ebenfalls einen Döner und eine Cola in der Hand hielt. Er hätte absolut nicht damit gerechnet, sie noch mal wiederzusehen. In seinem Inneren breitete sich ein Glücksgefühl aus, das von der Angst getrübt wurde, sich vor ihr erklären zu müssen. Was, wenn sie durchschaute, dass er keinen Platz hatte, wo er hingehen konnte?

»Willst du mich nicht fragen, ob ich mich zu dir setze? Oder stört das deine Tarnung?«, fragte sie ihn schmunzelnd, als er sie nur anstarrte, aber nichts sagte.

»Setz dich«, murmelte er hin- und hergerissen, wie er sich verhalten sollte.

Sie ließ sich ihm gegenüber nieder und nahm einen großen Bissen von ihrer Fleischtasche. Scheinbar war sie genauso hungrig wie er.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du der Typ Mädchen bist, das Döner isst«, platzte es verblüfft aus ihm heraus.

»Ach ja?«, nuschelte sie mit vollem Mund. »Wer von uns beiden legt denn offensichtlich so viel Wert auf seine schlanke Linie und bestellt beim Bäcker Vollkornbaguette mit magerer Hähnchenbrust und ganz viel Salat?«

Schmunzelnd musste Joe sich eingestehen, dass der Punkt eindeutig an sie ging. Das hätte er jedoch vor ihr niemals zugegeben. »Gab es bei deinen Verwandten nichts zu essen?«, feixte er.

»Nicht mein Fall«, meinte sie nur und zog an ihrem Strohhalm, der in der Colaflasche steckte.

Dadurch lenkte sie Joes Aufmerksamkeit unbewusst auf ihre schönen Lippen. Am Morgen hatten sie noch von Lipgloss geglänzt, der nun verschwunden war. So gefiel sie ihm noch besser.

Ein Schwall blonder Haare fiel über ihre Schulter, die sie sich lässig aus dem Gesicht schob. »Ist dein Aston Martin immer noch nicht vorgefahren?«

Joe wusste nicht, was er sagen sollte. Auch wenn sie es spielerisch formulierte, wunderte sie sich bestimmt darüber, dass er sich nach wie vor in der Nähe des Bahnhofs aufhielt. »Ich werde den Chauffeur feuern.«

Langsam wich der amüsierte Ausdruck aus ihrem Gesicht und sie wurde ernst. Beinahe vertrauensvoll beugte sie sich in seine Richtung und fragte leise: »Ist wirklich alles okay bei dir?«

»Es ist nicht ganz so gelaufen, wie ich es geplant hatte«, gab Joe zu. »Ich hatte gehofft, heute auf jemanden zu treffen, aber habe ihn leider verpasst, sodass ich mich erst morgen darum kümmern kann.«

Es klang alles sehr kryptisch, aber sie nickte dennoch, als würde sie es verstehen. Ihr Blick glitt zu seiner Sporttasche, die er auf den Stuhl neben sich gestellt hatte. Es war nicht zu übersehen, dass er für mehrere Tage gepackt hatte.

»Hast du noch nicht in dein Hotel eingecheckt?«, wunderte sie sich. »Oder wo schläfst du heute Nacht?«

Joes erster Impuls war, sie anzulügen und zu behaupten, dass er gleich in eine Jugendherberge gehen würde, sein Hunger nur zu groß gewesen war. Aber irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen. Er war sonst niemand, der Mädchen das Blaue vom Himmel log, nur damit sie sich auf ihn einließen. Solche Typen konnte er nicht ausstehen, weshalb er sich selbst nicht so verhalten wollte. Zumal es auch gar nicht darum ging, Julia herumzubekommen – eher das Gegenteil war der Fall. Er wollte und musste sie auf Distanz halten.

»Ich werde mir die Nacht um die Ohren schlagen und von einem Club zum nächsten ziehen«, behauptete er leichthin, als würde ihm das nichts ausmachen.

Sie starrte ihn erst ungläubig an, dann schüttelte sie amüsiert den Kopf. »Joe, Königswinter ist nicht Berlin. Selbst wenn es hier mehr als eine Disco geben würde, hätte sie am Sonntag garantiert geschlossen.«

Er schämte sich, weil er vor ihr nicht zugeben wollte, dass er ein Problem hatte. »Schade«, murmelte er. »Dann werde ich die Party wohl verschieben und mir doch noch einen Schlafplatz suchen müssen.«

Obwohl er sie nicht kannte, gelang es ihm nicht, ihr in die Augen zu schauen.

»Hast du denn genug Geld?«, wollte sie sehr direkt wissen, als ahne sie die Wahrheit oder zumindest einen kleinen Teil davon.

Er rang mit sich und wartete dadurch zu lange mit einer Antwort, was ihr als solche genügte.

»Du bist in Schwierigkeiten, oder?«

Auch wenn sie es als Frage formulierte, war es eine Feststellung. Er konnte es nicht leugnen.

Schulterzuckend zwang er sich, sie anzusehen, aber es lag nichts Verurteilendes oder Misstrauisches in ihrem Blick. Sie schien sich wirklich Sorgen um ihn zu machen, obwohl sie ihn nicht kannte.

»Ich komme schon zurecht«, behauptete er, denn er wollte sie nicht mit seinen Problemen belasten, zumal er ihr ohnehin nicht von ihnen hätte erzählen können.

Irgendetwas schien ihr auf der Zunge zu liegen, denn sie musterte ihn zögerlich, als wisse sie nicht recht, ob sie es sagen oder lieber für sich behalten sollte. Ein angespanntes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, das sie schließlich zerbrach, indem sie sagte: »Du könntest mit zu mir kommen.«

Überrascht blickte er sie an. Es war alles andere als selbstverständlich, einen Jungen, den man erst am Morgen kennengelernt hatte, zu sich nach Hause einzuladen. Offenbar hatte sie beschlossen, dass keine Gefahr von ihm ausging, und empfand Mitleid mit ihm. Hätte er an ihrer Stelle genauso reagiert?

Keine Frage, unmöglich hätte er ein hübsches Mädchen in Not sich selbst überlassen können. Aber das war etwas anderes, oder?

»Haben deine Verwandten denn nichts dagegen?«, hakte er unsicher nach.

Sie winkte ab. »Ich wohne nicht bei ihnen, sondern habe ein Hotelzimmer.«

Das wunderte ihn. War es nicht selbst für reiche Leute ungewöhnlich, eine Minderjährige allein in einem Hotel unterzubringen?

»Unsere Familienverhältnisse sind etwas kompliziert«, versuchte sie, sich zu erklären, ohne zu viel zu verraten. Joe konnte es ihr nicht verübeln, schließlich hüllte er sich selbst auch in Geheimnisse.

Die Vorstellung, der kalten Bahnhofshalle entkommen zu können, war verlockend. Zu verlockend, um seine Vorsicht aufrechtzuerhalten.

»Also, wenn es dir wirklich nichts ausmacht, würde ich dein Angebot gern annehmen«, willigte er zögerlich ein.

Bei ihrer ersten Begegnung in Berlin hatte er sie für die größte Zicke auf diesem Planeten gehalten, nun entpuppte sie sich als seine Retterin.

»Du schläfst natürlich auf dem Boden«, stellte sie klar.

»Natürlich«, bestätigte er und konnte nichts gegen das Grinsen tun, welches sich in seinem Gesicht ausbreitete.

Wer hätte gedacht, dass der Tag doch noch so gut enden würde?

»Wenn du irgendetwas versuchst, schmeiße ich dich sofort raus«, drohte sie ihm, wobei allerdings auch ihre Mundwinkel verräterisch zuckten und ihren Worten die Schärfe nahmen. »Ich nehme seit mehreren Jahren Taekwondo-Unterricht. Glaub mir, du hättest keine Chance gegen mich.«

Er hob beschwichtigend die Arme. »Ich werde es nicht drauf ankommen lassen«, versprach er ihr, obwohl er sich nicht sicher war, ob sie in diesem Punkt nicht schwindelte, um ihn auf Abstand zu halten.

Es war wirklich eine seltsame Situation, jemanden, den man nicht kannte, zu sich ins Hotel einzuladen, aber ihre Sympathie für ihn war wohl größer als ihre Angst. Dieses Wissen hinterließ bei Joe ein warmes Gefühl in seinem Inneren.

Joe stand unter dem heißen Strahl der Dusche. Zusammen mit dem Wasser schien zumindest ein Teil seiner Sorgen den Abfluss hinuntergespült zu werden. Letztendlich war doch noch alles besser gekommen, als er befürchtet hatte. Abgesehen davon, dass er nicht mit Ember gesprochen hatte, was sein eigentliches Ziel gewesen war. Aber darum würde er sich morgen kümmern.

Er drehte den Hahn zu und griff nach einem der weichen Handtücher. Damit rubbelte er sich durch das kurze Haar, bevor er sich abtrocknete und es sich um die Hüfte band. Mit einer Hand wischte er über den beschlagenen Spiegel, sodass er sein Gesicht sehen konnte. Dafür, dass er die letzte Nacht kaum geschlafen hatte und den ganzen Tag unterwegs gewesen war, sah er erstaunlich munter aus.

Das musste an der Gewissheit liegen, dass Julia nur wenige Meter von ihm entfernt war. Er könnte die Tür öffnen und nur mit dem Handtuch bekleidet ins Zimmer gehen, um sie wissen zu lassen, was für einen trainierten Körper er unter seiner Kleidung versteckte. Auch wenn sie schon eine leise Ahnung davon hatte, nachdem sie im Zug seinen Bizeps ertastet hatte.

Ihr darauffolgendes Kompliment war ihm allerdings unangenehm gewesen. Zwar gab er sich wie ein cooler Aufreißer, aber in seinem Inneren war er es nicht. Deshalb legte er das Handtuch weg und schlüpfte stattdessen wieder in seine Boxershorts und das T-Shirt. Sie sollte sich schließlich nicht bedrängt von ihm fühlen, denn er war ihr sehr dankbar, dass sie ihn bei sich schlafen ließ. Außerdem wollte er es nicht darauf ankommen lassen, herauszufinden, ob sie wirklich derart gut in Kampfsport ausgebildet war, wie sie behauptet hatte.

Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, verließ er das Badezimmer und erstarrte, als er Julia am Boden neben seiner Sporttasche hocken sah. Der Reißverschluss war geöffnet und die ›Grimm-Chroniken‹ schauten heraus. Ertappt blickte sie zu ihm auf. In ihrer Hand hielt sie den angebissenen goldenen Apfel.

Mit einem Satz war Joe bei ihr und riss ihr die Frucht aus der Hand. »Hast du davon gegessen?«, brüllte er sie alarmiert an.

Sie wich erschrocken vor ihm zurück, runzelte aber gleichzeitig argwöhnisch die Stirn. »Nein, warum sollte ich? Sehe ich derart hungrig aus?«, giftete sie und stand auf. Ihr blondes Haar steckte in einem lockeren Knoten auf ihrem Hinterkopf. Sie trug schwarze Leggins und ein weites Shirt mit langen Ärmeln.

Erleichtert atmete Joe auf. Er hatte bereits mit dem Schlimmsten gerechnet. Nun, da seine Sorge um Julia gebannt war, bahnte sich allerdings die Wut einen Weg. Zornig zog er die Tasche von ihr weg. »Hast du noch nie etwas von Privatsphäre gehört?«

Sie ließ sich davon nicht einschüchtern und zeigte auch keinerlei Schuldbewusstsein. »Warum schleppst du einen angebissenen Apfel mit dir herum und malst ihn auch noch mit Goldfarbe an? Ist das irgendein seltsames Kunstprojekt?«

»Das geht dich nichts an«, fuhr er sie an, etwas zu scharf, wie er im selben Moment bemerkte.

Sie hob beschwichtigend die Hände. »Du hast recht, ich hätte nicht an deine Sachen gehen dürfen. Ich war neugierig, immerhin kennen wir uns kaum und ich bin es nicht gewohnt, mir mein Zimmer mit einem Fremden zu teilen.«

Obwohl sie zugab, etwas falsch gemacht zu haben, klangen ihre Worte eher wie eine Rechtfertigung.

»Wenn du mir nicht traust, hättest du mir nicht anbieten sollen, bei dir zu übernachten«, erwiderte Joe enttäuscht.

Er verstand sie sogar, immerhin hatte er ihr noch nichts Persönliches über sich erzählt. Auch wenn sie ihn mochte, konnte man den Menschen nicht in den Kopf blicken.

»Ich sollte besser gehen«, entschied er, um ihnen beiden einen weiteren Vorfall dieser Art zu ersparen. Es war eine blöde Idee gewesen und er wollte ihr die Bürde nehmen, ihn bitten zu müssen, das Zimmer zu verlassen. Sie fühlte sich scheinbar unwohl in seiner Gegenwart.

Er bückte sich nach seiner Tasche und drehte sich zum Badezimmer, um von dort seine restliche Kleidung zu holen.

»Nein, das musst du nicht«, widersprach Julia ihm jedoch und versperrte ihm den Weg, als sie sich vor ihn stellte. »Ich war neugierig, aber mein Angebot steht nach wie vor.« Entschuldigend sah sie zu ihm auf.

Dieser Blick machte Joe weich und es fiel ihm schwer, länger böse auf sie zu sein oder bei seinem Vorhaben zu bleiben, auch wenn es vermutlich das Beste gewesen wäre.

»Vielleicht könnten wir versuchen, den Abend zu nutzen, um uns besser kennenzulernen«, schlug sie ihm versöhnlich vor, schob sich an ihm vorbei und ließ sich auf das Bett sinken. Sie setzte sich im Schneidersitz hin und sah ihn erwartungsvoll an.

»Na gut«, stimmte Joe zu und wusste nicht, wo er hinblicken sollte.

Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Dutt gelöst und fiel ihr locker um ihr ungeschminktes Gesicht. Sie hatte ihm bereits auf den ersten Blick gefallen, aber in diesem Moment fand er sie anziehender denn je. Das Bett, welches den Großteil des Zimmers einnahm, machte ihn nervös.

Zögerlich trat er darauf zu und ließ sich mit respektvollem Abstand auf der anderen Betthälfte nieder. Er wartete nur darauf, dass sie ihn zurechtweisen und ihm sagen würde, dass er sich gefälligst auf den Boden hocken sollte, aber es schien sie nicht zu stören.

»Was ist das für ein Buch, das du mit dir herumschleppst?«, wollte sie stattdessen wissen. Ihre Neugier war geweckt.

Joe beschloss, sich so nah wie möglich an der Wahrheit zu halten, ohne zu viel zu verraten. »Es ist ein Erbstück, in dem die Geschichte meiner Familie festgehalten ist.«

Sie zog beeindruckt die Augenbrauen hoch. »Wow, deine Familie muss ja verdammt wichtig sein. Fließt etwa adliges Blut durch deine Adern oder bist du womöglich ein Prinz?« Ein Schmunzeln lag auf ihren Lippen.

»Weder noch, meine Vorfahren sind eher unfreiwillig in etwas hineingeraten.« Er zögerte, ob er mehr verraten sollte. Etwas Persönliches. Etwas Wichtiges. »Meine sogenannte Familie besteht im Grunde nur aus meiner Schwester Maggy und unserem besten Freund Will. Wir leben in Berlin zusammen in einer betreuten Wohngemeinschaft.«

Sie spürte, dass es ein empfindliches Thema war, und stellte ihre nächste Frage vorsichtig: »Was ist mit euren Eltern?«

»Wir haben sie beide kaum gekannt, bevor sie gestorben sind.«

Für Joe war es schon immer schwierig gewesen, mit seiner Trauer umzugehen. Oft hatte er das Gefühl, nicht das Recht zu haben, den Verlust eines Menschen zu betrauern, den er gar nicht gekannt hatte. Er hatte keine Erinnerungen an seine Eltern und trotzdem fehlten sie ihm. Lange Zeit hatte er sogar geglaubt, dass sie einfach abgehauen waren und Maggy und ihn achtlos sich selbst überlassen hatten.

Erst seit Kurzem wusste er, dass Schneewittchen ihn um diese Erfahrung beraubt hatte. Erst war sein Vater in einem Krieg gefallen, der nur ihretwegen ausgefochten wurde, und danach hatte sie seine Mutter getötet, weil sie ihren Blutdurst nicht beherrschen konnte.

Julia betrachtete ihn mit leicht schräg gelegtem Kopf. »Das tut mir leid, Joe«, sagte sie mitfühlend. »War es ein Unfall?«

Er schüttelte den Kopf und wechselte geschickt das Thema. »Nein. Aber jetzt bist du dran. Warum schläfst du in einem Hotelzimmer, wenn du in Königswinter bist, um deine Familie zu besuchen?«

Bereits beim Eintreten hatte er den kleinen Handgepäckkoffer bemerkt, den sie zuvor noch nicht bei sich gehabt hatte. Sie musste also irgendwo gewesen sein, wo es zumindest Kleidung von ihr gab. Aber warum hatte sie dort nicht auch über Nacht bleiben können?

Auch Julia tat sich sichtlich schwer mit diesem Thema. Joe merkte es an ihrer Körperhaltung. Sie lehnte sich zurück und vergrößerte dadurch den Abstand zwischen ihnen. »Ich bin hier, um meine Mutter zu besuchen. Sie ist krank und wohnt in einer Anstalt. Eigentlich lebe ich bei meinen Großeltern.«

Er hatte bereits geahnt, dass ihre Geschichte auch nicht glücklich war. »Was ist mit deinem Vater? Ist er …«

»Tot?«, fiel sie ihm ins Wort. »Ja, aber es muss dir seinetwegen nicht leidtun. Er war ein Arsch und hat sich nie für mich interessiert. Ich bin ohne ihn besser dran.«

Auch Will hatte sich in Joes Gegenwart oft über seinen Vater, der eigentlich sein Bruder war, beklagt. Er hatte sich dabei immer gefragt, ob es besser war, gar keinen Vater zu haben, als einen, den man nicht ausstehen konnte. Allerdings hätte Will sich niemals über Ludwigs Tod gefreut, so groß die Last durch ihn auch gewesen sein mochte. Will liebte ihn dennoch.

Ging es Julia ähnlich in Bezug auf ihre Mutter?

»Was hat deine Mutter?«

»Sie ist depressiv.« Mehr sagte sie dazu nicht.

Joe konnte sich den Rest denken. Es hatte sich angehört, als würde Julia schon länger bei ihren Großeltern leben. Vielleicht hatte ihre Mutter versucht, sich umzubringen, und war deshalb eingewiesen worden? Er wagte nicht, weiter nachzufragen.

»Ich bin wieder dran«, entschied Julia. »Warum bist du wirklich in Königswinter? Was ist dein Geheimauftrag?«

Erneut zögerte Joe, um abzuwägen, wie viel er ihr anvertrauen konnte. »Ich suche nach einem Mädchen, das ich nur aus dem Internet kenne«, gab er schließlich zu. Es klang lächerlich.

»Ein Blind Date?«, meinte sie skeptisch. Die Vorstellung schien ihr gar nicht zu gefallen.

»Nein, sie weiß nicht, dass ich komme«, beeilte er sich, zu sagen. »Ich wollte sie heute treffen, aber ich habe sie verpasst.«

Okay, jetzt klingt es nur noch seltsamer, dachte er voller Scham.

Julia blieb misstrauisch und verschränkte nun auch noch abwehrend die Arme vor der Brust. »Sollte es eine Überraschung sein?«

Joe bereute schon, ihr von Ember erzählt zu haben. Er konnte es Julia nicht erklären, ohne dass sie ihn für verrückt halten würde.

»Sie kennt mich nicht, aber meine Schwester. Ich muss ihr etwas Wichtiges sagen und habe keine Telefonnummer von ihr oder sonst eine Möglichkeit, um Kontakt zu ihr aufzunehmen.«

»Das muss ja verdammt wichtig sein, wenn du dafür mehrere Stunden mit dem Zug quer durch Deutschland fährst«, erwiderte sie und klang beleidigt.

Joe hätte versuchen können, an ihr Mitleid zu appellieren, indem er erzählte, dass Maggy im Koma lag. Aber das hätte nur zu der Frage geführt, was das mit diesem fremden Mädchen zu tun hatte, nach dem er suchte. Jeder normale Mensch würde annehmen, dass es in so einem Moment wichtiger wäre, an der Seite seiner Schwester zu bleiben. Aber normale Menschen kannten auch keine vergifteten Äpfel oder Bücher, die sich von selbst schrieben. Deshalb beließ er es lieber dabei.

Als sie nichts mehr sagte, gähnte er ausgiebig und streckte sich. »Hey, ich bin ziemlich müde. Der Tag war echt lang und anstrengend.«

»Stimmt, ich bin auch ziemlich müde«, sagte sie kurz angebunden und reichte ihm ein Kissen.

Er griff nach der zweiten Decke, erhob sich vom Bett und breitete beides auf dem Boden aus, wo er schlafen würde, so wie sie es vereinbart hatten.

Julia raschelte ebenfalls mit dem Bettzeug, bevor sie das Licht ausschaltete und das Zimmer in Dunkelheit tauchte.

Ihr Schweigen lastete schwer auf ihm. Es breitete sich wie Rauch in dem Raum aus und vermittelte Joe das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben.

Wie musste es auf sie wirken, dass er heute bei ihr schlief, nur um am nächsten Morgen nach einer anderen zu suchen? Fühlte sie sich ausgenutzt? War sie vielleicht sogar eifersüchtig?

Joe hätte es ihr gern erklärt, aber sie hätte ihm wohl kaum geglaubt.

»Gute Nacht und schlaf gut«, sagte er in die erdrückende Stille. Obwohl er Julia atmen hören konnte, war sie plötzlich unerreichbar.

»Nacht«, murrte sie nur.

Eigentlich hatte sie keinen Grund, beleidigt zu sein, immerhin hatte Joe nicht mit ihr geflirtet und es war ihr Vorschlag gewesen, dass er bei ihr schlafen sollte. Aber wäre er an ihrer Stelle gewesen, hätte er vermutlich ähnlich reagiert.

Bedeutete das, dass sie etwas für ihn empfand? Wäre es ihr sonst nicht egal, nach wem oder was er suchte?

»Willst du mich nicht nach meiner Handynummer fragen?«, feixte Julia am nächsten Morgen, als sie sich vor dem Hotel auf dem Bürgersteig gegenüberstanden. Die Zeit des Abschiednehmens war zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden gekommen.

Joe hatte zumindest ein paar Stunden Schlaf gefunden, auch wenn der Boden wirklich hart gewesen war. Aber es war immer noch besser gewesen als eine Nacht im Bahnhof, also wollte er sich nicht beschweren. Außerdem schien es Julia beeindruckt zu haben, dass er sich wirklich an ihre Vereinbarung gehalten und nicht doch versucht hatte, zu ihr ins Bett zu gelangen. Ihre Laune war deutlich besser als am vergangenen Abend.

»Warum sollte ich? Wir haben doch schon die Nacht miteinander verbracht. Mehr wollte ich nicht«, konterte er und grinste sie frech an.

Sie schnappte empört nach Luft, boxte ihn gegen den Oberarm und musste dann doch lachen. »Du hast ja nicht einmal versucht, mich zu küssen.«

»Ich bin eben ein Gentleman.«

»Wer’s glaubt«, schnaubte sie kopfschüttelnd.

Joe durfte nicht wieder die Zeit mit ihr vertrödeln. Die fünfzehn Minuten am Vortag hatten ihn um die Gelegenheit gebracht, Ember zu treffen. Er wollte sie heute unbedingt abfangen, bevor sie die Glasbläserei betrat, sonst müsste er bis zu ihrer Mittagspause oder gar bis zum Abend warten. Das waren wertvolle Stunden.

»Im Ernst, es wäre sinnlos, wenn ich dich nach deiner Nummer fragen würde, denn ich habe kein Handy«, versuchte er, sich zu erklären, damit Julia nicht glaubte, dass er kein Interesse an ihr hatte.

»Du hast kein Handy?«, stieß sie ungläubig aus. »Ich dachte, du kommst aus Berlin und nicht aus der Steinzeit.«

»Du weißt schon, Handys sind leicht zu orten. Das kann ich mir als Geheimagent einfach nicht leisten.« Er gab sich cool und zwinkerte ihr zu.

Genervt rollte sie mit den Augen. »Schon klar.« Langsam übertrieb er es. »Sollte deine Mission nicht so laufen, wie du es dir vorstellst, oder du von einem gewissen Jemand erneut versetzt werden, weißt du ja, wo du mich findest.«

Dankbar lächelte er sie an. Offenbar hatte sie beschlossen, ihm zu verzeihen, dass er eigentlich hier war, um nach einem anderen Mädchen zu suchen. »Mein Auftraggeber wird sich bei dir erkenntlich zeigen.«

»Okay, dann soll er meinen nächsten Döner bezahlen. Alternativ akzeptiere ich auch Pizza oder Burger.«

Sie überraschte ihn immer wieder aufs Neue und war dabei so vollkommen anders, als er sie nach ihrer ersten Begegnung eingeschätzt hatte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so unkompliziert und anspruchslos bist.«

Der Schalk hellte ihre Gesichtszüge auf. »Würde ich mich sonst mit dir abgeben?«

Und wiedermal ging der Punkt eindeutig an sie.

Joe lachte kopfschüttelnd. Wie sollte er sich von ihr lösen, wenn jede Minute mit ihr besser war als eine Woche Ferien? Wenn er doch nur hätte bleiben können.

»Hältst du mich jetzt nicht mehr für eine unverschämte Zicke?«, hakte sie nach und klimperte in gespielter Unschuld mit ihren dunklen Wimpern.

»Auch Geheimagenten können falschliegen«, gab er zu.

Sein Kopf brüllte: JOE, es ist Zeit, zu gehen. Los!

Aber sein Herz hatte die Kontrolle über seine Beine übernommen, sodass diese sich nicht vom Fleck rührten. Er grinste nur dämlich und würde zur Not eben joggen, um die Werkstatt vor Ember zu erreichen.

»Alles klar, Agent 007«, erwiderte sie. »Musst du jetzt zurück zum Bahnhof?«

Er nickte schweren Herzens. »Und du?«

Sie deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Leider nicht.«

Leider. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie beide nicht dorthin gehen wollten, wo ihr Weg sie hinführte, sondern lieber weiter auf dem Gehweg herumgeblödelt hätten. Sie hätten dort Stunden verbringen können.

Joe hatte sich noch nie derart zu einem Mädchen hingezogen gefühlt, schon gar nicht nach so kurzer Zeit. Aber die gesamte vergangene Woche war voll von Dingen gewesen, die er sich nicht einmal hätte träumen lassen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739463186
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Hexen Rotkäppchen Rumpelstilzchen Dornröschen Hexe Hänsel und Gretel Märchenadaption Märchen Schneewittchen Königin Fantasy düster dark Romance Urban Fantasy Episch High Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
Zurück

Titel: Träume aus Gold und Stroh